Geheime Wünsche - Judith Hohmann - E-Book

Geheime Wünsche E-Book

Judith Hohmann

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Beschreibung

Geheime Wünsche Für Lis Hartmann beginnt der dreiwöchige Urlaub, auf den sie sich so gefreut hat, mit einem Chaos: Zuerst wird sie in Punkto Straßenverkehrsordnung von zwei Polizeibeamten aufgeklärt, und schließlich nimmt sie der jungen Designerin Kirsten Meinhardt mit ihrem Wagen die Vorfahrt. Aus der sich entwickelnden Freundschaft mit Kirsten will Lis ausbrechen, als sie bemerkt, dass sie sich in sie verliebt hat. Dem nicht genug, dass sie sich anfangs gegen ihre Gefühle wehrt, so wird sie auch noch von einem Fremden verfolgt, der scheinbar vor Nichts zurückschreckt. Eine Geschichte voller Romantik, Spannung und nerven-aufreibenden Momenten.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog: Aberglaube oder Schicksal?

Kapitel 1: Die Nacht der tausend Augen

Kapitel 2: Gefühlsschwankungen

Kapitel 3: Schmerzhafte Erinnerungen

Kapitel 4: Es fühlt sich durchweg richtig an

Kapitel 5: Nicht nur eine Verliebtheitsphase?

Kapitel 6: Ein Ich, ein Du, ein WIR

Kapitel 7: Eine Nacht am See

Kapitel 8: Du bist mein Zuhause

Kapitel 9: Crème de la Crème der Modewelt?

Kapitel 10: Die Lawine beginnt zu rollen

Kapitel 11: Die Ereignisse überstürzen sich

Kapitel 12: Zerreißprobe

Kapitel 13: Es wird heftig

Kapitel 14: Eine wahre Überraschung

Epilog: Das bittere Ende?

Bonusgeschichte: Schatten der Vergangenheit

Prolog

Aberglaube oder Schicksal?

Obwohl ich diese Nacht nur sehr wenig geschlafen hatte und mich wie gerädert fühlte, wachte ich an diesem Morgen relativ früh auf. Draußen schien die Sonne; ich sah es durch die Spalten der anthrazitfarbenen Lamellenjalousie.

Als ich mich aufrichtete, bemerkte ich diese unendlich tiefe Leere in mir. Es war Montagmorgen. Normalerweise mochte ich keine Montage, ja, ich hasste sie vielmehr. Stets derselbe Trott: Um Viertel nach Sechs aufstehen und sich auf die angehende Arbeitswoche vorbereiten. Das tat ich nun schon seit fünfzehn Jahren, solange ich dort im Büro beschäftigt war. Unablässig, so wie jetzt, trauerte ich dem für mich zu kurzen Wochenende nach.

Heute hingegen war es anders. Der erste Montagmorgen in diesem Jahr und drei ganze Wochen lang keine Hetzerei. Denn ich wusste, dass Urlaub sich erholen, nichts tun und so manch schöne Dinge erleben bedeutete. Bei diesem Gedanken entwich mir ein Lächeln.

Ich warf einen kurzen Blick auf den Radiowecker, der neben dem Bett am Boden stand und Viertel nach Sechs anzeigte. „Oh Nein“, stieß ich hervor. Es konnte nicht wahr sein. „Nun habe ich schon Urlaub und werde wieder so früh wach.“ Mit diesen Worten ließ ich mich noch einmal für kurze Zeit ins Kopfkissen hineinsinken.

Nach einer Weile richtete ich mich wieder auf, streckte die Arme von mir und gähnte herzhaft. Ich war hinüber ins Badezimmer gegangen. Dort hielt ich einen Lappen unter das fließende Wasser und presste ihn gegen die Stirn.

Als ich mein Gesicht mit einer milden Tagescreme bedeckt hatte, zog ich im Schlafzimmer die Jalousie hoch und öffnete das Fenster.

