Geboren im falschen Körper -  - E-Book

Geboren im falschen Körper E-Book

0,0

Beschreibung

Kaum ein Thema wird gegenwärtig so intensiv diskutiert wie die Transsexualität. Immer mehr Kinder äußern das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, immer häufiger wird der Wunsch geäußert, das Geschlecht zu wechseln. Bei den allermeisten Kindern und Jugendlichen erweist sich die Genderdysphorie aber als ein Übergangsphänomen. Das verweist darauf, wie vorsichtig vorgegangen werden muss, wie wichtig Beratung, Unterstützung, Therapie sind. Die Genderdysphorie wird in diesem Buch von führenden Fachleuten aus medizinischer, psychologischer und pädagogischer, philosophischer und sozial-ethischer Perspektive betrachtet. Fallberichte und Erfahrungen von Betroffenen ergänzen diese Ausführungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 290

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Herausgeber, die Herausgeberin

Bernd Ahrbeck, Prof. Dr., International Psychoanalytic University Berlin, Psychoanalytische Pädagogik

Marion Felder, Prof. Dr., Hochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften, Schwerpunkte Inklusion und Rehabilitation

Bernd Ahrbeck, Marion Felder (Hrsg.)

Geboren im falschen Körper

Genderdysphorie bei Kindern und Jugendlichen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

 

 

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041238-5

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-041239-2

epub:     ISBN 978-3-17-041240-8

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Geboren im falschen Körper? Klinische und pädagogische Fragestellungen

Bernd Ahrbeck & Marion Felder

Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen aus medizinischer und entwicklungspsychologischer Sicht

Alexander Korte

Sex, Gender, Inter und Trans als Themen für die Sexualbildung

Karla Etschenberg

Zwischen allen Stühlen. Transsexuelle Jugendliche in der psychotherapeutischen Praxis

Alfred Walter

Leben im falschen Körper? Transgendering im Entwicklungsprozess von Kindern und Jugendlichen

Annette Streeck-Fischer

Mein Transgender Leben – ein persönlicher Erfahrungsbericht

Debbie Hayton

Im falschen Körper

Christoph Türcke

Die Stimme der »Detransitioner«

Heather Brunskell-Evans

Kinderrecht auf sexuelle Selbstbestimmung? Kinderrechts- und bildungsethische Überlegungen zur rechtlichen Neuregelung von Fragen geschlechtlicher Selbstbestimmung

Axel Bernd Kunze

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

Wer hätte das vor wenigen Jahren gedacht: Ob jemand »im falschen Körper geboren« ist oder noch weitergehend: ob sich das Geschlecht dem freien Willen unterwerfen lässt und die Biologie übersprungen werden kann – das ist zu einem großen gesellschaftlichen Thema geworden. Was als Anliegen eines ursprünglich sehr kleinen Personenkreises begann, hat eine erhebliche Breitenwirkung erzielt. Transgender ist inzwischen in aller Munde. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit einer Genderdysphorie hat sich im letzten Jahrzehnt auf wundersame Weise vermehrt und Umwandlungswünsche nehmen zu. Die Probleme, die dadurch entstehen, sind ebenso vielschichtig wie schwerwiegend.

Sie korrespondieren mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die das Verhältnis der Geschlechter grundlegend auf den Prüfstand stellt, auf eine Art, die sich nicht immer leicht durchschauen lässt. Mal geht es um soziale Prägungen und die Warnung, das (weibliche) Erleben und Verhalten dürfe nicht als biologisch determiniert verstanden werden. Ein anderes Mal wird tieferliegenden psychischen Differenzen nachgespürt, oft verbunden mit der Frage, ob und wie sie sich ausgleichen, wenn nicht sogar gänzlich nivellieren ließen. Die Überwindung des Binären ist zu einer populären Formel geworden. Sie erstreckt sich schon längst nicht mehr auf das Psychische, von dem bereits Freud annahm, dass sich in jedem Menschen weibliche und männliche Züge mischen. Selbst das Körperliche wird zur Disposition gestellt: Es soll ebenfalls, glaubt man dem sich ausbreitenden Dekonstruktivismus, nur sozial produziert sein und sich deshalb nach inneren Gewissheiten umdefinieren lassen. Die damit einhergehenden Irritationen wirken sich auch auf die nachwachsende Generation aus. Zumal dann, wenn die Verunsicherung von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität zum pädagogischen Programm erhoben und Transition medial propagiert wird, was vor allem im angloamerikanischen Sprachraum nicht selten geschieht.

Diese bedenkliche Entwicklung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eine erhebliche Not geraten können, wenn sie das Gefühl haben, im falschen Körper zu leben. Für sie kann eine Transition der beste Weg sein. In diesem Wunsch sind sie anzuerkennen, vor Entwertungen und Übergriffen müssen sie geschützt werden. Das ist so selbstverständlich, dass es kaum noch einer Betonung bedarf. Zugleich bedeutet diese Feststellung nicht, dass dem Willen von Kindern und Jugendlichen bedingungslos gefolgt werden muss, ohne Beratung und Therapie, ohne fachärztliche Untersuchung, eventuell sogar gegen das elterliche Votum. Im Sinne einer Fürsorgepflicht, der Wahrung des Kindeswohls, ist ein solches Vorgehen nicht vertretbar, auch wenn es von einigen Betroffenen eingefordert wird. Dazu sind die Entwicklungsverläufe zu unvorhersehbar, die irreversiblen Folgen operativer Eingriffe zu gravierend, ihre Langzeitfolgen zu ungewiss. Insofern weisen nationale und internationale Gesetze und Gesetzesentwürfe, die Kinder ab 14 Jahren allein entscheiden lassen wollen, in die falsche Richtung. Sie überlassen Kinder sich selbst und übertragen ihnen Verantwortung, der sie noch gar nicht gewachsen sind. Die einfache Formel, es gehe um eine menschenrechtlich abgesicherte »Selbstbestimmung«, greift zu kurz.

