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Intelligenz allein ist nicht alles – vor allem dort, wo Menschen miteinander auskommen müssen, zählen andere Qualitäten: der bewußte Umgang mit Gefühlen, die Fähigkeit, eigene Empfindungen zu verstehen und auf die der anderen angemessen einzugehen. Regine Schneider setzt sich mit der Intelligenz der Emotionen in aktuellen Lebenssituationen auseinander. Sie zeigt Strategien auf, wie man den besseren Umgang mit sich selbst und anderen lernen kann. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 297
Regine Schneider
Gefühle lügen nicht
Die Intelligenz der Emotionen
FISCHER E-Books
Wir leben in einer Kultur, in der wir die Bedeutung des Gefühlslebens und ihre Signale aus den Augen verloren haben. In Zeiten von Wissenschaftsgläubigkeit, Forschung und Technik, von Internet und Cyberspace, hat der Verstand ein derartiges Übergewicht bekommen, daß vielen Menschen der Kontakt zu ihren Gefühlen abhanden gekommen ist. Wir haben das Leben aus dem Bauch verlernt. Und wir leiden darunter. Denn wer seine Gefühle nicht wahrnimmt oder ihnen nicht traut, dem fehlt der wichtigste Kompaß im Leben.
Wir aber leben in einer »Gut-drauf-Gesellschaft« und haben unsere Emotionen unter einem Berg von Urteilen, Ge- und Verboten begraben, sie eingeteilt in gute und schlechte, in erwünschte und unerwünschte Gefühle, anstatt sie insgesamt zu achten und als Wegweiser wertzuschätzen. Wir haben uns eingepfercht in eine enge Definition dessen, welche Gefühle gezeigt werden dürfen, weil sie als »normal« gelten.
Doch unsere Gefühle haben eine eigene Logik und eine eigene Wahrheit, man kann sagen, eine eigene Intelligenz. Sie machen uns darauf aufmerksam, ob wir mit oder gegen unser Naturell leben. Die gesamte Gefühlspalette gehört zu einem kompletten Leben dazu.
Viele Menschen sind mit ihren Emotionen durchaus in Tuchfühlung, aber sie trauen ihren Wahrnehmungen nicht. Weil sie eine Idealvorstellung davon haben, wie sie sein müßten. Zu sehr schielen wir darauf, wie wir uns fühlen sollten, anstatt, wie wir uns wirklich fühlen. Ganz deutlich wird das, wenn Frauen ein Baby bekommen haben und bestürzt feststellen, daß sie todunglücklich sind. Die gesellschaftlichen Erwartungen sind so hochgeschraubt – eine Mutter hat vor Glück zu platzen, wenn sie ihr langersehntes Kind im Arm hält –, daß frischgebackene Mütter sich nicht trauen zuzugeben, alles andere als glücklich zu sein. Viele vergraben sich mit Depressionen im stillen Kämmerlein und versuchen verzweifelt, nach außen das gewünschte Bild aufrechtzuerhalten. Postnatale Depression gilt immer noch als tabu und nicht als erklärbarer und nachvollziehbarer Zustand.
Frauen trauen sich oft nicht, sich abzugrenzen und nein zu sagen, weil sie glauben, dann nicht mehr geliebt zu werden. Lieber schlucken sie ihren Unmut über den Ehemann, den Chef, die Freundin herunter. Obwohl ihnen ihr Gefühl signalisiert hat, hier mußt du ablehnen statt mitzumachen. Wenn du die Forderung, die an dich gestellt wird, erfüllst, geht es dir nicht gut. Dein Lächeln ist unecht, und dein Bravsein bekommt dir nicht. Männer dagegen haben meist Probleme damit, ihre »weichen« Gefühle auszuleben und zuzulassen. Doch auf Dauer macht es krank, seine Bedürfnisse zu unterdrücken und nur erwartungsgemäß zu funktionieren. Wer fremdbestimmt lebt, findet nie heraus, was ihm guttut und was nicht und was für eine Persönlichkeit er ist.
Gefühle zu verstecken erzeugt Druck. Und Gefühle versteckt zu halten kostet ungeheuer viel Energie. Unterdrückte Gefühle arbeiten in uns und machen schlimmstenfalls krank. Viel besser ist es, zu seinen Gefühlen zu stehen. Sich zu seinem reichen Gefühlsleben zu bekennen, die gesamte Gefühlsvielfalt anzunehmen und wahrzunehmen. Es hat sich herausgestellt, daß man in dem Moment, wo man seine Gefühle wahrhaftig äußern und zeigen kann, bereits Erleichterung spürt. Der angemessene Umgang mit unseren Gefühlen hält uns gesund.
Doch lange galt allein ein hoher Intelligenzquotient als Maß für Leistungsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit. Mit ihm wurde eine rationale, von bestimmten Bildungsidealen geprägte Intelligenz gemessen. Inzwischen wissen wir, daß Intelligenz an sich kaum etwas darüber aussagt, wie wir unseren Alltag meistern. Der Regensburger Pädagogikprofessor Helmut Heid drückte es treffend aus: »Intelligenz ist das, was der Intelligenztest mißt.« Nicht mehr und nicht weniger.
Wissenschaftler meinen heute sogar, daß der IQ höchstens zu 20 Prozent zum Lebenserfolg beitrage. Der Rest sei auf andere Faktoren zurückzuführen. Beispielsweise auf die Fähigkeit, an sich zu glauben, sich selbst zu motivieren, sich von Mißerfolgen und Enttäuschungen nicht entmutigen zu lassen, seine Bedürfnisse anzuerkennen, aber auch, sie aufschieben zu können, sich von seinen Gefühlen nicht überfluten zu lassen, sich in andere hineinversetzen zu können und Hoffnung zu haben.
Dem amerikanischen Psychologen und Bestsellerautor Daniel Goleman haben wir den Begriff der »emotionalen Intelligenz« zu verdanken. Er brachte es auf den Punkt: »Menschen mit einem hohen IQ kommen im Privatleben manchmal erstaunlich schlecht zurecht.«[1] Menschen mit der Fähigkeit, sich von ihren Gefühlen steuern zu lassen, sind oft trotz eines durchschnittlichen IQ im Berufsleben und privat erstaunlich erfolgreich. Emotionale Intelligenz bedeutet zum einen, seine Gefühle zu akzeptieren, aber auch angemessen mit ihnen umzugehen. Klug ist, wer auf seine Gefühle hört, wer sich bei seinen Handlungen von ihnen beraten läßt, statt sie zu ignorieren. Unsere Emotionen steuern uns, sofern wir nach ihnen leben, hochintelligent durchs Leben. Wer auf seine innere Stimme hört, ist schon vor manchem Fehler bewahrt worden.
Leider werden unsere Gefühle und der intelligente Umgang mit ihnen im Augenblick überwiegend im Hinblick auf unsere Leistungsfähigkeit und unseren beruflichen Erfolg diskutiert. So sehr haben wir den Leistungsgedanken schon verinnerlicht. Es scheint, daß wir gar nicht anders können. Doch nicht jeder, der sein Gefühlsleben voll entfalten will, hat das Ziel, damit Karriere zu machen.
Glück und Zufriedenheit sind Lebensziele, die wir auch ohne hochgesteckte berufliche Ziele erreichen können. Oft verwechseln wir Glück allerdings mit materiellem Reichtum. Wir streben unermüdlich danach, unsere materielle Lage zu verbessern. Die Menschen, die sich den Werten und Normen dieser Leistungsgesellschaft untergeordnet haben, sind aber meist unzufrieden. Denn sie führen ein von sich und ihrem Gefühlsreichtum abgeschnittenes Leben.
Was sollen wir tun? Den Kontakt zu unseren Gefühlen wiederherstellen. Sie spüren und dem vertrauen, was sie uns signalisieren. Unsere Emotionen ausleben, und zwar »kultiviert«, ohne uns und anderen zu schaden. Das kann man lernen. Am deutlichsten wird das beim Zorn. Es gibt viele Menschen, die unterdrücken ihre Wut und schaden sich selbst, weil sie das Gefühl gegen sich richten. Es gibt auch Menschen, die ihren Zorn ohne Rücksicht auf Verluste an ihrer Umgebung auslassen. Die fühlen sich dann selbst oft besser, aber der, der den Zorn abbekommen hat, fühlt sich hundsmiserabel. Es geht weder darum zu schlucken noch zu explodieren. Ein freundliches »das finde ich nicht in Ordnung« an der richtigen Stelle kann viel Wind aus den Segeln nehmen.
Es geht darum zu lernen, mit sich selbst zurechtzukommen, größere persönliche Zufriedenheit zu erreichen, aber auch den Umgang mit unseren Mitmenschen auf ein erfreulicheres Niveau zu heben, als wir es zur Zeit gewohnt sind. Wir sollten lernen, zwischenmenschliche Kontakte besser zu pflegen.
Es geht darum, ein »authentischer« Mensch zu werden. Seine Persönlichkeit ausreifen zu lassen. Ein in sich ruhender Mensch akzeptiert sich selbst mit seinen Stärken und Schwächen und hat aus dieser Position heraus auch Verständnis für die Schwächen seiner Mitmenschen. Er hat es darüber hinaus nicht nötig, seine eigene Unausgegorenheit an anderen auszulassen. Ein Mensch, der mit sich und seinem Gefühlsleben im reinen ist, ist aufgeschlossen, neugierig, positiv, freundlich, dem Leben und seinen Herausforderungen zugewandt. Das ist für die Hausfrau und Mutter ebenso wichtig wie für die Frau auf dem Chefsessel, für die Verkäuferin genauso wie für die Leiterin der VHS. Nur wenn wir es schaffen, uns selbst und auch anderen Menschen wieder näherzukommen, Verständnis zu entwickeln für das Leben und seine Gesetzmäßigkeiten, können wir zufriedener werden. Und glücklicher. Und das ist es doch, wonach wir alle streben. Gerade Frauen beschreiten heute häufig diesen Weg. Sie machen eine Therapie, entwickeln ihre Persönlichkeit, entdecken sich selbst und streifen alte Rollenbilder ab. Um authentisch zu werden, innerlich ausgeglichener und zufrieden. Um sich einfach wohler in ihrer Haut zu fühlen. Sie entdecken die reiche Gefühlswelt als Wert an sich. Dieses Buch soll ihnen dabei helfen.
Menschen, die in unserem Kulturkreis leben, gehen davon aus, daß nur das gültig und existent ist, was wir mit den Methoden der Wissenschaft erforschen, beweisen und erfassen können. Mit Hilfe seines Verstandes versucht der Mensch, »richtige« und von Vernunft geprägte Entscheidungen zu fällen. Was wir nicht im Kopf nachvollziehen können, empfinden wir als »Glaubenssache« und somit als Humbug. Wie oft werden beispielsweise Menschen wegen ihrer Religiosität belächelt und nicht für voll genommen. Unsere logischen, naturwissenschaftlichen, technischen und kognitiven Fähigkeiten werden folglich stark gefördert, während wir unsere emotionalen und kreativen Talente wenig beachten. Unsere Gefühle zu beobachten und zu ertragen ist uns fremd. Wir begeben uns selten freiwillig in Situationen, in denen wir engen Kontakt zu unseren Emotionen bekommen könnten, beispielsweise indem wir uns zurückziehen und längere Zeit mit uns allein sind.
In jeder Gesellschaft lernen Menschen Vorzeigeregeln von Emotionen. Wir verinnerlichen sie so sehr, daß sie zu Teilen unserer Persönlichkeit werden. Dazu gehören bei uns zu lächeln, obwohl wir verletzt sind, etwas mitzumachen, obwohl es uns überhaupt nicht paßt, cool zu tun, obwohl wir innerlich kochen. Eine Regel, die wir fast alle lernen, lautet: Verdecke deine wahren Gefühle, wenn sie einen nahestehenden Menschen kränken. Zeige lieber ein verlogenes als ein zurückweisendes Gefühl. Wie oft heucheln wir z.B. Freude über Geschenke, die uns überhaupt nicht gefallen.
Eine weitere unausgesprochene gesellschaftliche Regel lautet: Negative Gefühle sind unerwünscht. Dazu gehören Deprimiertheit, Melancholie, Traurigkeit, Schmerz und auch Weltschmerz und Tristesse. Fühlen wir uns deprimiert, suchen wir Ablenkung und Zerstreuung, gehen zum Psychiater oder greifen zu Medikamenten. Wir lassen uns ruhigstellen oder aus dem Verkehr ziehen.
Wir haben ein Idealbild vom Menschen, dem wir immer weniger in der Lage sind, gerecht zu werden: den perfekt funktionierenden Strahlemann, der »locker« ist und »gut drauf«. Und dabei unendlich leistungsmotiviert. Ohne Rücksicht auf sich selbst, auf Familie, Kinder, Partnerschaft. Wie ein Roboter. Analyse, Bewertung, Einschätzung und Kontrolle sind ihm über alle Maßen wichtig. Mit ihrer Hilfe glaubt er, Lebensglück zu erreichen. Glück ist für ihn machbar und Ergebnis angenehmer äußerer Zustände. Er will die Welt, sein Leben überschauen und planen können. Er will sein Schicksal kontrollierbar machen, indem er sich einbildet, durch »richtiges« Verhalten verlaufe sein Leben ohne Zwischenfälle, ohne Krisen und damit »gut«.
Klaus Lange, Dozent für Statistik im Bereich Wirtschaftswissenschaften der Uni Hamburg meint: »Ebenso werden die Ursachen für eigene unangenehme Zustände von außen gesehen. Schlechte oder böse Gefühle werden auf andere Menschen oder äußere Situationen zurückgeführt. Die meisten Krankheiten gelten als äußerlich verursacht oder als zufällig.«[2] Die Menschen sehen sich als Opfer von Krankheiten, die sie ohne ihr Zutun überfallen. Sie beklagen dann ihr hartes Schicksal, das es nicht gut mit ihnen meint. Viele sind diesem Denken so verhaftet, daß sie regelrechten Kontrollzwängen unterliegen. Jedes noch so kleine »Risiko« soll ausgeschaltet werden. Daß sie unbeweglich, rigide, verholzt werden, bemerken sie nicht.
Unser Leben ist damit ausgefüllt, unsere materielle Versorgung zu sichern und somit angenehme äußere Bedingungen für unser Leben zu schaffen. Unter angenehmen äußeren Bedingungen verstehen wir materiellen Reichtum, der es uns erlaubt, unsere Freizeit erlebnisorientiert auf hohem Niveau zu verbringen. Und auch das mit dem Ziel, Gefühle wie Trauer, Schmerz, Angst, Depression gar nicht aufkommen zu lassen. Wir machen uns vor, eine Gehaltserhöhung oder ein Lottogewinn könnten uns retten und erlösen. Lange: »Hinter dieser Lebenseinstellung liegt eine tiefe Sehnsucht nach einem angenehmen Leben ohne Leid. Man versucht, die Sehnsucht in der physischen Welt zu verwirklichen.«[3]
Doch wir müssen täglich feststellen, daß unser Leben trotz der Herrschaft der Vernunft immer unübersichtlicher und bedrohlicher wird. Obwohl die Medizin auf einem hohen technischen Stand ist, sind Krankheiten nicht weniger geworden. Es gibt immer neue Gefahren. Obwohl wir auf hohem wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Niveau leben, machen wir die Natur kaputt, rüsten wir derart hoch, daß wir die Erde vernichten können. Wir hochzivilisierten Menschen lassen die dritte Welt verkommen. Je mehr wir uns vermeintlich in die Lage versetzen, die Natur und das Leben zu beherrschen, um so mehr ist unsere Existenz auf der Erde bedroht.
Dieses Paradox zeigt sich auch auf privater Ebene. Die so funktionierende Gesellschaft produziert hilflos und ohne innere Stärke fremdbestimmt durchs Leben schwimmende Menschen, die nach einem Sinn suchen und nicht in der Lage sind, den Sinn in sich selbst zu finden. Der einzelne lebt häufig in einem desolaten Zustand. Depression als globales Krankheitsbild trifft immer mehr Menschen. Viele fühlen sich einsam. Andere werden von Panikattacken überfallen, leiden an Angstzuständen.
Zerbrechende Familien, wachsende Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen und steigende Selbstmordziffern sind ein Indiz für den Zustand unserer Gesellschaft. Glücksdrogen überschwemmen den Markt. Steigender Alkoholkonsum macht die Menschen kaputt. Schlafprobleme sind schon fast die Norm, ebenso wie Burn-out, vegetative Störungen und Kreislauferkrankungen. Fernsehkonsum rund um die Uhr ersetzt die zwischenmenschliche Kommunikation. Wir leben wider die Natur. Die Folge: Selbstentfremdung und Isolierung. Letztlich geringes Selbstwertgefühl und Selbsthaß.
Obwohl die Psychologie uns in die Lage versetzt, das Verhalten von Menschen zu erklären und durchsichtig zu machen, was die Ursachen für unser Verhalten angeht, sind unsere Beziehungen von Kindheit an bis in die Partnerschaft und weit darüber hinaus schmerzhaft und schwierig. Wir können zwar viel erklären und richtig interpretieren, doch glückliche Beziehungen haben wir dadurch nicht. Statt dessen sprechen wir vom »Muttermythos«, dem »Mythos von der glücklichen Kindheit« und dem »Mythos von der romantischen Beziehung« und rennen diesen Mythen hinterher. Obwohl wir täglich in der Realität an deren Grenzen stoßen.
Im Beruf strampeln wir uns oft bis an unsere Grenzen und darüber hinaus – bis zum Burn-out – ab. Oder wir verbringen soviel Zeit am Arbeitsplatz, daß er unser Leben beherrscht, und manche zwar viel Geld verdienen, aber das Leben gar nicht mehr genießen können. Wir leben nur noch für unseren Beruf. Unzufrieden und unglücklich. Das, was wir erreichen können, ist nicht das, was uns auch innerlich erfüllt. Es ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel, denn unsere gesellschaftlichen Werte geben keinen Lebenssinn. Sie sind hohl. Diese fragwürdige Art zu leben ist bis zu einem Grad ausgereizt, daß die Werte brüchig geworden sind. Ohne Umdenken in vielen menschlichen Lebensbereichen müssen wir Angst haben um unsere Existenz und unsere Zukunft. Trotz unserer hochentwickelten Instrumentarien ist die Welt außer Kontrolle geraten. Es geschehen zu viele Dinge, die eigentlich niemand will. Und wir fühlen uns trotz unserer Kontrollmöglichkeiten machtlos und hilflos.
Klaus Lange stellt fest: »Alle Menschen spüren Sehnsucht nach Ruhe, Frieden und Glück. Viele erleben jedoch immer neues Leid und große Schwierigkeiten. Manche resignieren und führen ein freudloses und für sie selbst sinnloses Leben voller Angst und Depression.«[4] Das ist sicherlich die Mehrheit. Andere begeben sich auf die Suche nach anderen Werten und nach einem Sinn, auf die Suche nach sich selbst. Haben erkannt, daß unser Denken begrenzt ist. Daß die Wahrnehmung von dem, was Menschsein und Leben bedeutet, begrenzt ist. Und daß es da mehr zu leben und zu entdecken gibt. Wichtig auf diesem Weg ist, spüren zu lernen, was in uns ist, unsere Emotionen wahrzunehmen und den Umgang mit ihnen zu lernen.
Immer angepaßtes und den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechendes Verhalten macht uns auf Dauer krank, und es dient auch nicht der Verständigung zwischen den Menschen. Im Gegenteil, solche Verhaltensweisen erschweren uns und unseren Mitmenschen den Umgang miteinander. Irritationen im Kontakt untereinander führen zu Mißverständnissen und verursachen Aggressionen.
Natürlich geht es nicht darum, unsere Gefühle in jeder Situation unkontrolliert herauszulassen. Es geht um die Frage, wie sinnvoll oder krankmachend sind die Spielregeln in unserer Gesellschaft, und gäbe es nicht andere, für den Umgang der Menschen miteinander sinnvollere Möglichkeiten, unsere Gefühle zu zeigen und mit ihnen umzugehen?
Meine Gefühle habe ich immer unterdrückt, habe alles mit dem Kopf entschieden. Ich bin ein durch und durch rationaler Mensch. Ich stelle das Denken immer über das, was ich fühle. Ein Verstandesmensch, sagt meine Mutter. Ich fand immer, daß ich genauso reagiere, wie ich das von mir erwarte, besser gesagt, wie ich meinte, daß man das von mir erwarten darf. Ich habe bei allem, was ich tue, das Gefühl, ich bin zwei Personen. Die eine guckt mir zu, steht neben mir und beurteilt kritisch, was ich tue. Die andere ist die, die agiert, und die fühlt sich verfolgt von der, die beurteilt. Die Rationale sagt immer: »Moment mal, so weit geht das nicht, stopp jetzt. Weiter als bis hierher darfst du in deinen Gefühlen nicht gehen.« Sie beurteilt meine Gefühle.
Es ist mir immer sehr schwergefallen, die beobachtende Person auszuschalten. Die Beobachtende schreibt mir vor, daß ich stets Herr der Lage zu sein habe und bloß keine Schwächen zu zeigen habe. Schwächen sind Eifersucht, Weinen, Zorn. Ich habe mich nicht emotional zu zeigen. Freude allerdings ist ein gutes Gefühl und darf gezeigt werden. Ich bin ja eigentlich ein spontaner Mensch. Und manchmal wundere ich mich, daß die Selbstkontrolle und die Spontaneität sich nicht ausschließen.
Natürlich sind die Gefühle in mir drin, aber sie kommen nicht nach außen. Wut beispielsweise schlucke ich und werde dann völlig cool. Ruhig. Ich hatte immer das Gefühl, es ist richtig, wie ich mich verhalte. Ich habe das nie in Frage gestellt. Die Person, die neben mir stand, war immer normal und gehörte zu mir. Ich kam nie auf die Idee, daß diese Person vielleicht unrecht haben könnte. Mein Verstand war meine Kontrollinstanz, und ich bin lange damit klargekommen.
Probleme hatte ich mit dieser Haltung in Liebesbeziehungen. Da habe ich diese Haltung zwar durchgehalten, doch das ging regelmäßig schief. Einige Beziehungen sind dadurch kaputtgegangen. Ich habe nicht aushalten können, daß mir jemand sehr nahekommt. Ich hatte Angst, daß ich etwas von mir verliere, daß ich meine Kontrolle verliere. Das hat mir große Probleme gemacht. Das alles begreife ich jetzt erst. Daß ich meine ganzen Beziehungen nicht zugelassen habe. Ich konnte mich nie auf jemanden einlassen.
Auseinandersetzungen hat man nicht, wenn man über den Dingen steht. Ich bin immer eher weggegangen. Und wenn ich wiedergekommen bin, wurde möglichst wenig darüber gesprochen. Wenn mich etwas sehr genervt hat, habe ich nicht versucht, das Problem anzusprechen. Ich hätte mich dabei ja verlieren können. Nein, dann habe ich Schluß gemacht. Immer habe ich Schluß gemacht.
Ich hatte beispielsweise meist Männer, die wahnsinnig nett waren. Sehr lieb zu mir, aber auch zu anderen Frauen. Die haben für andere Frauen alles mögliche getan. Sie haben tapeziert, deren Auto abgeschleppt, irgendwelche handwerklichen Arbeiten erledigt. Damit konnte ich schlecht umgehen. Was ich nicht konnte, war, einfach nur zu fragen: »Ist da möglicherweise mehr, als daß du nur nett bist?« Ich habe mich nicht getraut, das zu fragen, man steht da ja drüber. Eifersüchtig ist man nicht und ich schon überhaupt nicht. Das paßt nicht ins Bild. Deswegen habe ich keinen einzigen gefragt, ist da mehr? Ich habe aber doch mehr dahinter vermutet. Ich habe meine Gedanken vergiftet und meinen Männern sogar nachspioniert. Das wußte natürlich niemand. Nach außen muß ich so gewirkt haben, daß der Eindruck entstand, ich hätte kein Problem damit, ich fände das in Ordnung.
Es hätte vermutlich einfach genügt zu sagen: »Du, ich bin eifersüchtig, und ich kann mit deinem Verhalten nicht gut umgehen.« Dann hätte der Partner die Chance gehabt, das richtigzustellen. Mir zu sagen, mit dir hat das nichts zu tun. Aber ich habe mir das selber nicht eingestanden und habe auch vor mir behauptet, Eifersucht, das kennen wir gar nicht. Ich habe dann andere Gründe gesucht, um letztlich Schluß zu machen.
Ich hätte nie sagen können, dieses oder jenes Problem nagt in mir. Ich hätte niemals zugegeben, daß ein Gefühl in mir arbeitet und mich verunsichert. Das hätte ich als absolute Schwäche empfunden.
Ich habe auch in meiner Ehe keine Nähe zugelassen und mit diesem Verhalten fast meinen Mann verloren. Ich war immer die Starke, die alles allein schafft. Meinem Mann habe ich das Gefühl gegeben, keine Nähe geben zu können, und das hat ihn gestört. Er hat es mir gesagt, und das war ein extremer Streitpunkt zwischen uns. Ich habe das heftigst bestritten.
Ich muß immer auf meinen eigenen Füßen stehen. Ich kann mich nicht anlehnen. Bisher habe ich mich niemals tief in eine Beziehung fallen lassen können. Und meine Ehe wäre fast daran zerbrochen. Nach diesem alten Muster, ich, die Starke, habe alles im Griff. So haben wir uns immer mehr voneinander entfernt, und irgendwann bin ich ausgezogen. Das war für mein Verständnis der richtige Weg. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, daß ich mich vielleicht mal selbst hinterfragen sollte, vielleicht auch an mir arbeiten müßte. Wir haben die Beziehung zwar nicht richtig beendet, aber auch nicht richtig weitergeführt.
Eines Tages sagte mein Mann, er interessiere sich nun, da das mit uns wohl nichts mehr werde, für eine andere Frau. Das hat in mir Gefühlsstürme ausgelöst. Ich spürte plötzlich, ich wollte ihn nicht verlieren. Und ich bin das erste Mal in meinem Leben über meinen Schatten gesprungen und habe ihm meine wahren Gefühle offenbart. Das war wahnsinnig schwer für mich. Aber es hat uns einander nahegebracht. Eine Nähe, die ganz neu für mich ist und die ich nie zuvor in meinem Leben erfahren oder besser gesagt zugelassen habe.
Im Moment bin ich dabei, mir meine früheren Muster klarzumachen und an mir zu arbeiten. Ich entdecke gerade, daß es mir überhaupt nicht schadet zu sagen, du, ich komme hier an meine Grenzen, unterstütz mich mal. Oder mal zu weinen und zu sagen, das hat mich verletzt oder zornig gemacht. Wir haben jetzt eine zarte neue Beziehung. Anders als früher, ganz ungewohnt und nicht einfach. Daß ich endlich geschafft habe zu sagen, ich liebe dich, und ich will dich behalten, hat mich einen großen Schritt weitergebracht. Wenn ich heute zurückdenke, tut es mir um die verschenkten Jahre leid. Ich habe jahrelang mit meinem Mann in einem Kleinkrieg gelebt. Das mußte nicht sein, wie ich heute weiß. Andererseits ist es ja gut, daß ich den Schritt überhaupt gemacht habe. Ich versuche jetzt ernsthaft, mich auf meine Beziehung einzulassen, und dann werden wir sehen, was aus ihr wird.
In jungen Jahren glaubte ich, das Leben verlaufe richtig, wenn es ohne Mißstimmungen wie Trauer, Wut, Deprimiertheit abliefe. Wenn man immer fröhlich und gut drauf ist. Schon als Teenager hatte ich aber oft deprimierte Tage, und wenn ich meine Mutter fragte, was mit mir los sei, wenn ich so einen Kloß im Hals und einen Druck auf der Brust verspürte, bekam ich den Eindruck, mit mir laufe etwas verkehrt. Ich nahm an, normale Kinder hätten so etwas nicht, und hörte natürlich auf zu fragen. Ich fing schon damals an, solche »komischen Gefühle« zu unterdrücken oder sie mir zumindest nicht anmerken zu lassen. Schon damals fing ich an, auf die Frage, wie es mir gehe, nicht ehrlich, sondern grundsätzlich mit »gut« zu antworten.
War ich enttäuscht, gekränkt, wurde ich zurechtgewiesen: »Zieh keine Grimasse, sonst siehst du aus wie Onkel Karl-Heinz.« Onkel Karl-Heinz war alles andere als eine Schönheit. Wie er aussehen war das letzte, was ich wollte. Es hat mich sehr verletzt, mit ihm verglichen zu werden, aber das durfte ich so nie äußern. Dann »stellte ich mich an«. Ich gewöhnte mir an, in solchen Situationen ein falsches Lachen aufzusetzen, wie meine Mutter das heute im hohen Alter noch macht, um zu demonstrieren, daß so eine Ohrfeige mir nichts anhaben konnte. »Darüberstehen« war etwas, was ich früh lernen mußte. Man hatte über den Dingen zu stehen, weswegen man sich dann auch nicht auseinandersetzte, sein Recht einforderte. Nein, man hatte einfach nur »darüberzustehen«, was damit gleichzusetzen war, daß man sich große Respektlosigkeiten gefallen lassen mußte. Zeigte man mal, daß man berührt oder verletzt war, war man »überempfindlich«. Eine Mimose, was auch als negativ galt.
Kinder bekommen von Zeit zu Zeit Wutanfälle. Es ist wichtig, daß sie das dürfen. Machte ich meiner Empörung mal lauthals Luft, wurde ich zurechtgewiesen, ich sei ja hysterisch. Ich solle mich nur ja zusammennehmen. Und es folgte wieder ein gemeiner Vergleich. »Sonst siehst du aus wie die Elli aus Castrop Rauxel.« Auch das saß. Diese Elli aus Castrop Rauxel, eine Cousine meines Vaters, kreischte nämlich mit schöner Regelmäßigkeit in den höchsten und schrillsten Tönen ihren Mann an. Es war sehr unbehaglich und peinlich, bei ihr zu sein. Und jede wütende Äußerung meinerseits wurde mit ihrem Benehmen gleichgesetzt. Wurde ich zornig, war das begleitet von einem miserablen Selbstbild. Dann sah ich mich als keifende Elli. Daß meine Mutter genauso keifend und ohne Achtung meinen Vater herumkommandierte, nahm sie nicht wahr. Soviel Selbstkritik besaß sie nicht. Und wenn jemand vorsichtig wagte, sie darauf aufmerksam zu machen, wurde er mit Haß und verbalen Ausfällen attackiert. Das bei anderen zu kritisieren, aber für sich in Anspruch zu nehmen, schien für sie in Ordnung zu sein.
Man merkt es bereits, mein Elternhaus war alles andere als in Ordnung und nicht dazu geeignet, aus mir einen selbstbewußten und sich selbst akzeptierenden jungen Menschen zu machen. Ich habe kein Selbstwertgefühl entwickelt. Ich kann mich nicht daran erinnern, für etwas gelobt worden zu sein. Talente wurden für selbstverständlich gehalten. Meine Mutter zeigte mir nie, daß sie mich liebenswert fand. Ich weiß bis heute nicht, wie sie mich fand: Es kam immer nur Kritik. Dies führte zudem dazu, daß mir bis heute jedes Kompliment, so sehr es mich auch freut, hochnotpeinlich ist. Ich habe einfach nicht gelernt, mit offen gezeigter Zuneigung umzugehn. Es ist mir unangenehm, wenn mich jemand lobt. Dann mache ich mich klein und halte die Luft an.
So wurde die Gefühlswelt für mich kein Gradmesser dafür, wo es langgeht, sondern ein Irrgarten, in dem ich mich nicht zurechtfand. Es ging mir immer öfter schlecht, und ich fand es immer anstrengender zu überspielen. Eine andere Möglichkeit kannte ich aber nicht. Mein Leben war ein einziges Getue. Ein einziges darauf Achten, ob ich so war, wie ich zu sein hatte. Ich führte ein völlig fremdbestimmtes Leben, versuchte, wie eine Marionette zu funktionieren, und war mir selbst völlig fremd. Ich hatte keinen Kontakt zu meinen Gefühlen. Ich war weit davon entfernt, zu mir und meinen Gefühlen zu stehen, und so wurde auch mit mir umgegangen. Ich habe viel zugelassen, was mich verletzt hat, weil ich mich nicht angemessen wehren konnte. Ich wußte einfach nicht, wie das geht, und glaubte, ich darf das nicht. Ich konnte mir nicht eingestehen, daß ich verletzt war. Ich stand ja darüber.
Als ich 17 war, entdeckte ich die angenehme Wirkung von Drogen. Von Schlaftabletten, Tranquilizern, Aufputschmitteln und Alkohol. Ich entdeckte, daß man mit Drogen seine Gefühle unter der Decke halten kann. Und ich fing an, mich regelmäßig zu betäuben. Wenn ich nichts mehr empfand, glaubte ich, jetzt läuft es richtig. Gemaßregelt zu werden tangierte mich im Rausch nicht, ich konnte frech sein. Trauer spürte ich im Suff nicht. Oder ich konnte meinen Tränen ungehemmt freien Lauf lassen, und es störte mich nicht, daß man »nicht flennt«. Das neutrale Wort weinen gab es in unserem Sprachgebrauch nicht.
Ich konsumierte jahrelang alle möglichen Drogen. Alles, was ich kriegen konnte. Und ich brauchte immer mehr, um einen bestimmten, gleichförmigen Zustand herzustellen. Bis ich auffällig wurde und für meine Umwelt nicht mehr tragbar war. Ich hatte mich unter Drogen nicht mehr unter Kontrolle. Die Drogen entglitten mir. Wie durch Nebel nahm ich wahr, daß sich Freunde abwandten. Ich wollte mich aber nicht damit auseinandersetzen und erklärte sie für »doof«.
Ich machte damals eine Fortbildung, und in der Schule gab es einen Lehrer, der hielt mich eines Tages am Arm fest und sagte in sehr scharfem Ton: »Du bist vollgepillt und zugedröhnt. Glaub nur ja nicht, ich wüßte nicht Bescheid, was mit dir los ist. Wenn du noch ein einziges Mal in diesem Zustand in die Schule kommst, schmeiße ich dich raus. Und jetzt geh nach Hause und schlaf dich aus.« Der hatte mir gründlich den Brunnen vergiftet. Bis dahin hatte ich nämlich geglaubt, es merke keiner, daß ich alle möglichen Pillen schlucke. Ich dachte ja, daß ich richtig funktionierte, wenn ich Drogen nahm. Daß ich dann so bin, wie von mir erwartet wurde.
Das saß. Ich torkelte nach Hause und nahm verzweifelt ein ganzes Röhrchen Schlaftabletten. Nachmittags kam eine Mitschülerin, die konnte ich gerade noch hereinlassen, dann brach ich zusammen. Sie alarmierte sofort einen Krankenwagen. Ich wurde in die Klinik eingeliefert und bekam den Magen ausgepumpt. Von der Vergiftung bekam ich zwei Tage später Krampfanfälle mit Schaum vor dem Mund. Es war furchtbar. Ein junger Arzt, der mir sehr gefallen hätte, stand an meinem Bett und sagte bedauernd: »Sie sind so hübsch, warum dröhnen Sie sich so voll?« Da sagte ich: »Hübsch sein reicht im Leben leider nicht.«
Ich hatte sehr viel Glück. Ich kam zu einer sehr guten Therapeutin, die meine Misere schnell erfaßte. Mir war im Krankenhaus gesagt worden, wenn ich nicht die Finger von den Drogen ließe, könnte ich mir für mein ganzes Leben Schaden zufügen. Daß ich auf das Gift mit Krampfanfällen reagiert hatte, hatte mich sehr schockiert. Bis dahin hatte ich Schlaftabletten für ein Kavaliersdelikt gehalten. Für harmlos. Nun wußte ich, wie kaputt man sich mit Tabletten und Alkohol macht. Ich war damals nur noch Haut und Knochen. Die Therapeutin half mir beim Entzug, der furchtbar war. Zittern, Schmerzen, wie aufgedreht sein, keinen Schlaf finden. Ich habe damals eine ganze Woche fast nicht geschlafen, und das ist Folter. Ich hatte das Gefühl, ich verliere meinen Verstand. Ich fing schon an zu phantasieren und wußte nicht mehr, wo ich war, als sich nach acht Tagen endlich das erste Mal der Körper seinen Schlaf holte. Danach ging es aufwärts.
Sehr mühsam lernte ich in der Therapie meine Gefühle kennen und erfuhr zu meiner großen Erleichterung, daß es gut ist, sie zu haben. Alle. Die Ge- und Verbote saßen tief. Es waren sechs Jahre harter Arbeit und großer Tiefen, die ich durchgehen mußte, bis ich kapiert hatte, daß ich so, wie ich bin, okay bin. Daß meine Gefühle alle in Ordnung sind. Daß ich sie alle wahrnehmen kann und mir überlegen kann, wie ich angemessen mit ihnen umgehe. Wie ich ihnen angemessen Ausdruck verleihe. Und noch etwas habe ich begriffen. Meine Gefühle sind sehr klug. Sie zeigen mir, wo es langgeht. Sie bewahren mich davor, distanzlos und unvorsichtig mit mir und meinem Leben umzugehen. Sie leiten mich, damit ich gut auf mich aufpasse. Sie bremsen mich, wenn ich mich überfordere. Sie warnen mich, wenn jemand mich schlecht behandelt.
Es passiert mir immer wieder, daß ich meine Gefühle phasenweise überrenne, sie nicht wahrnehme. Einfach aus alter Gewohnheit. Doch dann melden sie sich mit aller Macht. Manchmal stehe ich vor mir und denke, was bist du schlecht mit dir umgegangen. Was hast du alles mit dir machen lassen. Dann kommen wieder Phasen, wo ich Grenzen setze, öfter als notwendig nein sage. Es ist nicht einfach, seine Gefühle immer gleich wahrzunehmen und im richtigen Moment angemessen zu reagieren. Aber es lohnt sich, daran zu arbeiten. Ich hatte schon viele Momente, wo ich rechtzeitig abgebremst habe und gesagt habe, nein, so gefällt mir das nicht. Nein, so paßt es mir nicht. Wo ich etwas für mich gefordert habe. Und dann bin ich sehr stolz auf mich. Dann überkommen mich richtige Glücksgefühle. Ich glaube heute, darum geht es, und nur so wirst du eine Persönlichkeit. Wenn du in engem Kontakt mit deinen Gefühlen lebst. Wenn du authentisch sein kannst, egal, was gerade von dir erwartet wird. Ich bin auf dem Weg. Und ich bin glücklich, daß ich das in diesem Leben lernen darf. Meine Mutter kann nicht damit umgehen. Sie ist weit davon entfernt, eine Persönlichkeit zu sein. Aber ich habe gelernt, mich von ihren Spielchen nicht mehr beeindrucken zu lassen. Heute tut sie mir leid, weil sie das Leben so beschränkt und eingeengt erfahren hat.
Wir haben gesehen, daß es eine Menge Denkfallen gibt, die dazu führen, daß wir uns in einer bestimmten Weise verhalten, obwohl wir unzufrieden damit sind. Es gibt viele Irrtümer, was unsere Meinung darüber angeht, wie die Menschen sind oder zu sein haben. Oder was sie tun müssen, um irgendeiner Norm zu entsprechen. Wie sie sich zu verhalten haben.
Melvyn Kinder, Autor des Buches Machen Sie das Beste aus Ihren Stimmungen, meint: »Diese Mythen, wie die Gesellschaft sie aufrechterhält und festigt, führen uns in die Irre und wecken falsche Erwartungen, wenn es darum geht, wie wir fühlen sollten oder nicht, wie wir uns nach außen geben, ausdrücken und verhalten sollten oder wie wir uns nicht zeigen, ausdrücken und verhalten sollten. Sie sind schuld daran, daß unsere eigentlichen Gefühle unter Bergen von Urteilen, Ge- und Verboten begraben und kaputtgemacht werden.«[5]
Kinder hat sechs Mythen ausgemacht:
Der Uniformitätsmythos besagt, daß alle Menschen dieselben Gefühle haben, jeder auf bestimmte Situationen gleich reagiert, ja daß »normale« und »gesunde« Personen Gleiches fühlen und vergleichbar reagieren.[6]
Diesem Mythos zufolge haben »gesunde normale Menschen« ein bestimmtes Spektrum von Gefühlsmustern. Man erwartet bei bestimmten Ereignissen bestimmte Gefühlsäußerungen. Wenn jemand gestorben ist, hat man traurig zu sein und zu weinen. Menschen, die erstarren und dann scheinbar unbeteiligt weiterfunktionieren, wird vorgeworfen, sie trauerten nicht. Sie wären kalt.
Wenn jemand dagegen zu lange trauert und sich nicht nach einiger Zeit wieder mäßigt, wird gesagt, er steigert sich hinein und läßt sich gehen. Verhalten, das über bestimmte Erwartungen hinausgeht, gibt Anlaß zu Kritik und Tratscherei. »Der Mythos von Uniformität und Gleichförmigkeit veranlaßt uns auch, anderen falsches Verhalten vorzuwerfen, wenn sie nicht so reagieren, wie wir es tun würden. Hier gibt es große geschlechtsspezifische Differenzen: Frauen hacken auf Männern herum, weil diese ihre Gefühle nicht sofort zeigen können, und Männer werfen Frauen vor, sie würden emotional reagieren. Die Frau unterstellt dem Mann Desinteresse, und der Mann unterstellt der Frau mangelnde Rationalität. «[7]
Der Mythos von Gut und Böse teilt die Gefühle in gut und schlecht ein. Die Folgerung: Schlechte Gefühle sind zu beherrschen und zu unterdrücken. Sie sollen nicht gezeigt werden.
»Gut ist es, wenn man glücklich und zuversichtlich ist; schlecht ist, wenn man melancholisch und ängstlich ist. Unsicherheit, Niedergeschlagenheit und Ängstlichkeit sind ein Zeichen von Schwäche. Zorn und Wut sind negativ. Zufriedenheit, Heiterkeit und Begeisterungsfähigkeit sind bewundernswert. Scham ist Gift. Diese vorurteilshafte Werteskala unserer Gefühle ist derart weit verbreitet und grundlegend, daß man sich möglicherweise nur noch ganz schwach bewußt ist, wie leicht man selbst solchen Schwarz-Weiß-Urteilen aufsitzt. «[8]
Weit verbreitet ist die Meinung, wenn es mir schlechtgeht, »stimmt etwas nicht mit mir«. Reagieren wir gefühlsmäßig sehr intensiv, macht uns das Angst, wir befürchten, durchzudrehen oder einen Nervenzusammenbruch zu bekommen. Wir tun dann alles, um uns wieder in einer sicheren Mittellage einzupendeln und wieder ruhig zu werden. Und so sind wir pausenlos dabei, alles zu tun, damit wir nur »gute« Gefühle erleben.
Der Mythos von Kontrolle und Selbstbeherrschung besagt, daß wir in der Lage sind, und uns darauf trainieren sollten, unsere Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Reiß dich zusammen!« Mit diesem Appell leben viele Menschen. In der Kindheit hörten sie es von den Eltern, später vom Partner, oder sie sagen es sich selbst. »Unsere moralische Bewertung von Emotionen enthält das Dogma, es sei möglich und erstrebenswert, Gefühle unter Kontrolle zu halten.«[9] Wir drücken sie weg, lassen sie nicht hochkommen, wollen sie nicht spüren. Man suggeriert uns, ein Leben verlaufe richtig, wenn es ruhig, ausgewogen, beherrscht sei. Doch jede unangenehme Nuance unterdrücken zu wollen »ist ein todsicheres Rezept, wie man das Wesen eines Menschen beschädigen und seine Unfähigkeit, sich zu ändern, noch mit einer gehörigen Portion Frustration beschweren kann«.[10]
Der Vollkommenheitsmythos