Ich blickte nach draußen. Leise Winde tanzten zärtlich wie im süßesten Fieber um mein Gesicht, und für einen Augenblick fühlte ich mich aller Sorgen ledig. Düfte von jüngst erwachenden Blüten beherrschten die erregte Luft. Und hoch über dem Haus, am sommerlichen Himmel zwei Schwalben, die in der Luft fröhlich umeinander herumtanzten.

In der Straße, in der ich in einem Mietshaus allein in einer geräumigen Zwei-Zimmer-Wohnung lebte, wurde es lebendig. Der Alltag holte die Menschen auch hier ein. Ich sah den großen Hageren, wie er sich von seiner Frau mit einem flüchtigen Kuss verabschiedete, in seine Limousine stieg und losfuhr. Dann gab es da noch die rothaarige Bankangestellte, die eilig das Haus verließ, um den Linienbus in der Parallelstraße zu erreichen. Wenig später folgte ihr Mann, ein kleiner korpulenter Kerl mit Halbglatze, und fuhr mit seinem schwarzen Coupé in eine andere Richtung davon. Ewald Müller war gerade von seiner Nachtschicht heimgekehrt. Ich sah es an den Rollläden, die in der Wohnung neben mir heruntergelassen wurden.

Nachdem ich mich angezogen und das Schlafzimmer in Ordnung gebracht hatte, griff ich zur Sonnenbrille und dem Schlüsselbund auf der Anrichte im Flur und ging zur Wohnungstür.

Der Duft von frischgebackenen Brötchen stieg mir bereits in die Nase, und ich sah mich schon gemütlich frühstückend an meinem Küchentisch sitzen. Den Kaffeevollautomaten würde ich später einschalten, das hatte noch Zeit.

Als ich das Verdeck angehoben und verstaut hatte, stieg ich in mein Cabriolet, auf das ich sehr stolz war. Lange Zeit des Sparens lag hinter mir, bis ich es mein Eigen nennen konnte, denn das gute Stück gehörte mit seinem stolzen Alter von dreißig Jahren bereits zu den Oldtimern.

Jetzt sah ich den weißen Umschlag dort unter dem linken Scheibenwischer an der Windschutzscheibe haften. Nach näherem Hinsehen konnte ich erkennen, dass es sich nicht um einen dieser gewöhnlichen Werbebriefe handelte, wie sie täglich an jedem Fahrzeug festklebten.

So griff ich nach vorn und riss den Umschlag unter dem Wischerblatt hervor. Dann nahm ich die Sonnenbrille ab, die ich kurz zuvor aufgesetzt hatte, öffnete das Kuvert und las, was darin geschrieben stand.

„Bitte nicht schon wieder“, murmelte ich vor mich hin und hob meine Augenbrauen. Ich verzog mein Gesicht ein wenig, steckte den Brief in den Umschlag zurück und legte ihn zu den vielen anderen im Handschuhfach.

Liebesbriefe dieser altertümlichen Art bekam man nur noch recht selten, dachte ich so für mich. Spielte sich doch alles gegenwertig über eine virtuelle Welt wie irgendwelchen Messengern oder sozialen Netzwerken ab. Schon irgendwie süß. Aber ich fand es unsagbar schade, dass der Schreiber, der sich hinter diesen so romantischen Zeilen befand, unerkannt bleiben wollte. Auch wenn ich es manchmal als anstrengend empfand, sah ich es wiederum als Kompliment an, dass man begehrt war.

Auf dem Weg zur Bäckerei hin überlegte ich, ob ich mir noch eine Printausgabe der regionalen Tageszeitung holen sollte. Der Kiosk befand sich auf dem Weg dorthin.

Den ganzen Tag über musste ich mich mit dem Computer auseinandersetzen, doch in meiner Freizeit war es mir wichtig, Abstand hiervon zu nehmen.