Aufgrund einer affirmativen Haltung, die sich bis in Gesetzestexte hinein ausgebreitet hat, wächst unter psychologischen und medizinischen Fachleuten, bei Eltern und Betroffenen die Sorge, dass Transitionswünschen zu schnell und unbedacht gefolgt wird. Ein wichtiger Ausgangspunkt für eine kritische Positionsbestimmung ist die Klage, die Keira Bell beim englischen High-Court gegen die Tavistock-Klinik angestrengt hat. Erstinstanzlich war sie damit erfolgreich. Ihr damaliges Empfinden sei wie selbstverständlich hingenommen und nie wirklich hinterfragt worden, deshalb habe sie eine übereilte Entscheidung getroffen, an deren Folgen sie nun ein Leben lang leide. Zudem melden sich zunehmend Detransitioner zu Wort, die ebenfalls in ihr altes Geschlecht zurückkehren wollen. Es ist also Vorsicht geboten.

Um die Transidentität sind heftige Kämpfe entbrannt, die nicht nur die Frage betreffen, wer unter welchen Bedingungen über eine Transition entscheidet. Erstaunlicherweise entzünden sie sich besonders innerhalb der LGBTQ+-Gemeinschaft zwischen Feministinnen und Anhängern der Transgender-Bewegung. Während die einen, wie die Philosophin Kathleen Stock, darauf beharren, dass sich biologische Fakten nicht aus der Welt schaffen lassen, es also Männer und Frauen gibt, sehen andere darin einen Affront, der ihre Menschenwürde untergräbt. Kathlen Stock wurde daraufhin von Transgenderaktivisten über Monate dermaßen bedroht, dass sie ihre Professur an der University of Sussex (Brighton) resigniert aufgab.

Ein Grund dafür dürfte in der schmerzlichen Zumutung liegen, die von einer Realität ausgeht, die sich nicht hintergehen lässt. Stock steht für diese Kränkung. Sie spricht aus, was ist: Über das biologische Geschlecht kann nicht frei bis in die Chromosomen und Keimzellen hinein verfügt werden. Insofern gibt es auch keine Geschlechtsumwandlungen, jedenfalls keine vollständigen, sondern nur eine begrenzte, mehr oder weniger gelungene Annäherung an das gewünschte Ziel.

Dieser Band enthält Beiträge ausgewiesener Fachleute aus Medizin, Psychologie, Pädagogik, Psychotherapie, Philosophie und Sozialethik. Grundlegende Wissensbestände werden wiedergegeben, über unterschiedliche Positionen kritisch reflektiert, Praxisbeispiele vorgestellt. Dabei kommen auch Stimmen zu Wort, die ansonsten selten zu hören sind. Ziel ist es, sachliche Bezüge zu stärken, die in einem emotional aufgebrachten Diskurs über Genderdysphorie und Transgender häufig in den Hintergrund treten. Problematische Entwicklungen, die unübersehbar sind, werden benannt und ihre Konsequenzen beschrieben.

Im ersten Beitrag (»Geboren im falschen Körper? Klinische und pädagogische Fragestellungen«) führen Bernd Ahrbeck und Marion Felder in die Thematik ein. Sie beschreiben eine kulturelle Entwicklung, die von konventionellen Zwängen und Verpflichtungen befreien möchte und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten einen hohen Stellenwert einräumt. Diese Entwicklung erstreckt sich auch auf Kinder, die – neuen Gesetzesentwürfen folgend – bereits mit 14 Jahren autonom über ihr Geschlecht und einen möglichen Geschlechtswechsel entscheiden sollen. Damit geht ein Rückzug der älteren Generation aus der Erziehungsverantwortung einher, der durch eine »emanzipatorische« Sexualpädagogik noch weiter gestärkt wird. Neben pädagogischen werden auch klinische Aspekte betrachtet.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte liefert einen Überblick über das komplexe Thema Geschlechtsidentität bei Minderjährigen aus medizinischer und entwicklungspsychologischer Perspektive. Ausführlich erörtert er die Kontroverse um pubertätsblockierende Behandlungen und das aus medizinethischer Sicht fragwürdige Diktum einer »transaffirmativen Therapie«. Korte erläutert, welche entwicklungspsychiatrischen Aspekte und Differenzialdiagnosen zu beachten sind, insbesondere wenn eine Geschlechtsdysphorie während der Adoleszenz neu auftritt. Konsequenzen für die Praxis werden aufgezeigt (»Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen aus medizinischer und entwicklungspsychologischer Sicht«).

Karla Etschenberg, Pädagogin und Biologie-Didaktikerin, beschäftigt sich mit biologischen Aspekten der Trans- und Intersexualität (»Sex, Gender, Inter und Trans als Themen für die Sexualbildung«). Aus pädagogischer Sicht betont sie, wie wichtig eine Akzeptanz körperlicher Unterschiede und sexueller Orientierungen ist und dass Vorurteile auch in der Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern abgebaut werden müssen. Feste Rollenmuster sollten hinterfragt und insofern darüber nachgedacht werden, warum es in den letzten Jahren zu einer so immensen Zunahme von Genderdysphorien bei Kindern und Jugendlichen gekommen ist.

Der in der Behandlung transsexueller Jugendlicher und junger Erwachsener erfahrene Psychoanalytiker Alfred Walter berichtet aus seiner Praxis (»Zwischen allen Stühlen. Transsexuelle Jugendliche in der psychotherapeutischen Praxis«). Er verweist auf das erhebliche Spannungsfeld, das oft zwischen den Beteiligten (Behandler, Kinder, Eltern) entsteht und plädiert dafür, die jeweilige individuelle Entwicklung differenziert wahrzunehmen und nicht vorschnell dem normativen Druck aktueller Forderungen aufzusitzen. Es gilt zu verdeutlichen, dass eine Transition nicht alle Probleme löst und neue dadurch entstehen, dass ein vollständiger Geschlechtswechsel unmöglich ist.

