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Ein wichtiger und hochaktueller Beitrag zur Debatte über den Zustand unserer Demokratie
Querdenker, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, Journalisten, die sich als Rebellen gegen angebliche Sprechverbote inszenieren: Die Spätmoderne bringt einen Protesttypus hervor, der lautstark für individuelle Freiheiten streitet, etwa frei zu sein von Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Zwängen – und frei von gesellschaftlicher Solidarität. Dieser »libertäre Autoritäre« erlebt sich als zunehmend macht- und einflusslos gegenüber einer komplexer werdenden Welt. Das wird als Kränkung erfahren und äußert sich in Ressentiment und Demokratiefeindlichkeit.
Auf der Grundlage zahlreicher Fallstudien verleihen Amlinger und Nachtwey dieser Sozialfigur Kontur. Sie erläutern die sozialen Gründe, die zu einem Wandel des autoritären Charakters führten, wie ihn noch die Kritische Theorie sich dachte.
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Seitenzahl: 630
Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey
Gekränkte Freiheit
Aspekte des libertären Autoritarismus
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2022.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978-3-518-77380-2
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Freiheitskonflikte
Libertärer Autoritarismus
Zum Aufbau des Buches
1. Aporien der Aufklärung: Kritische Theorie der Freiheit
Kritik der Freiheit
Freiheit in der Kritischen Theorie
Liberalismus und Autoritarismus
2. Freiheit in Abhängigkeit: Dialektik der Individualisierung
Geburt des Individuums
Negative Individualisierung
Paradoxien der Emanzipation
Verdinglichte Freiheit
3. Ordnung der Unordnung: Gesellschaftlicher Wandel und regressive Modernisierung
Die Tücken des normativen Fortschritts
Wissenskränkungen
Demokratie und Gegen-Demokratie
Gegen-Epistemologie
Paternalistische Gouvernementalität
4. Soziale Kränkung: Zum sozialen Charakter aversiver Gefühle
Konturen sozialer Kränkung
Phänomenologie aversiver Gefühle
Ausweitung der Kränkungszone
Imaginäre Anwesenheit des Narzissmus
5. Libertärer Autoritarismus: Eine Bewegung der verdinglichten Freiheit
Libertär-autoritäre Charakterstruktur
Figuren des libertären Autoritarismus
Soziale Räume verletzter Selbstbehauptung
Anstöße zum Driften
6. Sturz der Wahrheitssuchenden: Gefallene Intellektuelle
Bröckelnde Fundamente
Verdrehte Freiheitskämpfe
Exkurs: Sloterdijks Meditationen
Intellektuelle Querfronten
Überschießender Zweifel
Nostalgischer Aktivismus
Partisanen der Zeichen
Register der Kritik
7. Wiederverzauberung der Welt: Coronaproteste
Pandemische Freiheitskonflikte und die Geburt einer Bewegung
Die Gestalt der Querdenken-Bewegung
Epistemischer Widerstand
Verschwörungsspiritualität
Libertär-autoritäre Gegengemeinschaften
8. Subversion als destruktives Prinzip: Regressive Rebellen
Engagement und Entfremdung
Moralische Verurteilung und exkludierende Kritik
Autoritäre Innovatoren
Regressive Rebellen
Schluss
Staatskritik und die Paradoxien des Fortschritts
Die kommenden Wahrheitskonflikte
Soziale Freiheit und Demokratie
Anmerkungen
Einleitung
1. Aporien der Aufklärung: Kritische Theorie der Freiheit
2. Freiheit in Abhängigkeit: Dialektik der Individualisierung
3. Ordnung der Unordnung: Gesellschaftlicher Wandel und regressive Modernisierung
4. Soziale Kränkung: Zum sozialen Charakter aversiver Gefühle
5. Libertärer Autoritarismus: Eine Bewegung der verdinglichten Freiheit
6. Sturz der Wahrheitssuchenden: Gefallene Intellektuelle
7. Wiederverzauberung der Welt: Coronaproteste
8. Subversion als destruktives Prinzip: Regressive Rebellen
Schluss
Literatur
Dank
Sachregister
Informationen zum Buch
Meine Freiheit muss noch lang' nicht deine Freiheit sein. Meine Freiheit: ja! Deine Freiheit: nein! Meine Freiheit wird von der Verfassung garantiert, Deine hat bis jetzt nicht interessiert.
Barbara Peters/Georg Kreisler, »Meine Freiheit, deine Freiheit« (1985)
Die alte Schulfreundin, der Kollege, das Familienmitglied, die neuerdings davon raunen, dass sie ihre Freiheit bedroht sehen – die meisten von uns können wohl von solchen Begegnungen berichten. Die Gespräche mit ihnen haben sich verändert. Wir vermeiden bestimmte Themen, weil wir wissen, dass sie auf einen rutschigen Abhang argumentativer Eskalation führen können. Manchmal löst sich ein Gesprächsfaden, im schlimmsten Fall eine alte Beziehung auf. Kinder entfremden sich von ihren Eltern. Sie brechen sogar den Kontakt ab, da sie es nicht länger aushalten, Zeug:innen einer fortschreitenden Radikalisierung zu werden.
Oft handelt es sich bei den entsprechenden Personen um Menschen, die sich selbst als aufgeklärt und liberal beschreiben und die nicht selten über eine umfassende Bildung verfügen. Ihre Sorge gilt nicht autoritären Populisten, weder Donald Trump noch Wladimir Putin, und auch nicht rechtspopulistischen Parteien wie der AfD. Sie wähnen sich eingeschnürt von einer Vielzahl von Regeln, Vorschriften und Verboten. Diese ersonnen habe der »Mainstream« oder neuerdings die »Woken«. Sie sehen sich als Opfer eines sinistren Establishments, in dem Liberale und Linke, Wissenschaft und globale Unternehmen einen Totalitarismus ungekannten Ausmaßes vorbereiten.
Wir (und unsere Mitarbeiter:innen in den entsprechenden Projekten) haben mit einer Reihe von Menschen gesprochen, die auf die eine oder andere Weise ins Driften gekommen sind. Unsere Forschung beruht auf mehr als sechzig Interviews mit Personen aus der Querdenken-Szene (45) sowie zivilgesellschaftlich aktiven AfD-Anhänger:innen (16). Viele der Begegnungen gingen uns noch lange nach. Meistens erschienen uns die Gesprächspartner:innen im ersten Moment gar nicht als die aggressiven Charaktere, als die sich einige schließlich entpuppten. Wir lernten sie als freundliche, ja sogar herzliche Menschen kennen. Allerdings wirkten sie auf uns eigentümlich verstimmt und enttäuscht von der Welt – gekränkt. Im Laufe der Gespräche tauchten neue Facetten ihrer Persönlichkeit auf, vor allem radikale und autoritäre. Sie ließen ihrer Wut freien Lauf, wahrscheinlich auch, weil wir ihnen in unserer Rolle als soziologische Beobachter:innen nicht widersprachen, sondern zuhörten, zuweilen nachfragten.
Da war etwa Herr Rudolph, ein verarmter Fabrikantensohn, der für das Interview extra Kuchenteilchen geholt hatte. Auch Kaffee stand bereit, eine Kanne mit, eine Kanne ohne Koffein. Ein Grüner der ersten Stunde, ein Kosmopolit, der viele Teile des Globus bereist hat, schilderte er eine bewegte Lebensgeschichte voller Einsatz für die gute Sache. Rudolph hat sich für seine Familie aufgeopfert, aber niemand hat es ihm gedankt. An seinem Küchentisch, an dem er nun höflich und zuvorkommend Kaffee einschenkt, habe schon »die halbe Welt« gesessen. Heute gerät er jedoch in Rage, wenn er von der »Überfremdung« seiner Heimat berichtet. Er ist nicht mehr zu bremsen, es wird beklemmend, als er von seinen Rachefantasien gegenüber jenen spricht, die er verantwortlich macht für die Malaise.
Frau Weber hingegen wünscht sich eine Welt, in der es harmonisch zugeht. Sie meditiert für den Weltfrieden und gibt Kurse in dieser Technik. Für sie zählen menschliche Nähe, Kontakte, Berührungen – und all das werde Kindern in der Coronapandemie vorenthalten. Niemand würde das thematisieren, erst recht nicht die »gleichgeschalteten« Medien. Im Staat sei etwas faul, da stimme etwas grundsätzlich nicht. Mit dem Umstand, dass Rechtsextreme auf den von ihr besuchten Demonstrationen mitlaufen, hat sie kein Problem.