Eine Tageszeitung in der Hand zu halten, während man sein mit Marmelade bestrichenes Vollkornbrötchen genoss, war etwas ganz anderes, als einen Blick auf das Tablet zu werfen und die Internetseiten über den Browser immerfort auf und ab zu scrollen. Schon schlimm genug, wenn man sich ständig beruflich damit auseinandersetzen musste.

Kurzentschlossen hielt ich schließlich an und kaufte mir die Ausgabe der regionalen Presse. Noch während ich zahlte, stach mir die große Überschrift ins Auge: ‚Junge Frau im Park von Unbekanntem überfallen.‘

Ich blieb wie angewurzelt stehen, als ich zu meinem Wagen zurückkehren wollte. Dieser Wochenanfang schien perfekt zu sein, dachte ich und sah die beiden Polizeibeamten dort vor meinem Wagen stehen. „Gehört das Fahrzeug Ihnen?“, wollte einer der Beamten wissen, als ich mich ihnen näherte.

Ich nickte und fragte, ob damit etwas nicht in Ordnung sei.

„Doch, doch, junge Frau, mit dem Wagen ist alles in bester Ordnung“, gab der andere zur Antwort. „Sehen Sie dieses Schild dort, unter dem Ihr Wagen steht?“ Er wies mit dem Kopf auf ein eingeschränktes Halteverbotsschild, unter dem ich das Cabrio kurz abgestellt hatte. „Wissen Sie denn nicht, dass Sie hier nicht einmal für kurze Zeit halten dürfen, auch dann nicht, wenn Sie sich eine Zeitung holen wollen?“

„Himmel!“, schoss es aus mir heraus. Hatte ich doch tatsächlich dieses gottverfluchte Verkehrszeichen übersehen. „Es tut mir leid, aber ich habe das Schild nicht bemerkt. Ich war einfach in Gedanken.“ Ich biss mir unmerklich auf die Unterlippe. So lange ich hier entlangfuhr, und das belief sich auf nunmehr bereits drei Jahre, war mir dieses verwünschte Straßenverkehrsschild nicht aufgefallen. Warum, um alles in der Welt, mussten mich diese Gesetzeshüter gerade heute an meinem ersten Urlaubstag dabei ertappen, dass ich falsch parkte?

„Nichts für ungut“, lachte der jüngere von beiden. Ich schätzte ihn auf Mitte Dreißig. „Dann wollen wir mal ein Auge zudrücken. Aber merken Sie sich bitte dieses Schild dort, in Ordnung?“ Er steckte das Dienst-Smartphone, über dessen App er die Strafzettel ausstellte, in die Brusttasche zurück. Schließlich nickte er seinem Kollegen zu und schob die Schildmütze nach hinten. Sein Blick, den er mir zuwarf, ließ mich das Gefühl überkommen, als wäre ich wie ein kleines Schulmädchen bei einem Streich ertappt und zur Rede gestellt worden. Und ich zuckte zusammen.

„Einen schönen Tag noch“, sagte er mit einem Grinsen auf den Lippen und war mit seinem Kollegen zum Streifenwagen zurückgekehrt, der direkt hinter meinem stand. Für einen Moment musterte er mich noch.

„Elender Mistkerl“, knurrte ich, als ich den Wagen wegfahren sah. „Das gefiel dir wohl, mich so anzustarren, was?“

Die Autotür fiel laut zu, ich startete den Wagen und wollte nach Setzen des Blinkers anfahren, als es plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall gab. Ich vernahm nur noch das Bersten von Metall- und Plastikteilen.

Dann sah ich was geschehen war. Ich sah den dunkelroten Kleinwagen neben mir stehen, warf einen noch zögernden Blick aus dem heruntergelassenen Seitenfenster, bemerkte den eingebeulten Kotflügel, das zersplitterte Glas eines Scheinwerfers sowie das des Blinkers. Und ich verspürte, wie Röte in mein Gesicht stieg. Nachfolgend erblickte ich die Frau dort, die aus dem Kleinwagen gestiegen war, erfasste, wie bestürzt sie die beiden Fahrzeuge und dann mich anschaute.

