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Die Pylonen von Gronth Der nagdanische Präsident Drinos apat Sersuk ist verschwunden. Wurde er entführt oder ermordet, weil er der Pro-Gronthagu-Bewegung im Weg war, die die Nagdaneh wieder in die Gronthagu Liga einreihen will? Oder hat sein Verschwinden persönliche Gründe? Die Nagdaneh können nicht nach ihm suchen, denn sie werden von den Grontheh angegriffen. So übernimmt Captain Melori aus alter Verbundenheit mit den Nagdaneh den Versuch, Drinos zu finden. Ein mehr als gefährliches Unterfangen, denn die Spur des Vermissten führt in ein Gebiet, das tief im Herzen des Feindes liegt und ein Geheimnis birgt, das die Grontheh unter allen Umständen schützen wollen. Die Macht der Matriarchin Die PHOENIX ist bei der Suche nach dem nagdanischen Präsidenten Drinos apat Sersuk auf ein gronthisches Flottenkontingent gestoßen. Kann sie der Übermacht entkommen? Und was steckt wirklich hinter den gronthischen Angriffen auf Nagdorel? Obendrein kocht nicht nur die gronthische Widerstandsbewegung ihr eigenes Süppchen. Auch die Gronthagu Herrscherin und Matriarchin ihres Volkes hat Pläne, die das Schicksal der Gronthagu Liga und der ISA entscheidend beeinflussen könnten.
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Seitenzahl: 284
MISSION PHOENIX
Mara Laue
Band 3:
Gefahr im Reich der Gronteh
Impressum
Copyright: vss-verlag
Jahr: 2021
Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt
Covergestaltung: Sabrina Gleichmann
Verlagsportal: www.vss-verlag.de
Gedruckt in Deutschland
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Teil 1
Die Pylonen von Gronth
Auszug aus „Die ISA in historischen Daten“, Band 1 der Lehrbuchreihe „Die Interstellare Allianz – Geschichte, Entwicklung, Mitgliedsvölker“:
Unmittelbar nach der von den ISA-Streitkräften verlorenen Schlacht von Tarrar Konshu am 28.06.117 ISA-Zeit wurden zunehmend im Normalraum treibende oder im Ultraraum auf vorprogrammierten Kursen fliegende intakte Schiffe der Grontheh gefunden, deren Besatzung ausnahmslos tot war. Untersuchungen der Leichen ergaben, dass sie an einem unbekannten Virus gestorben sind. Umfangreiche Tests zeigten, dass der Virus ausschließlich Grontheh befällt. Andere Wesen, auch andere Sauroiden, sogar die ihnen genetisch sehr ähnlichen Zizikisheh, sind dagegen immun.
Am 38.07.117 ISA-Zeit gelang es der Forschungsabteilung des Wissenschaftsrates (ein Ressort des Interstellaren Rates), den Virus zu reproduzieren. Daraufhin wurden die verseuchten Schiffe mit den inzwischen konservierten Leichen der gronthischen Besatzungen ins Gebiet der Gronthagu Liga zurückgeschickt. Gleichzeitig stellte der Interstellare Rat (IsteR) der Gronthagu Herrscherin Kuorass das Ultimatum, entweder die Kampfhandlungen gegen die ISA unverzüglich einzustellen, andernfalls die ISA den Virus auf allen gronthischen Welten freisetzen und das gronthische Volk komplett auslöschen werde. Gleichzeitig bot der IsteR der Gronthagu Herrscherin einen Friedensvertrag an.
Zwar lehnte die Herrscherin den Frieden ab – Frieden ist ein den Grontheh fremdes Konzept (siehe Band 12 dieser Reihe, Kapitel 7 „Die Grontheh“) –,zog aber ihre Streitkräfte zurück und erklärte einen Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit. Als unstrittig gilt jedoch, dass die Gronthagu Liga die ISA unverzüglich angreifen wird, sobald es ein Gegenmittel oder einen Impfstoff gibt.
Aktualisierung vom 21.02.349 ISA-Zeit: Mit der erneuten Drohung, den Virus gegen die Grontheh einzusetzen, wurde die Gronthagu Liga gezwungen, die Unabhängigkeit der Nagdanischen Planetenunion endgültig anzuerkennen. Dadurch wurde der Weg für die Nagdaneh frei, am 15.02.349 das 24. Mitglied der ISA zu werden.
Aktualisierung vom 40.10.349 ISAZ: Bis heute wurde kein Gegenmittel gegen den Gronth-Virus gefunden.
PHOENIX 1
Standort: 139 Lichtjahre außerhalb des ISA-Territoriums
Kurs auf Nagdorel
19. April 2546 Terrazeit – 14.10.350 ISA-Zeit
Captain Melori deaktivierte das Spezialfunkgerät, mit dem sie auf einer geheimen Frequenz mit Drinos apat Sersuk, dem Präsidenten der Nagdanischen Planetenunion, in Kontakt treten konnte. Sie versuchte seit Tagen ihn zu erreichen, aber sie erhielt keine Antwort. Das beunruhigte sie. Sie wusste, dass Drinos’ Empfangsgerät jeden ankommenden Anruf registrierte und speicherte, wie auch ihres. Anhand der damit übermittelten Kennung konnte er erkennen, dass der Anruf von ihr kam.
Da sie beide trotz der räumlichen Distanz von gewöhnlich über tausend Lichtjahren und oft sogar noch mehr eine intensive persönliche Freundschaft verband, hatte Drinos’ Antwort noch nie länger als drei Tage ISA-Zeit gedauert. Und wenn sie ihn über ihren geheimen Kanal kontaktiert hatte, was erst zweimal der Fall gewesen war, hatte er sofort geantwortet. Inzwischen waren fast fünf Tage vergangen. Melori war versucht, ihn über die normalen Kom-Kanäle des Schiffes anzurufen, aber das war nicht möglich. Die PHOENIX galt für ihre Vorgesetzten innerhalb der Terranischen Raumflotte wie auch beim Interstellaren Nachrichtendienst als verschollen.
