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Fast ein Jahrhundert umspannt der Bogen dieses Romans, mit dem Ursula Krechel fortsetzt, was sie, vielfach ausgezeichnet und gefeiert, mit "Shanghai fern von wo" und "Landgericht" begonnen hat. "Geisterbahn" erzählt die Geschichte einer deutschen Familie, der Dorns. Als Sinti sind sie infolge der mörderischen Politik des NS-Regimes organisierter Willkür ausgesetzt: Sterilisation, Verschleppung, Zwangsarbeit. Am Ende des Krieges, das weitgehend bruchlos in den Anfang der Bundesrepublik übergeht, haben sie den Großteil ihrer Familie, ihre Existenzgrundlage, jedes Vertrauen in Nachbarn und Institutionen verloren. Anna, das jüngste der Kinder, sitzt mit den Kindern anderer Eltern in einer Klasse. Wer wie überlebt hat, aus Zufall oder durch Geschick, danach fragt keiner. Sie teilen vieles, nur nicht die Geister der Vergangenheit.Mit großer Kunstfertigkeit und sprachlicher Eleganz erzählt Ursula Krechel davon, wie sich Geschichte in den Brüchen und Verheerungen spiegelt, die den Lebensgeschichten einzelner eingeschrieben sind. Auf einzigartige Weise schafft sie eine atmosphärische Dichte, in der vermeintlich Vergangenes auf bewegende und bedrängende Weise gegenwärtig wird.
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Seitenzahl: 909
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© 2018 Jung und Jung, Salzburg und WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung unter Verwendung einer Photographie vonIrina Ruppert, »Schwestern« aus der Serie »Cortorar Gypsies«Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-163-6
Geisterbahn
Roman
Für alle, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben
I Drehschwindel
II Paternoster
III Unter dem kugeligen Mond ein Wolf
IV Kleine Körper
V Tiefwurzler
Damals wurden die Kinder so schnell groß. Mit neun, zehn Jahren trugen sie schon Körbe, trugen Verantwortung, wenn die Eltern nicht da waren, und trugen die kleineren Geschwister. Waren die Kinder so kräftig, daß sie Lasten tragen konnten? Oder hatte das Tragen sie kräftig gemacht? Oder machte es sie stolz? Sie trugen auch Stangen, die zusammengeschraubt werden mußten, und die entsprechenden Schraubenkästchen, Muttern, Manschetten, Muffen und Zangen. Die Karussells wurden zusammengefügt, all das mußte vorschriftsmäßig sein. So fest wie möglich mußten die Schrauben angezogen werden. Wenn der Besitzer des Karussells so aussah, als wäre er ein Zigeuner, wurde doppelt und dreifach geprüft, die Papiere, die Zulassung, die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen, alles. Die Kinder wuselten herum. Die großen halfen, ja, sie waren stolz, große Kinder zu sein und den kleinen einen Weg ins Leben zu weisen. Genauso wie ihre großen Geschwister wollten es die kleinen machen.
Die großen unterschieden sich von den anderen Kindern, mit denen sie in die Schule gingen, und das tat ihnen gut. In der Schule wurden sie geduckt, die Lehrer machten ihnen klar, was sie alles nicht konnten. Richtig Deutsch sprechen zum Beispiel. Sie verwendeten fremde Ausdrücke, also mußten die Ausdrücke falsch sein. Die Kinder kannten eine andere Sprache, eine Geheimsprache, so kam es ihnen vor. Zuhause merkten sie, was sie alles konnten, wie sehr die kleineren Geschwister auf sie angewiesen waren, wie sehr sie sie bewunderten und wie froh die Eltern waren, wenn sie bei der Arbeit halfen. Sie trugen die kleineren Geschwister auf dem Rücken, und niemand warnte oder drohte, sie würden krumm und lahm, die Last sei zu schwer. Auch die Eltern trugen ja Lasten.
Die Kinder brauchten Fingerspitzengefühl. Vielleicht ließ sie das am schnellsten wachsen, nicht das Tragen, nicht das Argumentieren. Sie wuchsen über sich hinaus. Wenn jemand kam, während die Eltern nicht zuhause waren – und es kamen viele, auch und gerade in der Abwesenheit der Eltern –, waren die Kinder Haushüter, Gastgeber, Abwiegler, je nachdem. Es kamen Verwandte, solche, die den heimatlichen Dialekt sprachen, und solche, die Romanes sprachen. Es kamen Besucher, die sich auf den Vater, den Onkel oder ihre verstorbene Großmutter beriefen, die so taten, als überbrächten sie wichtige Nachrichten, die vielleicht nur Wattewölkchen waren, ein drohendes Gewitter oder nervöses Gebell, das man wie bei einem kleinen Hund beruhigen mußte. Oder es kamen Bettler, die so umständlich sprachen, daß man das Anliegen erst mit viel Geduld begriff. Und die noch ziemlich kleinen Kinder mußten einen Ausweg finden, den die sieben Geißlein im Märchen nicht hatten. Es gab keinen Uhrenkasten, es gab keine Geißenmutter, es gab nur gewöhnliche Leute, die vielleicht schon in der nächsten Stunde mehr als gewöhnlich waren oder sogar bedrohlich, Leute, die im Gebüsch lauerten und das Haus im Blick behielten. Was führten die im Schilde? Warum hatten die so viel Zeit? Leute, die etwas verpetzten, die angeblich auf der Stelle Hilfe brauchten oder Geld, was häufig dasselbe bedeutete. Wenn sie am Abend davon erzählten und derjenige, den sie tagsüber im Gebüsch gesehen hatten, wieder auftauchte, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, waren sie still vor Erstaunen, vor Schreck still. Ihr Vater entschied, was zu tun war, er gab dem Fremden einen Wink: Komm rein. Oder er mandelte sich auf, breitbeinig, auch mit breiten Schultern, stand da, als verteidigte er etwas (ja, was?) gegen jeden Übergriff. Und wenn er ungebetene Gäste des Hauses verwies, blieben die Kinder still – vor Bewunderung. Da war etwas gelungen, das keine Worte, aber auch keine Sprache hatte. So lernten sie, den Gesten, den Blicken, den flehentlichen, den verschlagenen, den selbstbewußten, zu trauen. Die Sprachen konnte man übereinanderlegen, und die Wörter paßten, aber nie genau. Die Münder lachten auf ganz verschiedene Weise. Heraus mit der Sprache!, sagte der Lehrer. Aber dann bissen sich die Kinder lieber auf die Lippen.
Manchmal kamen auch Polizisten. (War MEINVATER dabei? Oder stelle ich mir das nur vor?) Sie fragten nach dem Vater, fragten nach der Mutter, dem einen Onkel oder einem anderen, es gab so viele, fragten nach den Tanten oder der ältesten Cousine, drängten ins Haus. Die Kinder kannten häufig die offiziellen Namen nicht, nur die, die in der Familie gebraucht wurden, die in keinem Ausweis standen, und die Kosenamen. Sie beteuerten ernsthaft, niemand sei da, alle seien auf dem Jahrmarkt. Sie müßten doch den Bären des Onkels gesehen haben oder das Karussell. Aber die Polizisten reagierten nicht, schließlich bohrten sie weiter: Kennt ihr den Henni? War der da in der letzten Zeit? Hat der bei euch gewohnt? Aus der Dringlichkeit, mit der sie fragten, schlossen die Kinder, Henni müsse etwas Schlimmes ausgefressen haben. Aber was war schlimm? Dann kam glücklicherweise ihre Mutter dazu. Jetzt belauerten die Polizisten sie, drangen in sie, wann sie ihren Bruder zuletzt gesehen habe? Ob er in Begleitung war, ob er bei den Karussells geholfen habe? Ob Henni eine Frau habe? Sie sprachen das Wort Frau so wegwerfend aus, daß auch die Kinder merkten, sie meinten etwas anderes, aber was? (Hier sehe ich MEINENVATER schon deutlich. Er reckte das Kinn vor, zückte ein Büchlein, nicht anders als das Notenbüchlein des Lehrers. Er wird alles notieren, protokollieren und im Revier in die Schreibmaschine hacken und wieder ein Blatt amtlichen Papiers ablegen.)
Lucie Dorn hatte eine feine Art, die Schultern zu heben und wieder fallen zu lassen. Gleichzeitig schob sie die kleinsten Kinder vor sich her und preßte sie eng an sich. Nein, sie wußte gar nichts von ihrem Bruder, er hatte ein eigenes Geschäft aufgemacht, in Krefeld oder in Neuss oder zwischen Grevenbroich und Jülich, schon vor einem Jahr. Nein, er schrieb keine Briefe, warum auch. Dann roch es seltsam aus dem Haus, Lucie gab sich einen Ruck, und sie sah schön aus mit ihrem wehenden Rock, abweisend, würdevoll, das sahen auch die Polizisten mit einem Blick. (Ich vermute, daß MEINVATER damals einen Blick für eine solche Frau hatte.) Dann raffte sie auf der Steinstufe den Rock zusammen, schlüpfte ins Haus. Die Milch ist übergekocht, die Kinder haben nicht aufgepaßt, erklärte sie rasch. Erschrocken sah sie aus, und es war ihr peinlich. Bitte um Entschuldigung, die Kinder brauchen die Milch. Der Herd war verklebt, verdreckt. Nein, noch einmal: Sie weiß nichts von Henni. Sie schloß die Tür, schrubbte den Herd mit Inbrunst, der ganze Zorn war ihr in die rechte Hand gefahren.