Während sich Frau Weber mehrfach entschuldigt, dass sie nicht konsequent gendere, ist der Genderstern für andere zum Symbol einer heraufziehenden Unfreiheit geworden. Einige Intellektuelle sind der Ansicht, es sei kaum noch möglich, vom »Mainstream« abweichende Positionen zu vertreten. Sie warnen vor einer Meinungsdiktatur. Einst hingen sie subversiven Theorien an und traten für die emanzipatorische Überwindung der bestehenden Ordnung ein. Jetzt kämpfen sie für eine nostalgische »Retrotopie« (Zygmunt Bauman), in der alles so werden soll, wie es einmal war. Sie tigern mit dem heißen Atem des Ressentiments durch die Talkshows, wo sie vor einem Millionenpublikum erklären, dass sie mundtot gemacht werden sollen.
In vielen Auseinandersetzungen der Gegenwart kommt irgendwann der Punkt, an dem jemand auf das Recht der individuellen Freiheit pocht. Doch was hier verteidigt wird, ist ein anderer Freiheitsbegriff als der, den sich das aufstrebende Bürgertum und die Arbeiterbewegung einst auf die Fahnen geschrieben hatten. Der Ruf nach Freiheit richtete sich damals gegen die absolutistische Monarchie, gegen feudale Abhängigkeiten, die Herrschaft der Kirche und der Zünfte, gegen die staatliche Zensur. Der Begriff der Freiheit war verbunden mit der Forderung nach gleichen Bürgerrechten, etwa nach Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Wahlrecht. Heute sind die Freiheitsrechte, die einen Schutz vor staatlicher Willkür bedeuten, weitgehend realisiert.
Aber nur, weil wir im Prinzip von staatlicher Willkür frei sind, steht es uns noch lange nicht frei, alles zu tun, wonach uns gerade ist. Der soziale Aufstieg bleibt vielen verwehrt, weil die ökonomische Macht nach wie vor höchst ungleich verteilt ist (manche, wir etwa, sprechen deshalb von einer Klassengesellschaft). Wir müssen bei Rot an der Ampel halten, Steuern zahlen und als Kinder zur Schule gehen. Es gibt also in jeder Gesellschaft Regeln, die die Freiheit einschränken. Regeln, die einen offiziellen und formellen Charakter haben und vom Staat durchgesetzt werden, beispielsweise die Straßenverkehrsordnung. Es gibt auch Normen, die eher informeller Natur sind: Wenn eine ältere Person Sie bittet, ihr beim Überqueren der Straße zu helfen, müssen Sie das nicht tun und können weiter Ihres Weges ziehen. Sie können auch einen Döner im vollbesetzten Zugabteil verspeisen, wenn Ihnen die entgeisterten Blicke der Mitreisenden nichts ausmachen.
In der Gegenwart wird oftmals ein libertäres Freiheitsverständnis sichtbar, das gewandelte gesellschaftliche Übereinkünfte als äußere Beschränkungen betrachtet, die die eigene Selbstverwirklichung auf illegitime Weise eingrenzen. Die Anhänger:innen eines solchen Verständnisses empfinden das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder gendersensible Sprachkonventionen als Blockade, die sie in ihrer Entfaltung hemmt. Manche gehen sogar noch weiter und richten sich auch gegen die Voraussetzungen, die Freiheit ermöglichen. Sie wollen keine (oder nur sehr niedrige) Steuern bezahlen, fahren aber selbstverständlich auf den Straßen, die aus Steuermitteln finanziert werden. Sie ignorieren, dass medizinische Spitzenforschung ohne staatliche Gelder nicht denkbar wäre und dass Bildung in öffentlichen Schulen die Grundlage individueller Selbstentfaltung ist.
In heutigen Freiheitskonflikten kulminiert eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten angedeutet hat. Sichtbar wird sie mit der Rückkehr des intervenierenden Staates, der das individuelle Handeln einschneidend limitiert. Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat. Ihre zuweilen frivole Subversion und die rabiate Ablehnung anderer Ansichten zeugen jedoch zugleich von autoritären Einstellungen. Sie verneinen die Solidarität mit vulnerablen Gruppen, sind verbal martialisch und hoch aggressiv gegen jene, die sie als die Verursacher von Einschränkungen ihrer Freiheit identifizieren. Sie tragen rechte Verschwörungstheorien vor, aber den Vorwurf, rechts zu sein, weisen sie entschieden von sich. Dieser Autoritarismus, der auf der unbedingten Autonomie des Individuums beharrt, ist ein Symptom dafür, dass die etablierten politischen Koordinaten in Unordnung geraten sind. Was steckt hinter diesem Wandel? Waren solche Menschen schon immer autoritär, und war uns das nur nicht bewusst? Oder haben sie eine plötzliche biografische Wende vollzogen?
Auch wir werden diese Fragen nicht endgültig klären können, präsentieren in diesem Buch aber Anhaltspunkte dafür, dass die Ursachen in der historischen Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften zu finden sind. In diesem Sinne betrachten wir den libertären Autoritarismus nicht als irrationale Bewegung gegen, sondern als Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften. Ihr Versprechen der individuellen Selbstverwirklichung birgt ein Kränkungspotenzial, das in Frustration und Ressentiment umschlagen kann. Die Menschen, denen wir begegnet sind, verteidigen die Freiheit, ihre Freiheit – doch dies auf eine merkwürdig apodiktische, ja geradezu autoritäre Weise. Wir verstehen diesen libertären Autoritarismus als Symptom einer individualistischen Freiheitsidee, in der gesellschaftliche Abhängigkeiten abgewehrt werden. Freiheit ist in dieser Perspektive kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern ein persönlicher Besitzstand. Der libertär-autoritäre Protest richtet sich gegen die spätmoderne Gesellschaft, rebelliert aber im Namen ihrer zentralen Werte: Selbstbestimmung und Souveränität.
Das gilt für den Mann, der gegen staatliche Bevormundung demonstriert; den Rentner, der sich als Personal einer Deutschland GmbH gegängelt sieht; oder die Intellektuellen, deren Skeptizismus in neue Letztbegründungen kippt. Auch gegen äußere Widerstände bleiben sie sich selbst treu und nehmen dafür im Zweifel massive Nachteile wie einen Verlust des Arbeitsplatzes oder eine Isolation vom sozialen Umfeld in Kauf. Sie möchten sich außerdem verstehend mit den Problemen, die sie umgeben, auseinandersetzen. Ob von Berufs wegen oder in ihrer Freizeit, sie wälzen Berge von Büchern oder durchforsten alternative Nachrichtenportale. Übergeordnete Instanzen oder vorgegebenes Wissen betrachten sie mit Skepsis. Doch diese Ansprüche auf Autonomie und Selbstentfaltung lassen sich oft nicht erfüllen. Die Versprechen der spätmodernen Gesellschaft stellen sich für sie als leer heraus. Also entwickeln sie einen Groll gegen jene Personen und Instanzen, denen sie die Verantwortung für ihr Scheitern zuschreiben. Sie wollen die erlittene Kränkung nicht hinnehmen und wehren sich, indem sie in den selbst erklärten Widerstand gehen oder in den sozialen Netzwerken unermüdlich Kommentare gegen ihre Feindbilder posten. Nicht selten zwingt eine Steigerungslogik sie zu immer radikaleren Positionen.
Die libertären Autoritären, die uns in diesem Buch beschäftigen, stehen dem sozialen Wandel bisweilen ohnmächtig gegenüber. Dies heißt im Umkehrschluss keineswegs, dass frustrierende Erfahrungen zwangsläufig anomische oder gar autoritäre Reaktionen hervorrufen. Zudem variieren die Freiheitsgrade in der Verfolgung der eigenen Interessen zwischen Klassen, Schichten und Berufsgruppen stark. Es gibt zweifelsohne gelingende Lebensweisen, sie sind sogar in der Überzahl. Menschen können ihre Ansprüche den verfügbaren Möglichkeiten anpassen. Aber einige verteidigen ihre individuellen Handlungsräume gegen mögliche Einschränkungen mit rabiater Vehemenz. Ein spätmodernes Gefühl der Ohnmacht, das wir als gekränkte Freiheit beschreiben, treibt sie an. Ob sie gegen eine imaginäre Diktatur auf die Straße gehen, ob sie ihren Hang zum Verschwörungsdenken ausleben oder ihr Ressentiment gegen Minderheiten – immer sind sie es, die die Zumutungen der Spätmoderne durchschaut haben. Ihre Energie erschöpft sich praktisch nie, sie sehen sich als Freiheitskämpfer:innen oder als Avantgarde eines neuen Grundsatzkonfliktes.