Melori und ihre Crew hatten beim Elon-System ein Schiffswrack aufgetrieben und es mitsamt seiner Umgebung so präpariert, dass es für die Scanner der Schiffe der Interstellaren Polizei und des IsteND so aussah, als wäre die PHOENIX dort angegriffen und vollständig zerstört worden. Die Technische Abteilung hatte ebenso wie die Taktische Abteilung mit ihren Waffen ein wahres Wunder vollbracht. Bis der „Irrtum“ herauskäme – falls er überhaupt entdeckt würde und man die Untersuchung der zerpulverten Überreste nicht längst eingestellt hatte –, würden etliche Tage vergehen, in denen die PHOENIX ihre Spur gut genug verwischt hatte, um unauffindbar zu bleiben. Solange sie absolute Funkstille hielt.
Entgegen ihrem ursprünglichen Plan, der einzigen Person, der sie vollkommen vertraute, im Geheimen mitzuteilen, dass sie und die PHOENIX noch lebten, hatte Melori das nicht getan. Nicht einmal über das geheime Kom-Gerät, mit dem sie ausschließlich Admiral Rhan Kharmin erreichen konnte und er sie. Ein winziges Risiko blieb, dass das Gerät in falsche Hände geriet. Winzig oder nicht, Melori war nicht bereit es einzugehen. Und normale Funksprüche konnten abgefangen werden. Auch wenn es höchst unwahrscheinlich war, dass ein Außenstehender die extrem komplizierte Verschlüsselung der IsteND-Frequenzen knackte, so bestand doch die Gefahr, dass die Nachricht der falschen Person in die Hände fiel. Denn entweder bei ihren offiziellen Vorgesetzten in der Terranischen Raumflotter oder beim IsteND gab es mindestens einen Verräter, der für die Piratengilde arbeitete. Nachdem es gelungen war, denen vorzugaukeln, dass Melori tot und die PHOENIX vernichtet war, durfte sie nicht riskieren, die Sache auffliegen zu lassen, bevor sie ihre Mission bei den Nagdaneh nicht erfolgreich abgeschlossen hatte.
Deshalb war die PHOENIX durch ausfahrbare Teile ihrer Außenhülle als lingulanisches Forschungsschiff getarnt worden. Dementsprechend waren auch die Antriebs- und Kommunikationsmodifikationen aktiviert worden, die die Emissionen und Frequenzen eines solchen lingulanischen Schiffes simulierten.
Obwohl die PHOENIX auch in einen tinuskischen Aufklärer verwandelt werden konnte, hatte Melori sich für das lingulanische Forschungsschiff entschieden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie damit in dem Feindesgebiet, in das sie sich wagten, ungeschoren durchkamen, war größer, als wenn sie den tinuskischen Aufklärer als Tarnung benutzten. Letzterer könnte unter Umständen als aggressives Eindringen der ISA in gronthisches Gebiet interpretiert werden. Diese Gefahr bestand allerdings auch bei einem Forschungsschiff, denn dem könnte man nur allzu leicht geplante Spionage unterstellen. Was im Fall der PHOENIX definitiv zutraf. Auch wenn der Zweck des Fluges nach Nagdorel nichts mit den Grontheh zu tun hatte, würde Melori sich keine Gelegenheit entgehen lassen, Informationen über das Volk zu sammeln, das eine potenzielle Bedrohung für die gesamte ISA darstellte.
Die PHOENIX hatte als die lingulanische YAKORA YALA die ISA-Grenze bei Ghrimbal-Station 55708 passiert und war in Richtung auf das Territorium der Ikamareh geflogen. Weil dieses canide Volk, das verblüffend terranischen Wölfen, vielmehr Werwölfen ähnelte, unter sich blieb und keinen engeren Kontakt zu seinen Nachbarvölkern pflegte, war nur wenig über sie bekannt. Schon deshalb war durchaus glaubhaft, dass ein Forschungsschiff sie besuchte.
Kaum hatte die PHOENIX die Ortungsreichweite der Ghrimbal-Station verlassen, hatte sie den Kurs geändert und flog nun Nagdorel direkt an. Jedoch nicht auf der für diesen Zweck eingerichteten sicheren Route, die durch gronthisches Territorium führte und von den Grontheh als Verbindungskorridor für den Verkehr zwischen der ISA und den nagdanischen Planeten freigegeben worden war, sondern abseits des Korridors außerhalb der Ortungsreichweite der ihn sichernden Ghrimbal-Stationen.
Melori sah auf die Zeiteinblendung auf der Wand über der Tür zur Zentrale. Falls es keine Zwischenfälle gab, würde die YAKORA YALA in sechs Tagen Nagdorel erreichen. Wenn sie bis dahin keine Antwort von Drinos erhalten hatte, würde sie zwei Mitglieder des nagdanischen Geheimdienstes kontaktieren, die sie noch von früher kannte. Einer der beiden wusste bestimmt, wo Drinos sich aufhielt, oder konnte es herausfinden. Dass Drinos tot sein konnte, kalkulierte sie notgedrungen in ihre Planung mit ein.
Die Kom-Einheit auf ihrem Arbeitstisch gab einen Signalton, ehe die Stimme von Commander Daar Abraan erklang. „Captain, kommen Sie bitte in die Zentrale. Wir haben etwas entdeckt.“
Melori machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern betrat die Zentrale, die direkt neben ihrem Bereitschaftsraum lag. Auf dem Hauptbildschirm wurde ein Schiff eingeblendet, das sich den Anzeigen nach im Normalraum befand. Der automatische Abgleich mit allen bekannten Schiffstypen identifizierte es als gronthischen Aufklärer. Die Entfernung wurde mit 12,31 Lichtjahren angegeben.
Melori nahm im Beratersessel Platz und nickte Abraan zu, der im Kommandositz saß. Abraan nickte zurück und deutete auf den Bildschirm. „Wie Sie sehen, treibt das Schiff, Ma’am. Die Orter haben festgestellt, dass es kaum Energieemissionen gibt. Als wenn das Schiff tot wäre. Für die Erfassung von Biosignaturen sind wir nicht nahe genug.“
Bevor Melori fragen konnte, was Abraan an einem toten Schiff bemerkenswert fand, gab er ihr schon die Antwort. „Falls es sich nicht um ein noch bemanntes Schiff handelt, sondern um ein Wrack, könnten wir es untersuchen. Der Bauart nach gehört es zur modernsten Generation gronthischer Aufklärer. Bisher liegen uns keine Daten über diese Schiffe vor.“
Und die Gelegenheit, auf diese Weise etwas über die neueste gronthische Schiffsausstattung zu erfahren, war verlockend. „Das heißt aber, dass wir auf Scannerreichweite heranfliegen müssten“, stellte Melori fest.
„Falls Sie befürchten, Captain, dass die uns dann auch scannen oder überhaupt orten können“, warf Commander Kya Shedora von der Ortungsstation her ein, „so halte ich das für unwahrscheinlich. Wenn sich beim Nah-Scan nicht noch herausstellt, dass die Orter des Schiffes intakt sind, müssten die ebenfalls inaktiv sein. Falls nicht, kann ich sie blockieren. Mit etwas Glück kommen wir komplett unentdeckt davon.“
„Ich werde mich aber gerade in unserer gegenwärtigen Situation nicht auf Glück verlassen, Commander.“
„Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Ma’am“, meldete sich Lieutenant Linda Sparks von der Tech-Station, von der aus alle Funktionen des gesamten Schiffes überwacht wurden und ihre Abläufe im Notfall modifiziert, korrigiert und vor allem Ausfälle überbrückt werden konnten.
„Bitte.“
„Wir – ich meine, die Technische Abteilung, haben die Nah-Scanner in den letzten Tagen ein bisschen modifizieren und die Reichweite auf acht Komma fünf Lichtjahre im Normalraum vergrößern können. Falls die Grontheh nicht ebenfalls gravierende technische Fortschritte gemacht haben, dann müssen wir nicht so nahe an das Schiff heran, dass sie uns überhaupt bemerken. Falls das Schiff bemannt sein sollte.“
Melori wandte sich ihr zu. „Das können Sie garantieren?“
Sparks strahlte sie stolz an. „Aye, Ma’am!“
Melori lächelte leicht. „Acht Komma fünf Lichtjahre?“, vergewisserte sie sich. „Beeindruckende Leistung, Lieutenant.“
Ihre Leute leisteten eine mehr als nur hervorragende Arbeit. Melori hatte in ihrem ganzen Leben noch nie mit einer so motivierten und engagierten Crew zusammengearbeitet. Nicht einmal während ihrer Zeit bei der IsteP. Kein Wunder. Sie hatte sich die kreativsten Köpfe und teilweise Besten auf ihrem jeweiligen Gebiet aussuchen können. Ihnen für ihre innovativen Ideen freie Hand zu geben und ihnen zu erlauben, nach Herzenslust zu „tüfteln“, hatte genügt, um ihren Ehrgeiz anzustacheln. Die Missachtung und Demütigung, die sie durch frühere Vorgesetzte und Kameraden ausnahmslos erlitten hatten, taten ein Übriges, um ihren Willen zu stärken, die PHOENIX zum besten Forschungsschiff der gesamten ISA zu machen.
„Ensign Tagori“, wandte sie sich an den Navigator, „Kurs auf das gronthische Schiff. Die Ortungsstation wird Ihnen mitteilen, wann wir in Scannerreichweite für Biosignaturen sind. Sobald die erreicht ist, gehen wir in den Normalraum.“
„Aye, Ma’am“, bestätigte Tagori und nahm die Kurskorrektur vor. „Kurs gronthisches Schiff, URG zehn, voraussichtliches Erreichen der Nahscannerreichweite in fünf Komma fünf-sechs Stunden ISA-Bordzeit oder drei Komma drei-fünf Stunden Terrazeit. Zumindest für einen Scan, ob sich Leben an Bord befindet, müsste das reichen.“
„Tut es“, bestätige Kya Shedora. Ihre goldbraunen Katzenaugen funkelten erwartungsvoll.
Melori erhob sich. „Rufen Sie mich, wenn es soweit ist.“ Sie kehrte in ihren Bereitschaftsraum zurück.
Das nagdanische Funkgerät, das sie auf ihrem Arbeitstisch hatte liegen lassen, blinkte blau – ein Zeichen, dass jemand versucht hatte, sie zu erreichen. Sie atmete auf. Offenbar war Präsident Drinos nur zu beschäftigt gewesen, um sofort zu antworten. Vielleicht war es ihm auch nicht sicher erschienen. Sie steckte das Gerät in den Verbindungsschlitz zur Kom-Anlage und schaltete es ein. Der eingeblendete Code bestätigte, dass der Anruf von Drinos apat Sersuk gekommen war. Melori etablierte die Verbindung.
Der Bildschirm erhellte sich und zeigte den Kopf eines Nagdaneh: ein meterbreiter, zwischen zwanzig und vierzig Zentimetern hoher gewölbter „Teller“, an dessen Rand unterschiedlich lange Tentakel wuchsen. Die lederartig wirkenden graue Haut wurde nur an den Tentakeln in unregelmäßigen Abständen von farbigen Ringen unterbrochen. Die Dicke und Abstände dieser Ringe waren bei jedem Nagdaneh so einzigartig wie ein menschlicher Fingerabdruck.
Nicht nur daran erkannte Melori, dass ihr Gesprächspartner nicht Drinos apat Sersuk war, denn die Tentakel dieser Nagdani hatten hellgrüne Ringe. Ihr Muster verriet ihr, dass es sich um Trask apat Annisk handelte, ein Mitglied des nagdanischen Agentennetzwerks und eine Vertraute von Sersuk.
Als die Nagdaneh vor sechs Jahren zum ersten Mal beantragt hatten, in die ISA aufgenommen zu werden, hatte das IsteP-Trägerschiff, auf dem Melori stationiert wurde, den nagdanischen Botschafter zu den Verhandlungen beim Interstellaren Rat begleitet. Da bereits im Vorfeld versucht worden war, den Botschafter zu töten, hatten die Nagdaneh jemanden als Botschafter ausgegeben, der dieses Amt gar nicht innehatte.
Drinos apat Sersuk, der wahre Botschafter und zusammen mit Trasks apat Annisk und Karek apat Arlosk ein weiteres Mitglied des Agentennetzwerks, war als Mitglieder von Meloris Jägerstaffel ausgegeben worden. Die dadurch bedingte enge Zusammenarbeit hatte Meloris Freundschaft mit diesen dreien begründet. Dass sie Sersuks Leben beschützt und über Admiral Rhan eine inoffizielle Unterstützung für sein Volk gegen die Grontheh organisiert hatte, hatte zusätzlich dazu beigetragen, das sie beide engere Freunde geworden waren. Drinos apat Sersuks ein Jahr später erfolgte Wahl zum Präsidenten hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan.
Dass Trask mit ihr Verbindung aufnahm und nicht Sersuk, ließ Melori Schlimmes ahnen. Die Nagdani schob eines ihrer rötlich schillernden Facettenaugen, das am Ende eines Tentakels saß, vor die Aufnahmelinse ihres Kom-Gerätes.
„Ich grüße Sie, Melori. Es ist gut, dass Sie sich so schnell melden.“
„Ich grüße Sie ebenfalls, Trask. Ist Präsident Drinos etwas zugestoßen?“
Die Haut der Nagdani verdunkelte sich, ein Zeichen von Besorgnis. „Das wissen wir nicht, müssen es aber befürchten. Er ist – verschollen.“
„Verschollen? Wie das?“
„Ich kann und werde über den Kom-Kanal keine Einzelheiten nennen. Ich wollte Sie nur informieren.“
„Warten Sie bitte“, sagte Melori, als Trask Anstalten machte, die Verbindung zu unterbrechen. „Wir sind auf dem Weg nach Nagdorel. Getarnt und in geheimer Mission. Können wir uns treffen? Aus Gründen, die ich ebenfalls nicht dem Kom-Kanal anvertrauen möchte, sollte der Treffpunkt außerhalb des nagdanischen Hoheitsgebietes liegen.“
Das rote Facettenauge, das fast den gesamten Bildschirm einnahm, starrte sie unbewegt an. „Gut“, entschied Trask nach einer Weile. „Verdecken Sie die Kennung Ihres Schiffes und geben Sie sich als arrithaafisches Passagierschiff aus. Die Arrithaafeh bauen ihre Schiffe aus Wrackteilen zusammen, sodass sie keine einheitliche Struktur besitzen. Benutzen Sie bei Kommunikationen Ussagu als Sprache und geben Sie sich und Ihre Leute als Sulkatreh aus. Die ähneln den humanoiden Völkern der ISA stark genug, dass man Ihnen die Zugehörigkeit zu diesem Volk glaubt. Tragen Sie keine Uniformen. Fliegen Sie Olokoto an. Ich sende Ihnen die Koordinaten. Wir treffen uns in einer dortigen Handelsstation. Kontaktieren Sie mich über den geheimen Kanal, wenn Sie den Planeten erreicht haben.“
Trask hatte die Verbindung unterbrochen, bevor Melori antworten konnte. Sekunden später trafen die Koordinaten von Olokoto ein zusammen mit dem Standort der Handelsstation. Melori atmete auf, als ihre Überprüfung ergab, dass der Planet tatsächlich außerhalb des zwölf Sonnensysteme umfassenden nagdanischen Territoriums lag. Jedes zur ISA gehörende Gebiet wurde durch Ghrimbal-Stationen geschützt, die in Ortungs- und vor allem Operationsreichweite voneinander das jeweilige Gebiet wie ein Netz umschlossen. Jedes Schiff, das die durch die Stationen markierten Grenzen überschritt, musste sich von der seinem Übertrittspunkt am nächsten gelegenen Station registrie-ren lassen. Die Stationen lagen einander nahe genug, dass kein Schiff unbemerkt die Grenzen passieren konnte. Egal wo es sich ihr näherte, es wurde von mindestens einer Station geortet und zur Registrierung aufgefordert.
Trasks vorgeschlagene Tarnung der PHOENIX als arrithaafisches Schiff hätte bei einer Registrierung durch eine Ghrimbal-Station nicht standgehalten. Die Stationen scannten jedes ankommende Schiff und registrierten alle an Bord befindlichen Biosignaturen, sofern es sich um das Schiff eines Nicht-ISA-Volkes handelte. Lediglich ISA-Schiffe waren von dieser Vorschrift ausgenommen, konnten aber stichprobenartig kontrolliert werden. So war es unmöglich, dass sich ein Heer von Grontheh oder ihren nichtgronthischen Kriegern in das nagdanische ISA-Gebiet schmuggelte, um es von innen heraus anzugreifen. Ein Schiff mit aktiviertem Scannerschutz wurde nicht eingelassen.
Außerdem war die PHOENIX ISA-weit bekannt. Dass eine Horde von zur Forschungsflotte strafversetzten Querköpfen aus einer Schrottmühle das modernste Schiff der TRF konstruiert hatte und dieses Schiff auch noch schneller fliegen konnte als das schnellste IsteP-Schiff, hatte nicht nur in den terranischen Medien über Terra Globe und BTW Network für Aufmerksamkeit gesorgt, sondern war auch im Technikteil von ISA Narital, dem ISA-weiten Nachrichtenmagazin für wissenschaftliche und technische Entwicklungen erwähnt worden.
Darüber hinaus erhielt die Sicherheitsabteilung des IsteR die Daten jedes neuentwickelten Schiffstyps, die diese Information an die IsteP, die Ghrimbal-Stationen und natürlich auch den IsteND weiterleitete. Dadurch konnte jede Ghrimbal-Station die PHOENIX identifizieren, egal als was sie sich tarnte. Und die YAKORA YALA hatte im Gebiet der Gronthagu Liga, aus dem sie sich dem nagdanischen Territorium nähern würde, nichts verloren. Schließlich wurde auch der Passagekorridor vom ISA-Gebiet zu den Nagdaneh von Ghrimbal-Stationen bewacht. Deshalb war es unmöglich, unbemerkt in den Korridor zu gelangen und auf diesem Weg Nagdorel anzufliegen.
Meloris Plan hatte deshalb von Anfang an vorgesehen, sich mit Drinos außerhalb des nagdanischen Territoriums zu treffen. Falls er ihrer Bitte entsprochen hätte, bei der Herstellung der geplanten Ortungsdrohnen zu helfen, hätte das sowieso unzählige Tage gedauert, in denen sie unbemerkt ins ISA-Gebiet zurückgekehrt wären, um anschließend ganz offiziell zurückzukommen, wenn Drinos ihnen signalisiert hätte, dass die Drohnen fertig waren.
Was war mit ihm passiert? Wie konnte das Staatsoberhaupt der Nagdaneh, das ständig von einer Horde von Sicherheitsleuten bewacht wurde, „verschollen“ sein? Gegner und ausgesprochene Feinde hatte er allerdings genug. Drinos war seit seiner Wahl nicht nur der Gronthagu Herrscherin ein Dorn im Auge, weil es ihm gelungen war, sein Volk unter den Schutz der ISA zu stellen. Die Herrscherin befürchtete zu Recht, dass das Beispiel der Nagdaneh Schule machte und andere Liga-Völker inspirierten, ebenfalls kriegerisch die Unabhängigkeit anzustreben. Wenn eine gewisse Anzahl von Völker gleichzeitig den Aufstand probte, könnte die Liga auseinanderbrechen. Das war auch den Grontheh bewusst, weshalb sie ein strenges Regiment führten und eine Horde von Informanten in ihren Diensten hatten, die ihnen alles zutrug, was auch nur das geringste Potenzial zur Rebellion besaß.
Allerdings gab es auch innerhalb der Nagdanischen Planetenunion eine Gruppe, die alles daransetzte, die Nagdaneh wieder in die Liga einzureihen. Einige von ihnen hatten schon beim ersten Versuch der Nagdaneh, ein Mitglied der ISA zu werden, das zu verhindern versucht, indem sie den Botschafter hatten töten wollen, bevor er zum IsteR gelangen konnte. Hatten sie etwas mit Drinos’ Verschwinden zu tun?
„Captain“, meldete Daar Abraan über Interkom, „wir sind in Scannerreichweite des gronthischen Schiffs.“
Melori blickte auf die Uhr. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie lange sie hier gesessen und gegrübelt hatte. Außerdem war es Zeit für sie, ihre Schicht in der Zentrale zu übernehmen. Sie ging hinüber. Abraan erhob sich und räumte den Kommandosessel.
„Übergabe des aktiven Kommandos an Captain Melori um sechzehn null-null Uhr“, sagte er für die automatische Aufzeichnung.
„Kommando übernommen“, bestätigte Melori und setzte sich. Der Sessel war von Abraans Körper angenehm warm. Sie lehnte sich zurück. Die Konturen des Sitzes passten sich automatisch ihrer Körperform an. Abraan nahm im Sessel neben ihr Platz. Offenbar war auch er neugierig, ob sich ihnen hier eine Möglichkeit bot, einen modernen gronthischen Aufklärer zu untersuchen.
Auf dem Bildschirm war das Schiff in größtmöglichem Zoom zu sehen. Kya Shedora hatte die Scanner bereits aktiviert.
„Keine Energieemissionen außer Rückständen“, meldete sie, obwohl die Ortungsergebnisse am Rand des Hauptbildschirms eingeblendet wurden. „Das heißt, bei denen sind auch die Ortungsgeräte nicht mehr aktiv. Biologisches Material gronthischen Ursprungs ist an Bord, ebenso Signaturen von Ghrimbals, aber aktive Lebenszeichen werden nicht angezeigt. Um die zu erfassen, müssten wir noch etwas näher heran.“
„Commander Selakem“, wandte sich Melori an den Cheftechniker, der inzwischen Lieutenant Sparks an der Technikstation abgelöst hatte, „wie groß ist die neueste Höchstreichweite unserer Feinscanner?“
„Immer noch ein Lichtjahr, Captain.“
Melori sah ihn an. „Was denn, die haben Sie noch nicht modifizieren können?“
Der Deneber nahm das als den Scherz, den die Frage darstellte. „Geben Sie mir noch ein paar Minuten Zeit, Ma’am, dann habe ich die Reichweite verzehnfacht, denn ‚Wunder’ ist mein zweiter Vorname.“
Melori lächelte. „Ganz so anspruchsvoll bin ich nicht. Ich gebe Ihnen bis morgen Zeit.“
Selakem grinste.
„Im Ernst, Commander, Sie und Ihr Team leisten hervorragende Arbeit. – Commander Shedora, was liegt nach unseren aktuellen Sternenkarten des gronthischen Territoriums in der Richtung, in der sich das Schiff bewegt? Denn wir sind ab sofort ein arrithaafisches Passagierschiff. Wenn wir einen Kurs nehmen könnten, der uns in Feinscannerreichweite passieren lässt, können wir immer glaubhaft vorgeben, das Schiff zufällig entdeckt zu haben.“
Shedora überprüfte das. „Snassakarra liegt hundertfünfundvierzig Komma sieben-zwei Lichtjahre entfernt. Eine Handelswelt nach unseren Informationen. Fest in gronthischen Klauen. Aber man wird einem Passagierschiff zweifellos abnehmen, dass es Passagiere dorthin bringt. Der vermutlich ursprüngliche Kurs des Schiffes führt aber daran vorbei.“
„Ensign Tagori, Kurs auf Snassakarra.“
„Aye, Ma’am.“
„Lieutenant Han“, wandte Melori sich an den jungen Kom-Offizier. „Sie sprechen Ussagu?“
„Ja, Ma’am. Fehlerfrei.“
Etwas anderes hätte sie auch gewundert. Sutaro Han besaß ein fotografisches Gedächtnis, was Sprachen betraf, und beherrschte bis auf die der Castoreh die Sprachen aller ISA-Völker sowie ein paar weitere. Da ursprünglich nicht vorgesehen war, dass die PHOENIX in gronthischem Gebiet operierte, hatte das Erlernen der dortigen Verkehrssprache nicht auf ihrem Lehrplan des IsteND gestanden. Seit Melori entschieden hatte, in die Gronthagu Liga zu fliegen, holte die gesamte Crew das anhand von Lehrdateien nach. Doch Han war der Einzige an Bord, der die Sprache bereits vollständig beherrschte.
„Schalten Sie alle Kommunikation bis auf Widerruf auf Ussagu. Und da wir ab sofort alle Sulkatreh sind, werden alle Crewmitglieder, die in der Zentrale Dienst tun, ebenfalls bis auf Widerruf keine Uniformen tragen und auch keine Kleidungsstücke, die man als typisch terranisch oder ISA-typisch identifizieren könnte. Am besten lassen wir jede Kommunikation mit anderen Schiffen, sollte sie notwendig sein, nur über Audio laufen.“
Sie bemerkte, dass Abraan sie ansah. „Gibt es etwas, das Ihre Führungsoffiziere wissen sollten, Ma’am?“
„In der Tat. Kommen Sie. Commander Selakem, Sie haben das Kommando.“
„Ja, Ma’am.“
Melori ging in den Bereitschaftsraum und beorderte ihren Ersten Offizier Halan Ashkonn und die Dritte Offizierin Shakti Janssen ebenfalls hin. Als die beiden da waren, erläuterte sie ihnen, was sie von Trask apat Annisk erfahren und mit ihr vereinbart hatte.
„Ich bin mir nicht sicher, Captain“, sagte Ashkonn, als sie geendet hatte, „ob wir uns da einmischen sollten. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, könnte uns auch Trask bei der Entwicklung der Ortungsdrohnen helfen und wäre auch dazu autorisiert.“ Er blickte Melori fragend an.
„Die Befugnis dazu hätte sie. Aber wenn Drinos wirklich ‚verschollen’ ist, könnte das, je nachdem, welche Ursache dem Verschwinden zugrunde liegt, nicht nur für die Nagdaneh fatale Folgen haben, sondern auch für die ISA. Die Nagdaneh haben eine Demokratie und die Pro-Gronthagu-Bewegung ist reichlich stark. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn einer ihrer Vertreter die nächste Wahl gewinnt. Die reguläre steht erst in gut elf Jahren an. Bis dahin hat sich bestimmt eine Menge verändert und etliche Nagdaneh, die jetzt in die Liga zurück wollen, haben bis dahin vermutlich ihre Meinung revidiert. Aber wenn jetzt neue Wahlen fällig werden, könnte die ISA die Nagdaneh als Mitglieder verlieren. Wir sollten in jedem Fall mehr über die Hintergründe von Drinos’ Verschwindens erfahren.“
Abraan blickte sie aufmerksam an. „Nur wegen der möglichen politischen Folgen, Ma’am? Ich habe den Eindruck, dass Sie noch einen anderen Grund für Ihr Engagement haben.“
Sie nickte. „Drinos ist mein persönlicher Freund. Und auch, wenn ich nicht nur als Kommandantin dieses Schiffes, sondern gerade als IsteND-Agentin persönliche Dinge aus meinem Arbeitsbereich herauszuhalten habe, lasse ich doch meine Freunde nicht im Stich, wenn ich es vermeiden kann. Ich will zumindest wissen, warum Drinos verschwunden ist. Denn das könnte auch für die ISA relevant sein. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn die Pro-Gronthagu-Bewegung an die Macht kommt, weil Drinos ‚verschollen’ ist und für tot erklärt wird.“
„Das ist nicht von der Hand zu weisen“, stimmte Shakti Janssen zu. „Die Nagdaneh sind die findigsten Techniker der ISA. Ihre Verbündeten haben gegenüber allen Nichtverbündeten erhebliche Vorteile und einen technischen Vorsprung, der über den Ausgang von Kriegen und den Wohlstand der Verbündeten entscheiden kann. Darum wollten die Grontheh sie von Anfang an nicht aus der Liga entlassen. Wenn die jetzt reumütig wieder zurückkehren, wird es sich die Gronthagu Herrscherin garantiert nicht nehmen lassen, ein buchstäblich mörderisches Exempel in Form einer Strafaktion an ihnen zu statuieren, und zwar in einem Ausmaß, von dem sich die Nagdaneh frühestens in ein paar Jahrhunderten erholt haben werden. Wenn überhaupt.“ Sie blickte Melori an. „Eigentlich müssten wir das dem IsteND melden.“
„Müssten wir“, bestätigte Melori. „Nur gelten wir selbst als verschollen, unser Schiff vermutlich als vernichtet, und ich in jedem Fall als tot. Nicht zu vergessen den oder die Verräter in den Reihen des IsteND oder der TRF, die uns die Piraten wieder auf den Hals hetzen, sobald dort bekannt wird, dass es uns noch gibt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich vertraue darauf, dass Trask den IsteND benachrichtigt oder das schon getan hat, wenn es wirklich erforderlich ist. Schließlich ist das nagdanische Agentennetzwerk seit dem Beitritt zur ISA ein Teil des IsteND.“
„Was mich zu der Frage bringt, wie vertrauenswürdig diese Nagdani ist“, wandte Abraan ein. „Wie gut kennen Sie sie, Captain?“
„So gut, wie man ein Wesen kennen kann, das einem anderen Volk angehört, mit dem man aber ein paar Monate in enger Gemeinschaft verbracht und so manches Geheimnis geteilt hat, das bis heute gewahrt blieb. Damit will ich sagen, dass ich ihr so sehr vertraue, wie das auch Präsident Drinos tut. – Aber untersuchen wir erst einmal das gronthische Schiff.“
An Bord der OSMERRU im Orbit um Tabai 5
14.10.350 ISA-Zeit
Mrreyna starrte auf den Hauptbildschirm in der Zentrale, wo unablässig die Ortungsdaten der Umgebung eingeblendet wurden. Sie fragte sich, wann der nilamische Kopfgeldjäger endlich auftauchte, um das Kopfgeld zu kassieren, das Mrreyna auf Captain Melori ausgesetzt hatte. Da das Nilama Melori tot statt wie verlangt lebend und nicht persönlich abgeliefert hatte, konnte es sich wohl denken, dass Mrreyna extrem wütend darüber war, dass es sie ihrer Rache an der Frelsini beraubt hatte. Aber irgendwann würde es kommen und nachsehen, ob man das versprochene Kopfgeld zurückgelassen hatte. Nun, es würde seine Belohnung bekommen: eine Salve von Lasertorpedos, die sein Schiff vernichten würde.
„Ortung“, teilte Yarrshonn mit und blendete die Ergebnisse auf dem Schirm ein.
Mrreyna fühlte eine Welle von Erregung. Endlich würde sie ihre Rache bekommen. Ihre Vorfreude währte jedoch nicht lange, denn die Ortung identifizierte die herankommenden Schiffe als IsteP-Einheiten. Fünf Patrouillenträgerschiffe der Klasse IsteP 11. Und sie hatten offenbar Kurs auf Tabai 5.
„Wir sollten verschwinden“, riet Karstur Shorru, der im Sessel neben ihr saß.
„Nein. Wir sind getarnt. Sie können uns nicht orten. Und falls sie tatsächlich hierher wollen, dann will ich wissen, was sie hier suchen.“
Shorru widersprach ihr nicht. Es hätte auch wenig Sinn gehabt.
„Wie lange brauchen die Schiffe, bis sie hier sind?“, wollte Mrreyna wissen.
„Ungefähr fünf Stunden.“ Yarrshonn warf Mrreyna einen kurzen Blick zu. „Vielleicht sollten wir doch besser verschwinden und später zurückkehren.“
Mrreyna fauchte ihn an und verzog ihr Katzengesicht zu einer Grimasse der Wut. „Raus!“
Yarrshonn verließ kommentarlos die Zentrale. Da die Orter automatisch liefen, wurde er ohnehin nicht gebraucht. Shorru ließ noch eine Weile verstreichen, ehe er sich straffte.
„Ich habe Hunger. Bis die Schiffe hier sind, brauchst du mich ja nicht.“
Mrreyna machte eine scheuchende Handbewegung. Shorru verließ die Zentrale und ging in den Speiseraum der OSMERRU. Wie er gehofft hatte, fand er Yarrshonn dort. Der Viganer hockte mit einem Becher Miskuani an einem Tisch und starrte vor sich hin. Shorru setzte sich zu ihm, nachdem er sich ebenfalls ein Getränk und etwas zu essen aus dem Nahrungsspender geholt hatte.
Yarrshonn sah auf. „Hat sie dich auch rausgeworfen?“
Shorru machte eine zustimmende Geste. „Du kennst sie. Dabei habe ich nicht mehr getan, als auf deinen leeren Platz zu blicken.“
Yarrshonn knurrte leise. „Ja, das genügt bereits. Sie ...“ Er unterbrach sich und trank einen Schluck, machte danach aber keine Anstalten fortzufahren.
Das tat Shorru an seiner Stelle. „Ich habe schon seit einiger Zeit den Eindruck, dass ihr Interesse immer weniger dem Profit gilt. Wann haben wir das letzte Mal gute Beute gemacht? Irgendwann vor der verheerenden Niederlage bei Kantaka.“
Shorru trank erneut einen Schluck. Er war sich bewusst, dass er sich hier auf gefährliches Terrain begab. Yarrshonn war Viganeh wie Mrreyna und ihr bisher absolut loyal. Wenn er auf den Gedanken kommen sollte, dass Shorru mit seinen Bemerkungen nicht nur seinem Frust Luft machte, sondern ihn für sich zu gewinnen versuchte, um in nicht allzu ferner Zukunft Mrreyna zu entthronen, würde er ihr das unverzüglich melden. Shorru hoffte allerdings, dass nicht nur er selbst die Schnauze gestrichen voll hatte von Mrreynas zunehmender Brutalität und ihrer Besessenheit von sinnloser Rache am halben Universum, sondern auch andere Mitglieder des Zarshash-Clans.
Yarrshonn machte eine zustimmende Geste und bedachte Shorru mit einem Blick, als wäre er sich nicht sicher, ob er ihm seinerseits trauen konnte. Kein Wunder, denn Shorru war Mrreynas Vertrauter – noch. Und ihr Bettgefährte. Noch.
„Wir haben gut verdient, seit Mrreyna uns führt“, sagte Yarrshonn schließlich. „Sie wird sich schon wieder beruhigen, sobald sie diesen nilamischen Kopfgeldjäger zur Strecke gebracht hat.“ Das klang resigniert. Und es signalisierte Shorru, dass Yarrshonn ebenfalls genervt von Mrreynas Besessenheit war.
„Das hoffe ich. Denn gerade nach Kantaka haben sich unsere Ressourcen rapide verringert. Allein der Verlust an Schiffen hat uns um Jahre zurückgeworfen. Von der Beschädigung unseres Rufes gar nicht zu reden.“
Der Blick, den Yarrshonn ihm zuwarf, zeigte Shorru, dass er das Thema besser fallen ließ. Der Viganer war noch nicht so weit, dass er Mrreyna die Gefolgschaft aufkündigte. Shorru erkannte aber auch, dass das nicht mehr lange dauern würde, falls Mrreyna so weitermachte wie in den letzten Monaten.
Er machte eine wegwerfende Geste. „Aber du hast recht, Yarrshonn. Mrreyna wird sich wieder beruhigen und uns zu alter Größe führen. Ich kann nur hoffen, dass unsere Gegner innerhalb der Gilde nicht bis dahin einen Weg gefunden haben, uns vollständig den Rest zu geben.“
Er aß schweigend seine Mahlzeit, verließ anschließend den Speiseraum und ging in seine Kabine, um ein bisschen zu schlafen. Er hätte nie geglaubt, dass er einmal den Wunsch verspüren könnte, die Zeit zurückzudrehen. Doch den hegte er schon eine ganze Weile. Nämlich seit Captain Melori die Zerstörung von Kantaka verhindert hatte, als die Siedler noch dort gewesen waren, und Mrreyna dadurch komplett durchgedreht war.
Karstur Shorru hatte in seinem Leben nur wenige Dinge jemals bereut; sehr wenige. Aber er bereute zutiefst, dass er damals Mrreyna geholfen hatte, Uviru als Anführer der Zarshash abzusetzen und zu ermorden. Uviru war ein Mann gewesen, den selbst die IsteP und sogar seine Opfer geachtet hatten. Mrreyna wurde von ihren eigenen Leuten gefürchtet, gehasst und verabscheut wegen ihrer Grausamkeit. Die sich unter anderem darin äußerte, dass sie Uvirus konservierten Kopf in einer Vitrine ihrer Kabine aufbewahrte, um den Toten immer noch zu verhöhnen.
Und auch als mahnendes Beispiel dafür, was jedem drohte, der es wagen sollte, sich gegen sie zu stellen. Am liebsten hätte sie noch so manchen anderen Kopf daneben gestellt. Den von Daar Abraan, den von Melori – und definitiv Shorrus, falls er ihren Sturz nicht sehr, sehr sorgfältig plante und extrem nachhaltig durchführte. Was hieß, dass er sie nicht am Leben lassen durfte.
Aber trotzdem bedeutete sie ihm etwas. Sie hatte schließlich auch eine andere Seite und konnte in gewissen Momenten durchaus anschmiegsam und ausgeglichen sein. Das gab ihm den Hauch einer Ahnung, wie sie gewesen war, bevor sie sich so negativ entwickelt hatte. Wodurch eigentlich? – Egal. Da er Mrreyna nicht vor sich selbst retten konnte, musste er sich ihrer entledigen. Und wenn sie weiterhin das Geschäft vernachlässigte, würden sich schließlich auch die Leute gegen sie stellen, die ihr bis jetzt noch die Treue hielten.
*
Die IsteP-Schiffe hatten das Sonnensystem abgeriegelt. Auch wenn es sich nur um kleine Trägerschiffe handelte, die im Gegensatz zu den Klasse-1-Riesen nur jeweils fünfzig Raumjäger an Bord hatten, genügten die insgesamt 250 Jäger zusammen mit den Trägerschiffen, um ein Netz um das System zu legen, durch das nicht einmal die OSMERRU schlüpfen konnte, ohne bemerkt zu werden. Trotzdem hatte Mrreyna sich geweigert, sich zurückzuziehen und die Tätigkeit der IsteP-Einheiten aus sicherer Entfernung zu beobachten.
Einige Jäger flogen im Orbit um Tabai 5 und scannten den Planeten. Besondere Aufmerksamkeit schenkten sie dem Zerstörungswerk, das Mrreyna um die Stelle herum angerichtet hatte, an der der nilamische Kopfgeldjäger Meloris Leiche auf einer Bahre präsentiert hatte. In ihrer Wut hatte sie alles in der Umgebung zerstört. Allerdings hatte sie sich weit genug zurückgehalten, um nicht den gesamten Planeten zu vernichten wie Kantaka. Selbst in der heißesten Wut reagierte sie manchmal noch überlegt. Und das machte sie gefährlich, denn man konnte nie im Voraus sagen, wann ihr Verstand noch funktionierte, wenn sie einen Wutanfall bekam und wann nicht mehr.
Shorru zweifelte nicht daran, dass sie Tabai 5 vernichtet hätte, aber dann hätte der Kopfgeldjäger das schon aus der Ferne geortet und wäre nie nahe genug an den Planeten herangeflogen, dass die OSMERRU sein Schiff hätte zerstören können. Und genau das wollte Mrreyna tun. Aber was hatte die IsteP hierher gelockt?
„Es sind noch Rückstände von Meloris DNA in der Umgebung“, meldete Yarrshonn, der inzwischen wieder seinen Platz an den Ortungsgeräten eingenommen hatte. „Sie müssen vom Wind verteilt worden sein, während die Leiche hier auf Abholung wartete.“ Vorsichtig formuliert.
„Kommunikation“, knurrte Mrreyna Sarrguya an, die an den Kom-Station saß. „Kannst du irgendwelche Gespräche zwischen den Jägern und ihrem Trägerschiff abfangen?“
Eine dumme Frage, denn die Kommunikation zwischen IsteP-Schiffen war besonders gesichert, und es gab bis heute keine Möglichkeit, sie in irgendeiner Form abzuhören, wenn man die Kom-Codes nicht kannte.
„Nein“, antwortete Sarrguya. „Aber ich denke, ich weiß, was die IsteP hierher getrieben hat. Es hat Gerüchte über Meloris Tod gegeben, die über ISA Amigi Net und Forum Kaiton verbreitet wurden. In einem Posting wurde auch erwähnt, dass ihre Leiche auf Tabai 5 liegt.“
Das konnte nur der Kopfgeldjäger gepostet haben, da er allein wusste, wo er Meloris Leiche abgeladen hatte. ISA Amigi Net und Forum Kaiton waren öffentliche Chatrooms, deren Postings jeder lesen konnte. Und selbstverständlich wurden beide von der IsteP gelesen und ausgewertet, auch wenn deren Analysten sich als normale User tarnten.