Da die Fahrertür meines Cabrios zu beschädigt war, um geöffnet zu werden, verließ ich den Wagen über die Beifahrerseite.

Als ich nun um das Auto herumgegangen war und mir den Schaden näher betrachtete, war alles in mir wie ausgelöscht. Ich stand wie angewurzelt da und starrte diese Frau mir gegenüber an. Ich schätzte sie auf etwa mein Alter. Sie trug einen Streetfashion-Look mit dezentem Kleid und eine farblich darauf abgestimmte Jacke. Dazu elegante Lederpumps mit niedrigen Absätzen.

Mein Blick glitt minutenlang an ihr herab. Ihre braunen feinen Haare, die locker auf ihre Schultern fielen, untermalten ihre attraktive Ausstrahlung noch.

„Es tut mir so leid“, sagte ich beinahe tonlos. Mein Blick ruhte auf ihr. „So etwas ist mir noch nie zuvor passiert.“ Um meine Mundwinkel zuckte es. Nervös kramte ich mit der rechten Hand in meiner Jackentasche. Nach was ich jedoch suchte, wusste ich nicht genau; der Autoschlüssel befand sich längst in der anderen Hand.

„Passiert ist passiert“, entgegen sie mit ruhiger Stimme. „Das habe ich in ähnlicher Form bereits hinter mir. Überdies ist es eh nur Blechschaden. Und der lässt sich beheben.“

„Mal schauen, was noch so alles auf mich zukommt“, ironisierte ich. „Denn wenn ich abergläubig wäre, würde ich meinen, dass dies hier keine Zufälle mehr sein können.“

„Wie bitte?“

„Es sind auch keine Zufälle mehr.“ Ich konnte eine Grimasse nicht vermeiden, als ich den Streifenwagen auf der anderen Straßenseite stehen sah. Und ich erkannte die beiden Beamten wieder, die sich in ihm befanden.

Kapitel 1

Die Nacht der tausend Augen

Vier Tage waren seither vergangen. Den Schaden an beiden Fahrzeugen hatte ich noch am selben Tag telefonisch meiner Versicherungsgesellschaft gemeldet, wo man mir eine rasche Schadensregulierung über die Kaskoversicherung versprach.

Mein Cabrio hingegen musste mit seinem Schaden leider noch ein paar Tage vor dem Mietshaus stehen bleiben, weil ich in der Werkstatt erst für den kommenden Freitag einen Termin bekommen konnte. Der Kfz-Mechatroniker Konrad Mayer, den ich noch von meinen Eltern her kannte, sagte mir, dass der Wagen nur Blechschaden erlitten hätte und ich ohne größeres Risiko weiterfahren könne.

Was aus dem Wagen meiner Unfallgegnerin geworden war, wusste ich nicht genau. Ich hatte mit Kirsten Meinhardt, wie sie hieß, gestern Vormittag um Zehn noch einmal kurz telefoniert; es waren noch einige Formalitäten zu klären.

Nun erhoffte ich, dass die Sache für mich erledigt war.

Der Mond stand hoch am Firmament und erhellte die Kleinstadt. Eine milde und friedliche Nacht lag über mir. Es war jedoch eine von diesen Nächten, in denen ich wieder nicht einschlafen konnte. Womöglich hätte ich noch Tausende von Schäfchen zählen können, weitere Schlaflosigkeit wäre die Folge gewesen. So war ich es letztendlich leid gewesen, zog mich wieder an und machte einen ausgiebigen Spaziergang im nahegelegenen Park.

Die Umrisse zwischen den Bäumen und dem beinahe sternenklaren Himmel verrieten ein harmonisches Zusammenspiel. Ich sah einen Nachtvogel aus der Spitze einer riesigen Tanne, die in der Mitte des Parks stand, in die Finsternis entfliehen. Angenehmer Wind strich mir immer wieder spielerisch durch meine Haare und übers Gesicht.