Annette Streeck-Fischer, Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychoanalytikerin, nimmt die hohe Nachfrage nach geschlechtsumwandelnden Maßnahmen von Kindern und Jugendlichen zum Anlass, um über die Hintergründe dieser Entwicklung nachzudenken (»Leben im falschen Körper? Transgendering im Entwicklungsprozess von Kindern und Jugendlichen«). Verweise auf biologische Faktoren werden ebenso diskutiert wie das »gendering« seitens der frühen Bezugspersonen. Einen wichtigen Zugang bieten psychoanalytische Entwicklungstheorien, die sich mit der Sexualität und der Geschlechtsidentität unter anderem im aktiven und passiven Ödipuskomplex sowie in der Pubertätsphase als Zeit heftiger biologischer Veränderungen auseinandersetzen.

Die Physikerin und Lehrerin Debbie Hayton berichtet eindrücklich über ihre Lebensgeschichte, den Weg zu einer Transition, die 2012 im Alter von 44 Jahren erfolgte, und ihr weiteres Leben als Transfrau (»Mein Transgender-Leben – ein persönlicher Erfahrungsbericht«), das sie im Kreis ihrer englischen Familie fortführt. Aufgrund zahlreicher innerer Verstrickungen und sozialer Probleme, die sehr plastisch beschrieben werden, betrachtet sie ihre eigene Transition kritisch. Einer medizinischen Transition von Kindern und Jugendlichen steht sie skeptisch gegenüber.

Christoph Türcke (»Im falschen Körper«) beschäftigt sich aus philosophischer Sicht mit dem Verhältnis von Körper und Seele und dem Ausgangsphänomen, dass der Körper, in dem jemand lebt, als nicht zur Person gehörig, als etwas Fremdes und Äußerliches wahrgenommen werden kann. Nach einem Abriss über die ideengeschichtlichen Diskussionen der Beziehung beider Seiten steht am Ende eine bemerkenswerte Erkenntnis. Der Wunsch nach einem unkörperlichen Selbst, die Sehnsucht danach, das Binäre zu überwinden, mündet letztlich »in etwas Erzbinärem: einem ganz kruden Leib-Seele-Dualismus«.

Heather Brunskell-Evans, eine britische Philosophin, sieht in den Detransitionern einen oft erschütternden Gegenbeleg zu der gegenwärtig verbreiteten affirmativen Transitionspraxis (»Die Stimme der ›Detransitioner‹«). Sie kritisiert die postmoderne Wende in der Medizinethik, der sich auch die Tavistock-Klinik verschrieben hat, indem sie einem Befreiungstheorem folgt, das sie fälschlicherweise für eine gutartige Utopie hält. Die Bestätigung der inneren Geschlechtsidentität ist zu einer Frage von Minderheitenrechten geworden. Detransitioner wie Kiera Bell widersprechen dem. Sie erzwingen geradezu einen kritischen Blick auf postmoderne Queer-Theorien und ihre transaktivistische Praxis.

Axel-Bernd Kunze setzt sich mit dem »Kinderrecht auf sexuelle Selbstbestimmung?« auseinander und widmet sich »Kinderrechts- und bildungsethische[n] Überlegungen zur rechtlichen Neuregelung von Fragen geschlechtlicher Selbstbestimmung«. Er verweist darauf, dass sich in jüngeren ethischen Debatten über transsexuelle Rechte ein Paradigmenwechsel eingestellt hat, der Transidentität nicht mehr als medizinische Diagnose, sondern als Menschenrechtsbelang ansieht. Deshalb sollen Schutzaltersgrenzen für geschlechtsangleichende Maßnahmen abgesenkt werden. Diese menschenrechtspolitische Forderung wird aus kinderrechts- und bildungsethischer Perspektive kritisch diskutiert und nach den sozialethischen Implikationen gefragt, die sich daraus ergeben.

Bernd Ahrbeck & Marion Felder

Berlin, Februar 2022

Geboren im falschen Körper? Klinische und pädagogische Fragestellungen

Bernd Ahrbeck & Marion Felder

Die Zahl der Kinder, die in ihrer Geschlechtsidentität irritiert sind, nimmt immens zu, immer häufiger wird der Wunsch geäußert, das biologisch vorgegebene Geschlecht zu ändern. In Großbritannien hat sich »die Zahl der Kinder unter zehn Jahren, die Transgender-Behandlung suchen, in den vergangenen fünf Jahren vervierfacht« (Thomas, 2016, S. 9), in der Tavistock-Klinik stellten sich 2020 annähernd doppelt so viele Kinder vor wie 2015 (Rojkov, 2021). Eine ähnliche Entwicklung findet sich in vielen anderen Ländern. Die Zahlen steigen rasant an (Arnoldussen et al., 2019; Fahrenkrug & Wüsthof, 2018; SEGM, 2021; Veissière 2018). In Schulen sind immer mehr Kinder anzutreffen, die mit beginnender Pubertät Umwandlungswünsche äußern (Greenberg, 2017), oft auffällig gehäuft in einzelnen Klassen, an ganz unterschiedlichen Orten, in den ländlichen Gegenden ebenso wie in Ballungszentren. Nach einer jüngsten Studie aus den USA bezeichnen sich 1 von 10 Schülern und Schülerinnen als »gender divers« (Kidd et al., 2021).

Dieses Phänomen ist irritierend: Kaum etwas spricht dafür, dass jetzt hervortritt, was auf breiter Ebene schon immer vorhanden war und nur nicht gezeigt werden konnte. Für eine begrenzte Zahl von Kindern mag das zwar gelten, die hohe Steigerungsquote erklärt sich so aber nicht. Sie »widerspricht jeder medizinischen Wahrscheinlichkeit; es muss andere Gründe geben«, meint der Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte (2018).

Eingebettet ist diese Entwicklung in ein gesellschaftliches Klima, das Selbstverständlichkeiten früherer Zeiten infrage stellt. Die Binarität der Geschlechter wird inzwischen angezweifelt, offen zu einer »Geschlechterverwirrung« (Butler, 1991, S. 61) aufgerufen und der Körperlichkeit immer weniger Bedeutung beigemessen. Die Möglichkeiten einer Selbstgestaltung und Selbstschöpfung scheinen fast unendlich zu sein. Hinzu kommt die mediale Beeinflussung junger Menschen: Es wird nicht nur informiert, sondern auch aktiv für Geschlechtsumwandlungen geworben (Evans, 2020; Littman, 2019). Transgender-Gruppen haben einen erheblichen gesellschaftlichen Einfluss errungen. Die Zeiten, in denen ihre Interessen kaum oder zu wenig wahrgenommen wurden, sind längst vorbei.

