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Es gibt überhaupt kein Hauptwort, das metaphorisch so ausgebeutet wird wie »das Herz«. Man nimmt sich etwas zu Herzen bis zu den herzlichen Grüßen. Bei so viel Herzlichkeit unter den Menschen ist es kein Wunder, dass diese Überbetonung einem Menschenkenner wie Lichtenberg nicht ans Herz, sondern auf die Nerven geht: »Was sie Herz nennen liegt weit niedriger als der 4. Westenknopf.« Aber es ist auch kein Wunder, dass das Herz unsere Metaphern(un)ordnung dominiert: Es geht mit dem Herzen um Leben und Tod, das Herz gibt es wirklich: Es steht bei aller metaphorischen Überbeanspruchung auch dem chirurgischen Eingriff, ja sogar der »Herztransplantation« offen.
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Seitenzahl: 40
Franz Schuh
Gedankenspiele über
das Herz
Literaturverlag Droschl
Seit einiger Zeit lebe ich den Tränen nahe. Wenn man so einen Satz auf der Kabarettbühne sagt, antwortet ein gut eingespieltes Publikum mit einem widerhallenden, ironischen Seufzer. Den kann ich zur Not auch selbst produzieren. Nicht nur ein ehemaliger Gesundheitsminister kann seinen Burn-out pflegen, auch ein Essayist wie ich kriegt das hin. In der schlaflosen Nacht sehe ich »Medical Detectives«, eine eitle, kriminologische Fernsehdokumentation über die wohlfeilsten Verbrechen – eitel auch, weil die Sendung immer triumphierend mit dem Hinweis endet, ohne die Fortschritte der forensischen Wissenschaften hätte man niemals den Mörder überführt.
Immerhin erfährt man, dass es unter Menschen auch den einen Vater gibt, der wegen der Lebensversicherung seinen achtjährigen Sohn umgebracht hat. Aber »Medical Detectives« ist gewöhnlich eine sehr schematische Sendung, denn sie funktioniert immer so: Der Gatte / die Gattin entdeckt den jeweiligen Lebenspartner, er liegt ermordet im Ehebett. Der jeweilige Lebenspartner war einkaufen, weist also ein Alibi vor, das sich allerdings – durch forensische Ermittlungen – als Fake erweist. Der Mörder ist immer der Partner!
Am Tag, beim späten Frühstück, lese ich in meinem Leibblatt die Geschichte von »Fräulein Lieser«, von einem Bild Klimts, das in der NS-Zeit verschwand. Lilly Lieser war die Besitzerin des Bildes, das bei einem gewissen Adolf Hagenauer, einem Parteigenossen der NSDAP, all die Zeit untergebracht war. Der Mann war so eine Art Großgreißler, der »Spross« einer von seinem Großvater 1873 gegründeten Delikatessenhandlung an der Adresse Tuchlauben 4. In meinen Augen war so eine Figur aus den »Letzten Tagen der Menschheit« von Karl Kraus. Und Lilly Lieser? Sie war im Jänner 1942 zuerst ins Ghetto nach Riga deportiert und Anfang November 1943 im Gas von Ausschwitz ermordet worden. Das Bild wird in die Siegerkunst eingereiht. Bei der Versteigerung im Palais Kinsky rechnet man zwischen 30 und 50 Millionen Euro, so viel, schreibt die Zeitung, werde das Bild »einspielen«. Es sind nur dreißig Millionen geworden – die gelungene Verwandlung eines Kunstwerks mit Schicksal in »Siegerkunst«.
Ich muss mir ein Herz nehmen, um zum Thema zu kommen. Methode heißt Weg, und meine Methode heißt immer Umweg. Ich will nie »auf den Punkt« kommen, auch weil ich denke, er existiert gar nicht. Das kommt von einem paradoxen Selbstgefühl: einerseits glaube ich, dass man in jedem »Thema«, das diesen Namen verdient, immer schon tief genug drinsteckt. Anderseits fürchte ich mich davor, in so eine Tiefe überhaupt ab- oder gar hinaufsteigen zu müssen. Essayistik ist auch ein Spiel mit der Bodenhaftung. Meine Umwege bilden einen Wall gegen Versuchungen und gegen die Angst, in der Sache zu scheitern. »Gedankenspiel« – das Wort verspricht mir Tröstliches.
Meine Jugendfreundin wurde ins Herz-Jesu-Spital eingeliefert, ich mache mir Sorgen. »Fürwas steht das Herz Jesu«, fragt man bei Google, und ich kann nicht anders als fragen, wofür es denn steht. In der Herz-Jesu-Verehrung wird Jesus Christus unter dem Symbol seines Herzens als die personifizierte Liebe verehrt. Das durchbohrte Herz des Gekreuzigten sei daher die Quelle der Sakramente und der Kirche.
Es ist eine Horrorgeschichte, die uns der Apostel Johannes erzählt hat. Sie zeigt, dass Religion keine unblutige Sache ist. Es war an einem Sabbat, an einem hohen Festtag. Deshalb baten die Juden Pilatus, Jesus und seinen anderen zwei gekreuzigten Kollegen am Kreuz die Beine zu zerschlagen. Die Leichname sollten nicht während des Sabbats hängen bleiben. Die Soldaten, wahre Kriegsknechte, kamen und brachen dem ersten die Beine und dann dem zweiten: »Als sie jedoch zu Jesus kamen und feststellten, dass er bereits tot war, brachen sie ihm die Beine nicht.« Dafür taten sie anderes, gleichsam in Erfüllung dessen, was ohnedies schon in der Schrift, sofern sie die heilige war, feststand: » Einer von den Soldaten allerdings stach mit der Lanze in seine Seite, worauf sofort Blut und Wasser aus der Wunde traten.«
Johannes betont, dass dies vor Zeugen geschah: »Das bezeugt der, der es mit eigenen Augen gesehen hat, und sein Bericht ist wahr. […] Und er bezeugt es, damit auch ihr glaubt. Diese Dinge sind geschehen, weil sich erfüllen sollte, was in der Schrift vorausgesagt ist: ›Es wird ihm kein Knochen gebrochen werden.‹« Der Sinn ist klar: Sie werden Jesus, »welchen sie durchstochen haben«, als einen ganzen Menschen, also ungebrochen ansehen (müssen). Es ist auch eine Public-Relations-Aktion gewesen: das Herz Jesu, aus dem Blut und Wasser spritzt. Das Herzblut verschafft dem Ereignis höchste Glaubwürdigkeit – beglaubigt von Blut, aber auch von Wasser.