Ein erneuter Blick nach oben ließ mit einem Mal Wolkenfelder erkennen, die über den Mond glitten, und es schien mir so, als wäre er eine prächtige weiße Kugel, die sich wie ein fremdes Objekt am Himmel fortbewegt.

Ich befand mich bereits auf dem Heimweg, als ich den Wagen bemerkte, der dicht herangefahren kam und nun im Schritttempo neben mir herfuhr. Meine Hände in den Jackentaschen ballten sich zu verkrampften Fäusten, und mein Herz begann wild zu hämmern.

Meine Gedanken drehten sich nur noch um den Artikel in der Tagespresse, in dem vor einem Unbekannten gewarnt wurde, der Frauen überfiel. Zweihundert Meter waren es noch bis zur Eingangstür des Mietshauses.

Eine Angst erfasste mich, wie ich sie noch niemals zuvor in meinem Leben verspürt hatte. Ich malte mir bereits die schlimmsten Vorstellungen aus, wie der Kerl aus dem Auto sprang und sich mir in den Weg stellte. Nur nicht in Panik geraten, sagte ich mir.

Ich war in gleichmäßigen Schritten weitergelaufen, wandte keinen Blick zur Seite, als der Wagen plötzlich schneller zu werden schien und ein paar Meter weiter dann zum Stehen kam. Wegen der kaputten Nummernschildbeleuchtung konnte ich das Kennzeichen nicht erkennen. Möglicherweise Absicht?

Abrupt blieb ich stehen und meine Beine zitterten. Starr vor Angst, und selbst das Atmen fiel mir schwer, sah ich, wie jemand ausstieg und auf mich zukam. Als nächstes vernahm ich eine Frauenstimme. „Hallo Lis, so spät noch unterwegs?“

Ich atmete erleichtert auf, als sie dicht vor mich trat und ich sie erkannte. „Sie haben mich vielleicht erschreckt“, sagte ich, denn die Angst steckte mir immer noch in den Knochen.

„Als ich eben so neben Ihnen herfuhr, überlegte ich noch, ob Sie es tatsächlich sind“, ein wunderschönes Lächeln hatte sich auf Kirsten Meinhardts Gesicht gezaubert.

Wenn ich sie mir so näher betrachtete, bemerkte ich, dass sie selbst unter der Straßenbeleuchtung äußerst attraktiv aussah. Und mit einem Mal fühlte ich, wie die Angst langsam von mir wich.

„Ich dachte so für mich, Mut hat sie ja, so alleine um diese Zeit hier herum zu spazieren“, fuhr sie fort. „Haben Sie denn keine Angst? Ich meine, wenn man überlegt, was einem in der heutigen Zeit so alles zustoßen kann?“

Es mochte durchaus möglich sein, dass ich noch nie zuvor in meinem Leben richtig sprachlos gewesen war. Aber tatsächlich, diesmal war ich es. Diese Frau mir gegenüber hatte es wirklich geschafft, dass ich nicht mehr wusste, was ich hätte erwidern können.

Sie bemerkte, dass ich nichts darauf zu sagen vermochte und lachte. „He, was halten Sie davon, noch einen Sprung mit raufzukommen? Ich weiß, dass dies normalerweise keine Zeit für Besuche ist. Doch ich wohne direkt schräg gegenüber. Und wenn es nichts ausmacht…?“

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „In der Siebzehn?“

Sie nickte. „Wir sind sozusagen indirekte Nachbarn.“

„Dann sind Sie das, die vor kurzem in das Haus gegenüber eingezogen ist?“

„Was hältst du davon, wenn wir das förmliche ablegen würden und DU zueinander sagen?“, entschlüpfte es ihr spontan. Sie machte eine kurze Pause. „Ich bin Kirsten.“

Ich musste verrückt geworden sein. Da tauchte um zwei Uhr in der Nacht diese Frau auf und lud mich zu sich ein. Und nun war ich tatsächlich bei ihr in der Wohnung gelandet.