Es hatte in jedem Jahr eine Razzia gegen Bettler gegeben, bei der auch Leute aus ihrem Volk unter die Räder gekommen waren. Der Unterschied zwischen Bettlern, Tippelbrüdern, Stadthausierern und Schaustellern wurde dabei vollkommen verwischt. Im Zweifelsfall wurde man als asozial eingestuft, nur weil man reiste, weil der Jahrmarkt nichts von Dauer war, und zwischen Asozialen und Kriminellen war nur ein Hauch. Man mußte vorsichtig sein, damit nicht plötzlich eine Fürsorgerin auftauchte, eine mit großen Füßen und einem Formular in der Hand, auf dem sie alles Mögliche notierte und die Kinder in ein Waisenhaus einwies. Die geliebten Kinder, sie mußten saubere Fingernägel haben und saubere Hemden, sich möglichst nicht unterscheiden – von niemandem, aber das war schwer, wenn nicht unmöglich. Sie waren ja ohnehin ein fremdes Volk im deutschen Volk. Dabei waren die Väter und Söhne im Weltkrieg gewesen, manche waren tot, andere waren verkrüppelt nach Hause gekommen.
Am Morgen wieder der Rummel auf dem Festplatz: die Kettenkarussells, die Schaukeln, die Losbuden, die Ausrufer, die Musik, die passen mußte zum Geschäft, die Ponys, die Josef in einer notdürftig am Rand der Festwiese eingerichteten Manege führte, die Verlockungen und die fürchterlichen Enttäuschungen, wenn es regnete und der Festplatz verschlammte, wenn eine Kirmes ins Wasser fiel und die Kundschaft ausblieb. Der Kirmesplatz versank im Matsch, Trostlosigkeit, Leere, nasse Zelte, die triefenden Bahnen buckelten sich wie Wannen, schlaffe Segel, die Schuhe jammervolle Boote, dann war das Geld knapp. Die Kinder halfen jetzt, wo sie konnten, so gut sie konnten, wischten die Schaukelsitze trocken und die Kiele der hölzernen Schiffchen, sie polierten die Messingstangen, an denen die kleinen Fahrgäste sich festhielten, manche ängstlich, manche krähend oder jauchzend. Klebrig und feucht von den Kinderhänden waren die Stangen immer. An den Buden lungerten schäbig gekleidete Burschen mit durchgescheuerten Manschetten, Hosen, aus denen sie herausgewachsen waren, betont gelangweilte Gesichter, aber ein hungriger, lebenshungriger Blick. Vom Schießstand war das unverdrossene Krachen zu hören. Geschossen wurde immer, bei jedem Wetter. Die Aufbauhelfer blieben in der Familie, wenn es zu stark regnete, wo sollten sie hin?, manche waren entfernte Verwandte, manche sprachen Romanes, das machte sie auch verwandt. Andere tauchten von irgendwo auf, Arbeitslose vielleicht oder solche, die eine geregelte Arbeit scheuten, zogen herum, verwischten eine Spur, vielleicht war es die erste Station eines geplanten Verschwindens, vielleicht waren sie frisch entlassen aus dem Gefängnis, wie Lucie manchmal vermutete. Was nutzte es zu fragen? Sie waren arbeitswillig, sie hatten kräftige Hände, saßen am Abend mit am Tisch, nahmen die Kinder auf den Schoß, lachten, tranken, rauchten und wurden am nächsten Tag, wenn es aufklarte und die Arbeit getan war, ausbezahlt in die hohle Hand. Wohin sie gingen, woher sie kamen, wer wußte das, wer wollte es wissen? Hauptsache, das Karussell war vorschriftsmäßig aufgebaut, keine Schraube fehlte, und die ersten Kinderkunden standen erwartungsvoll an der Kasse. Geld zu verdienen war gut. Geld war nach der Familie das Beste oder das Nächstbeste. Ohne Geld keine Milch, ohne Geld keine Kinderschuhe. Wir haben nicht viel, aber die Sonne ist unser Eigentum. Und wir haben uns, wir sind eine große Familie, und deshalb sind wir reich. So dachte Alfons, dann wusch er sich, hängte Hose und Hemd über die Stuhllehne und löschte das Licht.
Beim Weinblütenfest in Bernkastel war die Polizei auf die Kirmes gekommen, weil der Karussellbetrieb mit der Musik die Anlieger angeblich beim Anhören einer Rede Hitlers störte. Deshalb mußte das Karussell bis zum Ende der Rede aussetzen. Anschließend hob die Weinkönigin einen Pokal in die Höhe und trank im Kreis der Ortsprominenz ein Glas Wein. Ist das eine richtige Königin?, fragten die Kinder. Nein, das ist nur die jüngste Tochter aus dem Weingut Büscher, antwortete man ihnen. Wenn das Fest zu Ende ist, lernt sie weiter die feine Küche in Boppard. Das wollten die Kinder nicht so recht glauben. Am Abend zog die Hitlerjugend mit Trommeln und Fackeln durch die Stadt, sie sangen, schwenkten Fahnen und waren auf Krawall aus. Aber sie trauten sich noch nicht richtig. Auf dem Marktplatz hielt ein Mitglied der NSDAP eine glühende Rede. Offene Münder, offene Herzen, Wogen von Einverständnis; die Jungen hörten andächtig zu. Am Abend saß man in den Wirtschaften zusammen. Das Karussell drehte sich wieder, die scheppernde Musik füllte den Platz. Sie hatten es doch zu etwas gebracht. Jedenfalls ganz vorsichtig sein und sich nichts zuschulden kommen lassen, versprachen sich Alfons und Laurenz. Schon im vorigen Herbst war von Hitler auf dem Reichsparteitag ein Gesetz verkündet worden, das die Eheschließung zwischen sogenannten Deutschblütigen und Juden, Zigeunern, Negern oder ihren Bastarden unter Strafe stellte. Vom Reichstag wurde das Gesetz einstimmig angenommen. Gott sei Dank waren alle in der Familie verheiratet, und die Kinder waren noch zu jung, als daß man an ihre Heirat denken wollte. Insofern war Alfons und Lucie der Erlaß gleichgültig, wenn er auch unverschämt, ja ungeheuerlich war. Was ging es den Staat an, wer wen liebte und warum? Blut hatten sie alle, woher es stammte, wer wußte das schon.
Lucie hatte eine ganz unverblümte Art, spätabends, wenn Alfons vom Jahrmarkt kam, einen ihrer großen, weiten Blumenröcke hochzuheben. Sie hatte eine ganze Menge davon, die sie selbst nähte, Rosen, Margeriten, Vergißmeinnicht auf dunklem Grund, und für die Töchter nähte sie. Lucie hatte auch so eine Art, träumerisch aus ihren kirschendunklen Augen zu schauen, erwartungsvoll in die Dunkelheit und in das Gesicht ihres Mannes, und dabei die Mundwinkel langsam, ganz langsam nach oben zu ziehen. Sie schaute nicht eigentlich, als ob sie zu einem Lächeln bereit sei, eher zu einer Verschmitztheit, einer eindringlichen Verschmitztheit. So wie jemand den Rock lüftet. Eine Geste und ein Blick, denen Alfons unbedingt Folge leisten mußte. Er knöpfte seine Hose auf, sein Glied drängte heraus, und er wußte nicht, was dunkler war, ihr Verlangen, der sternlose Himmel, ihre Augen oder die Leisheit, die sie umgab. Sein Glied fand ganz leicht seinen Weg unter ihrem Blumenrock, der Weg kam ihm vor, als wäre er vorausbestimmt. Alles war ganz leicht und leis. Der Wind ruhte sich aus, in den Nachbarhäusern, links und rechts, die nur zwei Steinwürfe weit weg waren, Stille. Lucie stieß kleine durstige Laute aus, schnappte nach Luft. Alfons atmete tief ein, und die ausgeatmete Luft war eine Wolke. Und als Lucie ihren Rock wieder herunterließ und Alfons ein großes Taschentuch nahm, um das, was an Samenmilch, an Überwältigung zu viel gewesen war, abzutupfen, sagte er leise: Aber Lucie, wir haben doch so viele Kinder. Ja, sagte Lucie, wir haben viele Kinder, aber sie sind so lieb. Lieb waren sie, wenn sie sich auch gegenseitig manchmal auf den Kopf hauten und die Schürzenschleifen aufzogen und ins Essen faßten und darin matschten. Sie neckten sich doch nur. Sie balgten, sie waren lieb, sie hatten ihre Eltern lieb, und Alfons und Lucie waren selbst bezaubert von ihrem Glück, dem Kindersegen und dem Stolz auf ihre Kinder. Weich und matt und einander ganz nah waren sie an solchen Abenden, saßen noch ein wenig draußen und schauten. Ein Motorrad tuckerte vorbei, knallig war das Rücklicht. Manchmal arbeitete sich der Mond aus dem Feuchten, Regenverhangenen heraus und versprach besseres Wetter für den nächsten Tag. Kurz danach, so genau achteten Alfons und Lucie Dorn nicht auf die Tage, war er prall, eine Südfrucht, wie mit Adern durchzogen. Oder waren es Wasserläufe? Geschliffene Sterne, die sich in gebührendem Abstand hielten. Zeit verging, das war natürlich, aber Zeit spielte auch keine Rolle. Die Liebe kennt keine Zeit. Zeit verging und blieb stehen. Manchmal rief ein Kind aus dem Zimmer, hatte Durst, hatte einen schlechten Traum, den man schnell verscheuchen mußte.