Diejenigen, die eine Transition aus inneren Gründen zwingend benötigen, bei einem fest in der Person verankerten Wunsch, müssen diese Möglichkeit erhalten. Sie sind in ihrem Anliegen zu achten und zu schützen. Daran kann es keinen Zweifel geben, das ist moralisch und juristisch geboten. Aber es gibt auch eine andere Gruppe. Für viele Kinder mit einer Geschlechtsirritation (»Gender Dysphoria«) ist das der falsche Weg. Deshalb muss sehr genau darüber nachgedacht werden, unter welchen Bedingungen ein dermaßen gravierender Schritt erfolgen soll und wie die Gefahren aussehen, die mit einer solche Entscheidung verbunden sind.

Ein gewichtiger Faktor ist dabei, dass sich Geschlechtsirritationen im Zeitverlauf als wenig stabil erweisen. Bei den meisten der davon betroffenen Kinder handelt es sich um ein Übergangsphänomen, das sich in der späten Adoleszenz von selbst auflöst (Korte, Beier & Bosinski, 2016; Becker & Richter-Appelt, 2018). Nach Korte und Kollegen (2008, S. 834) »sind nur in 2,5 bis 20 % Erstmanifestationen einer irreversiblen transsexuellen Entwicklung«. Fahrenkrug und Wüsthof (2018, S. 17) sprechen von »Ergebnisse[n] zwischen zwei Prozent […] bis zu 39 Prozent […] in der langfristigen Beständigkeit der Geschlechtsdysphorie«. Erschwerend kommt hinzu, dass keine wissenschaftlich validen Parameter existieren, die eine Entwicklungsprognose erlauben. Eine große Unsicherheit beherrscht das Feld. Sie dürfte nicht geringer werden, wenn immer mehr Kinder in ihrer Geschlechtsidentität verunsichert sind.

Weiterhin treten zunehmend mehr Personen in Erscheinung, die eine Transition rückgängig machen (wollen), die so genannten Detransitioner. Sie warnen eindrücklich vor unbedachten Entscheidungen, die schwerwiegende, teils katastrophale persönliche Folgen haben können. Aufgeworfen wird auch die Frage, ob Transitionsprozesse mit der notwendigen Sorgfalt eingeleitet werden. In einem richtungsweisenden Prozess vor dem englischen High Court, dem dritthöchsten Gericht des Landes, wurde das verneint. Die Klägerin Keira Bell, die zwischenzeitlich Quincy hieß, obsiegte. Das Gender Identity Development Service (GIDS), ein Teil der berühmten Tavistock and Portman Clinic, habe sie nur unzureichend und irreführend informiert, sodass sie daraufhin einen für sie falschen Weg beschritt. In Zweifel gezogen wird zusätzlich, dass Kinder und Jugendliche überhaupt in der Lage sind, eine solche Entscheidung zu treffen (Ahrbeck & Felder, 2021a, 2021b; Rojkov, 2021).

Die Schule muss sich auf die häufiger gewordenen Geschlechtsirritationen und Umwandlungswünsche einstellen. Sie kann das in einem sehr persönlichen Rahmen tun, sich dem Einzelnen beratend zuwenden, das Thema im Sexualkundeunterricht erörtern oder sich sehr weitgehend der Idee verpflichten, das Geschlecht könne und solle generell zur Disposition gestellt werden. Dazu ein Beispiel, das inzwischen Schule macht. Die renommierte Londoner St. Paul’s Girls School erlaubt es Mädchen, »sich wie Jungen zu kleiden und mit Jungennamen angesprochen zu werden« (Thomas, 2017, S. 1). Nicht nur in seltenen und begründeten Einzelfällen, sondern als eine allgemein zur Verfügung stehende Möglichkeit. Die Begründung der Schulleiterin: »Wir bewegen uns auf einen Punkt zu, an dem das Geschlecht eine Frage der Wahl ist« (Thomas, 2017, S. 1). Bereits Vorschulkinder sollen deshalb dazu aufgefordert werden, über ihr Gender-Empfinden zu reden. Noch handelt es sich um Ausnahmen, eine Entwicklungslinie, die in diese Richtung weist, ist jedoch unübersehbar.

Eltern, die mit einer Geschlechtsdysphorie und einem Transitionsbegehren konfrontiert werden, stehen vor großen Herausforderungen. Nach gründlicher Abwägung ist zusammen mit dem betroffenen Jugendlichen, mit Ärzten und Psychologen die beste Entscheidung zu treffen. Aus verschiedenen Ländern wird berichtet, dass auf Eltern und Erziehungsberechtigten, die den Transitionswünschen ihrer Kinder nicht affirmativ begegnen, ein erheblicher gesellschaftlicher Druck lastet. Ihr Bedarf an beratenden und therapeutischen Hilfen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Mittlerweile existieren nationale und internationale Elternorganisationen und Diskussionszirkel, die sich in ihrem Anliegen fundamental voneinander unterscheiden. Die Organisation Genspect (https://genspect.org) begegnet dem affirmativen Ansatz sehr kritisch, während er von Mermaid U. K. (https://mermaidsuk.org.uk/) unterstützt wird.

1          Kulturelle Einbettung: Alles soll möglich sein

Menschen, die das Gefühl haben, im falschen Körper zu stecken, hat es schon immer gegeben. Bereits aus der Antike liegen Berichte darüber vor. Der Wunsch, das Geschlecht zu wechseln, genauer: sich dem Gegengeschlecht anzunähern, blieb aber über lange Zeit unerfüllbar. Ab Mitte der 1950er Jahre leistete ein französischer Chirurg, Georges Buron, in seiner berühmten Clinique du Parc in Casablanca (Marokko) Pionierarbeit auf dem Gebiet der geschlechtsangleichenden Chirurgie. Erwachsene Männer ließen sich dort in Frauen verwandeln. Inzwischen sind die chirurgischen Techniken so verfeinert, dass Geschlechtsangleichungen sehr viel differenzierter in beide Richtungen möglich werden. Als erste Universitätsklinik hat die Johns-Hopkins-Klinik (Baltimore) 1965 »Geschlechtsumwandlungen« durchgeführt.