Nicht, dass ich etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte, aber ich musste mich selbst beanstanden, zumal dies, was ich hier tat, strenggenommen gegen meine Prinzipien verstieß. Es war einfach nicht meine Art, um solch einer Uhrzeit bei jemand Fremden in dessen Wohnung einzukehren.

Aber Fremde? Traf dies auch auf Kirsten zu? Obwohl ich Kirsten Meinhardt erst seit unserem gemeinsamen Verkehrsunfall her kannte, kam es mir doch vor, als würde ich sie schon länger kennen, so vertraut schien sie mir. Es ging eine Ausstrahlung von ihr aus, die vielleicht nur mir bewusst wurde.

Ich lehnte zurück in einem Sessel, auf dem Tisch vor mir stand ein Glas Mineralwasser. Für kurze Zeit starrte ich die weißgetünchte Wand auf der anderen Seite des Raums an. Ich musste zugeben, dass mir Kirsten anfing zu gefallen. Irgendwie fand ich sie sogar richtig süß.

Als ich zu ihr hinübersah, kreuzten sich unsere Blicke. Da saß sie mir nun gegenüber, eine junge Frau von sechsunddreißig Jahren, gutaussehend, mit braunen, schulterlangen Haaren. Und ihre Augen glänzten tiefblau.

Ich erschrak über mich selbst und die Gedanken, die durch meinen Kopf schwirrten. Nein, es waren nicht die Gedanken, die mich beschäftigten. Kirsten war es. Und ich wollte einfach nicht, dass SIE der Grund war.

„Du hast eine schöne und geschmackvoll eingerichtete Wohnung“, sagte ich bestimmt, um ein Thema anzuschneiden.

Wenn Kirsten Meinhardt diese Wohnung selbst eingerichtet hatte, so hatte sie diese mit viel Geschmack komponiert. Die Einrichtung wirkte zwar modern, war aber auch zeitlos.

„Was?“ Kirsten schien erschrocken, als wäre sie selbst anderswo gewesen.

„Genaugenommen gehe ich um solch eine Uhrzeit nicht mehr spazieren“, begann ich, „aber ich konnte einfach nicht einschlafen, so grotesk es auch klingen mag. Über eine Stunde habe ich wachgelegen. Schließlich habe ich mich wieder angezogen und bin an die frische Luft gegangen, dachte, dass sie mir eigentlich guttun müsste.“

„Und dann kam auch noch ich. Ich habe dir wohl einen ganz schönen Schrecken eingejagt, wie?“

„Ist nicht von der Hand zu weisen. Ich dachte ja nicht daran, dass du vor mir stehen könntest. Vielmehr erinnerte ich mich an den Presseartikel, in dem vor so einem Irren gewarnt wurde, der Jagd auf Frauen macht.“

Kirsten blickte unter sich. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr feines Haar.

Dann sagte sie, und sie schaute mir dabei gerade in die Augen: „Es tut mir leid, wenn ich dir solch einen Schrecken eingejagt haben sollte.“ Sie griff zum Glas und nahm einen Schluck. „Ich denke, es war nicht gerade fair.“

Nur selten zuvor hatte ich mit einem Menschen so intensiv über alles sprechen können wie mit Kirsten. In den Stunden, so meinte ich, war der Beginn einer zarten Freundschaft entstanden.

Seit fast einer etwa halben Stunde lag ich nun in meinem Bett auf dem Rücken und starrte die Decke an. Ich sah immer noch diese tiefblau glänzenden Augen vor mir, dieses unbeschwerte Lachen. Es war einfach ihre Art, von der ein mächtiger Zauber ausging und mich in seinen Bann zu ziehen schien.