Manchmal sah Alfons feuchte Flecken auf Lucies Rock, einem mit Feuerlilien, Moosröschen, Efeuranken auf dunklem Grund, und flüsterte ihr leise zu, damit sie nicht erschrak: Du mußt den Rock wechseln, darauf ist Blut. Sie schien sich darüber nicht zu wundern, ging sofort ins Zimmer und kam mit einem frisch gewaschenen zurück, das Muster konnte er in der Dunkelheit nicht mehr erkennen. Insgeheim war er erleichtert, wenn er ihr Blut sah oder ertastete. Andererseits war er besorgt, sie könnte Schmerzen haben oder zu viel Blut verlieren. Oder er fürchtete, wieder ein Kind sei unterwegs, aber es fände nicht den Weg in die Welt und könnte Lucie mit Gewalt von ihm und den größeren Kindern wegziehen. Daran durfte er nicht denken. Man mußte auch nicht alles denken, was denkbar war. Man würde vielleicht verrückt, also besser nicht, und weiter in die dunkle, warme Nachtluft geschaut, in die Milchstraßenluft und Lucie in den Arm genommen, so fest, daß es fast wehtat. Und irgendwann die Tür geschlossen und ins Zimmer, in dem die Kinder schliefen, schnauften, träumten. Schlafen, schlafen, denn der nächste Tag war lang. Alfons mußte zusammen mit einem seiner Schwäger, mit Laurenz, zu einer Kirmes, etwa zwanzig Kilometer entfernt. Lucie hatte für alle Frühstück zu machen, die beiden Ältesten, die zur Schule gingen, pünktlich wegzuschicken, die Jüngsten zu beaufsichtigen und dann wusch sie die Wäsche, Berge von Wäsche, Wäsche für die Helfer, Wäsche für die Kinder und die Windeln des Kleinsten. Es war schön anzusehen, wie die geblümten und karierten Teile auf der Leine flatterten, die weißen dazwischen wie Zahnreihen, und das machte sie zufrieden.
Sie trug ein kleines goldenes Kreuz an einer Kette um den Hals wie andere Frauen, aber es schien Lucie auf besondere Weise zu beschützen. Manchmal, wenn sie nachdachte, nahm sie die Kette in die Hand, schob sie zwischen die Lippen und zog sie langsam, langsam weiter, bis das Kreuz in den Mundwinkel rutschte. Worüber dachte sie nach? Sie sagte es niemandem. Sie schreckte auf, riß sich aus ihren Gedanken, rückte die Kette sorgsam wieder so zurecht, daß das Kreuz in der Halsgrube zu liegen kam. Vielleicht hatte sie gebetet. Ein Stoßgebet nur. Was sie betete, ging niemanden etwas an.
Der flammende Dornbusch, der schöne aufragende Haarbusch, Federbusch ihres Schamhaares, das Alfons liebkoste, in dem seine Finger spazierengehen konnten, immer wieder, und dann weiter in die lockende Höhle seiner Frau. Der flammende Dornbusch war vielleicht nicht das richtige Bild. Alfons war nicht bibelfest, er hatte mit den Karussells, den Schaukeln, den Buden auf den Jahrmärkten genug zu tun. Er mußte die Termine einhalten, er mußte werben. Man mußte überlegen, ob es günstiger war, von der Kirmes auf den Rheinwiesen in ein Tälchen zu fahren, weil es nah war, allerdings war der Verdienst in einem kleinen Ort gering, oder ob es besser war, zwei Tage zu pausieren und dann in einem größeren Ort die Zelte wieder aufzuschlagen. Er führte Buch, schrieb auf, wann er wo Verabredungen getroffen hatte. Wieder Termine, Termine, die erst das nächste Jahr betrafen, er trug sie in einen abgegriffenen Taschenkalender ein. Doch das meiste behielt er im Gedächtnis. Absprachen auf Handschlag. Er holte Helfer herbei, mußte das Karussell reparieren oder reparieren lassen, manchmal kam der Schwager, der schweißen konnte. Die Funken stoben, und die Neugier der Kinder, immer wollten sie dabei sein, mußte bezähmt werden. Alles war mühsam, aber auch schön, und er wünschte sich, die Kinder träten in seine Fußstapfen. Wenn sie die Schule beendet hätten, vielleicht schon früher, ließe sich der Radius erweitern. Schon jetzt erklärte er Josef, wie viel Platzmiete und wie viel Steuern er zahlte. Das Geschäft lief gut. Er war zufrieden. Ja, vielleicht war dies und das zu modernisieren. Die eine Schaukel hier, diese Bude dort, das große neue Karussell wieder an einem anderen Ort. Das Jahrmarktsgeschäft hatte glänzende Aussichten, daran war kein Zweifel. Wer Kummer hatte, ging auf den Jahrmarkt. Wer seinem Mädchen sonst nichts zu bieten hatte, schoß ihm eine Blume. Und die Kinder kamen ohnehin mit ihrem Ersparten, wollten Zuckerwatte, Krachmandeln, Paradiesäpfel, die auf Holzstengelchen gespießt waren, Himbeerbonbons und Karamellbonbons, den wilden Wirbel der Karussells, Wind um die Nase.
Der flammende Dornbusch. Weiß gekleidete, weißhäutige Engel bewachten ihn. Hinter dem schwarzen Haarbusch seiner Frau war das Paradies, ein pulsendes, gesegnetes Paradies. Es war nicht nur erlaubt, daß er das Paradies betrat, es war ein göttliches Gebot. Gehet hin. Wachset und mehret euch, das hatten sie sich nicht gerade zu Herzen genommen, aber so hatte es sich ergeben. Milch und Honig flossen. Er spürte die Kraft, die ihn nicht verließ, solange er im Paradies war, und auch Lucie, wie sie ihn umschlang, einen seltsamen Takt mit ihrer braunen Stirn auf seinem Brustkorb schlug, auch Lucie, die das Paradies war, war im Paradies, solange er bei ihr war. Er war ihr Rückgrat, ihr Stecken und Stab, nichts sollte ihr fehlen. Und sie machte nicht den Eindruck, als ob irgendetwas fehlte. Er ruhte aus unter ihren Blumenröcken, und wenn sie ihn ansah mit samtigen Augen und noch ein wenig Speichelfeuchtigkeit von seinen Lippen trank, war er sicher: Alles war wohlgetan.
Im Frühsommer 1936 las Alfons in der Zeitschrift des Schaustellerverbandes von einer Verkaufsmesse in Berlin. Neue Karussells, Schiffschaukeln und Apparate, von denen er noch nie gehört hatte. Hau den Lukas hießen sie. Man schlug mit einem Hammer auf einen Kopf, dabei schnellte ein Bolzen nach oben. Wer beim Wettbewerb am härtesten zuschlug, löste einen Klingelton aus. Warum Lukas?, rätselhaft wie so vieles jetzt. Auch kleine Autos gab es, die wie Straßenbahnen an einer knisternden elektrischen Oberleitung hingen, in denen junge Burschen ohne Führerschein fahren konnten, das wollte er sich unbedingt ansehen. Das Geld war da, er hatte die Ponys im Frühjahr verkauft, sie machten ihm keinen Spaß mehr, zu viel Arbeit, zu aufwendig in der Pflege, das Herumreisen mit den Tieren eine Plackerei. Bei Regenwetter bekamen sie leicht Durchfall. Dann hielten die Eltern ihre Kinder vom Reiten, aber auch vom Karussellfahren ab, sie ekelten sich. Alfons hatte das Geld gar nicht mal zur Sparkasse getragen, sondern im Haus versteckt, nur Lucie wußte, wo es war, und wollte es sogleich wieder vergessen. Kleine Autos oder Autoattrappen ohne Motor mit frechen Blechschnauzen, schönen Scheinwerfern, einem Wimpelchen und roten Lederolsitzen, kräftigen Stoßstangen, die jedem Zusammenprall standhielten. Er fragte seine Kinder, ob sie sich so etwas vorstellen könnten, und sie waren sofort Feuer und Flamme.
Ja, Alfons Dorn wollte unbedingt nach Berlin fahren und eine solche Bahn kaufen. Vielleicht konnte man handeln oder in Raten bezahlen. Und er wollte Josef, seinen ältesten Sohn, mitnehmen, eine Fahrt nach Berlin, eine weite Reise, eine enge Verbundenheit, ein Abenteuer zwischen Vater und Sohn. Bevor er mit ihm sprach, erkundigte Alfons sich im Bahnhof nach dem Fahrpreis und wurde bleich. Mit einer solchen Summe hatte er nicht gerechnet. Wie gut, daß er noch nicht mit Josef gesprochen hatte. Der Junge wäre enttäuscht gewesen.
Dann ergab es sich, daß sein Schwager Laurenz auch die Berliner Ausstellung besuchen wollte. Der Braunbär, mit dem er über die Jahrmärkte zog und den er eher aus Mitleid von einem Rom übernommen hatte, war so jämmerlich geworden. Der Blick glanzlos, er war übellaunig, das Fell an den Gelenken abgeschabt, und manchmal sabberte er aus einem Mundwinkel, als wäre die eine Gesichtshälfte gelähmt. Die Kinder auf dem Jahrmarkt schauten einen so traurigen Helden ungern an, manche begannen zu heulen. Zuerst war das Fell des Bären nur am Hals fransig und schäbig, dann auch an der Brust, er haarte, saß herum, müde oder eher schon blöde, und man sah seine schlechten Zähne. Der Braunbär paßt einfach nicht mehr in die neue Zeit, das sagte Laurenz mit Bestimmtheit, und andere aus der Familie bestätigten es. Laurenz kitzelte ihn mit einem Stöckchen. Die Kinder riefen hepp! hepp!, damit er auf die Beine kam. Er torkelte dann, niemand wollte seinem Hinsiechen zusehen. Der Bär im Käfig war eine Last, er brauchte Futter und Pflege, und es gab andere Sorgen. Dann war der Braunbär plötzlich verschwunden. Alfons’ Kinder fragten nach ihm. Warum tritt er nicht mehr auf? Es gab den Verdacht, der Bär wäre im feuchten Winter krank geworden, er hätte eine Art von Bären-Tuberkulose bekommen, die vielleicht auch für Menschen ansteckend war. Davor mußte man die Kinder schützen, Laurenz’ Kinder, Alfons’ Kinder und die Kinder auf den Jahrmärkten auch. Und kein Tierarzt wagte sich an einen alten Bären, jedenfalls nicht die Tierärzte an der Mosel, die eher mit Kühen, Schweinen und gehätschelten Kanarienvögeln zu tun hatten. Was ist denn mit dem Bär?, fragten die Kinder auf dem Festplatz, er war doch bei der letzten Kirmes noch da. Sie fragten Laurenz ein Loch in den Bauch. Was sie nicht fragten, aber worüber sie sich Gedanken machten: Wurde ein Bär begraben, kam er zum Abdecker, wie ein Pferd zum Pferdemetzger? Laurenz zuckte die Schultern. Die Kinder hätten geheult. Es gab keine Antwort auf die Frage: Wo ist denn der Bär? Man mußte die Kinder ablenken, die eigenen und die fremden. Am nächsten Stand gab es Zuckerwatte.
Alle in der Familie wußten, was man über den Bären erzählt hatte, wenn sie zusammensaßen, die große Familie mit Tanten und Onkels, den vielen Kindern und dem Großvater: Der Urahn des Bären sei aus den Karpaten gekommen, ihm habe wohl das halbe Gebirge gehört, die andere Hälfte vielleicht einem Grafen oder gar einem Fürsten. Er sei so kraftvoll gewesen, habe weite Strecken zurückgelegt, immer der Nase nach oder dem Wind entgegen, ganz allein, bis ihn ein Rom, der an einem Feuerchen saß und sich etwas kochte, eingefangen habe. Der Bär sei vom Geruch der Mahlzeit angezogen worden, vermutlich. Der Rom und der Bär (oder war es schon ein Nachkomme des Bären?) hätten sich durchgeschlagen, mal sei der Rom voran durch einen Buchenwald gestromert, dann war der Bär der Erste im Dickicht und der Rom auf seinen Spuren, bis sie einen Bärenführer fanden, vielleicht wieder einen Rom, das wußte man nicht. Oder besser: Bis der Bär zu einem Menschen, eben diesem Bärenführer, Vertrauen faßte und sich bis an den Rhein, bis in die Hunsrückwälder führen ließ und geduldig weiter und weiter. Den letzten Teil der Strecke konnte sich die Familie gut vorstellen, der dichte Hochwald, die ärmlichen Dörfer, die aufgeheiterte Schinderhannes-Herrlichkeit nach einem Holzdiebstahl. Zu den früheren Gegenden fiel niemandem etwas ein. Das mußte ein sehr befähigter Bärenführer gewesen sein, der tief in das dunkle Herz des Bären blickte und auch in den deutschen Wald. Und so habe der Bär oder vielleicht dessen Großvater mit der tätigen Hilfe des Bärenführers eine Bärenfrau gefunden, die ähnlich wie er einen weiten Weg zurückgelegt hatte, man habe die Geschichte des Braunbären in einer Ahnenreihe verfolgen können, so ungefähr jedenfalls. Und auch der Bär hatte Kinder, wie Alfons Kinder hatte, wie Laurenz Kinder hatte und wie diese später selbst Kinder haben würden. Aber niemand kannte die Bärenkinder. War das nur ein Trostversuch? Wir, die Sinti, sagten die Erwachsenen, können mit den Tieren sprechen, wir sind mit der Tierwelt eng verbunden. Wir hören das Stöhnen einer Kröte wie das machtvolle Krächzen der Nebelkrähen. Wir hören Hasen, und ihr Herz pocht, wenn sie sich in einen Feldrain ducken, bevor das Pferdegespann auftaucht. Sie alle haben uns etwas zu sagen. Wir sprechen auch mit den Igeln, und die Igel sprechen mit uns. Was denn, was denn?, fragten die Kinder. Wenn ihr älter werdet und gut zuhört, werdet ihr es von allein wissen. Man muß es nicht üben, sagte Lucies Schwester Babette, und sie hatte es wieder vom Großvater übernommen. Das beruhigte. Die Kinder hörten die Geschichte gern, immer wieder, schmiegten sich aneinander, bis sie todmüde waren. Und nun war sie zu Ende gegangen ohne ein wirkliches Ende, und das war traurig. Wie sollte man über einen toten Bären sprechen, von dem nichts übrig war, nicht einmal das Ende einer Geschichte.
Auch deshalb wollte Laurenz, Lucies Schwager, der Mann ihrer jüngeren Schwester Babette, nach Berlin fahren, sich umsehen, vielleicht eine ganz neue Geschäftsidee mitbringen, Zeit haben, um mit Alfons zu reden, der klug war und sich auskannte. Ja, sie dachten auch an solche Sachen, die Männer vielleicht gemeinsam unternehmen, wenn sie in eine Großstadt reisen. Das hatten sie noch nie getan, aber sie hatten eine Vorstellung davon. Ob sie sich in die Tat umsetzen ließe, war eine ganz andere Frage. Laurenz, der in der letzten Zeit herumgekommen war, hatte munkeln gehört, daß Kirmesleute in einen Verband gezwungen worden waren, aber die Sinti, unsere Leute, wie Laurenz sagte, habe man nicht haben wollen. Das kommt auf einen Versuch an, wandte Alfons ein. Vielleicht wollte man sie gar nicht mehr auf dem Jahrmarkt haben, auf keinem, und sie müßten hausieren gehen oder Körbe flechten, und die Frauen müßten aus der Hand wahrsagen wie in den Geschichten, die sie als Kinder gehört hatten von den Alten. Laurenz hatte gehört, Musiker aus ihrem Volk durften nicht in der Reichsmusikkammer sein, also durften sie eigentlich auch nicht mehr Musiker sein. Aber was durften sie? Auch andere Berufe waren ihnen verschlossen. Sie konnten doch nicht Arbeiter werden. Die Zigeunermusik, wie die Leute sagten, hörte man gern auf der Straße und auf den Jahrmärkten, nur die, die sie spielten, grenzte man aus. Irgendetwas müßte man sich aus den Fingern saugen. Oder etwas ganz Tolles, Neues machen.
In ihren besten Anzügen brachen Alfons und Laurenz auf. Lucie sah nicht hin, als sie packten, aber sie winkte ihnen lange nach. Die Kinder zerrten und zoppelten an ihr. Und dann sah sie noch einmal nach dem Geld im Versteck, aus dem Alfons sich bedient hatte, und wollte es wieder vergessen. Die Reise an der Mosel entlang war ein sanftes Geschlängel. Der Fluß bog und wand sich, nie hielt er still, nebliges Wasser, keine Strudel. Nie hatte man das Gefühl, er flösse geradeaus. Der Fluß war konfus, er wußte nicht so recht, wohin er wollte, und er hatte unendlich viel Zeit. Mal fuhr die Bahn auf seiner rechten Seite, dann auf der linken, dann durch einen Tunnel, und man hatte keine Ahnung, auf welcher Seite der Mosel er danach wieder herauskam. Hier und da querte eine Fähre den Fluß. Auf den Uferwiesen sahen sie Schwäne mit ihren Jungen, die sich um den Lärm der Eisenbahnstrecke nicht kümmerten. Alfons und Laurenz waren ja immer selbst gefahren, sorgfältig hatten sie mit ihren Pferdewagen die Routen geplant, und es war seltsam, gefahren zu werden, eine Fahrkarte und einen Sitzplatz zu haben, aber Berlin war einfach zu weit für ihre Pferdewagen, unendlich weit. Paris war viel näher, da waren sie auch nicht gewesen. Das Flußbett hatte sich tief in den Fels eingegraben und ließ Platz für die hoch aufsteigenden, terrassierten Weinberge. In manchen Dörfern fuhr der Zug so nahe an Hausecken und an den Regenrinnen der Dächer entlang, daß man glauben konnte, er würde sie schrammen. Sie sahen Ausflugsboote, Leute mit lustigen Fähnchen darauf, Leute, die Wein tranken auf den Bänken, und Leute, die mit einer schweren Hotte auf dem Rücken die Weinbergwege entlangstapften, bellende, aufgeregte Hunde liefen neben ihnen her. Alles war in ein mildes, sanftes Licht getaucht, obwohl die Waggonfenster voller Ruß waren. Oder stellten sie sich das Silbrige, das Quecksilbrige nur vor, weil sie es kannten vom Fahren zu den Jahrmärkten, früh am Morgen und wieder in der Dämmerung?
Der Zug war überfüllt, in Bullay stiegen Leute aus, in Cochem nach der langen Fahrt durch den Tunnel. Aber es kamen auch welche mit schwerem Gepäck, das sie in die Gepäcknetze wuchteten, und solche, die sofort ihre Frühstücksstullen auspackten, krümelten, aßen, als wären sie halbverhungert aufgebrochen. Nein, so weit wie sie reiste vermutlich niemand. Laurenz und Alfons waren aufgeregt, aber auch nicht so sehr, vielleicht versteckten sie die Aufregung voreinander. Die Dächer der Häuser waren schiefergrau und manchmal war auch der Fluß ins Schiefergraue getaucht. Wenn die Sonne herauskam, glitzerte er und war schmiegsam wie eine übergroße, überschlanke Forelle, die einem aus der Hand glitschte.
In Köln, das wußten sie, mußten sie umsteigen. Jemand im Abteil, mit dem sie ins Gespräch gekommen waren, hatte ihnen gesagt, wenn sie noch nie in Köln gewesen seien, sollten sie unbedingt den Dom sehen. Den Dom und sonst gar nichts. Also fragten sie auf dem Bahnhofsvorplatz den ersten Besten, wo der Dom sei. Der Mann reckte nur den Daumen in die Höhe und sagte: Hier. Und als sie hinaufsahen in den langen Schatten, in das steinerne Streben, in das filigrane Spitzenwerk, da war der Dom ihnen zu groß, zu mächtig, er machte sie atemlos und stumm. Nonnen mit gewaltigen Flügelhauben wallten umher, fromme Leute pilgerten hinein, auch Leute auf der Durchreise wie sie und Priester mit ihrem Birett, die ihr Spitzengewand über der Soutane trugen. Alles wirkte, als wäre hier unablässig Gottesdienst, auch ein bißchen Jahrmarkt. Sie schlüpften durch das schwarze, riesige Portal, bekreuzigten sich, trauten sich weit vor bis zum goldenen Schrein der Heiligen Drei Könige, die ja auch gereist waren, beteten, daß alles gut gehe auf der Reise: Ja, sie wünschten es sich inständig, und so gelang ihnen auch das Beten, wie es nicht alle Tage gelingt. Alfons und Laurenz tauchten die Fingerspitzen in das dunkle Weihwasserbecken, und dann wurden sie in die blendende Helligkeit der großen Stadt geschoben. Rosenkranzgewimmel, kleine Kölner Dome aus Blech, Schneekugeln, in denen eine Muttergottes auf einem Felsen stand, geweihte Kerzen und Bildchen, die man ins Gebetbuch legen sollte. Sie staunten große Hotels an, Kaufhäuser, den großen Wirbel, ein bißchen kleinmütig waren sie schon. Sie schrieben Postkarten nach Hause, ja, alles war gut, so würde es weiter gut gehen. Und sie waren froh, endlich wieder in einem engen, vollgestopften Zugabteil zu sitzen.
Hamm in Westfalen war die Station, in der ihr Zug mit einem zweiten Zug, der aus einer anderen Richtung kam, aneinandergekoppelt wurde. Während das geschah, waren alle Reisenden aufgefordert, zu ihrer eigenen Sicherheit auszusteigen und auf dem Bahnsteig zu warten. Das Gepäck konnte auf den Plätzen bleiben. Alfons sah einen Rangierer in schwarzer Kluft zwischen den Gleisen stehen. Er stand ganz ruhig da, gelassen, eine Lampe hing vor seiner Brust. Zwischen den Puffern des einen Zuges wartete er, der andere Zug rollte auf ihn zu, ziemlich schnell, sogar sehr schnell, das schien den Mann nicht zu irritieren. Alfons wollte angstvoll wegsehen, aber da stand der Mann immer noch zwischen den Puffern und koppelte die beiden Zugteile mit Kabeln aneinander. Er hatte sich nur gebückt, ein paar Handbewegungen, kroch dann hervor und winkte dem Vorarbeiter mit der im Lederhandschuh unförmig groß wirkenden Hand. Kein Unglück war geschehen, die Lokomotive unter Dampf.
Die Reisenden konnten wieder einsteigen; der Lokomotivdampf hing über den Waggons. Sie sahen riesige Felder, Büsche am Feldrain, breit gelagerte Bauernhöfe, Häuser aus roten Ziegeln mit blanken weißen Fensterrahmen, spitze Giebel, eine Gleichförmigkeit, die einen gähnen machte. Da war man an der Mosel etwas schlampiger, deshalb blieb man auch wach. Hier in Westfalen wechselte das Licht bald ins Dämmrige, und es war nur noch zu ahnen, daß die Landschaft flach war, brettflach, nicht gefältelt, modelliert wie zuhause und sicher sehr grün. Lange Reihen von Erlen an einem Wasserlauf, fette Weiden, darauf Schafe wie helle Punkte, darüber ein tief gehängter Himmel. Sie sahen einen Mann mit einem gefleckten Hund einen Weg entlanggehen. Es war offenkundig kein Schäfer, sondern ein Spaziergänger, der einfach so in die Luft schaute. Dann wieder ein lichtes Wäldchen, die Baumkronen ritzten den Himmel. Sie sahen ein breites Wasser, dann einen Kanal mit einer Schleuse, Menschen sahen sie nicht mehr, Vielleicht war es zu spät, oder sie mieden die Nähe des Bahndamms. Nur Weite, Horizonte, aber für die hatten sie keinen Blick. Die Zeit blieb stehen. Es war so langweilig, daß zuerst Laurenz einschlief und dann auch Alfons. Erst in der Mark Brandenburg wurden sie neugierig, der Zug fuhr durch Wälder und Wiesen, eine schnurgerade Strecke, wie es ihnen schien, so konnte man mit den eigenen Wagen nie fahren, da waren die Umwege wichtig. Sie sahen Kiefern im losen Sandboden, geduckte Dörfer mit einstöckigen Häusern, und dann duselten sie wieder. Nicht einmal Kirchen fielen ihnen auf, wenn sie denn welche entdeckten, waren sie klobig und geduckt, dann wieder Bäume, auch gewaltige Alleen.
Die Stadt ließ auf sich warten wie eine gnädige Frau. Dann war sie plötzlich da, hochgewachsen, getürmt, mit erschütternd breiten Brandmauern, auf die Reklamebilder gemalt waren, schöne fünf-, sechsstöckige Häuser, die sich zierten mit ihren Stukkaturen, schmiedeeisernen Balkonen oder gemauerten Loggien. Gewaltige Dächer, Dachlandschaften hatten die Häuser. Der Zug raste daran vorbei, die Stadt war aufregend, voller Lichtreklamen, und im Nu waren Alfons und Laurenz hellwach und rafften ihre Sachen zusammen. Ein riesiges Rippentier mit eisernen Streben war der Bahnhof, mehrere Bahnsteige mit glattem Steinboden, Schaltern, Hinweistafeln und Lautsprecheransagen. Schaffner pfiffen, ruderten mit den Kellen, Menschen, Menschen, die durcheinanderhasteten und riefen, ein großes Begrüßungshallo, ein Gestrudel und Gesprudel. Auch Zeitungsverkäufer riefen, Würstchenverkäufer und Mädchen, die Keks für unterwegs verkauften. Sie sahen Damen mit enormem Selbstbewußtsein, schönen Handtäschchen und glitzernden Halsketten, die gerne über dieses und jenes Auskunft gaben. Erst auf den zweiten Blick erkannten die beiden, daß es Huren waren. Alfons und Laurenz fragten sich durch, und die Berliner antworteten, sie waren jedenfalls nicht maulfaul. So fanden Alfons und Laurenz die richtige S-Bahn, fragten wieder nach dem richtigen Bahnsteig einer anderen Bahn; ein Auf und Ab und Hin und Her, das große Konzentration erforderte. Überall wurde gebaut in Berlin. Daß man die riesige Stadt mit einer S-Bahn umrunden konnte wie mit einem Karussell, gefiel ihnen. Vielleicht wurde einem im großen Maßstab auch schwindlig davon. Sie überquerten einen Fluß in einem mächtigen, gemauerten Bett, das mußte die Spree sein, und da war eine Brücke wie eine langgestreckte Feierlichkeit. Sie fanden in der Nähe eines Parks das Ausstellungsgelände in Treptow, feine Villen aus der Kaiserzeit am Rande, Protz und Prunk und Stuck, Säulen und Erker an einer gewaltigen Ausfallstraße, die unter hohen Bäumen dicht befahren war. Alles war riesig, alles war steinern und auf dem Ausstellungsgelände ein Menschengewimmel, in das man sich stürzte wie in einen Fluß. Auch die schönen Zweisitzer auf einer spiegelnden Fläche, von denen sie gehört hatten, fanden sie rasch, die neuen Fahrzeuge, die vielleicht die Karussells ersetzen würden. Ausladende Kotflügel, ein Blech, so blank gewienert wie an keinem Auto auf der Straße. Die Stangen knisterten, Funken stoben, die Fahrgäste schrien vor Vergnügen, und da war schon eines in das andere geknallt. Der Fahrer, ein vielleicht sechzehnjähriges Jüngelchen, setzte das Auto zurück, dabei stieß er an ein anderes, ein Mädchen darin kreischte auf, der Fahrer hatte die rechte Hand lässig am Steuer. Trug er auch Handschuhe? Jetzt wechselte er, hielt das Steuer mit der linken Hand und mit dem rechten Arm das Mädchen umfaßt. Alfons und Laurenz staunten die Wagen an, die Funken, die oben aus den Leitungen sprangen, die selbstbewußten Fahrer, sahen, wie sich die Leute an der Kasse drängten. Das war offenkundig ein gutes Geschäft, den Zuschauern fielen die Augen aus dem Kopf. Sie schauten und schauten, ahnten, wie die Mechanik funktionierte, grübelten. Dagegen schauten Alfons und Laurenz sachlicher als sie, eben fachmännisch, schätzten, wie lange es dauerte, bis die Anlage aufgebaut wäre, wie viel Leute man dazu brauchte, wie viel eine Fahrt kosten mußte. Sie träumten und malten sich ein bewegliches Luftschloß aus. Alfons war gut im Kopfrechnen, und wenn die Anlage zu teuer wäre, brauchten sie eben einen Compagnon, der würde sich finden. Henni könnte einsteigen, dann könnten sie das Geschäft bis an den Niederrhein erweitern. Danach tranken sie ein Bier, aßen Würstchen mit Senf, es schmeckte alles. Sie schauten sich auch noch die Schiffschaukeln an, höher und weiter als jemals, sie stiegen aus Spaß ins Riesenrad und sahen weit über die Stadt. Ihr seht bis zum Alex, hatte der Bursche im Kassenhäuschen beteuert, oder auch das Schloß, aber so sehr sie sich auch anstrengten, sie sahen den Alexanderplatz nicht. Und das Schloß war zu niedrig oder zu versteckt im Spreebogen, sie erkannten es nicht. Auf der anderen Seite der Spree sahen sie ein riesiges Ausbesserungswerk für Eisenbahnen. Sie sahen Lokomotiven vor einem Lokschuppen, Schienen, Eisenbahnwaggons, Güterwagen, alles sahen sie aus der Höhe, jedenfalls meinten sie, es zu sehen. Und als das Riesenrad wieder stillstand, hatten sie unbändig viel gesehen und waren glücklich. Schon jetzt würden sie tagelang zuhause zu erzählen haben.
MEINVATER erzählte nichts, er grummelte manchmal, er seufzte. Wie schwer er es hatte, war seinem Seufzen zu entnehmen. Wie schwer er es hatte, während er an seinem Schnurrbart nagte. Den hatte er dann bald abgenommen, er paßte nicht mehr in die neue Zeit. Nur Hitler hatte noch oder wieder einen Schnurrbart, aber daran konnte sich ein Polizist nicht orientieren. MEINVATER fraß sich durch einen Berg von Protokollen, er fraß sich durch einen Berg von Verordnungen. Er fraß sich durch einen Teller mit Sauerkraut, am Rand zwei pralle Würste, die er an einem Ende ausdrückte wie Zahnpastatuben. Die Blutwurstmasse quoll heraus, mischte sich dunkelschwarzrot mit dem Kraut, die Flüssigkeit des Krauts lappte in die Blutwurstmasse. MEINVATER fraß sich durch alles, was ich mir ausdachte. MEINVATER war gezwungen, sich durch alles zu fressen, was ich ihm schreibend vorsetzte. Blutwurst oder Rührei, Beförderungen oder Versetzungen. MEINVATER kratzte mit der Gabel über den Teller, und das Unschöne, Unappetitliche war unsichtbar. Sie brauchen keine Angst zu haben, sagte MEINVATER. Ob er bei diesem Satz noch einen Schnurrbart trug, ob er glattrasiert war, weiß ich nicht. Auch nicht, ob er meine Mutter schon kannte, eher nicht. Ich zögere: Höchst wahrscheinlich, allem Anschein nach, aber ich kann mich auch irren. Ich kann niemanden fragen. Auch MEINVATER fragte mich nichts. Wie geht es dir, mein Junge? Ich hörte es nicht. Ich hörte ein Brausen in der Luft. Ich hörte die Stare, die sich sammelten. Ich hörte MEINENVATER im Bad mit einem Mundwasser gurgeln. Eine alberne Vorsorge. Die Zähne faulen, das Zahnfleisch zieht sich blutig zurück. Wie geht es dir, mein Junge? Zu dem, den er vernehmen muß, sagt er: Hab keine Angst. Es ist, als würde ein Pakt geschlossen, aber es ist ein Trick. Zusammen snd sie ein Paar, der Vernehmende und der Vernommene, der Verhörende und der, der die Sätze MEINESVATERS nicht mehr hört. Er ist benommen, er ist schon so lange vernommen worden, die Verhörlampe blendet ihn, der Lichtstrahl mitten im Gesicht. Dann kommen andere, die MEINENVATER ablösen. Sie sind ausgeruht, sie sind herumgegangen in der frischen Luft, jetzt atmen sie die gleiche Luft wie der zu Verhörende, die dünne, stickige Luft der Angst, die Luft, die im Zimmer steht wie eine nasse Wolke. Öffnete man das Fenster, könnte der Delinquent hinausspringen, das hat man alles schon erlebt. Bei mir gäbe es das nicht, sagt MEINVATER, und seine Kollegen lachen. Bei dir, bei dir, gib ein Bier aus bei dir! Dann lacht auch MEINVATER. Beim Verhör hat es nichts zu lachen gegeben.
Am nächsten Tag fuhren Alfons und Laurenz wieder zum Ausstellungsgelände in Treptow, jetzt kannten sie sich schon ein bißchen aus, steuerten zu den kleinen Autos, die mit Karacho aneinanderstießen, und fragten nach dem Hersteller. Am Rande des Ausstellungsgeländes waren behelfsmäßige Buden errichtet worden. Ein dicker Mann, dem die Hosenträger ins Fleisch schnitten, saß am Schreibtisch und schwitzte. Sie sagten ihre Namen und daß sie aus Trier kämen und daß sie Schausteller seien, vom Fach, und sie winkten sogar mit ihren Fachbesucher-Ausweisen. Sie redeten ein bißchen drumherum, versuchten ihr Interesse hinter harmlosen Fragen zu verbergen, aber innerlich glühten sie vor Eifer, erst recht, als sie dann von den Blechautos sprachen, den Oberleitungen, aus denen die Funken sprangen. Der Mann sah auf, Schweißperlen auf seiner Stirn, eine rutschte dabei an der Nase entlang, der Mann wischte sie nicht weg. Die Hitze staute sich in der Bude. Die Autoscooter? Ich verkaufe nicht. Aber das ist doch eine Verkaufsmesse. Ich verkaufe nicht, sagte der Mann noch einmal, nicht an Zigeuner. Das war eine schallende Ohrfeige, aber Alfons nahm sich zusammen, als wäre nichts geschehen. Er zählte auf, was für Erfahrungen er mit welchen Karussells gesammelt hatte, sprach von seinen Einnahmen, dem gut gehenden Geschäft, den Auftrittsorten, bis in den Hunsrück, bis in die Eifel, bis kurz vor Koblenz und an der Ahr, sprach von der Vergnügungssucht im Rheinland. Aber der Mann sah an ihm vorbei, sah auch Laurenz nicht an, wedelte nur mit der Hand. Ob er sich kühle Luft zufächelte, ob er eine lästige Fliege vertreiben wollte oder sich mit den beiden Kaufwilligen schon zu lange abgegeben hatte, war nicht klar. Es ist doch eine Verkaufsmesse, sagte Alfons noch einmal. Machen Sie ein Angebot, flehte Laurenz schon fast. Alfons dachte an das schöne Geld für die Ponys, das er versteckt hatte, malte sich den Erfolg aus, wenn er zum ersten Mal mit den Autochen auf einer Kirmes im Rheinland aufträte. Aber der Mann hörte ihn einfach nicht. Jedenfalls tat er so. Noch einmal: Ich verkaufe nicht. Auf Wiedersehen.
Sie standen draußen in der Hitze, sprachlos, fassungslos. Um sich erniedrigen zu lassen, hatten sie nicht die teure und lange Reise nach Berlin unternommen. Ein Kinderkarussell mit Schwänen und Kutschen, auch wenn es Hochzeitskutschen waren, kam nicht in Frage, auch keine neue Wurfbude, davon gab es genug. Sie wollten das Geschäft erweitern. Ein Riesenrad war viel zu aufwendig für die Jahrmärkte, zu denen sie reisten. Wie sollte es transportiert werden, wer sollte es aufbauen in der gewaltigen Höhe? Sie blieben doch nur in kleinen Orten und Städten, nichts Weltbewegendes, und was sollte man da von oben sehen?, lauter Kleinteiliges. Platsch, ihre schöne Hoffnung war auf den Boden gefallen, hart schlug sie auf und zersprang. Ich verkaufe nicht! Nicht an Zigeuner. Zuerst tranken sie ein Bier, sehr schweigsam am Rand der Spree, dann noch eines am S-Bahnhof, da ging es ihnen schon besser. Sie nahmen die erstbeste Bahn, jetzt war es auch egal, wohin sie fuhr, stiegen am Ostkreuz um und landeten am Bahnhof Zoo, Tauentziengewimmel, Kurfürstendammgeklingel, mächtige Prächtigkeit, sie bogen in eine Seitenstraße ein und hörten vertraute Musik. Es war wie ein Klischee, aber doch auch eine Rettung: Dort standen Leute von ihnen, die ihnen zunickten, wo kommt ihr her?, wo geht ihr hin? Sie spielten Geige und hatten etwas verbeulte Blechinstrumente, alles hatte Schwung und Schmiß, und man applaudierte ihnen. Einer von ihnen ging mit dem Hut herum, kassierte, bedankte sich überschwenglich und lud Laurenz und Alfons gleich ein: Ihr bleibt bei uns. So spielten sie in der Meinekestraße und dann vor einem Lokal in der Kantstraße und dann vor dem einzigen chinesischen Restaurant in Berlin, so hieß es jedenfalls. Das Restaurant war rot lackiert und golden, und die Lampions hatte seltsame Troddeln, die im Zugwind baumelten. Die Kellner mit ihren lackschwarzen Haaren und ihren makellosen schwarzen Anzügen spendeten Beifall und dann auch die Gäste, wie auf Zuruf. Hier trauten sich Laurenz und Alfons auch schon, ein Instrument zu übernehmen, damit die Spieler einmal ausruhen konnten. Später hatten die Musiker noch einen Auftritt in einem feinen Lokal, aber erst gegen elf, bloß nicht zu früh. Je später der Abend, um so spendabler die Gäste, hatte der Geschäftsführer zu verstehen gegeben. Es war schön, so herumzuziehen in der großen Stadt und sich gleichzeitig aufgehoben zu fühlen bei den eigenen Leuten. Ihr bleibt bei uns. Das wollten sie, und es machte richtig Spaß.
So zogen sie am anderen Tag noch einmal durch ein paar Straßen. Hier und dort wurden auch Geldstücke von den Balkonen geworfen, manche waren in Zeitungspapier eingewickelt, damit sie nicht davonrollten. Man mußte sich nur bücken. Das Geld, das sie einnahmen und das später zu teilen war, klimperte in den Taschen, nach dem Auftritt würden sie gemeinsam essen und in Ruhe miteinander trinken und erzählen. Es war umwerfend, nach der Niederlage auf dem Ausstellungsgelände so warm und herzlich aufgenommen zu werden. Das Musizieren war Arbeit und gleichzeitig Freude.
Plötzlich fuhr ein Polizeiauto vor, eine grüne Minna (kein Mensch wußte, warum man sie so nannte). Die Polizisten sprangen heraus, vier Mann, rannten auf sie zu, umringten die Kapelle: Alle stehenbleiben und sich ausweisen! Natürlich hatten Laurenz und Alfons ihre Ausweise und ihre Rückfahrkarten mit. Und sie zeigten sie im Bewußtsein, daß sie sich nichts hatten zuschulden kommen lassen. Nun ja, vielleicht war die Musik ein bißchen laut gewesen, aber so kleinlich konnte man doch in einer großen Stadt nicht sein. Vielleicht hatte der eine oder der andere Musiker seinen Ausweis nicht dabei, was machte das? Er würde sich später ausweisen. Doch die Polizisten beharrten darauf: Alle mußten ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz, einem düsteren, großmächtigen Gebäude, dort würde man weitersehen. Da saßen sie auf einer Armesünderbank, die Blasinstrumente wie Schutzschilde vor sich, nur die Geige steckte in einem Kasten.
Sie waren kleinlaut und leise, geduckt leise, und sahen sich nur verstohlen von der Seite an. Sie hatten doch nichts verbrochen. Einer nach dem anderen wurde in der Wachstube aufgerufen, mußte seine Personalien nennen, den Geburtsort, das Geburtsdatum, die Adresse, die sofort überprüft wurde. Das Personenstandsregister, ein Berliner Adressbuch, alles war vorhanden im Polizeipräsidium. Wehe, jemand hatte keine feste Adresse, dann wurde er angeschrien. Als Alfons an der Reihe war, legte er gleich seinen Ausweis vor. Es müsse sich um ein Mißverständnis handeln, er und sein Schwager seien doch nur wegen der schönen Musik auf der Straße stehengeblieben, das könne doch nicht verboten sein. Aber der Polizist hörte überhaupt nicht zu. Das kannte Alfons schon von dem schwitzenden Mann im Ausstellungsgelände. Auf dem großen Bahnhof und auf den S-Bahnhöfen hatte man Laurenz und ihm doch freundlich Auskunft gegeben. Also, Sie haben keinen Wohnsitz in Berlin? Nein, in Trier. Das werden wir nachprüfen. Es klang drohend. Der ganze Musikertrupp mit Alfons und Laurenz wurde in einen anderen Raum geführt. Geradeaus in die Kamera blickend, gezwungenermaßen in die Kamera blickend, und von rechts und links im Profil wurden sie photographiert. Einer nach dem anderen, im Genick eine Stütze wie beim Friseur, nur ungepolstert. Lauter finstere, fassungslose Gesichter, die mit ihren wirklichen Gesichtern nur entfernt verwandt waren. Dann ging es wieder in einen anderen Raum, und ihre Finger wurden in Stempelkissen gedrückt und auf Bögen abgerollt, schön gleichmäßig, sagten sie. Für jeden der zehn Finger gab es ein vorgezeichnetes Feld. Die Kriminalbeamten faßten sie grob an, knallten die Fingerkuppen in die Farben, und so standen sie da mit ihren schwarzen Fingerkuppen. Als wäre der Polizei eine vorbeugende Maßnahme gegen das erbitterte Ballen der Fäuste gelungen. Nicht einmal im Zorn konnte man sie in der Tasche ballen, ohne sich zu beschmutzen. Es war eine systematische Fabrikation von Verbrechern. Und als einer der Musiker aufzubegehren wagte, zeigte der Beamte, der die Fingerabdrücke nahm, auf ein Blatt mit dem Runderlaß betreffend die Bekämpfung der Zigeunerplage. Er war am 6. Juni 1936 in Kraft getreten. Man sagte ihnen, in ganz Preußen gebe es einen Landfahndungsplan nach Zigeunern.
Das war am 16. Juli 1936, ein Abreißkalender hing im Raum. Inzwischen kamen mehr und mehr Festgenommene ins Präsidium, manche schrien vor Empörung, andere waren bleich und stumm. Es war nicht das erste Unheil, das ihnen widerfuhr. Alfons dachte an Lucie und die Kinder und hatte Angst um sie. Laurenz und er hielten sich nah beieinander, damit sie sich gegenseitig nicht verloren. Die Nacht verbrachten sie in einer Zelle, immer zwölf Mann, die abgezählt wurden wie die Schafe, und dann wurde zugeschlossen. Essen gab es nicht oder doch etwas, das diesen Namen nicht verdiente, Fraß, den man hinunterwürgen mußte, und nur einen dünnen Tee aus einer Blechkanne, um den sich alle rissen. Am Morgen wurden sie aus dem Präsidium herausgeführt, da standen zu ihrer Überraschung eine Menge Wohnwagen mit ihren Bewohnern vor der Tür, Polizisten bewachten sie. Die Festgenommenen pferchten sie in die Wagen zu anderen Sinti, die auf Rastplätzen verhafteten worden waren. Die Wohnwagen wurden auf Tieflader gehoben, einer nach dem anderen schwankte bedenklich in der Luft. Ob ein Wagen dabei beschädigt wurde, interessierte niemandem. Und dann ging es quer durch die Stadt. Jetzt wollte Alfons nichts mehr von ihr sehen, starr saß er neben Laurenz, und eine Frau schrie ihnen gellend in die Ohren: Jetzt, gerade vor der Olympiade, soll Berlin herausgeputzt werden. Sie, die Zigeuner, störten doch nur, Berlin soll weiß und rein arisch und aufgeräumt sein für die internationalen Gäste, die auch nicht alle weiß und arisch und aufgeräumt sind, das würde man schon noch sehen. Aber vielleicht waren die Olympischen Spiele nur ein Vorwand, ein Vorausleuchten, ein greller Blitz, der sofort verschwunden sein würde, kein Donner folgte. Die Tieflader fuhren nach Osten, immer weiter aus der Stadt hinaus. Sie sahen ein Umspannwerk, Fabrikgebäude, eine Brauerei, Höfe, in denen gehämmert und geschweißt wurde, Arbeiter und Arbeiterinnen, die aus den Werktoren kamen, und Kinder, so viele Kinder, die auf den Trottoirs spielten und dem Transport nachsahen.
Alle Wohnwagen wurden auf die offenen Waggons eines Güterzugs gehoben, eine schwankende, gefährliche Angelegenheit, fest vertäut, und die Berliner im Zug wußten gleich: Es ist die Wriezener Strecke, man bringt uns weg, vielleicht weit weg. Sie begannen zu brüllen, zu wüten, rüttelten an den Waggons. Es war eine Welle, die alle mitriß. Wriezen lag fast an der Oder. Die Häuser waren jetzt niedriger als in der Mitte der Stadt, bucklige, ärmliche Quartiere. Schließlich hielt der Zug an einem elenden Bahnhof. O Gott, Marzahn, rief die Frau, die so theatralisch geschrien hatte, was sollen wir denn hier? Ein geducktes Dorf mit einem Anger in der Mitte, auf dem eine Ziegelkirche thronte, Kühe auf den Wiesen und Rübenfelder, so weit das Auge reichte. Die Kirche war der einzige Punkt, an den man sich halten konnte. Schon am Bahnhof standen Leute, die sie mit offenen Mündern anstarrten, so viele Ankömmlinge auf einen Schlag hatte es noch nie hier gegeben. Es war ein Zug von sechshundert Leuten, die aus den Waggons stiegen, sechshundert Leute, die vom Bahnhof aus an der Bahnstrecke entlang auf ein Gelände getrieben wurden, auf dem sie warten mußten, bis die Wagen aufgestellt und numeriert waren. Und es gab außerdem Wagen in Reih und Glied, die vom Reichsarbeitsdienst als unbewohnbar ausgeschieden worden waren. Manche der Zusammengetriebenen fanden keinen Platz, sie richteten sich unter den Wohnwagen ein, erbaten sich Planen und Decken als Schutz vor Wind und Regen.
Ein Gelände, das schon von weitem stank und nun, da sie es erreicht hatten, um so mehr. Ein Gelände, auf dem die Abwässer über Reisigbündel liefen, um gereinigt zu werden; es waren Rieselfelder. Vielleicht wurden sie auch gereinigt, aber der Gestank blieb in der Luft, verpestete alles. Man konnte sich vor ihm nicht schützen. Und da waren sie mit gesunden, empfindlichen Nasen. Es nützte nichts, sich ein Tuch vor die Nase zu halten, bald stank das Tuch, bald stanken die Hände, die es hielten, und abends auch die Schuhe, in denen man über den unbefestigten Platz gelatscht war. Es wäre zu weit gegangen, wenn man behauptete, wie es später ab und zu geschah, die Rieselfelder berührten ein kulturelles Tabu der Sinti und Roma: Sie lagerten niemals in der Nähe von Abwässern. Kein Mensch hätte dort bleiben wollen. Aber da waren sie, im Kargen, im Dürftigen, im Stinkenden. Die Bauern konnten in der Nähe Felder pachten, sie bauten verschiedene Gemüse an, die dann in der Central-Markthalle verkauft wurden. Wurde es denn gut gewaschen, wer wußte das? Ahnten die Käufer, woher die Kräuter, die Kohlköpfe, die Radieschen kamen, oder stank es noch auf dem Alexanderplatz? Mal beklagten sich die Bauern darüber, daß die Felder zu naß seien, mal darüber, daß viel zu wenig Abwässer auf ihre Felder rieselten, so daß die Felder austrockneten. Je nachdem wie der Wind wehte, war das schwierig zu kontrollieren, auch auf dem Gelände. Es gab im Lager nur drei Wasserhähne und zwei Toiletten, die sofort umlagert waren und bald verdreckt. Sechshundert ausgesetzte, aus ihrer gewohnten Umgebung gerissene Menschen. Kaum waren sie da, kamen Kinder und Jugendliche aus Marzahn und gafften sie an: die vielen, die herumwuselten, die schreienden Kinder, der Kampf um frisches Wasser, um Nahrung, die überbelegten Wagen, in denen es nicht die geringste Privatheit gab, was eine Zeitung dazu veranlaßte, einen Bericht über Berlin ohne Zigeuner zu drucken, und eine andere einen über Das Ende der Zigeunerherrlichkeit. Triumphierend hieß es, daß die Zigeuner jetzt eine härtere und zupackendere Hand zu spüren bekämen. Aber das las natürlich niemand auf dem Platz. Einer der Musiker sagte zu Laurenz und Alfons: Ihr kommt zu uns. Und so hatten sie eine Ersatzfamilie, die zusammenrückte, die nur noch hatte, was zu retten gewesen war, und viel Hilflosigkeit und viele Kinder, die sich sofort an die beiden Fremden hängten, Kinder mit Schnupfnasen und schmutzigen Fingern, liebe Kinder mit strahlenden Augen. Und Alfons spürte die Sehnsucht nach Lucie und den eigenen Kindern als einen stechenden Schmerz. Es gelang ihm, das Lager zu verlassen und im Dorf eine Postkarte zu ergattern, auch eine Briefmarke dazu. Er schrieb Lucie, er sei aufgehalten worden, so ungefähr schrieb er nur, er fürchtete sich, den Grund des Aufgehaltenseins zu benennen. Und daß er sich bald wieder melde. Und sie möge die Kinder von ihm küssen.
Marzahn war ein Mühlenort, aber vielen der Mühlen ging es schlecht. Nur eine Windturbine stand sehr groß und aufrecht und knatterte. Es war eine Versuchsanlage der Reichsarbeitsgemeinschaft Windkraft, die später, als man sich für ganz andere Einrichtungen interessieren mußte, als das erste Bodenwindkraftwerk in Deutschland galt. Es speiste mittels eines Asynchrongenerators Drehstrom in das Drehstromnetz, polternd und knatternd. Es gab eine Schlächterei und eine Kohlenhandlung in Marzahn und neue Erbhöfe nach dem Reichserbhofgesetz. Diese Bauern hatten nachgewiesen, daß sie weder geistesschwach, geisteskrank, trunksüchtig noch unfähig waren, mit Geld umzugehen. Außerdem: daß ihre Familien bis ins Jahr 1800 rein arisch waren. Dafür waren ihre Höfe entschuldet worden. Die Viehhändler, die häufig jüdisch waren, die den Bauern das Geld stundeten, hatten das Nachsehen. Als Gegenleistung verbot das Gesetz den Bauern die Erbteilung der Höfe, außerdem durften sie keine Hypotheken aufnehmen. Das waren keine Leute, die die Neuankömmlinge gerne sahen, das waren Leute, die sie vom Hof jagten und den Wachen sofort meldeten, wenn eine Porreestange oder ein paar Möhren auf ihrem Feld fehlten. Immer waren sie sicher: Die aus dem Lager hatten geklaut, nachweisen mußte man das nicht; der schlechte Ruf genügte. Der Platz war nicht abgeriegelt, er war noch nicht fertig, später wurde er mit Stacheldraht eingezäunt, ein Ghetto, in das mehr und mehr Sinti und Roma eingewiesen wurden. Im März 1938 meldeten die städtischen Behörden hundertsiebzig Fälle von Ansteckungskrankheiten im Lager.
Die zusammengetriebenen Sinti und Roma sahen sich plötzlich unter Polizeibewachung. Sie bestand aus einer Einheit der Preußischen Schutzpolizei mit einer Hundestaffel. Alle waren aufgelöst über die Verschleppung, erregt, in heller Aufregung. Und wie kam man wieder frei?, war die große Frage, eine Barriere, hinter der nichts war. MEINVATER, so stelle ich es mir vor, war ein Mitglied der Preußischen Schutzpolizei. Ein Panzer von Grobheit und Schlamperei umgab sie. Eine solche Aufgabe hatten die Männer noch nie gehabt, sie waren unsicher, das spürte man, wenn man nicht selbst unsicher oder verzweifelt war. Sie waren Herren über ein Lager, zusammengeschweißt zu einer Einheit, das befremdete sie, und gleichzeitig genossen sie die Macht, die ihnen verliehen worden war. Sie fragten jeden, der das Lager verlassen wollte, wohin er ginge, sie verbaten jedem Fremden, der das Lager besuchen wollte, es zu betreten. Das war die Vorschrift, MEINVATER folgte ihr.
Wenn sie behaupteten, sie suchten Arbeit in der Nähe, konnten die Männer unter den Festgenommenen das Lager verlassen. Aber es gab keine Arbeit, jedenfalls nicht für sie. Wenn sie zurückkamen, wurden sie durchsucht, ob sie Gegenstände mitgebracht hatten, von denen die Wachleute behaupteten, sie seien gestohlen. Und wie sollte man das Gegenteil beweisen, wenn es Geschenke von Gutmeinenden waren, von Freunden, von früheren Arbeitgebern, die auf sie verzichten mußten? Die Frauen durften im Ortskern von Marzahn einkaufen, aber was sollten sie einkaufen, wenn sie von allen Möglichkeiten, Geld zu verdienen, abgeschnitten waren? Jetzt kamen auch neue Sinti-Familien mit ihren Wagen. Irgendwo hatten sie gehört, daß es in Marzahn einen neuen Rastplatz gab, von dem man nicht vertrieben wurde. Haut ab, haut schleunigst ab, das ist kein Rastplatz, das ist ein Gefängnis unter freiem Himmel, kapiert es doch, hätte man ihnen zurufen müssen. Aber da waren sie schon von den Wachleuten registriert worden, und die Wachleute teilten ihnen einen Platz zu. Auf den Boden wurde mit weißer Farbe eine Nummer gemalt, und auch der Wagen wurde weiß gekennzeichnet. Diejenigen, die schon länger im Lager waren, schüttelten nur den Kopf. Die Familien waren in die Falle gegangen wie Mäuse, die irgendwo Speck vermuteten.
Marzahn war so weit draußen, weit von Berlin, vom Lager bis zum Bahnhof lief man eine gute Viertelstunde an den Gleisen entlang, zum Dorf noch einmal eine Viertelstunde. Und wann ein Zug kam, war auch nicht leicht herauszufinden. Und woher sollte man das Fahrgeld nehmen? Also schwarzfahren und in jedem Augenblick fürchten, erwischt zu werden. Am Bahnhof bog man links ab und ging dann durch die Felder noch einmal eine lange Strecke bis zum Dorf. So war das Einkaufen eher ein Betteln, ein hungriges Schlangestehen, das Mitleid erregte oder Zorn: Schert euch weg! Kinder büchsten aus, stahlen Rüben und Kartoffeln auf den Feldern, die nach den Abwässern stanken, und hier und dort fanden sie Grünzeug. Wenn sie zurückkamen mit ihren ausgebeulten Blusen, in denen die Knollen steckten, und einer Handvoll Beeren in der Hosentasche, wurden sie an der Polizeibaracke angehalten. Sie mußten die Blusen oder die Hemden öffnen, die Mädchen auch die Röcke heben, so hoch, daß man ihre Unterhosen sah, und die Kartoffeln rollten heraus. Die Mädchen waren zur Schamhaftigkeit erzogen, es war ihnen peinlich. Den Kindern wurde Angst eingejagt: Wenn ihr so weitermacht, kommen eure Eltern und ihr ins KZ. Die Kinder wußten nicht, ob sie den Eltern von der Drohung berichten sollten, ihre Eltern wären schockstarr. Einfach vergessen konnten sie die Drohung auch nicht. Das eine war so schlecht wie das andere.