Magnus Hirschfeld hat mit dem von ihm herausgegebenen »Jahrbuch der sexuellen Zwischentypen« erstmalig einen breiten wissenschaftlichen Diskurs eröffnet, der sich mit sexuellen Varianten beschäftigt. Es erschien zwischen von 1899 bis 1923. Das von ihm proklamierte »Dritte Geschlecht« (Hirschfeld, 1904) bezog sich zwar primär auf Homosexuelle beiderlei Geschlechts, aber auch Intersexualität und Transgender wurden in seinem Werk mitbedacht. Aufgrund seiner Zwischenstufenlehre sah er die binäre Geschlechterordnung als überholt an. Jeder Mensch habe männliche und weibliche Eigenschaften, in einer je einzigartigen Mischung, die zu hoch individuellen Ausprägungen führen, die eine eindeutige Geschlechterzuordnung nicht zulassen. Hirschfeld war von einer unveränderlichen heriditären Grundlegung der jeweiligen geschlechtlichen Ausprägung überzeugt.

Hirschfelds Überlegungen unterscheiden sich von einem psychoanalytischen Verständnis der Geschlechterverhältnisse, das sich vorrangig mit der intrapsychischen Dynamik beschäftigt und bis heute an der binären Ordnung festhält, zumindest in allen relevanten Strömungen. Auch Freud ging von unterschiedlichen psychischen Prinzipien aus, die er als »männlich« und »weiblich« bezeichnete.

»[A]lle menschlichen Individuen [vereinigen in sich] infolge ihrer bisexuellen Anlage und der gekreuzten Vererbung männliche und weibliche Charaktere […], so daß die reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Konstruktionen bleiben mit ungesichertem Inhalt« (Freud, 1925, S. 30).

Eine ausschließliche Männlichkeit und Weiblichkeit gibt es demnach im Psychischen nicht, »sondern jedesmal beides, nur von dem einen so viel mehr als von dem andern« (Freud, 1933, S. 121) – also eine deutliche Schwerpunktsetzung.

Zudem übersah Freud nicht, dass auch die Körperlichkeit einen wichtigen Einfluss auf die psychische Entwicklung hat. »[D]er morphologische Unterschied muß sich in Verschiedenheiten der psychischen Entwicklung äußern« (Freud, 1924, S. 400) und weiterhin: »Alle Erwartungen eines glatten Parallelismus zwischen männlicher und weiblicher Sexualentwicklung haben wir ja längst aufgegeben« (Freud, 1931, S. 519). Bei aller Offenheit, die es schon vor fast 90 Jahren gab, wurde die binäre Ordnung im Zusammenspiel von Körperlichen und Psychischem nicht aufgegeben und Zwischenformen im Sinne Hirschfelds als Ausnahmen anerkannt.

Reimut Reiche (2000) hat sich in einer richtungsweisenden Schrift zur »Geschlechterspannung« der beiden von Freud genannten psychischen Prinzipien angenommen, sie ausformuliert und präzisiert. Er entwirft ein psychodynamisches Modell, das von einer starren Polarisierung weit entfernt ist. Die Vorstellung, es könne eine vom Körperlichen losgelöste Genderidentität geben, liegt ihm dennoch fern. Körperliches und Psychisches lassen sich nicht voneinander trennen (Reiche, 1997).

Mit dem Genderbegriff, der sich seit Mitte der 1970er Jahre international etabliert hat, ist die Aufmerksamkeit erneut auf die beiden Seiten des Geschlechtlichen gelenkt worden, die körperliche (»sex«) sowie die kulturelle und gesellschaftliche Prägung der Person (»gender«). Als wissenschaftliche Disziplin hat sich die Gender-Forschung inzwischen mit mehr als 200 Lehrstühlen etablieren können, wobei wissenschaftliche Erkenntnissuche und parteiliche Stellungnahmen ungewöhnlich eng miteinander verknüpft sind. Gesellschaftliche Prozesse sollen konsequent beeinflusst werden. »Gender« ist inzwischen zu einer wichtigen politischen Leitlinie in den westlichen Ländern aufgestiegen.

Eine zentrale Rolle spielt der Begriff der sozialen Konstruktion (Henry-Huthmacher, 2018). Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und Geschlechterverhältnisse sollen analysiert und die ihnen zugrundeliegenden Hierarchien, Machtverhältnisse und Deutungshoheiten aufgedeckt werden. Dekonstruktion ist das Stichwort. Sie öffnet einer freien Selbstgestaltung Tür und Tor. Geschlecht kann immer wieder neu hergestellt werden (»Doing gender« Hagemann-White), nach dem Belieben des Einzelnen, in einer Vielfalt, der prinzipiell keine Grenzen gesetzt sind. Dementsprechend soll es so viele Geschlechter geben, wie sich konstruieren lassen. Sind es 30, 50 oder noch sehr viel mehr? Eine abschließende Antwort auf diese Frage ist systembedingt ausgeschlossen.