Ich ertappte mich dabei, dass ich an diese Frau dachte.

Als ich am Morgen erwachte, wurde mir klar, dass ich in den vergangenen Stunden nur sehr schlecht geschlafen haben musste. Mein Bett war wüst zugerichtet, die Steppdecke lag am unteren Bettrand zur Hälfte am Boden. Und den Bezug meines Kopfkissens musste ich wohl im Schlaf abgezogen haben. Er lag neben dem Bett und verdeckte den Radiowecker. Die Beleuchtung der digitalen Anzeige schimmerte durch den hellen Stoff. Es schien, als hätte ich einen Kampf mit irgendjemandem oder -etwas geführt.

Gegenüber im Spiegelbild meines Schranks sah ich die Bescherung. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. War ich es wirklich, die dort zu sehen war?

Ich kroch vom Bett und stand nun aufrecht so dicht vorm Spiegelschrank, dass ich mit meiner Nasenspitze die Fläche berührte. Mit der rechten Hand fuhr ich zitternd durch meine zerzausten Haare.

Dann schleppte ich mich, immer noch unendlich müde, zum Fenster hinüber und öffnete es. Als ich meinen Kopf herauszustrecken versuchte, streifte mich ein Regentropfen, und so schnell, wie das Fenster geöffnet war, war es auch schon wieder verschlossen.

„Logisch, ich habe Urlaub und draußen regnet‘s“, fluchte ich leise vor mich hin und ging wieder zum Bett zurück.

Es war gegen Elf, als es an der Wohnungstür läutete.

„Guten Morgen.“ Kirsten Meinhardt lächelte und schien erstaunt, als sie mich im Schlafshirt mit Aufdruckmotiv in der Tür stehen sah. „Ausgeschlafen?“

Ich dachte mich verhört haben zu müssen. „Wie?“ Dann blickte ich an mir hinab und grinste verlegen. Jetzt verstand ich, was sie mit ausgeschlafen meinte. Ich bat sie herein.

„Das hattest du bei mir vergessen“, Kirsten legte mein Smartphone auf der Anrichte ab.

„Vielen Dank“, sagte ich erleichtert, als ich das Handy dort liegen sah. Ich schloss die Tür hinter ihr. „Magst du einen Kaffee?“

Kirsten nickte und ging, während ich den Kaffeevollautomaten einschaltete, ins Wohnzimmer.

„Du hast aber auch eine sehr stilvoll eingerichtete Wohnung“, sagte sie jäh hinter mir, als ich zwei Tassen unterstellte, und zuckte zusammen.

„Das Shirt steht dir gut“, sagte sie und sah mich gerade an. „Du siehst richtig süß so unausgeschlafen aus.“

„Findest du?“ Ich reichte ihr eine Tasse frisch zubereiteten Crema. „Milch? Zucker?“

„Weder noch“, winkte sie ab.

„Kalorienfanatiker?“, fragte ich kurz.

„Was?“

„Nun ja, ich kenne dies vom Büro her. Man beschwert sich über die Kalorien und zieht gewaltig die Bremse. Das sieht man dann auch beim Kaffeetrinken: Keine Milch und keinen Zucker. Einfach Null Kalorien.“

Kirsten warf einen Blick auf ihre Tasse. „Nein, nein, keine Sorge, ich bin keine, wie sagtest du noch gleich, Karlorienfanatikerin. Ich sündige sogar mal ganz gerne.“ Sie nahm einen Schluck. „Wir war das noch? Du sagtest, du hättest Urlaub?“

„Ja, Gott sei Dank. Drei Wochen, um genau zu sein“, sagte ich erleichtert. „Allerdings ist eine Woche davon schon fast um. Aber das ist wohl bei Urlaub so. Diese Zeit vergeht immer schneller als ein Arbeitstag. Das ist nun mal das Los eines jeden Arbeitnehmers.“

Kirsten beobachtete mich noch immer, und ich wurde rot dabei. Ich ertappte mich dabei, dass auch ich sie ansah.

