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Höchste Zeit, daß dem ewig schlechten Gewissen berufstätiger Mütter ein Ende gemacht wird: Kinder brauchen Mütter mit eigenen Interessen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 193
Regine Schneider
Gute Mütter arbeiten
Ein Plädoyer für berufstätige Mütter
FISCHER E-Books
Als meine Tochter Selma ein halbes Jahr alt war, wollte und mußte ich wieder arbeiten. Trotz des ganzen ideologischen Ballasts, den ich mir in der Schwangerschaft angelesen hatte, muß ich sagen, ich wollte gern wieder arbeiten. Ich mag meinen Beruf, und es war nach der neuen Erfahrung mit Kind für mich ein Terrain, wo ich mich auskannte und sicher fühlte. Meine Tochter hatte mein Leben und meine Beziehung ziemlich umgekrempelt, und alles war irgendwie aus der Bahn geworfen.
Aber aus diversen Büchern, Zeitschriften für Eltern und Gesprächen mit anderen Müttern wußte ich, daß man die Anwesenheit der Mutter für eine positive Entwicklung des Kindes für unverzichtbar hielt. Ich hatte gelesen, wie schnell ein Baby sein Urvertrauen verlieren kann, wenn man es »vernachlässigt«. Und da ich einen glücklichen Menschen mit großem Selbstvertrauen heranziehen wollte, war ich fest entschlossen, mich an alles zu halten, was Psychologie und Pädagogik für unerläßlich für eine glückliche Kindheit vorschrieben. Offensichtlich war dabei das wichtigste die ständige Anwesenheit der Mutter. Ich hatte die Ratgeber auch dahingehend ausgelegt, daß ich mich darauf drillte, bei jedem Pieps, den meine Tochter von sich gab, aufzuspringen, um ihre Bedürfnisse ohne zeitlichen Aufschub zu befriedigen. Ich hatte gelesen, daß es unverzichtbar für eine gesunde Entwicklung sei, daß man Babys nicht schreien läßt. Mit der Zeit führte mein Verhalten dazu, daß ich völlig ausgelaugt und fertig war. Meine Tochter meldete sich nämlich ständig, und ich sprang rund um die Uhr hektisch herum, um sie zu säugen, zu wickeln, stundenlang umherzutragen, ihr Liedchen vorzusingen, sie aufzumuntern oder an mich zu drücken. Ich fühlte mich bald wie ausgewrungen, wagte aber nicht, mich zu beklagen oder meine Tochter einmal jemand anderem anzuvertrauen, um mich endlich auch wieder um mich selbst zu kümmern. Ich gab und gab und wurde immer erschöpfter. Ich sehnte mich nach meinem Beruf, der mir wie eine Erholung von dem Baby-Dauerstreß erschien.
Zu allem, was ich mir an »Wissen« über die gesunde Entwicklung des Kindes angeeignet hatte, paßte es natürlich überhaupt nicht, mein Kind mit sechs Monaten in fremde Hände zu geben. Da mein Mann aber gerade erst mit dem Studium fertig war und die Familie noch nicht ernähren konnte, blieb mir nichts anderes übrig. Entsprechend verunsichert und mit drückendem Gewissen, fing ich an, eine Tagesmutter zu suchen. Und bekam auch gleich die Quittung. Ungläubig wurde ich gefragt: »Wie, so früh gibst du Selma weg? Hast du kein schlechtes Gefühl dabei?« Natürlich hatte ich ein schlechtes Gefühl dabei. Dafür wurde ja aus allen Ecken kräftig gesorgt. Keiner, der mich mal beruhigt und gesagt hätte: »Wenn du dein Kind zeitweise zu einer vertrauenswürdigen Tagesmutter gibst, kann das eine Bereicherung für dein Kind sein.« Nein, nur die möglichen Entwicklungsschäden, die meine Abwesenheit provozieren würde, wurden ständig wie Teufel an die Wand gemalt. Beim Mütteryoga wurde ich sogar angegiftet: »Drei Jahre gehört die Mutter wenigstens zum Kind, so etwas überlegt man sich vorher!« Ich fühlte mich bald wie ein geprügelter Hund. Entsprechend ängstlich war ich, was die Beurteilung der wenigen in Frage kommenden Tagesmütter anging. Gott sei Dank hatte meine Tochter ein sicheres Feeling, sie hat sich ihre Tagesmutter sozusagen selbst ausgesucht. Ich bemerkte gleich bei unserem ersten Treffen, wie vertrauensvoll sich die Kleine verhielt. Wir hatten diese Tagesmutter dann sechs Jahre lang.
Selma wurde größer, und irgendwann fing sie an, mein schlechtes Gewissen nach Strich und Faden auszunutzen. Saß ich am Schreibtisch und arbeitete, hörte ich garantiert nach einer halben Stunde ein zartes Klopfen an meiner Tür. Wenn ich sie dann fragte: »Warum spielst du nicht mit Papa?« bekam ich vorwurfsvoll zur Antwort: »Immer mußt du arbeiten. Ich will aber so gerne bei dir sein.« Wer schickt da sein Kind wieder weg? Sie kam auch in eine Phase, da weinte sie morgens und fragte: »Warum muß ich immer zu einer Tagesmutter?« Ich kam mir vor wie die letzte Rabenmutter. Mein armes Kind! Heute kann ich solche Dinge besser einordnen, ohne sie gleich dahingehend zu interpretieren, daß mein Kind Defizite durch meine zeitweilige Abwesenheit bekommt. Auch Kinder von Vollzeitmüttern beschweren sich irgendwann, daß sie täglich in den Kindergarten oder zur Schule müssen. Mein schlechtes Gewissen kennt fast jede Mutter, die früher oder später wieder berufstätig geworden ist. Das Sich-schuldig-Fühlen hört nie auf. Egal, wie das Kind sich verhält, egal, wie es sich entwickelt, immer wieder wurde und werde ich gefragt: »Liegt es wohl daran, daß es so früh zu einer Tagesmutter kam?« Einmal sagte eine Nachbarin, als Selma übermäßig stark trotzte: »Wahrscheinlich läßt die Tagesmutter zuviel durchgehen.« Meine Nachbarin hat meine Tagesmutter noch nie gesehen. Aber unausgesprochen stand der Vorwurf dahinter: Das passiert, wenn man sein Kind fremden Leuten überläßt. Daß jedes Kind, egal ob bei der Mutter, in der Kinderkrippe oder bei der Tagesmutter groß geworden, seine Trotzphase durchmachen muß, wird dabei völlig vergessen. Wenn ein Kind sich »schlecht« benimmt, jammert, nörgelt, weint, wird das immer der Mutter angelastet. Man ignoriert, daß jedes Kind mit einer eigenen Persönlichkeit zur Welt kommt und daß das menschliche Leben, auch das kindliche, nun einmal nicht nur harmonisch und glücklich verläuft. Doch kaum tut ein Kind etwas, was als »negativ« bewertet wird, ist die Mutter schuld. Unausgesprochen oder auch laut geäußert, steht immer der Vorwurf im Raum: Du bist eine schlechte Mutter, weil du dein Kind nicht selbst aufziehst, sondern es in fremde Hände gibst.
Ich habe mir das schlechte Gewissen lange einreden lassen. Weil ich es nicht besser wußte, weil ich den diversen »Psychoratgebern«, meinen Bekannten, von denen viele alles besser wußten (vor allem, wenn sie kein Kind hatten), und meinen Nachbarinnen geglaubt habe. Weil ich dem Muttermythos aufgesessen bin, der besagt: Eine gute Mutter hat rund um die Uhr für ihr Kind dazusein, hat sich klaglos aufzuopfern und ihre eigenen Interessen hintanzustellen. Ihr einziger Lohn ist das sich gut entwickelnde Kind. Und damit ist die Mutter zufrieden. Daß dieser Muttermythos dazu führt, daß alle Mütter ständig Schuldgefühle produzieren müssen, ist mir erst nach und nach klargeworden.
Heute sehe ich das alles anders. Ich sehe die positiven Seiten daran, daß Selma früh mehrere Bezugspersonen hatte. Ich bin froh, daß sie frühzeitig die Bekanntschaft anderer Kinder gemacht hat – und das nicht nur bei der Tagesmutter, wo es insgesamt vier waren. Als Selma drei war, ging sie zusätzlich halbe Tage in den Kindergarten, wo sie noch mehr Kinder kennenlernte. Sehr gut kann ich mich auch noch an die Diskussion erinnern: Krippe oder Tagesmutter. Die Krippe wäre finanziell günstiger gewesen. Aber eine Tagesmutter galt gemeinhin als das »kleinere Übel«. Ich hatte eine Freundin, die konnte sich keine Tagesmutter leisten. Ich beobachtete ihren Sohn mit Argusaugen, und er tat mir von Herzen leid. Meine Freundin im übrigen auch, denn natürlich hatte sie ein noch schlechteres Gewissen als ich. Einen Säugling in die Krippe zu geben hatte und hat den Beigeschmack von »abgeschoben« und »in ein Heim« gegeben. Die Assoziationen »soziale Deprivation«, »Fehlverhalten«, »psychische Schäden« stellten sich sofort ein.
Lange beneidete ich die Frauen, die es sich »leisten« konnten, sich das »Vergnügen« zu gönnen, sich ohne finanzielle Sorgen ausschließlich um ihre Kinder zu kümmern. Ich habe oft damit gehadert, daß ich das nicht konnte.
Meine Freundin und ich haben damals nicht gewußt, daß Kinder sich schon sehr früh gern – das ist wissenschaftlich belegt – anderen Personen zuwenden. Mit 18 Lebensmonaten haben bereits ein Viertel aller Kinder – sofern ihnen die Möglichkeit geboten wird – fünf oder mehr wichtige Bezugspersonen. Denn auch Babys sind schon soziale Wesen, das wird nur häufig unterschätzt. Der Pädagogikprofessor Dr. Peter Erath, der an der Katholischen Universität in Eichstätt lehrt, sagt: »Es bereitet schon Babys Vergnügen, mit anderen Menschen zusammenzusein.«[1] Kleinkinder finden sich durchaus in ihrer Kinderkrippe zurecht. Schließlich verfügen Kinder »über eine außerordentliche Anpassungsfähigkeit und Vitalität – und natürlich ebenso über eine große Portion Neugierde auf das Leben.«[2]
Heute bin ich nicht mehr neidisch. Weder Selma noch der Sohn meiner Freundin haben sich »fehlentwickelt«. Im Gegenteil! Ich bin durch eigene Erfahrung und Beobachtung zu dem Ergebnis gelangt, daß ich meiner Tochter etwas Gutes getan habe. Heute bin ich überzeugt, Kinder brauchen früh andere Kinder. Und Erwachsene brauchen den Kontakt mit Erwachsenen. Wenn ein Erwachsener sich ausschließlich um ein Kind kümmert, kommen beide zu kurz.
Bei uns aber ist es so, daß eine Frau, sobald sie Mutter geworden ist, sich, wenn sie kann, völlig aus ihrem gewohnten Leben zurückzieht und sich ihre gesamten Aktivitäten plötzlich nur noch um ihren neuen Mittelpunkt, das Baby, drehen. Das Baby wird der Nabel der Welt, das Projekt der Mutter, die einzige Daseinsberechtigung für ihr ausschließlich häusliches Leben. Die Mutter hat bald keine sozialen Kontake mehr, außer zu Müttern, deren Leben sich ebenfalls ausschließlich um ein Baby dreht. Dabei wird der Mutter eingebleut, daß dieses Leben sie glücklich macht, ihre Erfüllung sei. So krabbeln vormals intelligente Menschen mit einer qualifizierten Berufsausbildung plötzlich den lieben langen Tag brabbelnd und »dada« rufend über den Teppich, von morgens bis abends milchbespuckt, spielen sie mit ihren Säuglingen, die sich natürlich von frühestem Alter an anspruchsvoll melden, wenn die Mama es einmal wagt, vielleicht nebenbei schnell zu spülen oder das Wohnzimmer zu saugen.
Die Mutter bekommt Schweißausbrüche, weil der Säugling kreischt, wenn sie nicht sofort bei ihm ist und ihn wieder hochnimmt. Sie tut es aber, weil sie gelernt hat, ich muß die Bedürfnisse meines Säuglings sofort und perfekt befriedigen. Die meisten Säuglinge haben schnell heraus, wie sie ihre Mutter dirigieren und drangsalieren können. Sie beschließen, ich schlafe nur auf Mamas Arm ein, und daran halten sie sich konsequent. Meine Tochter wurde beispielsweise stundenlang von mir durch die Wohnung geschleppt, und kaum legte ich sie sanft und vorsichtig, um sie nicht wieder zu wecken, in ihr Bettchen, machte sie ihrem Unmut laut Luft. Da ich sie ständig aufgeschreckt wieder hochnahm, lernte sie überhaupt nicht, in ihrem Bett zu schlafen. Und ich wanderte oft drei, vier Stunden am Stück durch die Wohnung, auch nachts. Ich konnte mich tagsüber weder anziehen noch meinen Haushalt versorgen. Anfangs nahm ich Selma sogar mit aufs Klo.
Heute meine ich, das kann weder für die Mutter noch für das Kind gesund sein. Mütter sind in der Regel nach einer gewissen Zeit am Boden zerstört, und wen wundert das? Immer mehr Mütter haben nach einer Babypause die Nase voll und wollen zurück in den Beruf. Nicht umsonst nennt man die erste Zeit nach der Geburt des ersten Babys »Babykrise« oder »Babyschock«. Aber dem steht das unsinnige, doch hartnäckige Gebot entgegen, daß Mütter zu ihren Kindern gehören.
Natürlich müssen kindliche Bedürfnisse befriedigt werden, sollen Säuglinge und Kinder liebevoll und fürsorglich großgezogen werden. Nur praktizieren wir zur Zeit ein Extrem. Das Extrem der Kleinstfamilie, in der eine einzige erwachsene Person – die Mutter – ausschließlich auf einen einzigen Säugling fixiert ist, und das möglichst im Reihenhaus am Rande der Stadt ohne oder mit zuwenig Kontakten zu anderen Erwachsenen. Das Kind ist über die Maßen verwöhnt und unselbständig, die Mutter bleibt bei diesem System völlig auf der Strecke. Nur die wenigsten empfinden tatsächlich das große Glück, die tiefe Befriedigung, die sie angeblich von Natur aus empfinden sollten, sobald sie ihr Baby im Arm halten.
Dieses Extrem rührt zum einen daher, daß Experten Untersuchungen verallgemeinert haben, die unter speziellen Bedingungen gemacht wurden. So wurden Beobachtungen an Kriegswaisen übertragen auf Kinder, deren Mütter berufstätig waren. Es wurde völlig außer acht gelassen, daß auch eine berufstätige Mutter ihrem Kind viel Zeit widmet, daß eine berufstätige Mutter vom späten Nachmittag bis morgens anwesend ist und viele Kinder nachts an ihre Mütter gekuschelt schlafen und dadurch viel von der angeblich fehlenden Nestwärme bekommen. Ein wichtiger Aspekt ist auch der, daß sich Beständigkeit nicht nur durch die Menge der Zeit, die jemand mit dem Kind verbringt, beweist, sondern vor allem durch die Qualität der gemeinsam verbrachten Zeit.
Es wurde bis vor kurzem weder danach gefragt, wie sich mütterliche Unzufriedenheit mit ihrem häuslichen Dasein auf die Kinder auswirkt, noch habe ich eine Untersuchung darüber gefunden, welche Vorteile berufstätige Mütter für ihre Kinder haben. Untersuchungen wurden unter der Prämisse durchgeführt, eine berufstätige Mutter ist schlecht, eine Vollzeitmutter ist gut für ihr Kind. Und man ging wie selbstverständlich davon aus, eine Vollzeitmutter ist eine glückliche und zufriedene Frau, weil sie den ganzen Tag bei ihrem Kind bleiben darf. Eine berufstätige Mutter ist entweder egozentrisch oder aber unglücklich, weil sie arbeiten muß. Daß es Mutter und Kind fördert und zufriedenstellt, wenn die Mutter sich zumindest einen Teil ihres gewohnten Lebens in das Leben mit Kind hinüberrettet, stand nie zur Debatte. Auch daß es nichts Schöneres für ein Kind geben kann als eine Mutter, die sich von Herzen auf ihr Kind freut und sich beeilt, es abzuholen, hat nie jemand ausgesprochen. Mütter, die sagen, ich arbeite gern, und ich liebe mein Kind trotzdem über alles, gelten als Rabenmütter. Ich habe oft genug erlebt, daß hinter vorgehaltener Hand gezischelt wurde: »Wieso hat die überhaupt ein Kind in die Welt gesetzt, die ist doch nie da?«
Schädlich für die Entwicklung von Kindern sind sicherlich die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Mütter mit ihren Kindern leben müssen. Abgesehen von dem Muttermythos, dem keine Mutter gerecht werden kann, gibt es zuwenig Kinderbetreuungsplätze, werden Tagesmütter viel zu schlecht bezahlt, sind die Arbeits- und die Kindergartenzeiten mutter- und kinderfeindlich. Dort, wo mit Fingern auf eine unglückliche Mutter gezeigt wird, müßte in Wirklichkeit auf die schlechten gesellschaftlichen Bedingungen verwiesen werden, die es Müttern oft unmöglich machen, Beruf und Kinder unkompliziert zu vereinbaren. Kinderfreundliche Arbeitszeiten, ausreichend Betreuungsplätze für Kinder und die Aufmunterung: »Du bist eine tolle Mutter, weil du Kind und Beruf hast und damit das Beste für alle Beteiligten tust«, wären sicher schon eine große Hilfe.
In der DDR war es übrigens – wie ich in Gesprächen mit vielen Müttern dort erfahren habe – auch nicht besser. Zwar bekam jede Mutter einen Krippen- oder Kindergartenplatz, aber die Arbeitszeiten waren oft so, daß Mütter ihre verschlafenen, müden Kinder um fünf oder sechs Uhr in der Frühe aus den Bettchen zerren und in den Hort schleppen mußten. Immerhin waren die Kindergartenöffnungszeiten, anders als bei uns, den Arbeitszeiten angeglichen. Von einem Hort, der von 6–18 Uhr geöffnet ist, können die meisten Mütter hier nur träumen. Doch dessen ungeachtet sind solch frühe Anfangszeiten mütter- und kinderfeindlich. Damit fühlten sich die Mütter natürlich nicht wohl, und es ist anzunehmen, daß sich solche Kinder mit Grauen an die mütterliche Berufstätigkeit erinnern werden. Aber auch da liegt es nicht an der Berufstätigkeit, sondern an den schlechten Bedingungen.
Ein weiterer sehr wichtiger Faktor ist das Kinderbild, das in einer Gesellschaft vorherrscht. Lange galt das Kind als ein hilfloses, unselbständiges, hochempfindliches Püppchen, das beim kleinsten Ansturm umkippt und deshalb gehegt, gepflegt und durch Erziehung nach unseren Vorstellungen geformt wird, von dem jedes Problem ferngehalten werden muß (was kein Mensch leisten kann) und das gefördert und gefordert werden muß, möglichst schon im Mutterleib, damit ein erfolgreicher, leistungsfähiger, gesunder und auch noch fröhlicher Erwachsener aus ihm wird. Dabei bringen Kinder schon ein gewisses Programm mit, das sie bei durchschnittlicher Förderung auch ausleben und weiterentwickeln können. Professor Dr. Peter Erath beschreibt die Folgen der erstgenannten Auffassung: »Ohne es zu merken, behandeln viele Eltern ihre Kinder fast wie viele Psychologen ihre Klienten. Sie glauben, Kinder seien rohe Eier, und erreichen so, daß Kinder nicht früh genug lernen, Gefahren zu erkennen und sich darauf einzustellen. Als Erwachsene finden diese Kinder sich dem Leben nahezu ausgeliefert. Oft vergessen Eltern, daß Kinder Persönlichkeiten sind, kleine zwar, aber sie entwickeln sich ständig. Und dabei sollten Eltern ihnen ohne eine übertriebene Pädagogisierung helfen. Kinder sind schließlich auch nur Menschen …«[3]
Heute tendiert man zu der zweiten Auffassung, daß Kinder ein gewisses Programm, einen Charakter, bestimmte Talente und eine gewisse Widerstandsfähigkeit mitbringen, in einem durchschnittlichen Haushalt mit ausreichender Elternliebe genug gefördert werden und für ihre Entwicklung nicht die ständige Förderung, Beobachtung und ausschließliche Versorgung durch die Mutter brauchen. Man pendelt sich in der Mitte zwischen den Extremen ein.
Kindern wird wieder mehr zugetraut, und Mütter werden wieder lebensnäher. Das ist auch gut so. Es ist sicher besser für Kinder, frühzeitig zu lernen, daß zum Leben Zurückstehen, Wut, Trauer und Zorn gehören. Daß es natürlich ist, sich zu langweilen, unglücklich zu sein, Probleme zu haben, Bedürfnisse aufzuschieben. Kinder, die lernen, daß die unterschiedlichsten Situationen und Gefühle zum Leben gehören, werden als Erwachsene sicher besser zurechtkommen als Kinder, von denen immer alles ferngehalten wird, deren Bedürfnisse ständig und sofort befriedigt werden, denen keine Grenzen gesetzt werden. Ich würde meine Tochter Selma nach meinen heutigen Erfahrungen durchaus noch früher zu einer Tagesmutter bringen. Die kleine Anna kam zu unserer Tagesmutter, als sie acht Wochen alt war, und ich werde nicht vergessen, wie neugierig und zufrieden sie schon als Säugling in ihrer Wippe lag und die Spiele der übrigen Kinder verfolgt hat. Damit hat ihre Mutter ihr sicher einen größeren Gefallen getan, als selbst lallend und schmatzend auf dem Teppich herumzukriechen. Ich persönlich halte die Kleinfamilie für schädlich und ungesund für Mütter und Kinder. Großfamilienverbände und mehrere Bezugspersonen könnten sicherlich ein realistischeres Bild der Welt vermitteln, als das eine einzige Mutter für ihr einziges Kind kann. Aber da wir keine Großfamilien mehr haben, würde ich heute bei einem zweiten Kind ohne schlechtes Gewissen und sehr bald dafür sorgen, daß mein Kind auf andere Weise, durch Tagesmutter oder auch Kinderkrippe, Bedingungen erhält, die seine sozialen Bedürfnisse befriedigen.
Übrigens ist das kein Plädoyer gegen Vollzeitmütter. Es gibt bestimmt Mütter, die in ihrer Aufgabe aufgehen. Doch mit schlechtem Gewissen zu kämpfen haben auch sie. Denn jede »Fehlentwicklung« des Kindes wird ihnen ja in die Schuhe geschoben. Nur dann ist es nicht ihre Berufstätigkeit, sondern ihre Nachlässigkeit als Mutter, »obwohl« sie den ganzen Tag doch nichts anderes tut, als sich um Haus und Kinder zu kümmern.
Aber die vielen Frauen, die zurück in den Beruf wollen, und auch zahlreiche in diesem Buch zitierte Untersuchungen zeigen, daß sich die meisten Frauen außer als Mutter auch als Person verwirklichen wollen. Was sie aber aufgrund falscher Informationen und Vorstellungen über die Bedürfnisse ihrer Kinder mit einem ständigen schlechten Gewissen bezahlen. Und das ist nicht notwendig. Wogegen ich mich wende, ist, daß die Gesellschaft der Mutter die ganze Last des Gelingens oder Nichtgelingens der Kindererziehung aufbürdet, und zwar in einem Maße, das Mütter zu Marionetten ihrer Kinder macht und ihnen keine Zeit mehr für sich läßt. Und daß die Gesellschaft vor allem bei »Nichtgelingen« – was immer das heißen soll – schnell den Schuldigen findet. Psychologie und Pädagogik tragen nicht wenig dazu bei, die ganze Verantwortung für das »gelungene Produkt Kind« den Müttern anzulasten. Der Pädagoge Dr. Peter Erath: »Die Romantisierung und Idealisierung der Mütter hält sich bis heute und erlegt den Frauen eine schwere Bürde auf.«[4]
Ich schließe mich dem an, was die von mir interviewte Kindertherapeutin Dr. Veronika Windsor-Oettel sagte: »Schädlich für die Entwicklung des Kindes sind sowohl Mütter, die arbeiten, obwohl sie lieber zu Hause blieben, als auch Mütter, die zu Hause hocken, weil sie denken, sie müßten das für ihr Kind tun, obwohl sie viel lieber berufstätig wären. Am besten für ein Kind ist eine zufriedene Mutter, die sich auf das Zusammensein mit ihrem Kind freut.« Das bestätigen alle von mir interviewten erwachsenen Kinder berufstätiger Mütter. Selbst aus den Kindern, die mit Schlüssel um den Hals den Nachmittag auf der Straße zugebracht haben, sind heute in die Gesellschaft integrierte, erfolgreiche, gesunde und lebenstüchtige Erwachsene geworden. Prima Kinder – trotz berufstätiger Mütter.
Aus diesen Interviews und denen, die ich mit Experten machte, aus dem, was ich an Untersuchungen gefunden und aus anderen Büchern zusammengetragen habe, ist ein – wie ich finde – ausgesprochen entlastendes Buch für berufstätige Mütter geworden. Weil ich aufzeigen konnte, daß vieles, was uns Müttern (Frauen) erzählt wird, was in unseren Köpfen verankert wurde, mit der Realität nicht übereinstimmt. Mein eigenes schlechtes Gewissen ist mit dem Wachsen dieses Buches immer geringer geworden. Ich bin mir selbst auf die Schliche gekommen. Und es bewahrheitet sich wieder einmal, je mehr ich meine Tochter loslassen kann, desto gelöster wird auch sie. Zufrieden sind wir damit beide.
Das jeweilige Mutterbild ist abhängig von den unterschiedlichsten Faktoren. Auf jeden Fall ist es aber immer ein Spiegel der Gesellschaft. Die Vorstellung davon, was eine gute Mutter ist, auch. Die gute Mutter gibt es nicht. Was darunter verstanden wird, ändert sich ständig und paßt sich dem allgemeinen Wandel an. Das Mutterbild hat im Laufe der Geschichte oft neue Formen bekommen. Jede Epoche hatte ihre eigenen. Kindererziehung im heutigen Sinne von: das Kind formen, fördern, bilden und beeinflussen, gab es früher gar nicht. Kinder wurden nicht erzogen, sondern sie wurden irgendwie von allein groß. Im besten Fall überließ man sie sich selbst.
Ganz kleine Kinder wurden früher stundenlang in speziellen kleinen Stühlen angeschnallt oder mit Opiaten ruhiggestellt, damit die Mütter nicht ständig darauf achten mußten, ob ihnen etwas passierte. Auf die Idee, daß das für Kinder eine Qual und Beschränkung ihrer Entfaltung sein könnte, kam man damals nicht. Und daß Mütter eine unersetzliche, spezielle und ausschlaggebende Rolle im Leben ihrer Kinder spielen, diese Idee entwickelte sich erst im 20. Jahrhundert.
Das Mutterbild einer Epoche ist davon abhängig, wie das Frauenbild in der Zeit ist, welche Rolle Frauen in den Gesellschaften spielen, ob sie als unersetzliche Arbeitskräfte auf dem Markt gefragt sind oder ob sie andere gesellschaftliche Aufgaben zugesprochen bekommen. Ob Mutterschaft als wichtige Rolle beim Heranziehen von willigen Untertanen gefragt ist oder beim Züchten einer geistigen Elite.
Die Verantwortlichkeit von Müttern richtet sich danach, welche Bedeutung man Kindern zuspricht. Das Mutterbild ist auch immer davon abhängig, welche Bedeutung man mit Kindheit verbindet, welches Kinderbild vorherrscht, ob man die Vorstellung hat, ein Kind sei hilf- und schutzlos und bedürfe elterlicher Liebe und Fürsorge, um zu gedeihen, oder ein Kind sei von Natur aus schlecht und brauche Zucht und Ordnung. Noch im 17. Jahrhundert beispielweise hielt man Kinder für unrein und unterzog sie grausamen Abführ-Prozeduren, um sie zu reinigen. Man fesselte sie mit Bein- und Handschellen, stach sie mit spitzen Gegenständen oder sperrte sie im Dunkeln ein, um ihren Willen zu brechen. Kinder mußten oft stundenlang in dunklen Toiletten oder Kellergewölben ausharren und büßen.
Sandra Scarr, Mutter von vier Kindern und Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität von Virginia, USA, kommt zu dem Ergebnis: »Zwei Grundfragen sind mit allen Diskussionen über Kinder und Kindererziehung verknüpft: – Ist die kindliche Natur grundsätzlich gut oder böse? – Brauchen Kinder eine sorgfältige und intensive Erziehung, oder ist ihre Entwicklung im wesentlichen von der Natur festgelegt?«[5]