Judith Butler, die Ikone der Genderbewegung, ist noch einen Schritt weitergegangen, indem sie den Konstruktionsgedanken auf das Biologische ausgeweitet hat. Auch das biologische Geschlecht (»sex«) ließe sich dekonstruieren, denn es werde normativ erzeugt und sei nichts anderes als die Folge aufgezwungener Denk- und Sprachmuster. Als objektives Faktum existiere es gar nicht. Butler (1991, S. 11) spricht deshalb von »medizinischen Fiktionen, die zur Kennzeichnung eines eindeutigen Geschlechts entworfen wurden«. Die Materie wird also bis in die Keimzellen hinein in ein Produkt gesellschaftlicher Diskurse und illegitimer Machtverhältnisse transformiert.1

Hinter all dem steht eine Befreiungsvision, die radikaler kaum ausfallen könnte. Sie beinhaltet den Entwurf eines Menschen, der vollständig über sich verfügt, über das Körperliche, das Psychische, das Soziale. Losgelöst von den Zwängen der Gesellschaft, von patriarchalen Strukturen und der männlichen Herrschaft. Hauptangriffspunkt ist die »heterosexuelle Matrix«, die für einen Zwang zur Heterosexualität stehen soll. An der Heterosexualität sind zwar zwei Geschlechter beteiligt, aber in erster Linie eines ist schuldhaft verstrickt. Nicht nur Frauen, sondern auch andere sexuelle Identitäten hätten unter der »heterosexuelle Matrix« zu leiden. Butler (1991, S. 61) ruft deshalb dazu auf, »eine Geschlechterverwirrung anzustiften«. Sie soll die Zwangsheterosexualität überwinden, wobei der Eindruck vermittelt wird, erst jenseits des Heterosexuellen könne ein Reich der Freiheit betreten werden.

Dekonstruktion, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung sind zu entscheidenden Begriffen geworden, allerdings in sehr unterschiedlicher, teils konträrer Ausformung. Auf der einen Seite steht das Postulat einer äußerst weitreichenden Selbstkonstruktion, fast schon einer Selbstschöpfung, die kaum noch Grenzen kennt. Man ist so, wie man sein möchte, wie es die inneren Kräfte wollen. Hochflexibel, heute mit diesem, morgen vielleicht mit einem ganz anderen Ergebnis – jenseits des Binären, in unterschiedlichste Richtungen offen. Andererseits und im Widerspruch dazu wird bei Transitionswünschen behauptet, es existiere ein eindeutiges inneres Wissen über sich selbst, das unumstößlich und alternativlos ist. Von einer Selbstkonstruktion, die Spielräume eröffnet und diverse Lösungen zulässt, ist dann nicht mehr die Rede. So sollen Kinder definitiv wissen, ob sie im falschen Geschlecht stecken, und das bereits in einem sehr frühen Lebensalter. Diese Gewissheit dürfe nicht mehr hinterfragt werden. Olson-Kennedy, eine bei Geschlechtsumwandlungen in den USA führende Ärztin (Childrens’ Hospital Los Angeles), lässt daran keinen Zweifel:

»[T]alk about it when you’re three, when you’re 15, when you’re 21, it’s absurd, we really have to understand that people know their gender – they’re not making a decision about their gender, they’re making a decision about what to do with it if it doesn’t match their assigned sex at birth.« Und weiterhin: »People come in, they already know their gender […] I think it’s weird that a stranger would know your gender better than you. I just think that’s odd« (Olson-Kennedy, zit. n. Transgender Trend, 2019).

Niemand dürfe sich deshalb einmischen, niemand habe das Recht, die kindliche Autonomie infrage zu stellen.

2          Neue Gesetzentwürfe: Das befreite Kind

Die kindliche Entwicklung ist stetigen Veränderungen unterworfen. Sie geht mit Brüchen und Irritationen einher, die sich der eigenen Kontrolle entziehen. Das gilt vor allem für die Pubertät, die durch einen mächtigen Triebschub eingeleitet wird, der massiv in das Körperliche und Psychische eingreift. Hier wird ein gänzlich neuer Boden betreten. Was dabei erlebt wird, lässt sich nicht antizipieren, schon gar nicht viele Jahre zuvor.

Friedemann Pfäfflin, ein ausgewiesener Spezialist für Geschlechtsumwandlungen, hat sich intensiv mit der psychischen Situation Transsexueller beschäftigt. Er berichtet aus der klinischen Praxis, dass am Anfang der Entwicklung zumeist ein Missbehagen über das eigene Geschlecht steht und nicht die Gewissheit, dem anderen anzugehören. Insofern geht es aus seiner Sicht »beim ausgeprägten Transsexualismus primär um Identität und nur sekundär um Geschlechtsidentität« (Pfäfflin, 1994, 926; kursiv im Original).

»Phantasie und Wunsch prägen das Bild weitaus stärker als die zweifelslos auch, wenn auch seltener zu hörende Behauptung eines bereits vorhandenen stabilen geschlechtlichen Erlebens. […] Das Stereotyp ›Solange ich denken kann, habe ich mich als Mann bzw. als Frau gefühlt‹, leuchtet schon deshalb nicht ein, weil sich kein Vier- bis Sechsjähriger als Mann bzw. Frau fühlt, allenfalls als Junge und Mädchen« (Pfäfflin 1994, 913).

Zudem zeige die empirische Forschung, dass diese Kinder später zumeist keine transsexuelle Entwicklung nehmen, sondern überwiegend einen homosexuellen Weg einschlagen.

Douglas Murray (2019) ist über eine kulturelle Entwicklung erstaunt und besorgt, die von einem nach wie vor kleinen Personenkreis ausgeht, sich zunehmend ausweitet und zu einem großen gesellschaftlichen Thema geworden ist. »Die Idee, dass ein Neunjähriger eine sexuelle Identität hat, ist grotesk, aber in der amerikanischen Kultur heute allgegenwärtig. Und die amerikanische Kultur schwappt über auf die restliche Welt« (Murray in Schwab, 2019, S. 51). Transgender ist in aller Munde, fast so, als stünde es jedem Menschen nach Belieben offen, ein anderes Geschlecht oder gar keines mehr anzunehmen. Kindern und Jugendlichen wird aufgrund ihres vermeintlichen inneren Wissens zu immer früheren Zeitpunkten zugetraut, schwerwiegende Entscheidungen über sich selbst zu treffen. Also auch darüber, ob ein Transitionsprozess eingeleitet wird, im Konfliktfall auch ohne die Zustimmung und gegen den Willen der Eltern.