Und ich dachte zurück an die Vergangenheit. Ich hatte mich schon damals in Mädchen verliebt, aber das waren mehr oder weniger romantische Neigungen, wie fast jede Frau sie einmal hat. Bei Kirsten jedoch war es irgendwie anders. Ich fühlte mich von ihr angezogen und zugleich von meinen Skrupeln zurückgehalten. Vielleicht, weil ich instinktiv ahnte, dass daraus mehr werden konnte? Was wusste ich schon über Kirsten Meinhardt? Gab es einen Mann oder Freund in ihrem Leben? Im Grunde genommen war sie mir gegenüber immer noch fremd.

Plötzlich verspürte ich in mir eine aufsteigende Unsicherheit. Unsicherheit, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben meiner Selbst nicht mehr sicher war.

„Jetzt wird es aber Zeit für mich“, sagte sie auf einmal. „Ich habe noch einiges zu erledigen, ehe ich ins Atelier muss.“

Ich nickte. „Nochmals vielen lieben Dank dafür, dass du mir mein Smartphone zurückgebracht hast. Ich hätte es heute sicher noch vergeblich gesucht und nicht einmal vermutet, dass es bei dir liegen könnte.“

Ich blieb hinter der Wohnungstür stehen, bis ich ihre Schritte im Treppenhaus nicht mehr wahrnahm.

Danach kehrte ich in die Küche zurück. Dort setzte ich mich an den Tisch und kaute lustlos auf einem frisch gerösteten Toast herum.

Plötzlich war mir nach einem Bad zumute. Ich ging ins Badezimmer, drehte den Warmwasserhahn auf und zog mein Shirt aus. Ausgezogen ging ich ins Wohnzimmer und setzte mich aufs Sofa. Ich fror, es war recht kühl im Zimmer. Aus dem Bad hörte ich das Wasser laufen. Ich ging hinüber, tauchte die Fingerspitzen hinein und ließ etwas kaltes Wasser nachfließen.

Fast eine ganze Stunde verbrachte ich in der Badewanne.

Ehe ich mich wieder anzog, betrachtete ich im Spiegel mein Gesicht. So schlecht sah ich doch überhaupt nicht aus, dachte ich.

Mit einer Tüte absolut ungesundem Salzgebäck und einer Flasche Rotwein versuchte ich mich abends auf eine weitere Folge meiner Lieblingsserie, die täglich über einen Pay-TV-Sender ausgestrahlt wurde, zu konzentrieren.

Doch schon nach etwa zehn Minuten merkte ich, dass ich mich nicht darauf konzentrieren konnte; ich bekam einfach nichts vom Geschehen mit. Kurz vor Neun war ich es leid geworden und schaltete aus. Es war das erste Mal, dass ich eine Folge nicht zu Ende sah.

Nun stand ich auf dem Balkon über das Geländer gelehnt, in der rechten Hand haltend mein Glas mit Wein.

Gedankenverloren blickte ich in die Dämmerung der kommenden Nacht. Ich schloss meine Augen und dachte an den heutigen Tag zurück. Alles lief noch einmal wie ein Film vor mir ab. Schon fast bizarr: Ich entdeckte mit einem Male Gefühle in mir, von denen ich annahm, sie im Keim erstickt zu haben. Ich hatte sie irgendwo ziemlich weit hinten in einer Schublade eingeschlossen und angenommen, dass ich sie zugeschlossen und den Schlüssel weit von mir tief im See des Vergessens versenkt hätte.

Je mehr ich über alles nachdachte, umso mehr kam ich zum Schluss, dass ich mich ernsthaft in Kirsten zu verlieben schien. Und umso mehr ich mich dagegen zu wehren versuchte, umso mehr rebellierte mein Innerstes dagegen. Es war wie ein Strudel, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien.