Gebrauchsanweisung für Island - Kristof Magnusson - E-Book

Gebrauchsanweisung für Island E-Book

Kristof Magnusson

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Beschreibung

Im Land der Trolle und der atemberaubenden Natur Island ist schon lange kein Geheimtipp mehr, sondern hat sich zu einem wahren Touristenmagneten entwickelt. Was macht den Reiz des Landes und seine schroffe Exotik aus?  »Eine sehr gelungene Analyse der isländischen Mentalität und ein idealer Einstieg für Island-Neulinge« ARD Druckfrisch Gletscher, Geysire und schräge Charaktere: Doch wie ticken die Isländer:innen wirklich? Wie passen boomender (Luxus-)Tourismus und Naturschutz zusammen? Wo geht Island kulinarisch neue Wege? Was hat es mit der »Kochtopfrevolution« auf sich? Und wie wurde Fußball zum Nationalsport? Schriftsteller und Insider Kristof Magnusson zeigt uns, worin die einzigartige Faszination der Insel liegt – von typischen Schwimmbadbesuchen und Hot Springs bis zu Sommerfestivals, von erfolgreichen isländischen Filmen und Serien bis zum Umgang mit Immigration und Diversity, von Reykjavíks Nachtleben bis zu spektakulären Vulkanen, die neuerdings sogar in Sichtweite der Hauptstadt ausbrechen. 

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Überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuausgabe 2024

© Piper Verlag GmbH, München 2011, 2018 und 2024

Redaktion: Matthias Teiting, Leipzig, und Bettina Feldweg, München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Ausbruch des Geysirs Strokkur (Laurie Noble / Getty Images)

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte))

Widmung

Für Magnus Weitemeier Magnusson (1935–2022)

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte

Das unmögliche Land

»How do you like Iceland?« – Island und seine Schwimmbäder

Vulkane

Der isländische Traum. Island und die Krisen

Natur

Die Sagas – Geschichten und Geschichte

»There is no life outside the city« – Reykjavík und der Alltag

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte

Das unmögliche Land

Vor zwanzig Millionen Jahren sah die Welt bereits so aus, wie wir sie heute kennen. Die Kontinente hatten sich zurechtgeschüttelt, die Ozeane hatten ebenso ihren Platz eingenommen wie die Gebirge – nur dort, wo heute Island ist, war nichts als Meer. Dann brachen einige Tausend Meter unter diesem Meer ein paar Vulkane aus und beruhigten sich erst wieder, als die Lava sich bis über die Wasseroberfläche aufgetürmt hatte. Gleich einer Feuer spuckenden Operndiva betrat ein neues Land die Bühne der eigentlich schon fertigen Welt: Island.

Bis heute kann die Geologie nicht mit Sicherheit sagen, wie es in diesem erdgeschichtlich späten Stadium zu einer derartig riesigen Eruption kommen konnte – eigentlich ist Island ein Ding der Unmöglichkeit.

Nicht weniger verwundert es, dass auf dieser Insel seit fast 1200 Jahren Menschen leben. Den Anfang machten einige norwegische Siedlerinnen und Siedler, die sich in offenen Booten auf den Atlantik wagten, zu dieser obskuren Insel segelten und dort Kälte, Dunkelheit und Vulkanausbrüchen trotzten, nur weil sie fern ihrer norwegischen Feudalherren in Freiheit leben wollten. Oder, unpathetischer gesagt, weil sie in Norwegen so viele obrigkeitstreue Bauern erschlagen hatten, dass König Harald Schönhaar ihnen nach dem Leben trachtete. Die Daheimgebliebenen werden diesem Unterfangen jedenfalls keine großen Chancen eingeräumt haben. Diejenigen Siedler, die nicht gleich an Island vorbeisegelten und irgendwo untergingen, hatten nur einen kurzen Sommer Zeit, um Weiden für ihr Vieh zu finden, Häuser zu bauen und Vorräte anzulegen; dann galt es, einen langen Winter zu überleben. Es gab nicht einmal Bäume, die groß genug waren, um Planken zu zimmern und damit die Schiffe zu reparieren, die im Winter verwittert waren. Die Isländerinnen und Isländer waren im Frühling regelmäßig von der Außenwelt abgeschlossen und mussten darauf hoffen, dass die norwegischen Verwandten sie nicht vergessen hatten und sich mit den dringend benötigten Waren auf den Weg zu ihnen machten.

Im Laufe der Jahrhunderte brachte jede Missernte, jede Pestepidemie oder Viehseuche die Bevölkerung an den Rand der Auslöschung – vor zweihundert Jahren schien es endgültig so weit zu sein: Die Lakagígar-Spalte platzte auf 25 Kilometer Länge auf, über 130 Vulkane spuckten Lava, giftige Asche legte sich über das ganze Land. Mehr als die Hälfte des Viehs und ein Viertel der isländischen Bevölkerung (die gerade erst eine Pockenepidemie überstanden hatte) starben, der Rest wurde so bitterarm, dass die dänischen Kolonialherren noch Jahre später überlegten, Menschen und Vieh komplett nach Westjütland zu evakuieren. Die von manchen Isländer:innen vertretene Theorie, dieser Ausbruch habe Missernten in Europa und damit die Französische Revolution ausgelöst, sagt wiederum einiges über das isländische Selbstbewusstsein aus, doch davon später mehr.

Island ist also ein Land, das es eigentlich nicht geben dürfte, besiedelt von einem Volk, das längst hätte evakuiert werden sollen. Und ein Land der gelebten Unmöglichkeiten ist Island auch bis heute geblieben. Die Natur greift so unmittelbar in das Alltagsleben ein, wie wir Mitteleuropäer es nur selten erleben. Das fängt bei Sandstürmen an, die den kompletten Lack vom Auto schmirgeln, und hört bei Vulkanen auf, die unterhalb von Gletschern ausbrechen, Flutwellen katastrophenfilmischen Ausmaßes auslösen, Straßen und Brücken fortreißen und das Gesicht ganzer Landkreise innerhalb weniger Tage völlig verändern.

Auch das Gefühl, dass es zu wenig Leute gibt, um ein komplettes Gemeinwesen am Laufen zu halten, kennen die Isländer bis heute. Das Land muss mit nur 390 000 Menschen alle Funktionen einer arbeitsteiligen Gesellschaft besetzen, vom Geigenbauer über die Kindernephrologin bis zum Fluglotsen. Nebenbei muss es einen kompletten Nationalstaat am Laufen halten, Diplomaten nach Japan und China, Beamte zur NATO und UNO schicken, eine Oper, ein Sinfonieorchester und ein Ballett finanzieren und ein dauernd von Unwettern fortgespültes Straßennetz flicken.

»Wie machen die das?« Diese Frage höre ich, seit ich klein bin, immer wieder. Deutsche Freundinnen und Bekannte haben sie meinem Vater gestellt, und ich erinnere mich genau an die mit Stolz vermischte Ratlosigkeit, mit der mein Vater auf diese Frage reagierte, denn richtig beantworten konnte er sie nicht. Er wusste nicht, wie die das machen, was meine kindliche Überzeugung verstärkte, dass Island weniger ein Land, sondern vielmehr ein Wunder sei.

Natürlich war auch ich stolz darauf, dass meine Familie väterlicherseits aus diesem Wunder namens Island stammte. Was sicher an den Gletschern und Geysiren lag, aber noch mehr daran, dass mein Großvater dort eine – nach der altnordischen Fruchtbarkeitsgöttin Freyja benannte – Schokoladenfabrik besessen hatte. Und an den Geschichten, die mein Vater mir erzählte, von Orkanen, gegen die man sich lehnen konnte, ohne umzufallen, von Seeskorpionen, die er mit seinen Freunden im Reykjavíker Hafen fing, oder dem Busausflug, den er mit seinem Vater 1947 zu den Lavaströmen der ausbrechenden Hekla machte – Geschichten, die sich in meiner Erinnerung mit den Fotos auf der Titelseite des Morgunblaðið mischten, das jeden Tag in unserem Hamburger Briefkasten lag und wenig anderes als Bilder von Vulkanausbrüchen oder Anglern mit besonders großen Fischen zeigte. Unser Haus in Hamburg war voll von diesen Islandgeschichten. Sie erzählten sich mir durch den großen Bildkalender der Reederei Eimskip, den ein alter Freund meinem Vater jedes Jahr zu Weihnachten schickte, den scharfkantigen Aschenbecher aus Basaltgestein auf dem Wohnzimmertisch, das Modell des Icelandair-Flugzeugs auf dem Schreibtisch, die mit Wikingerschiffen bedruckten Wandteller mit der Aufschrift landnám 874–1974, die seit dem 1100. Jahrestag der Besiedlung fast in jedem isländischen Haushalt zu finden sind. In jedem Zimmer stand, hing oder lag etwas herum, das an Island erinnerte, vielleicht weil mein Vater schon so lange in Deutschland war.

Ohnehin war Hamburg in meiner Erinnerung ein ziemlich isländischer Ort. Es gab viele Isländerinnen und Isländer, die dort bei Fischimporteuren arbeiteten oder an der Uni promovierten. Der Verein der Isländer in Hamburg veranstaltete gefühlte vierzig Grillfeste pro Jahr sowie das für das Nationalbewusstsein immens wichtige kollektive Grand-Prix-Gucken. Ein Freund meines Vaters wohnte mit seiner Familie erst bei uns, dann ganz in unserer Nähe, ich spielte mit seinem Sohn und versuchte, mich auf Isländisch zu unterhalten, was mal besser, mal schlechter gelang.

Obwohl, oder vielleicht gerade weil ich in Deutschland geboren war und aufwuchs, habe ich Island als Kind immer für ein einzigartiges Land gehalten, und eigentlich denke ich das auch heute noch: Island ist einzigartig.

Egal, wie oft man nach Island fährt, dieses Gefühl lässt niemals nach. Ich bin inzwischen wohl dreißigmal dort gewesen, manchmal für ein paar Tage, manchmal für Monate, einmal für mehr als ein Jahr. Und doch erfüllt es mich noch jetzt jedes Mal mit Freude, wenn ich auf dem Leif-Eriksson-Flughafen lande und höre, wie die Stewardess auf Englisch »Willkommen in Island« sagt und dann die Landsleute mit »Willkommen zu Hause« begrüßt. Noch immer fasziniert mich die Fahrt von Keflavík in Richtung Reykjavík auf der in das Gestein gefrästen Landstraße, die durch ein Lavafeld aus bizarren Basaltstrukturen führt. Hier hat die NASA ihre Mondlandefahrzeuge ausprobiert. Kuhlen, Senken, Spalten, Löcher, Kanten, Wülste, ein ständiges Rauf und Runter, dahinter Kieshalden, an den Hängen seltsam mineralisch wirkende Berge, ein Kegelvulkan in der Ferne, irgendwo dampft es aus dem Boden. Das vom Meer in Tausende Teile gebrochene Licht bringt selbst das bröselige Moos zum Leuchten; da ist es also wieder, dieses typisch isländische, durch nichts aufgehaltene Licht, das alle Urlaubsfotos zwangsläufig kitschig erscheinen lässt. Als hätte das isländische Fremdenverkehrsamt den Flughafen hier bauen lassen, um allen von Anfang an klarzumachen: Dies ist eine andere Welt.

Fast jedes Land ähnelt einem anderen. Wer sich in Mitteleuropa bewegt, merkt an der Landschaft nicht, wann er die Grenze von Deutschland nach Tschechien oder von Belgien nach Holland überquert hat. Island hat keine Nachbarländer, und auch mit anderen Vulkaninseln, mit Sizilien, Japan oder Hawaii, gibt es keine Ähnlichkeit, nicht nur weil Island so weit im Norden liegt, sondern auch weil es dazu nicht alt genug ist. Island ist das jüngste Land der Erde, das einzige Land, dem man noch beim Entstehen zusehen kann. Alle Besucher können miterleben, wie dieser geologische Teenager immer wieder sein Aussehen verändert, sich mit kalbenden Gletschern, abbrechenden Küsten, auftauchenden Inseln, verschwindenden Flüssen und Wasserfällen immer wieder neu stylt und vom Erdbeben bis zur Bankenpleite keinen Unfug auslässt. Auch die exponierte Lage trägt einiges zur Faszination Islands bei. Island ist einer dieser Felsen, an dem Europa endet, so wie Gibraltar, nur dass hinter Island keine neue Welt beginnt, sondern nur noch Eis kommt. Island ist der Übergang zum Nichts, der ultimative Außenposten – Ultima Thule.

Angesichts dessen wundert es kaum, dass Island derart treue, begeisterte, zum Teil regelrecht fanatische Fans hat. In Island macht man nicht »mal Urlaub«, nach Island fährt man nicht »einfach so«. Island ist ein Land, das Reisende sich erarbeiten – und bei schlechtem Wetter sogar erkämpfen – müssen. Sie müssen sich auf ein wechselhaftes Klima und schwieriges Gelände einstellen, erkunden, wo Schutzhütten liegen und wo im vulkanischen Untergrund möglicherweise ein Zelthering halten könnte, sie müssen sich mit Tütensuppen eindecken, Rucksäcke imprägnieren und den Körper mit Funktionsunterwäsche voll verschalen. Einige lassen es dabei nicht bewenden und weiten die Vorbereitungen über das Praktische ins Ideelle aus, lesen landeskundliche Werke, glaziologische Fachliteratur, Sagas und Laxness und haben damit die Grenze vom Touristen zum Fan bereits vor Reiseantritt überschritten.

Ein Land, das derart intensive Reisevorbereitungen erfordert, ist bei den Deutschen, die sich ja gern auch im Urlaub etwas Arbeit machen, logischerweise beliebt. Doch das Interesse der Deutschen an Island ist älter als der neuzeitliche Individualtourismus. Schon die Autoren des Mittelalters haben Island als mystischen Ort beschrieben, gleichsam als Ende der Welt, und den Vulkan Hekla als Eingang zur Hölle. Und sie kannten natürlich das Sternbild dort am Nordhimmel, das niemals unterging, den Großen Wagen, den die alten Griechen »Arktos« nannten. Was musste diese »arktische Region« für ein fantastischer Ort sein, wenn sich dort nicht einmal die Sterne an die Gesetze der Natur hielten? Bis heute ist der Norden ein Traumort geblieben. Eine Reise in den Norden ist das Gegenteil von Goethes Italienreise. Es geht nicht um Opulenz, sondern um Reduktion. Island als kalter, klarer, karger Ort, an dem das Innenleben endlich den Raum bekommt, den es in unserem ablenkungsreichen Alltag nicht einnehmen kann.

Jede Reiseleiterin kann Geschichten von Menschen erzählen, die angesichts dieser Landschaft eine Begeisterung packt, die weit über das touristische Normalmaß hinausgeht. Anwältinnen, Techniker, kaufmännische Angestellte, die nach ein paar Tagen in einer menschenleeren Frostschuttwüste im Hochland oder inmitten der riesigen schwarzen Sanderflächen südlich der Gletscher beschließen, ihre Wohnung im Vorort von Paris oder Dortmund zu verkaufen, ihren Job zu kündigen, den Partner zu verlassen und in Island einen aufgegebenen Resthof zu beziehen.

Oft sind dies weit gereiste Menschen, die so viel gesehen haben, dass sie gar nicht mehr damit gerechnet haben, ein unbekanntes Land könne sie derart anrühren. Island beweist ihnen das Gegenteil. Die Weite, die Farben, die Leere, die Luft geben ihnen das Gefühl, die ganze Welt für sich allein zu haben.

Viele Menschen im zersiedelten Europa haben den Eindruck, nicht mehr zu sein als eine Nummer unter Millionen. Hier in der Natur fällt diese Beklemmung plötzlich von ihnen ab. Der kärgliche Liebreiz der isländischen Landschaft hat diese Leute mitten ins Herz getroffen.

Bis auf – durchaus vorhandene – Ausnahmen bleiben diese Menschen zu Hause wohnen. Und doch kommen sie immer wieder nach Island zurück, denn sie sind zu dem geworden, was man Íslandsvinur nennt. Wörtlich übersetzt heißt das »Islandfreund«, bedeutet aber eher »Islandfan« und bezeichnet die Stammgäste, für die Island zum Hobby und zur Leidenschaft geworden ist. Ein Íslandsvinur lernt in seiner Freizeit Isländisch oder kennt alle isländischen Berge mit Namen, eine andere gibt ein Vermögen für antiquarische isländische Bücher aus, ohne auch nur ein Wort der Sprache zu verstehen, sammelt Minerale oder weiß mehr über Trolle und Islandpferde als die meisten Einheimischen – und manche fahren auch ohne spezielles Wissensgebiet einfach immer wieder hin.

Diese Islandfans sind inzwischen selbst eine Art Sehenswürdigkeit geworden, die Isländer:innen können die berühmtesten von ihnen im Schlaf aufzählen: von Schriftsteller Jorge Luis Borges über Schachweltmeister Bobby Fischer bis zu Journalisten wie Henryk M. Broder, Künstlern wie Wolfgang Müller oder Dieter Roth und Popstars wie Justin Bieber und Beyoncé.

Es ist natürlich nicht nur die Leere, von der die Leute nach Island gezogen werden. Sonst würden sich ja die sibirische Taiga oder die endlosen Maisfelder von Iowa ähnlicher Beliebtheit erfreuen. Zum wahren Íslandsvinur wird erst, wer sich auch für die isländische Kultur und Gesellschaft begeistert.

Auch in diesen Bereichen mangelt es nicht an Exotik, zumindest nicht, wenn man etwas genauer hinschaut: Die Reifen an den Geländewagen sind größer, die Pferde sind kleiner, der Sand ist schwarz, die meiste Zeit ist es entweder zu hell oder zu dunkel, und im Kino wird neben Chips und Popcorn auch Trockenfisch als Knabbersnack verkauft. Manchmal erscheint es mir, als hätte David Lynch das isländische Alltagsleben inszeniert: Alles sieht fast so aus, wie wir es kennen, aber eben nur fast, eine Parallelwelt, die nur um wenige Zentimeter gegenüber der unseren verschoben ist, gerade so weit, dass alles Gewohnte verschwimmt.

Die Isländer:innen sind Meister darin, europäische und nordamerikanische Einflüsse aufzunehmen und mit insularem Eigenwillen umzuprägen: Das fängt schon im Flugzeug an. Icelandair ist eine ganz normale Fluggesellschaft, die mit ganz normalen Boeings zu ganz normalen Orten fliegt. Es gibt Cola, Tomatensaft und Kaffee. Nur dass auf den Kaffeebechern verschiedene isländische Wörter stehen und auf den Servietten von Wasserfällen oder den ersten Siedlern erzählt wird. Die Businessclass ist bei dieser Fluggesellschaft übrigens nach den berühmten mittelalterlichen Handschriften benannt, sie heißt: Saga Class.

Dass die isländische Kultur der unseren nicht völlig fremd ist, lässt das Land nicht weniger exotisch erscheinen. Die Tatsache, dass in dieser schroffen, wilden Welt Menschen wie wir leben, die mit ihren Kindern ins Weihnachtsmärchen gehen, nächtelange Tarifverhandlungen führen und sich mit Konfirmationsfeiern und Sorgerechtsprozessen herumschlagen, scheint die Begeisterung im Ausland eher noch zu beflügeln. Island ist der Beweis dafür, dass ein naturnahes Leben und westlicher Lebensstandard miteinander vereinbar sind. Der Beweis dafür, dass auch hoch entwickelte Zivilisationen exotisch sein können. Ein Land mit gutem Bildungssystem, fantastischer Geburtenrate, vorbildlicher Kinderbetreuung, einer vollwertigen Ehe für queere Paare und sauberer Energie.

Hierzu gesellt sich eine fast endlose Liste von fun facts: In Islandkrimis passieren mehr Morde als im wirklichen Leben, die Sprache hat sich in den letzten siebenhundert Jahren so wenig verändert, dass man noch heute die alten Sagas lesen kann, alle duzen den Präsidenten, die Lebenserwartung ist so hoch wie sonst nur in Japan. Fakten, die immer wieder für eine Nachricht auf der Vermischtes-Seite der Tageszeitung gut sind. Hinzu kommen die Trekkingreportagen im Reiseteil, Berichte von Lawinen, Gletscherläufen und Schachweltmeisterschaften, aber auch echte Top News wie die vom Gipfeltreffen Reagan-Gorbatschow, von der Finanzkrise oder der Aschewolke.

Landet etwa Mannheim bei vergleichbarer Bevölkerungszahl so oft in den internationalen Schlagzeilen? Fragen wie diese sind der isländische Nationalsport Nummer eins: der Pro-Kopf-Vergleich. Das ganze Volk scheint dem Wahn verfallen zu sein, jedes Phänomen proportional zur Bevölkerung betrachten zu müssen, was natürlich, so man denn Einzelfälle herausgreift, zu beeindruckenden Resultaten führt. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war Island das Land mit der niedrigsten Nobelpreisträgerdichte der Welt, nämlich: null. Mit dem Literaturnobelpreis an Halldór Laxness 1955 änderte sich das schlagartig. Nun hatte das Land die höchste Nobelpreisträgerdichte der Welt. Auch die Anzahl der Schachgroßmeister, verlegten Bücher, Internetanschlüsse und Schwimmbäder lässt sich ähnlich öffentlichkeitswirksam hochrechnen und zu Sätzen formen wie: »Es gibt zwölf isländische Schachgroßmeister. Im Vergleich dazu müssten die USA zwölftausend haben.«

Wenn sie von ihrem Land erzählen, kombinieren die Isländer geschickt diese Zahlenspiele mit der Romantik eines entbehrungsreichen Lebens und den netten Seiten einer skandinavischen Kinderbuchidylle. Island wird zu einer Art Bullerbü ohne Bäume, das in der ZDF-Weihnachtsserie Nonni und Manni und den ihr zugrunde liegenden Büchern Hunderttausende deutsche Kinder fasziniert hat.

So formen neben der Natur auch Kultur und Gesellschaft den Mythos Island. Alle Reiseleiter und smalltalkenden Taxifahrerinnen tragen mit ihrem Erzähltalent zu diesem Phänomen bei, aber auch viele normale Isländer:innen, die sich – natürlich in ausgezeichnetem Englisch – zu Hause oder auf Reisen mit Nichtisländer:innen über ihr Land unterhalten. Alle diese Anekdoten und Fakten haben ein erzähltes Island geschaffen, ein Island der Geschichten, das wesentlich größer ist als die eigentliche Fläche der Insel.

In den dreißig Jahren, seit ich begonnen habe, über Island nachzudenken, hat sich vieles verändert. In der Grundschule wurde ich noch gefragt, ob meine isländischen Verwandten in Iglus wohnten, und die meisten Deutschen wussten nicht, dass Isländisch überhaupt eine Sprache ist. Es war die Zeit vor Björks Auftritt bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Athen, die Zeit, bevor Sigur Rós in den USA in ausverkauften Hallen spielte und die Islandkrimis von Arnaldur Indriðason Millionenauflagen erreichten, die Zeit vor dem inzwischen legendären Sieg der isländischen Nationalmannschaft gegen England im Achtelfinale der Fußball-EM 2016; die Zeit, bevor die Kaupthing-Pleite gezeigt hat, dass die geringe Einwohnerzahl die Statistiken nicht nur bei Nobelpreisen ausschlagen lässt – auch negative Ereignisse wie die Staatsverschuldung nehmen schnell verheerende Ausmaße an.

Mit seiner kleinen, gut vernetzten und risikofreudigen Bevölkerung gleicht Island einem Versuchsmodell, in dem Ideen aus der großen Welt schnell umgesetzt werden können und ebenso schnell Resultate zeigen. Nicht nur das Land kann sich durch Vulkanausbrüche und Gletscherläufe von heute auf morgen verändern. Auch die Gesellschaft und Wirtschaftsordnung sind noch im Werden, und das zu beobachten ist ebenso faszinierend wie eine Wanderung auf wenige Jahrzehnte alter Lava. Die einzige Grundkonstante des isländischen Landes und Lebens ist die Veränderung.

In den letzten Jahren scheint es nur noch zwei Gruppen von Deutschen zu geben: die, die schon einmal in Island gewesen sind, und die, die unbedingt einmal hinwollen. Ich muss zugeben, dass es inzwischen sogar Leute gibt, die »mal in Island Urlaub machen«. Längst nicht mehr alle Islandreisenden müssen sich an der Flughafen-Sicherheitskontrolle aus ihren Bergstiefeln mühen, manche fahren völlig unvorbereitet für ein verlängertes Wochenende nach Reykjavík. Einfach so. Denken sie zumindest. Doch in jedem Flugzeug, in jedem Bus zur Blauen Lagune sitzen einige, die wiederkommen werden. Immer wieder. Immer länger.

Ganz gleich, ob Sie schon ein Íslandsvinur sind oder vor derartigen Schwärmereien gefeit sind; ganz gleich, ob Sie dieses Buch aus allgemeinem Interesse zur Hand genommen haben, es Teil einer ausführlichen Reisevorbereitung ist oder ob Ihnen zwei Tage vor dem Kurztrip einfiel, dass Sie noch keinen Reiseführer haben und es dieses Buch war, das die Buchhandlung vorrätig hatte: Ich möchte nun versuchen, Ihnen meine zweite Heimat nahezubringen, mit dem halb fremden, aber dadurch nicht weniger begeisterten Blick eines Deutschisländers.

»How do you like Iceland?« – Island und seine Schwimmbäder

Jede Islandreise sollte in einem Schwimmbad beginnen. Schwimmbäder sind für Island das, was für Irland Pubs sind: die einzige Sehenswürdigkeit, die gleichzeitig integraler Bestandteil des Alltagslebens ist.

Abgesehen davon ist der Schwimmbadbesuch – im Gegensatz zum Fischen, Wandern oder Reiten – eine der wenigen touristischen Aktivitäten, die umso mehr Spaß machen, je schlechter das Wetter ist. In Island gibt es fast ausschließlich Freibäder, und an einem dunklen Winterabend draußen im heißen Wasser zu sitzen, während einem Schnee auf den Kopf fällt und sich Eisklumpen im Haar bilden, ist das beste Islanderlebnis überhaupt. Ganz nebenbei befindet man sich, auch wenn es bei der angenehmen Wärme kaum auffällt, im Schwimmbad an einem Ort von großer kultureller und historischer Bedeutung.

 

Nur wenige Dörfer haben eine Dorfkneipe, ein Schwimmbad gibt es überall. Zur Basisausstattung gehören ein 25-Meter-Becken mit ein paar Bahnen und ein Dampfbad, das Architekt:innen besondere gestalterische Selbstverwirklichung ermöglicht: Hier gibt es nichts, was es nicht gibt, von abstrakten Objekten aus Glasbausteinen und Waschbeton bis zu verwunschenen Felsgrotten und quietschgelben Plastikkabuffs. Der dritte Teil der Basisausstattung ist das, was die isländische Badekultur so besonders macht: ein heitur pottur. Ein solcher heißer Topf ist ein meist rundes Becken aus Beton, das gerade so tief ist, dass acht bis zwölf Leute in ungefähr vierzig Grad heißem Wasser darin sitzen können. Wenn dieses Wasser direkt aus Bohrlöchern oder Thermalgebieten in die Schwimmbäder geleitet wird, kann es sehr nach Schwefel riechen, doch in immer mehr Schwimmbädern ist es heutzutage ganz normales, im Wärmetauschverfahren erhitztes Quell- oder Meerwasser.