Der amerikanische »Equality Act«, der im Mai 2019 vom Repräsentantenhaus verabschiedet, aber noch nicht vom US-Senat bestätigt wurde (CNN, 2019), versteht sich als neues Bürgerrechtsgesetz, das in der Tradition des 1964 beschlossenen »Civil Rights Act« steht. Damals ging es um die umfassende Gleichstellung schwarzer Amerikaner, heute richtet sich die Aufmerksamkeit auf vielfältige andere Formen von Diskriminierungen. Bereits 2013 hatte der damalige »amerikanische Vizepräsident Joe Biden verkündet, dass die Transgender-Frage die ›Bürgerrechtsfrage unserer Zeit‹ sei« (Thomas, 2016, S. 9). Unterschiedliche sexuelle Orientierungen und Formen der Genderidentität werden im »Equality Act« unter besonderen Schutz gestellt. Sie sollen fortan als geschützte Klassen (»protected classes«) gelten, für die in den einzelnen Bundesländern spezielle Vorkehrungen zu treffen sind.

Es ist zweifelslos ein wichtiges Ziel, dass bestehende Diskriminierungen gegenüber Homosexuellen und Transgendern aufgehoben werden. Ob der Equality Act dahin den richtigen Weg weist, darf allerdings bezweifelt werden, da mit weitreichenden und unkalkulierbaren Folgen zu rechnen ist (Stepman, 2021).

Kinder und Jugendliche werden sich auf das einklagbare Recht berufen, dass sie im Sinne eines Bürgerrechts darüber entscheiden können, ob sie abweichend vom biologischen Geschlecht angesprochen werden, Hormone nehmen und sich operativ umwandeln lassen. Anderenfalls würden sie in unzumutbarer Weise beschämt, entwürdigt und diskriminiert (Ahrbeck & Felder, 2020). Wer kritische Fragen formuliert und die Sinnhaftigkeit einer Transition anzweifelt, dürfte sich schnell dem Vorwurf aussetzen, transphob zu sein und sich widerrechtlich zu äußern. Ärzte könnten gezwungen werden, geschlechtsangleichende Operationen an Minderjährigen vorzunehmen, obgleich sie diese fachlich und ethisch für unzumutbar halten.

Im Mai 2021 wurde im Bundestag über zwei Gesetzesvorlagen zur Neufassung des Transsexuellengesetzes diskutiert und abgestimmt. Beide Entwürfe unterschieden sich nur geringfügig voneinander. Sowohl die Vorlage der FDP (Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung, Drucksache 19/20048) als auch die der Grünen (Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Transsexuellengesetzes und Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes (SelbstBestG), Drucksache 19/19755) enthielten, dass jeder Mensch seinen Geschlechtseintrag einmal jährlich ändern kann, offiziell und ohne weitere Überprüfung. Der Geschlechtswechsel reduziert sich demnach auf einen reinen Sprachakt. Die beiden Gesetze sahen außerdem vor, dass Kinder nach Vollendung des 14. Lebensjahres über weitreichende, lebensverändernde medizinische Maßnahmen entscheiden können. Konkret: Über die Einnahme von Hormonen (Entwurf der Grünen) oder chirurgischen Eingriffen (Entwurf der Grünen und FDP). Die Zustimmung der Eltern sollte im Konfliktfall nicht mehr erforderlich sein und stattdessen staatlichen Stellen übergeben werden. Auch wenn diese Gesetzesvorlagen keine Mehrheit fanden, sind sie doch ein Indiz dafür, wie elementar der Mentalitätswandel ist, der sich nicht nur auf der juristischen Ebene anbahnt.

Auch in vielen anderen Ländern wurden oder werden Gesetzesentwürfe von etablierten Parteien auf den Weg gebracht, die Kindern sehr weitreichende Entscheidungsbefugnisse einräumen. In einigen wurden sie abgelehnt, zum Beispiel in Schweden und Großbritannien (EMMA, 2021; Westerhaus, 2021). Andere Länder wie Irland, Malta, Norwegen, Argentinien, Portugal und Belgien haben sie mittlerweile verabschiedet (GSN, 2018). Ob damit dem Kindeswohl entsprochen wird, darf bezweifelt werden.

3          Der Rückzug aus der Erziehung und die ›emanzipatorische‹ Sexualpädagogik

»Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft«, so steht es im Grundgesetz Art. 6, Absatz 2. Dieser Satz ist bis heute gültig, doch seine Rahmung hat sich deutlich verschoben. Sie betrifft unter anderem das Verhältnis der Generationen zueinander. Kindliche Bedürfnisse werden nunmehr besonders beachtet und mit Gewicht versehen, Authentizität und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit gelten als vorrangige pädagogische Bezugspunkte. Kinder sollen deshalb in einem beschützten Klima aufwachsen, das ihren Wünschen entspricht, sie von irritierenden Belastungen und Konflikten verschont, Zwang und Kontrolle vermeidet. Absprache und Aushandeln sind an die Stelle der früheren autoritären Weisung getreten. Insbesondere nach 1968 ist Partnerschaftlichkeit zu einem großen Ziel geworden (Ahrbeck, 2020; Ahrbeck & Felder 2021b).

Bereits in einem frühen Lebensalter wird Kindern heute zugetraut, dass sie wichtige Entscheidungen über ihr Leben eigenständig treffen. Aufgrund vielfältiger Kompetenzen und beträchtlicher innerer Kräfte sollen sie in der Lage sein, in weiten Bereichen autonom und selbstverantwortlich zu agieren, so dass sie nur noch wenig auf andere angewiesen sind (Datler, Eggert-Schmid Noerr & Winterhager-Schmid, 2002). Eine solche idealisierende Überhöhung kindlicher Selbständigkeit und Eigenverantwortung findet sich nicht nur bei vielen Eltern und Erziehern, sondern auch in einschlägigen politisch-programmatischen Texten. Vom »selbständigen Kind« ist schon im Zehnten Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1998) die Rede gewesen, also vor fast einem Vierteljahrhundert. Dammasch (2013, S. 21) fasst diese Entwicklung so zusammen:

»Zumindest in den politischen Leitlinien sind die traditionelle Verantwortung der Eltern für ihr Kind und die emotionale Abhängigkeit des Kindes von den Eltern einer kommunikativen Verflüssigung der Beziehungen gleichwertiger und selbständiger Individuen unterschiedlichen Alters gewichen.«

Das hat dazu geführt, dass sich die Erwachsenengeneration zunehmend aus der Erziehung zurückzieht. Der Erziehungsbegriff bereitet inzwischen Unbehagen, auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, mitunter schlägt ihm eine fast frostige Reserviertheit entgegen. So, als stünden die Gefahren vergangener autoritärer Zeiten noch immer im Raum. Die Erwachsenen sind sich, sehr häufig jedenfalls, ihres Erziehungsauftrags nicht mehr wirklich sicher. Sie zweifeln daran, ob sie sich noch auf verbindliche Erziehungsziele berufen können, und sie treibt die Sorge, sie könnten den kindlichen Ansprüchen nicht genügen. Eine besondere Gefahr entsteht ihrem Erleben nach dann, wenn es um ein abgrenzendes Nein geht, das eine klare Differenz markiert und zu einem heftigen kindlichen Widerspruch führen kann. Die Beziehung könne dadurch, das ist die Befürchtung, Schaden nehmen und Eltern und Erziehende in eine schuldbelastete Position bringen, die sich nicht bewältigen lässt (Lukianoff & Haidt, 2018).

Diese Entwicklung korrespondiert mit einer Fülle kultureller Veränderungen. Kinder sind heute früher, direkter und nachhaltiger gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt. Sie besuchen inzwischen in großer Zahl Krippen, Kindergärten und Vorschulen. Dort kommen sie mit verschiedenen pädagogischen Maßnahmen in Berührung, unter anderem solchen, die der Sexualerziehung dienen sollen. Die »emanzipatorische Sexualpädagogik«, eine »Sexualpädagogik der Vielfalt« hat dabei eine dominierende Position errungen. So wurde für Berliner Kindertagesstätten eine Handreichung »Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik« entwickelt und ein Medienkoffer erstellt, der über »Familien und vielfältige Lebensweisen« aufklären soll. Zahlreiche andere Materialien für den Vorschul- und Schulbereich liegen ebenfalls vor. In der Regel eint sie ein Grundanliegen: Die Sexualerziehung soll die kindliche Entwicklung nicht nur begleiten und altersspezifisch relevante Fragen aufnehmen, sondern vorgreifen, aktivieren und zum sexuellen Experimentieren anregen. Und sie soll in eine Richtung lenken, die das dominierende kulturelle Selbstverständnis infrage stellt. Das ist der Auftrag, den sich die »emanzipatorischen Sexualpädagogik« erteilt hat, die in der Tradition Helmut Kentlers steht und in Schriften wie der »Sexualpädagogik der Vielfalt« (Tuider, Müller, Timmermanns, Bruns-Bachmann & Koppermann, 2012) ihren Niederschlag findet. Es ist mehr als eine Petitesse, wenn Sielert (2001, S. 8) die Parole ausgibt, Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollten nicht mehr genötigt werden, »sich überhaupt als Junge oder Mädchen, Mann oder Frau definieren zu müssen«.

Die soeben genannte Handreichung, die mit staatlicher Unterstützung erarbeitet wurde, hat sich explizit das Ziel gesetzt, »Themen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt aktiv in die frühkindliche pädagogische Arbeit einzubringen«. Das geschieht durchaus interessengeleitet: »In vielen Kitas gibt es einen Murat, der gern Prinzessin spielt, eine Alex, die bei lesbischen, schwulen und transgeschlechtlichen Eltern zu Hause ist, oder einen Ben, der nicht länger Sophie heißen möchte«, wie es in der Einführung heißt (Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg & Bildungsinitiative Queerformat, 2018, S. 11 bzw. 12). Diese Themen sollen besonders intensiv behandelt werden. Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass transgeschlechtliche Eltern höchst selten sind und der Status von Kindern, die (punktuell) ihren Namen ändern wollen, sehr ungewiss ist.

Transgender ist ein Thema, das auch Eingang in Kinderbücher gefunden hat. Offensichtlich wird es für so wichtig gehalten, dass es bereits Vierjährigen nahegebracht werden soll – wie etwa in »Teddy Tilly« (Walton, 2016) oder »Julian ist eine Meerjungfrau« (Love, 2020). Auch die Situation transsexueller Eltern wird beleuchtet: In »Wie Lotta geboren wurde« (Schmitz-Weicht & Schmitz, 2015) heißt es: »Lottas Papa heißt Tobias […] und er möchte ein Kind. Und wie Lotta in seinem Bauch wachsen kann, ist gar nicht so kompliziert, wie manche Erwachsene denken. Dieses Bilderbuch thematisiert auf altersangemessene Weise transgeschlechtliche Elternschaft.« Was sollen Kinder davon haben? Wozu soll das dienen? Diese Fragen bedürfen einer ernsthaften Antwort, die sich nicht in allgemeinen Floskeln erschöpfen darf.

Dammer (2015, S. 26) bewertet diese Entwicklung so:

Die »Sexualpädagogik der Vielfalt [nimmt] eine relativ extreme Stellung ein, zum einem, da sie einen massiven Einfluss gegenüber anderen, gerade in diesem Bereich wohl sehr wirksamen Bedingungsfaktoren beansprucht und zum anderen, weil es ihr offensichtlich um Verwirrung von Identitätskonzepten geht, als um eine reflektierte Auseinandersetzung damit.« Und weiterhin: »Im Namen der Vielfalt, die sich auf nur eine geringe Zahl potenzieller Fälle bezieht, wird mit der Verwirrung, wenn nicht gar Pathologisierung der überwiegenden Mehrheit der Identitätsentwürfe ignoriert, ›welche Bedeutung Kohärenz für individuelle Gesundheit und soziale Erwartungsstabilisierung hat‹ (Nummer-Winkler 2009, S. 355), so dass eine solche Form von Sexualerziehung pädagogisch höchst fragwürdig erscheint« (Dammer 2015, S. 27).