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Was ist das: Ruhe? Was bedeutet sie für jede/n Einzelne/n? Vor einiger Zeit schlug Doris Knecht in einer ihrer Kolumnen die Abschaffung des Ruhe-Abteils im Zug vor. Sie fand, es mache allen Stress, denn etwas derartiges wie Ruhe existiere nicht, da sie für jeden Menschen etwas anderes bedeutet. Stört nicht das, was die eine als leise und ruhig empfindet, den anderen bereits massiv? Was ist Ruhe genau, wie lässt sie sich definieren und messen? Knecht fand, jede könne sich ihren stillen Ort mithilfe eines schallschluckenden Kopfhörers selber bauen, jeder sei seiner eigenen Ruhe Schmied. Ruhe sei etwas, das man von anderen nicht verlangen könne, sondern sich selber schaffen müsse. Das kam nicht gut an. Wenn man den Menschen ihre Ruhe streitig macht, können sie, stellte Knecht fest, ganz schön unruhig werden. Und sie fing an, darüber nachzudenken, was das ist: Ruhe. Was Ruhe für sie selbst bedeutet. Und wo sie Ruhe sucht und findet.
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Seitenzahl: 28
Doris Knecht
Gedankenspiele über die
Ruhe
Literaturverlag Droschl
ZEHN
In diesem Moment versuche ich, mich zu beruhigen. Etwas Unangenehmes ist mir zugestoßen, ich wurde grundlos, absichtsvoll und ganz überraschend von jemandem gedemütigt, einem alten Freund, dann ließ er mich einfach stehen und verschwand.
Ein paar Augenblicke verharrte ich ratlos in der Szene, dann ging ich nach Hause, aufgebracht, durcheinander, zornig und verletzt. Ich schloss die Tür hinter mir, und nun tobt in meinem Inneren ein rauschendes, brüllendes Chaos. Alles ist in Aufruhr. Meine Gedanken sind außer Kontrolle, mein Organismus reflektiert das in zittriger, vibrierender Aufgeregtheit. Meine Haut kribbelt. Mein Atem geht schnell und oberflächlich. Meine Augen zucken, mein Blickfeld hat sich verengt und ist wie von grellen Blitzen durchzuckt. Ist das Adrenalin? Meine Wangen fühlen sich fiebrig an. Meine Bewegungen sind fahrig, abgehackt und ziellos, ich breche eine Tätigkeit ab, die ich gerade begonnen habe, wende mich mechanisch einer anderen zu und bemerke es erst, als ich auch darin plötzlich stecken bleibe: in meiner Küche an der Spüle stehend, ins Leere blickend, als sei mein Film gerissen, meine Maschine gestoppt worden.
Was mir passierte, ist, es drängt sich in mein verrauschtes Bewusstsein, nicht zum ersten Mal passiert, ich erinnere mich an eine ähnliche Situation vor Jahren und an noch eine vor nicht so langer Zeit. Aus dem Durcheinander formiert sich ein klarer Gedanke, dass es nicht mehr nur darum geht, mich zu beruhigen, mit dieser Situation fertig zu werden, sie, wie bisher immer, sorgfältig glatt zu streifen, zusammenzufalten und abzulegen, sie so zu verräumen, dass sie nicht mehr zwischen dem Bekannten und mir herumsteht und die schöne Alltagsharmonie zerkratzt. Ich muss mir eine Strategie für die Zukunft zurechtlegen, die verhindert, dass ich erneut derart aus der Spur geworfen und beschädigt werde, dass ich wieder lange brauche, um auf den Trampelpfad der Gelassenheit zurückzufinden, der mich durch das Gestrüpp des Daseins führt.
Ich spüre, dass mir Koffein fehlt, um mich konzentrieren zu können, ich beschließe, mir einen Espresso aus der Maschine zu lassen, und finde mich Minuten später ohne Kaffee an meinem Schreibtisch, wo ich im Computer auf den Instagram-Feed starre, ohne zu scrollen, ohne etwas zu sehen, blind von Erinnerungsfetzen an die Ungerechtigkeit, der ich ausgesetzt war; immer noch zittrig und aufgebracht. Ich versuche, meine Gedanken auf die Reihe zu bringen, meine Gefühle abzukühlen und zu kontrollieren, und das funktioniert am besten, wenn ich Worte dafür finde, Sätze, in denen ich meinen Ärger, meinen Zustand formulieren und ablegen kann. Sätze, die Botschaften an mich enthalten, die mich ungeknickt aus dieser Sache hinausführen, und in denen Strategien angelegt sind, die verhindern, dass sowas noch einmal passiert. Es ist nicht leicht, und noch gelingen diese Sätze nicht, sie sind ein unschlüssiges, konklusio-freies Durcheinander, die Heilsbotschaft zündet nicht, die Gedanken finden nicht auf die Erde, zerfasern, verlieren und verirren sich in der Emotion. Ich finde mich, ohne zu wissen, wie ich hierhergekommen bin, auf dem Sofa wieder, wo ich besinnungslos den Hund streichle, der auf seiner Decke liegt.