Mit dem Wandel der Gesellschaft hat sich auch der Autoritarismus verändert.1 Wir betrachten den libertären Autoritarismus als eine Metamorphose des autoritären Charakters, wie die Kritische Theorie ihn im 20. Jahrhundert beschrieb. In den Studien zum autoritären Charakter aus dem Jahr 1950, an denen der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno maßgeblich beteiligt war, wird das autoritäre Syndrom durch eine Kombination verschiedener Merkmale bestimmt: unter anderem die starre Verfolgung konventioneller Werte, die Unterwerfung unter eine idealisierte Autorität, binäres Machtdenken und Überlegenheitsfantasien oder allgemeine Feindseligkeit.2 Wie sich im Verlauf des vorliegenden Buches zeigen wird, sind bei den von uns untersuchten Personengruppen die ersten beiden Eigenschaften nur noch sehr eingeschränkt anzutreffen. Als libertäre Autoritäre sind ihnen Konventionalismus und insbesondere Unterwürfigkeit fremd. Sie weisen somit Ähnlichkeiten mit einem Typus auf, den die Vertreter:innen der Kritischen Theorie schon früh identifiziert, damals aber noch als Randfigur betrachtet hatten. Die autoritären »Rebellen«, wie der Sozialpsychologe Erich Fromm sie 1936 nannte, reagierten, »wo immer sie Autoritäten begegnen, ebenso automatisch auflehnend und rebellisch«.3 Eins waren sie jedoch ganz und gar nicht: libertär. Einem Wert wie »Freiheit« standen sie »gleichgültig gegenüber«.4
Die von uns untersuchten Personen lehnen sich trotzig gegen soziale Konventionen auf, sind beseelt von dem anarchischen Impuls, ihre Anliegen gegen alle äußeren Widerstände durchzusetzen. Dabei entwickeln sie bisweilen eine unermüdliche destruktive Aktivität, die als heroischer Mut, zu sich selbst zu stehen, gewendet wird. Libertär ist ihr Autoritarismus, weil er eine Abwehr gegen jede Form der Einschränkung individuellen Verhaltens darstellt. In ihm wirkt eine negative Freiheitsidee fort, in der sich das Individuum im Gegensatz zur gesellschaftlichen Ordnung verortet. Die libertären Autoritären identifizieren sich nicht mit einer Führerfigur, sondern mit sich, ihrer Autonomie.
Eine autoritäre Rebellion kann in gesellschaftlichen Situationen auftreten, in denen politische Mächte an Legitimation verlieren. Dann also, wenn Autoritätsfiguren das Versprechen, Statthalter ungestillter Bedürfnisse zu sein, nicht mehr glaubhaft vermitteln können. Hier schlägt die Bewunderung der Untergeordneten in Verachtung und Hass um. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit von ihren Kritiker:innen von rechts meist als schwach wahrgenommen: In der Euro-Krise galt sie als zu nachgiebig und zu soft gegenüber südeuropäischen Staaten. Während der Migrationskrise 2015 schalt man sie dafür, »die Grenzen geöffnet« zu haben. Die ihr zur Last gelegte Schwäche steigerte sich nach ihrem Ausspruch »Wir schaffen das!« zum Aufwallen eines keineswegs auf rechte Kreise beschränkten Grolls.
Der Trotz gegen die Autorität resultiert aus der kränkenden Einsicht, dass auch sie mangelhaft und fehlbar ist. Doch selbst wenn es hier zu einer Auflehnung gegen Autoritäten kommt, bleibt die Charakterstruktur wesentlich autoritär. Der libertäre Autoritarismus führt seinen Kampf gegen die falsche Autorität im Namen einer wahren: der Freiheit. Sie wird nun aber nicht länger von einer mächtigen Führerfigur verwirklicht, sondern das Individuum ermächtigt sich selbst. Dabei partizipieren auch die libertären Autoritären an einem binären »Machtdenken«, das die eigene Überlegenheit wie die Schwäche des Gegners zur Schau stellt.5 Während man die Eigengruppe glorifiziert, herrscht »Strafsucht« gegenüber der Fremdgruppe.6 Anders als klassische Autoritäre, die die vermeintliche moralische Schwäche ihrer Gegner herausstellten, genießen es libertäre Autoritäre, die Bigotterie ihrer Kritiker:innen aufzuspießen.
Die Kritische Theorie hatte den autoritären Charakter des 20. Jahrhunderts vor Augen, der unterwürfig gegen Autoritätsfiguren und feindselig gegen Andersdenkende und Minderheiten war. Die libertären Autoritären unserer Gegenwart sehnen sich nicht primär nach traditionalistischen Werten, sie unterwerfen sich auch nicht unkritisch Führerfiguren. Sie nehmen sich als modern und durchaus progressiv wahr, selbst wenn sie von der eigenen Macht und Überlegenheit beseelt sind. Autoritär sind sie insofern, als sie bei den demokratischen Kontrahenten weder plausible Werte noch nachvollziehbare Interessen – mit denen ja ein Kompromiss denkbar wäre – zu erkennen vermögen. Für diese libertären Autoritären kann es keine räsonierende Aushandlung geben, schließlich folgen die anderen stets finsteren Absichten und geheimen Plänen.
Bevor wir uns ausführlich mit dem Charakter und sozialen Ort des libertären Autoritarismus beschäftigen, widmen wir uns im ersten Kapitel, »Aporien der Aufklärung«, dem kritischen Potenzial der Freiheitsidee, und zwar in doppelter Hinsicht: An sie knüpfen einerseits soziale Bewegungen an, die im Namen der Freiheit mobilisieren. Auf der anderen Seite lädt die Norm der Freiheit stets dazu ein, über ihre Widersprüche und Selbstgefährdungen nachzudenken und kritisch zu überprüfen, inwieweit sie in der gesellschaftlichen Realität erfüllt ist. Angesichts des Faschismus und der kapitalistischen Massendemokratien lautete der zentrale Befund der Kritischen Theorie, dass der bürgerlichen Freiheit die Möglichkeit der Regression innewohnt. Die moderne Gesellschaft schaffe zwar materiellen Wohlstand, zugleich beschneide sie aber die Emanzipationsräume der Individuen. Man ging davon aus, dass in den Aporien der modernen Freiheit ein autoritäres Potenzial schlummert.
Das zweite Kapitel, »Freiheit in Abhängigkeit«, spürt diesen Aporien nach und geht zunächst zu den historischen Ursprüngen des modernen Individuums zurück. Die Emanzipation aus feudalen Abhängigkeiten schuf keineswegs wahrhaft selbstbestimmte Menschen, sondern der Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft verband sich mit Ungleichheiten und Differenz. Die Besitzbürger und Kaufleute waren frei, die Arbeiter »doppelt frei«: Sie waren auch frei von Privateigentum und abhängig von der Lohnarbeit. Das spätmoderne Individuum ist heute in seiner Grundkonstitution ambivalent. Es kann zwar sein Leben wie nie zuvor autonom gestalten, ist aber zugleich gesellschaftlichen Zwängen unterworfen. Mit dem Soziologen Ulrich Beck analysieren wir negative Individualisierungen, die den bisherigen Zuwachs an Handlungsspielräumen einschränken.
Das Individuum in Gegenwartsgesellschaften ist leistungsorientiert und passt sich den kompetitiven Gesetzen des kapitalistischen Marktes an, gleichzeitig hat mit dem Aufkommen gegenkultureller Alternativbewegungen nach 1968 die Idee des authentischen Selbst an Wirkmächtigkeit gewonnen. Insbesondere in der Mittelklasse verbindet sich das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung mit dem Drang nach Erfolg und Anerkennung. Eine Verknüpfung, die systematisch Enttäuschungen produziert. Es entsteht eine verdinglichte Freiheit, die als individuelle Eigenschaft und nicht als gesellschaftliches Verhältnis gedacht wird. Erfahrene Abhängigkeiten werden ignoriert, ja sogar geleugnet. Die Affirmation einer solchen rein negativen Freiheit ist eine wesentliche Quelle des libertären Autoritarismus.
Das dritte Kapitel, »Ordnung der Unordnung«, verortet die Zwickmühlen der Individualität in der sozialen und politischen Dynamik spätmoderner Gesellschaften, in denen wir eine regressive Modernisierung am Werk sehen. Darunter verstehen wir Entwicklungen, die durch eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Modernisierung und Gegenmodernisierung charakterisiert sind. Normenwandel und eine gesteigerte Sensibilität gegenüber Diskriminierungen öffnen den politischen Raum, produzieren aber auch Schließungen und neue Konflikte. Wissen wird unter diesen Bedingungen ebenfalls umkämpft: Zwar verfügen Individuen über mehr Bildung und Techniken der Wissensaneignung, paradoxerweise wissen sie aber immer weniger von der Wirklichkeit. Mit der Zunahme globaler Risiken entsteht eine Abhängigkeit vom Wissen Dritter, insbesondere von wissenschaftlicher Expertise.
Auch die Krise der demokratischen Repräsentation kann als eine Folge regressiver Modernisierung verstanden werden. Das politische System wird als abgeschlossen und hermetisch, ja als »postdemokratisch« empfunden (Colin Crouch). Doch auch die herrschaftskritischen Gegenbewegungen tragen mitunter nicht zur Korrektur des Problems bei, sondern verschärfen es zusätzlich. Man artikuliert apodiktisch plebiszitäre Forderungen, hat dabei aber stets die Tendenz, über das Ziel hinauszuschießen. Parallel dazu hat eine Art Gegen-Epistemologie seit den siebziger Jahren den Zweifel an der Moderne und ihren Wissensordnungen popularisiert. Allerdings radikalisierte sich die Kritik auch hier, sie ist zu einem Selbstzweck geworden und richtet sich nun gegen die soziale Realität. In beiden Fällen haben sich progressive Anliegen transformiert und ein neoautoritäres Unbehagen produziert.
Im vierten Kapitel, »Soziale Kränkung«, befassen wir uns mit den affektiven Spannungen und Friktionen, die im Inneren der Individuen durch spätmoderne Dilemmata hervorgerufen werden. Die Individualisierung verlagert gesellschaftliche Konflikte zunehmend in das Selbst. Individuen werden kränkungsanfällig, sie erleben Enttäuschungen und Frustrationen. Daraus können negative Affekte – Scham, Zorn, Groll und Ressentiment – resultieren und sich zunehmend verselbstständigen. Doch was sind die Auslöser, die bei einigen Menschen solch negative Gefühle hervorrufen? Wir sehen hier im Wesentlichen drei Dilemmata: zunächst das Paradox egalitärer Normen, deren Durchsetzung eine gesteigerte Sensibilität für Ungerechtigkeiten nach sich zieht; dann Aspirationsdefizite, die aus der Kluft zwischen einem rechtlich verankerten Sollzustand und seiner mangelhaften Realisierung hervorgehen; und schließlich Zustände gesellschaftlicher Anomie, in denen allgemein anerkannte Ziele (wie etwa Erfolg) Verhaltensweisen begünstigen, die gegen bestimmte soziale Regeln verstoßen. Dabei kann es sich um eine Überidentifikation mit Normen, aber auch um rebellische bis destruktive Praktiken, um überzogenes Erfolgsstreben, Konkurrenzdenken oder Überlegenheitsgefühle handeln. Solche Reaktionen werden seit den Siebzigern mit der Figur des Narzissten verbunden und begegnen uns nun bei den libertären Autoritären wieder. Den Narzissmus, dessen zeitdiagnostische Konjunktur bis heute ungebrochen ist, lesen wir dabei weniger als eine manifeste Zivilisationskrankheit denn als Anzeichen dafür, dass der Imaginationshaushalt spätmoderner Gesellschaften zutiefst verunsichert ist.
Im fünften Kapitel, »Libertärer Autoritarismus«, geht es um die Frage, wie die normative Unordnung zu erklären ist, in der sich das Ideal der Freiheit mit zutiefst illiberalen Ansichten und Praktiken verbindet. Wie ist die Charakterstruktur des libertären Autoritarismus beschaffen? In welchen Figuren tritt er auf, in welchen Verhaltensweisen kommt er zum Ausdruck? Wir greifen hier auf die Überlegung zurück, dass es sich beim libertären Autoritarismus um ein Symptom der verdinglichten Freiheit handelt. Der autoritäre Charakter, wie er von der Kritischen Theorie konzipiert wurde, verändert unter spätmodernen Voraussetzungen seine Form. Wir verstehen den libertär-autoritären Charakter, der sich nicht mehr primär an eine Autoritätsfigur bindet, als eine Nebenfolge der Herausbildung des befreiten und mündigen Individuums, das mit abstrakten Abhängigkeiten konfrontiert ist und sich gegen diese wendet. Der libertäre Autoritarismus ist in diesem Sinne eine demonstrative Geste der Beziehungslosigkeit.
Die Kritische Theorie des Autoritarismus betrachten wir nicht als überholt, wir nehmen jedoch Figuren in den Blick, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur Nebendarsteller waren, heute aber stärker präsent sind: den bereits erwähnten »Rebellen«, der gegen Mächte trotzt, die seine Unabhängigkeit einschränken, sowie den sogenannten »Spinner«, der sich im Verschwörungsdenken verliert und die epistemische Sezession als Mittel der Selbstermächtigung nutzt. Die spätmoderne Ausweitung der Kränkungszone erreicht allerdings nicht alle Sozialräume im gleichen Ausmaß und ist aus unserer Sicht insbesondere in Milieus zu verorten, die eine eher individualistische Werthaltung aufweisen. Unter welchen Bedingungen widersprüchliche, frustrierende Erfahrungen individuell in libertär-autoritäre Einstellungen und Verhaltensweisen kippen können, versuchen wir in diesem Kapitel abschließend anhand verschiedener Szenarien zu ergründen.
Die unterschiedlichen Ausprägungen des libertären Autoritarismus veranschaulichen wir in drei Fallstudien. Im sechsten Kapitel, »Sturz der Wahrheitssuchenden«, untersuchen wir, auf welche Weise der Typus des allgemeinen Intellektuellen, der im Namen der Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit das öffentliche Wort ergreift, in ein regressives Fahrwasser geraten kann (aber selbstredend nicht zwingend muss). Die Intellektuellen, die uns hier begegnen, berufen sich eindringlich auf Meinungsfreiheit oder die Interessen der Mehrheit – allerdings um partikulare Positionen zu verteidigen. Sie stehen exemplarisch für eine unscharf gewordene Kritik an der Gesellschaft, durch die ideologische Interferenzen zwischen unterschiedlichen politischen Lagern entstehen. Was die untersuchten Intellektuellen eint, ist der Kampf gegen gemeinsame Gegner: die Identitätspolitik zuvor ausgeschlossener Gruppen und kultureller Minderheiten, gegen wissenschaftliche Expertise oder angeblich gleichgeschaltete Eliten in Staat und Medien. Wir deuten diese irritierenden Koalitionen als eine reaktive Selbstverhärtung gegen den progressiven Wandel.
In diesem Kapitel beleuchten wir die Beschneidung der Wirkungskreise von Intellektuellen, beschäftigen uns mit verdrehten Freiheitskämpfen, die unter dem Label »Cancel Culture« ausgefochten werden, und erörtern konkrete Fälle, die traditionelle politische Grenzziehungen durchkreuzen. Ein wichtiger Vorläufer dieser, wie der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen es ausgedrückt hat, »postideologischen Querfronten« ist aus unserer Sicht das Werk des Philosophen Peter Sloterdijk, dem wir einen kurzen Exkurs widmen. Darauf folgen drei konkrete Beispiele: die überschießende intellektuelle Kritik an staatlichen Maßnahmen im Zuge der Coronapandemie, der nostalgische Klassenkampf gegen die Identitätspolitik marginalisierter Gruppen und das Umschlagen eines vormals antihegemonialen postmodernen Denkens in libertär-autoritäre Positionen. Abschließend resümieren wir, wie sich die Register der Gesellschaftskritik in den letzten Jahren ver-rückt und gewandelt haben – Überlegungen, die für ein tieferes Verständnis der beiden folgenden Fallstudien wichtig sind.
Im siebten Kapitel, »Wiederverzauberung der Welt«, untersuchen wir die Proteste der Querdenker:innen. Die Coronamaßnahmen griffen drastisch in die alltägliche Lebensführung der Menschen ein. Alle mussten eine Maske tragen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegten. Kultureinrichtungen und Fitnessklubs waren geschlossen, die eigene Bewegungsfreiheit zeitweise eingeschränkt. Die Regierung rechtfertigte die massiven Einschnitte mit wissenschaftlichen Evidenzen über Ansteckungsrisiken und Krankheitsverläufe. Die Querdenker:innen kritisierten nicht nur die Maßnahmen als solche scharf, sondern immer wieder auch ihre Wissensgrundlage. Sie bestritten nicht allein die Gefährlichkeit einer Infektion mit dem Coronavirus, sondern sahen hinter den Maßnahmen teilweise eine groß angelegte Verschwörung.
Für unsere Analyse haben wir eine Online-Umfrage mit 1150 Querdenker:innen sowie 45 ausführliche Interviews durchgeführt, zahlreiche Demonstrationen beobachtet und uns durch Telegram-Kanäle gearbeitet. Viele der Menschen, mit denen wir gesprochen haben, stammen aus den Ausläufern der alten Alternativmilieus. Sie neigen zu New-Age-Praktiken, befassen sich mit Esoterik, machen Yoga und suchen nach innerer Harmonie. Für andere Querdenker:innen, die eher aus dem Milieu der Performer stammen, sind die hedonistische Lebensführung und der Leistungsgedanke zentral, Verschwörungstheorien spielen bei ihnen eine erhebliche Rolle, und sie sympathisieren stärker mit der AfD. Mehrheitlich handelt es sich um Menschen, die eher von links kommen, sich nun aber nach rechts bewegen. Die Entfremdung von der repräsentativen Demokratie ist bei ihnen derart groß, dass sie kein Problem damit haben, dass Rechtspopulisten oder sogar handfeste Rechtsextreme auf denselben Demonstrationen mitlaufen. Die Querdenker:innen stellen gewissermaßen einen Prototyp des libertären Autoritarismus dar: In Fragen der Lebensführung, etwa der Kindererziehung, vertreten sie eher antiautoritäre Positionen, sie sind nicht besonders fremdenfeindlich, sie kritisieren Hierarchien. Gleichzeitig verteidigen sie jedoch ein radikales individuelles Freiheitsrecht, das ins Autoritäre kippt. Viele von ihnen sind von dem Gedanken besessen, diejenigen zu bestrafen, die ihre Selbstbestimmung einschränken (wie »die« Virolog:innen und »die« Regierung).
Das achte Kapitel, »Subversion als destruktives Prinzip«, beruht auf einer empirischen Studie aus dem Jahr 2017. Die Nichtregierungsorganisation Campact, die Online-Kampagnen zu ökologischen und sozialen Themen initiiert, hatte uns 2016 kontaktiert: Einige Personen auf ihrem Verteiler protestierten gegen eine Anti-AfD-Kampagne im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl 2017. Sie äußerten Sympathien für die rechtspopulistische Partei, nicht wenige bekundeten gar die Absicht, diese zu wählen. Gemeinsam mit Campact wollten wir herausfinden, warum einige Menschen, die sich für progressive Anliegen engagieren, eine Affinität zur AfD entwickeln. Zu diesem Zweck führten wir sechzehn biografisch-narrative Interviews mit Personen, die die Kampagne kritisiert hatten. Viele der Interviewpartner:innen verachten seit je Autoritäten, können sich nur schwer Konventionen fügen und geraten immer wieder in Konflikt mit ihrem Umfeld.
Ihre Neigung zum Extremen, Exzessiven, Subversiven ist in jüngerer Vergangenheit in ein destruktives Fahrwasser geraten. Sie wettern gegen Geflüchtete, Muslim:innen oder Jüd:innen und steigern sich bisweilen in Gewaltfantasien hinein. Die meisten haben in ihrem Leben existenzielle Brüche oder Krisen erfahren, für die sie ein korrumpiertes System verantwortlich machen, das sie in ihren Freiheiten einschränkt und »Fremde« bevorteilt. Sie erinnern an die Rebellen, die von der Kritischen Theorie erforscht wurden, weisen aber einen entscheidenden Unterschied auf: Ihre grundlegende Skepsis gegenüber Autoritäten lässt keinerlei autoritäre Identifikation zu, weder mit einer mächtigen Führerfigur noch mit der Nation. Die von uns in Anlehnung an die Studien zum autoritären Charakter sogenannten regressiven Rebellen sind wohl die radikalste Ausprägung des libertären Autoritarismus. Sie betrachten das demokratische System mit seinen liberalen Normen als derart beengend, dass sie, wenn auch nur verbal, aber doch äußerst aggressiv dagegen rebellieren. Neben dem Typus des regressiven Rebellen stellen wir außerdem seinen gewissermaßen moderateren Mitstreiter vor, den autoritären Innovator.
Wie ist der libertäre Autoritarismus nun einzuordnen? Was unterscheidet ihn vom Autoritarismus, wie ihn Adorno und seine Mitstreiter:innen analysiert haben? Wird er uns noch längere Zeit beschäftigen? Auf diese Fragen gehen wir im Schlusskapitel noch einmal ein. Wir fürchten, dass der libertäre Autoritarismus nicht so schnell verschwinden wird. Gleichwohl sind wir ihm nicht hilflos ausgeliefert. Es gibt Alternativen. Wir skizzieren Wege, die nicht nur unser Zusammenleben untereinander und mit der Natur verbessern würden, sondern auch dem libertären Autoritarismus den Nährboden entziehen könnten.
Freiheit ist die leitende Imago der Moderne.1 Mehr oder weniger unlöslich haftet sie als Begründungsfigur an den seit dem 18. Jahrhundert entstehenden bürgerlichen Gesellschaften, an der Rationalisierung, Industrialisierung, Demokratisierung und Individualisierung ihrer Lebensbereiche. Mit der Imago der Freiheit entwirft die moderne Gesellschaft ein Bild von sich selbst. Was unter Freiheit zu verstehen und wie sie zu verwirklichen sei, gehört zum Arsenal jener »Grundfragen« von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie der griechisch-französische Philosoph Cornelius Castoriadis auflistete: »Wer sind wir, als Gemeinschaft? Was sind wir, die einen für die anderen? Wo und worin sind wir? Was wollen wir, was begehren wir, was fehlt uns?«2 Über die Semantik des Freiheitsbegriffes wird die Identität der Gesellschaft als ganze wie die ihrer Mitglieder verhandelt. Sie verweist darüber hinaus auf Realisierungschancen in sozialen Institutionen, die Freiheit gewähren oder blockieren können. Und nicht zuletzt beherbergt sie ein Versprechen, eine Idee, die zum Vergleich des sozialen Seins mit einem normativen Sollen anregt.
Aus diesem Grund ist es nicht einfach, den Begriff der Freiheit exakt zu bestimmen. »Es gibt wohl kein Wort, dem man mehr unterschiedliche Bedeutungen gegeben hätte als dem Wort Freiheit. Kein Wort hat die Geister so vielfältig gefesselt«, bemerkte der französische Philosoph Montesquieu bereits 1748.3 Für gewöhnlich wird der Begriff bis in die Gegenwart an zwei Bedeutungshorizonte gekoppelt: Erstens impliziert das Freisein einer Person die Abwesenheit äußerer Zwänge, zumindest in denjenigen Bereichen, die Freiheitsräume garantieren sollen: in der privaten Lebensführung, der Wissenschaft oder der Kunst. Freiheit impliziert zweitens aber auch eine legitimierte gesellschaftliche Gewalt, die das Recht des Einzelnen auf Freiheit durchsetzt und es vor Verletzungen schützt, vor allem den Staat als Macht- und Entscheidungsinstanz.4 Welche der beiden Bedeutungen in öffentlichen Auseinandersetzungen dominant ist, sagt viel über das Selbstverständnis einer Gesellschaft aus.5 An der jeweiligen Semantik der Freiheit lässt sich ablesen, welchen Sinn die Mitglieder ihr geben. Soll das individuelle Schalten und Walten ein von äußeren Eingriffen geschützter Raum sein? Oder soll die Freiheit des Einzelnen über gesellschaftliche Institutionen verwirklicht werden? Hinter diesen Akzentuierungen verbergen sich höchst unterschiedliche Begründungsfiguren des Sozialen. Die Freiheitsidee kann staatliche Eingriffe in die individuelle Unabhängigkeit legitimieren (etwa wenn die Freiheitsrechte der anderen verletzt werden) oder aber den gesellschaftlichen Zusammenhalt erodieren lassen (zum Beispiel wenn die eigene Handlungsfreiheit egoistisch gegen die anderen durchgesetzt wird).
Statt den modernen Freiheitsbegriff inhaltlich genauer zu bestimmen, möchten wir zunächst auf seine eigentümliche Struktur hinweisen, welche die gegenwärtige Synthese von Freiheit und Autoritarismus überhaupt erst ermöglicht. Augenscheinlich ist der Freiheitsbegriff durch eine große Plastizität gekennzeichnet. Er ist formbar und erhält seine Kraft erst durch die ihm innewohnenden Ambiguitäten. Während negative Freiheitskonzepte die Abwesenheit äußerer Hindernisse hervorheben, betonen positive die inneren Absichten, die der freien Willensentscheidung vorausgehen, sowie die äußeren Voraussetzungen, die zur Gewährleistung individueller Freiheit notwendig sind.6 Der Philosoph Ernst Bloch spricht in Das Prinzip Hoffnung ähnlich wie Montesquieu 200 Jahre zuvor von der Größe der Worte, hinter der sich ganz unterschiedliche Imaginationen verbergen können: »Je größer die Worte, desto eher kann sich Fremdes in ihnen verstecken. Dies ist besonders mit Freiheit, mit Ordnung der Fall, wobei oft jeder sich das Seine denkt«.7 Hellsichtig beobachtet er, dass in der enormen semantischen Spannweite konträre Bedeutungen Platz haben. Auch solche, die dem Begriff auf den ersten Blick fremd sein mögen.
Die Freiheitsidee bewährt sich im individuellen Alltagshandeln, in dem wir unser Freiheitsverständnis bestätigt oder ihm widersprochen sehen, oder auf der übergeordneten Ebene der politischen Entscheidungsgewalt, die individuelle Freiheitsrechte stärken oder einschränken kann. Imaginationen von Freiheit wirken schöpferisch, sie wurden zwar historisch durchaus in den Dienst planvoller Organisation gestellt oder politisch missbraucht, aber als normative Idee entziehen sie sich einer unmittelbaren Kontrolle und Lenkung. Freiheit als soziale Idee kreiert vielmehr neue historische Situationen und neue Verhaltensweisen. Aus der Pluralität ihrer Bedeutungen erwuchs ihre offene, zukunftsweisende Potenz, die sie historisch Hand in Hand mit dem Fortschritt voranschreiten ließ. Diese strukturelle Beschaffenheit macht die Freiheitsidee in der Moderne zu einer zentralen Ressource der Sinngebung.
Vor diesem Hintergrund ist nun auch eine Kritik der Freiheit zu verstehen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen sind in ihr all die gescheiterten und gewonnenen sozialen Kämpfe aufgehoben, die im Namen der Freiheit geführt wurden. Für die Verwirklichung von Autonomie einzutreten beinhaltet die Kritik an Gesellschaften, die diese systematisch behindern. Die Emanzipationsbewegung des Bürgertums wollte universelle Freiheitsrechte durchsetzen, die Arbeiterklasse zielte auf die Aufhebung der Knechtschaft in einem kapitalistischen Apparat, und die Frauenbewegung verfolgte wie die Bewegungen sozialer Minderheiten das Ziel, nicht länger diskriminiert zu werden, sondern das Recht auf freie Lebensgestaltung realisieren zu können. Das Streben nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung war also historisch immer auch ein Movens, Gesellschaftsordnungen zu hinterfragen.8
Zum anderen beinhaltet eine Kritik der Freiheit die Überprüfung ihrer eigenen Voraussetzungen, um ihrer Aporien und Selbstgefährdungen gewahr zu werden.9 Es liegt in der normativen Natur des Freiheitsbegriffes, dass man ihn mit Skepsis betrachtet. Die Freiheitsidee kann an ihren eigenen Versprechen scheitern, wenn sie etwa nur ungenügend und gebrochen verwirklicht werden, oder sie kann unbeabsichtigte Nebenfolgen in Gang setzen, etwa wenn zur Gewährung von Freiheitschancen die individuelle Unabhängigkeit an anderen Stellen beschnitten werden muss. Dies regt dazu an, über die Begrenzungen und Widersprüche zu reflektieren, die der realen Freiheit innewohnen. Wir möchten in unserem Buch diese beiden Formen der Kritik verbinden: Ausgehend von der verstörend regressiven Kritik, die in der unmittelbaren Gegenwart im Namen der Freiheit geübt wird, analysieren wir die aporetische Struktur der bürgerlichen Freiheit, die in spätmodernen Gesellschaften das Potenzial für soziale Erosionen in sich trägt. Wenn Institutionen vor allem als Beschränkung des eigenen Wollens und Handelns betrachtet werden, sagt dies viel über unsere Gesellschaft und über die sozialen Pathologien aus, die sie hervorbringt. Denn dies war nicht immer so.
In der Moderne wurden Freiheit und Fortschritt meist in einem Atemzug genannt.10 Prägnant kommt dies in der hegelschen Idee einer »List der Vernunft« zum Ausdruck, nach der sich Geschichte als »die Entwicklung des Bewußtseins des Geistes von seiner Freiheit und der von solchem Bewußtsein hervorgebrachten Verwirklichung« vollziehe.11 Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel war überzeugt, die Wirklichkeit sei immanent vernünftig, und die Vernunft realisiere sich sowohl im Handeln der Individuen als auch in der sozialen Welt. Geschichte wird hier als Fortschritt gedacht, im Zuge dessen die beschränkten Realisationsformen des Geistes, der sich in der Weltgeschichte objektiviert, überwunden werden – hin zu einer Verwirklichung der Freiheit.12 Erst wenn sich die Individuen miteinander über sich selbst verständigen, über das, was sie sind und sein wollen, kann für Hegel überhaupt von Geschichte die Rede sein. Diese Form reflexiver Selbstverständigung denkt er praktisch, sie sedimentiert sich in der Rationalität des sozialen Handelns. Freiheit ist in diesem Sinne nicht nur ein intelligibler Maßstab der Vernunft, sondern hat ihren Ort in der sittlichen Organisation der Gesellschaft.
Die Moderne gilt als das größte Emanzipationsprojekt in der Geschichte der Menschheit. Das Vermögen, selbstbestimmt zu handeln, ist nicht länger das Privileg einiger weniger, sondern der universale Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft.13 Damit wird die Idee der individuellen Freiheit untrennbar an die sozialen Institutionen rückgebunden, die diese gewähren sollen. Die »ungeheure Sogwirkung des Autonomiegedankens erklärt sich«, wie der Philosoph Axel Honneth in Das Recht der Freiheit betont, »aus seiner Fähigkeit, zwischen dem individuellen Selbst und der gesellschaftlichen Ordnung eine systematische Verknüpfung herzustellen«.14 Frei ist das moderne Subjekt in dieser Konzeption nicht schon dann, wenn es gemäß seinem eigenen Willen entscheidet, sondern erst, wenn es in den Prozeduren des sozialen Miteinanders frei handeln kann. Autonomie, die für gewöhnlich mit der Unabhängigkeit von äußeren Kräften in Verbindung gebracht wird, ist in der Moderne ein soziales Produkt. Selbstständig ist das Individuum nicht losgelöst von, sondern in sozialen Situationen. Umgekehrt hängt die Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung davon ab, in welchem Maß sie die Freiheit des Einzelnen garantieren kann.15
Mit der Frage nach der institutionellen Gewährung von Freiheitschancen kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel, der auf den ersten Blick im Widerspruch zur Autonomie der Einzelnen zu stehen scheint: Herrschaft. Die moderne Freiheit fußt auf einer asymmetrischen Ordnung, in der unterschiedliche Grade an Selbstbestimmtheit legitimiert sind. Dies gilt keinesfalls bloß für die Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es weitgehend selbstverständlich, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen ungleichmäßige Chancen hatten, ihre Autonomie zu realisieren. Ob dies nun Arbeiter:innen waren, die über geringe materielle Ressourcen verfügten; Frauen, denen nur eingeschränkte politische Partizipationsmöglichkeiten gewährt wurden (in der Schweiz etwa wurde das Frauenwahlrecht erst 1971, in einem Kanton gar erst 1990 durchgesetzt); oder Migrant:innen, die rechtlich weitestgehend dazu gezwungen waren (und es teilweise bis heute sind), ein Leben abseits des sozialen Miteinanders zu führen. Freiheit und Unterdrückung sind zwar augenscheinlich Gegensätze, aber beide eng an die Idee bürgerlicher Freiheit geknüpft. Zwar war man in der bürgerlichen Gesellschaft rechtlich frei, doch mussten viele ihr Leben dem unerbittlichen Takt der Fließbänder unterordnen. Die trostlose Realität in den Fabrikhallen schien das philosophische Ideal der Freiheit zu konterkarieren, wie Theodor W. Adorno in seiner 1966 erschienenen Negativen Dialektik resümiert:
Seit dem siebzehnten Jahrhundert hatte die große Philosophie Freiheit als ihr eigentümlichstes Interesse bestimmt; unterm unausdrücklichen Mandat der bürgerlichen Klasse, sie durchsichtig zu begründen. Jenes Interesse jedoch ist in sich antagonistisch. Es geht gegen die alte Unterdrückung und befördert die neue, welche im rationalen Prinzip selbst steckt. Gesucht wird eine gemeinsame Formel für Freiheit und Unterdrückung: jene wird an die Rationalität zediert, die sie einschränkt, und von der Empirie entfernt, in der man sie gar nicht verwirklicht sehen will.16
Es ist keineswegs so, dass Adorno hinter der realen Unfreiheit eine noch nicht erfüllte Idee erkennen wollte. Für ihn ist im bürgerlichen Freiheitsbegriff ein antagonistisches Prinzip derjenigen Gesellschaft aufgehoben, auf deren Boden er entstanden ist. So schuf die bürgerliche Gesellschaft mit der Aufhebung ständischer Schranken und Privilegien den seine Privatinteressen verfolgenden bourgeois und stellte ihm den citoyen zur Seite, den sich auf liberale Grund- und Menschenrechte berufenden Staatsbürger. Dieser Januskopf ist das »rationale Prinzip« der bürgerlichen Gesellschaft, von dem Adorno oben spricht: Sie garantiert zwar zum ersten Mal umfassende Freiheitsrechte, aber da die Freiheit wesentlich eine ökonomische ist, installiert sie im gleichen Atemzug ein neues System der Unterdrückung. Eine Parallele zu Karl Marx' 1844 formulierter Kritik der Menschenrechte liegt auf der Hand: Marx rekonstruiert die droits de l'homme in seinem Rezensionsessay »Zur Judenfrage« als die Rechte eines sein egoistisches Privatinteresse besorgenden Menschen, der sein Dasein isoliert von der Gesellschaft fristet. Das universale Freiheitsrecht beruht für Marx auf der Separierung der Individualinteressen, es ist das »Recht, willkürlich (à son gré), ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes«. Und fügt hinzu: »Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie läßt jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.«17 Der institutionelle Rahmen, der die Autonomie der Individuen realisieren sollte, stellt sich realiter als eine Agentur zur Sicherung von Privatinteressen dar. Auf diese Kluft aufmerksam zu machen, die zwischen der formal garantierten Freiheit des modernen Individuums und seinem realen Potenzial zur Selbstbestimmung liegt, sah die Kritische Theorie seit ihren Anfängen als ihre Aufgabe.
Adorno begann im November 1964 sein letztes geschichtsphilosophisches Kolleg mit einer Vorlesung, die bei den anwesenden Studierenden auf offene Ohren gestoßen sein dürfte: »[D]as kann gesagt werden: ein unmittelbarer Fortschritt zur Freiheit ist nicht zu behaupten.«18 Ein Jahr zuvor war im Frankfurter Römer der erste Auschwitzprozess eröffnet worden, und mit ihm kehrten die verdrängten Verbrechen in das Bewusstsein der restaurativen Bundesrepublik zurück. Der Prozess führte eines vor Augen: Die List der Vernunft mündete nicht zwangsläufig in einer Selbstbestimmung der Individuen, sondern mit dem Holocaust in einem Bruch mit jeder Idee von Humanität überhaupt. Insofern ist die desillusionierende Feststellung, die Adorno als Prämisse seiner Vorlesung voranstellt, vor dem Hintergrund der unmittelbaren historischen Erfahrung nur allzu verständlich. Die moderne Gesellschaft gründete auf einem Freiheitspathos, das realiter nicht erfüllt wurde. An diesem Punkt setzt der Pathologiebefund der Kritischen Theorie ein.
Die historische Befreiung des Individuums aus natürlichen und menschengemachten Zwängen ist der zentrale normative Bezugspunkt der Frankfurter Schule, die sich ab 1931 im von dem Sozialphilosophen Max Horkheimer geleiteten Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main zusammenfand.19 Das Institut war 1923 durch den Unternehmersohn Felix Weil gegründet worden, der mit seinem Erbe die sozialistische Theoriebildung unterstützen wollte. Anders als sein Vorgänger Carl Grünberg setzte es sich Horkheimer als Direktor zum Ziel, eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die neben den kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen auch das psychische Innenleben einbezog. Mitarbeiter wie der Psychologe Erich Fromm, der Ökonom Friedrich Pollock oder der Literatursoziologe Leo Löwenthal widmeten sich dem Seelenzustand von Arbeitern und Angestellten oder der Funktion des Staates für den Kapitalismus, bevor das Institut 1933 von der Gestapo aufgelöst wurde. Im Exil setzten die Mitarbeiter ihre Forschungen fort, unter ihnen Adorno und Horkheimer, die das Gesicht der Frankfurter Schule prägen sollten. Beide blieben den historischen Versprechen der Aufklärung und der Französischen Revolution stets verbunden: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Gerade weil sie an diesen Idealen festhielten, führte deren Nichteinlösung zu einem dunklen Fortschrittspessimismus. So sei in der Wirklichkeit zu beobachten, dass sich das Individuum zivilisatorischen Zwängen unterwerfe, die ihm seine Individualität raubten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch ihre Kritik an der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Unter dem Titel Dialektik der Aufklärung veröffentlichten die beiden 1947 ihre »philosophischen Fragmente« in einem Amsterdamer Exilverlag. Sie waren zuvor in New York erschienen und Friedrich Pollock zum fünfzigsten Geburtstag gewidmet. Bereits der Titel verrät, dass die beiden das Projekt der Moderne keinesfalls mit einem optimistischen Fortschrittsbewusstsein verknüpften, sondern dass es ihnen um die Reflexion seiner Aporien ging, wie sie in der im kalifornischen Exil verfassten Vorrede von 1944 klarstellen:
Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.20
Dieses einflussreiche Werk verarbeitet zwei gesellschaftliche Erfahrungen, die für das 20. Jahrhundert in westlichen Gesellschaften prägend waren: die Heraufkunft der kapitalistischen Massendemokratien und den Faschismus. Aus diesen Erfahrungen speist sich die Einsicht, dass der modernen Freiheitsidee die Möglichkeit zur Regression – oder, drastischer ausgedrückt: der »Selbstzerstörung«21 – innewohnt. Der widersprüchliche Charakter der Aufklärung besteht darin, »daß der Eigenvollzug der Aufklärung in ihre Negation umschlägt«, wie der Philosoph Gunnar Hindrichs betont.22 Mit anderen Worten: Die Gefahren von Autoritarismus und Unfreiheit lauern nicht jenseits der modernen Gesellschaft, sondern entfalten sich in ihr, aus ihrer inneren Beschaffenheit heraus. Das Buch erschien, als der Faschismus in Europa gerade besiegt worden war. Für Horkheimer und Adorno war dieser damit aber keineswegs unwiderruflich überwunden. Im kalifornischen Exil begegneten ihnen Menschen, die, davon waren sie überzeugt, empfänglich für faschistische und autoritäre Propaganda waren, auch wenn sie sich nicht offen mit ihr identifizierten.
Am griechischen Mythos der Odyssee, der laut dem Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas die »fast verlorene Urgeschichte der Subjektivität« archiviert,23 veranschaulichen Horkheimer und Adorno, dass der freie, vernunftgemäße Wille von jeher mit dem Drang nach Herrschaft einhergeht. Allein seiner List verdankt Odysseus es, dass er sich auf seinen Irrfahrten gegen mythische Gestalten behaupten kann – und zwar indem er sich ihnen zum Schein unterwirft: »Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst entzaubert.«24 Dadurch beweist er zwar seine Unabhängigkeit, bringt aber durch den Verzicht auf Wünsche und Begehren ein großes Opfer. Trotz des Verbots verzehren Odysseus' von Hunger geplagte Gefährten auf der Insel Thrinakia die Rinder des Sonnengottes Helios. Allein Odysseus widersteht der Versuchung. Der Gotteszorn lässt nicht lange auf sich warten: Nachdem ihr Schiff zur Weiterfahrt abgelegt hat, zerschellt es in einem heftigen Sturm. Nur Odysseus, der Verzicht geübt hat, überlebt. Die Pointe der Odyssee-Lektüre von Horkheimer und Adorno besteht darin, dass sich die Herrschaft über die äußere Natur nur um den Preis der Bezwingung der eigenen, inneren Natur erringen lässt. Dadurch ist die zivilisatorische Geburt des Selbst untrennbar mit Entsagung und Formierung verbunden: »Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht«.25 Rationalisierung und Entzauberung der Natur ermöglichen zwar bis dahin ungekannte Freiheitsspielräume, diese fußen aber auf der Herrschaft über sich und über andere. So jedoch werden Mensch wie Natur ihrer Potenziale beschnitten: Natur wird auf ihre Bearbeitbarkeit, menschliche Triebregungen auf Selbstbehauptung reduziert. Die Autoren kommen zu dem paradoxen Schluss, dass der Ursprung des autonomen Individuums gleichzeitig seine Auslöschung sei. In seiner 1947 erschienenen Kritik der instrumentellen Vernunft überträgt Horkheimer diese Idee auf den zeitgenössischen industriellen Kapitalismus: Das ehemals starke und nüchterne Subjekt degeneriere schließlich zu einem »eingeschrumpften Ich«.26 In den Straßen New Yorks, wo Horkheimer 1944 an der Columbia University öffentliche Vorlesungen hielt, eilten Angestellte an ihren Arbeitsplatz, die sich nicht nur in ihrer Kleidung ähnelten, sondern auch den gleichen Anforderungen unterworfen waren. Im industriellen Spätkapitalismus entstehe ein atomisierter und außengeleiteter Sozialcharakter, der sich gegenüber monopolistischen Konzernen, Bürokratie, Normierung und sozialer Kontrolle angepasst verhalte, ja sich ihnen gar unterwerfe.27
Die erste Generation der Kritischen Theorie verweigerte sich also einem optimistischen Fortschrittsbewusstsein. Stattdessen können ihre Arbeiten als eine frühe Artikulation jener »defätistischen Katastrophenstimmung«28 gelesen werden, die sich dann ab dem Ende des 20. Jahrhunderts ausbreitete. An der Idee, dass die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft zwar materiellen Wohlstand schafft, aber gleichzeitig die Emanzipationsräume der Individuen massiv beschneidet, hielt Adorno zeitlebens fest. In seiner letzten Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie im Jahr 1968 betonte er noch einmal nachdrücklich, dass er Gesellschaft als einen »Zwangsverband« verstand, »in den man nun einmal hineingeraten ist«.29 Allerdings darf man Adorno nicht missverstehen, er wirft damit weder die individuelle Autonomie noch die Angewiesenheit des Individuums auf andere über Bord.30 Seine Idee einer »Dialektik der Freiheit«31 enthält immer beide Seiten, die Selbstbestimmung wie die Unterwerfung.
Eine in der Studentenbewegung um 1968 florierende, auf den ersten Blick äußerst desillusionierende Diagnose stammt von dem Philosophen Herbert Marcuse, einem Vertreter der Kritischen Theorie, der wie kaum ein anderer an der Idee der Befreiung festhielt. Liest man sein Buch Der eindimensionale Mensch, das drei Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung 1967 auf Deutsch erschien, klingt es, als habe sich die Herrschaft in arbeitsteiligen Gesellschaften nahezu vollkommen perfektioniert.32 Denn die Freiräume, sich selbstständig und kritisch zu verhalten, haben sich laut Marcuse keinesfalls vergrößert, sondern im Gegenteil noch weiter verschmälert. Die Unterdrückung sei perfider geworden, denn gerade weil die westlich-industriellen Gesellschaften unmittelbare Zwänge über Bord geworfen hätten, da sie materielle Bedürfnisse über ein ungekanntes Warenangebot befriedigen könnten und die Sexualmoral weitestgehend liberalisiert hätten, verlören die Individuen ihre Fähigkeit zur kritischen Reflexion. Sie säßen nun vor ihren Fernsehern, die neuen Massenmedien böten ihnen eine schöne, aber eben auch »konfektionierte Welt«.33 In der Massengesellschaft wolle der Mensch so sein wie die anderen, vor den Reihenhäusern parkten die gleichen Autos, in den Kühlschränken standen die gleichen Coca-Cola-Dosen. Denken und Sein der Menschen würden eindimensional. »In dieser Gesellschaft«, führt Marcuse aus,
tendiert der Produktionsapparat dazu, in dem Maße totalitär zu werden, wie er nicht nur die gesellschaftlich notwendigen Betätigungen, Fertigkeiten und Haltungen bestimmt, sondern auch die individuellen Bedürfnisse und Wünsche. Er ebnet so den Gegensatz zwischen privater und öffentlicher Existenz, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen ein.34
Technologische Innovation, Arbeitszeitverkürzung und der wachsende Wohlstand schmälern die Notwendigkeit zu Triebunterdrückung und Sublimierung, die Horkheimer und Adorno noch als konstitutiv für moderne Gesellschaften erachtet hatten. Die Lust kann sich freier entfalten und stößt kaum noch an moralische Schranken. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud nahm an, das auf die ungezügelte Befriedigung der Bedürfnisse zielende Lustprinzip werde durch das Realitätsprinzip in Schranken gehalten, indem dieses die Lust an die Erfordernisse der Außenwelt anpasse. In einer weitgehend enthemmten Gesellschaft verändert sich jedoch die Psychodynamik: Das Lustprinzip steht nun, dies ist der Kern von Marcuses Gesellschaftskritik, im Dienst der Unterdrückung. Der Einzelne darf zwar mehr, aber lediglich im Rahmen des gesellschaftlich Gebotenen. Das Lustprinzip ist in einer verkümmerten, auf Sexualität beschränkten Form mit dem Realitätsprinzip identisch.35 Die Lust verliere dadurch ihren emanzipatorischen Gehalt, woraus eine repressive Entsublimierung resultiere:
Unter dieser neuen historischen Form des Realitätsprinzips kann Fortschritt als Vehikel von Repression wirken. Die bessere und größere Befriedigung ist sehr real und ist doch, im Sinne Freuds, insofern repressiv, als sie in der individuellen Psyche die Quellen des Lustprinzips und der Freiheit mindert.36
Die emanzipatorischen Potenziale des Begehrens werden aus Sicht Marcuses durch falsche Substitute (Waren, kommerzielle Formen sexueller Attraktivität, verdinglichte Intimbeziehungen etc.) ersetzt, die einen verlockenden Schein von Freiheit erzeugen, dadurch aber die so in Gang gesetzte Unterdrückung unsichtbar werden lassen.37 Für ihn war die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft die notwendige Voraussetzung, um das Streben nach Glück zu verwirklichen. Dies entsprach dem Grundgefühl der Studentenbewegung. 1967 zeichnete Marcuse in seinem Vortrag »Das Ende der Utopie« im völlig überfüllten Audimax der Freien Universität Berlin das utopische Bild einer befreiten Gesellschaft, in der eine ästhetisch-erotische Sensitivität entstehen könne, eine Lebenswelt, die Arbeit und Spiel verknüpft.38
Doch in den hoch industrialisierten Gesellschaften bilden sich nicht nur die libidinös getriebenen Emanzipationsmöglichkeiten der Individuen zurück, sondern mit dieser Limitierung – hier folgt Marcuse ganz dem Grundgedanken der Frankfurter Schule – werden zudem regressive Potenziale freigesetzt. Es kommt zu einem »Verlust des Gewissens«,39 also gewissermaßen zu einer Verwahrlosung der Sittlichkeit – eine Beobachtung, die für unsere Analyse noch wichtig werden wird. Wird die konfliktreiche Dynamik von individuellem Begehren und sozialen Erfordernissen, die in modernen Gesellschaften durch Institutionen vermittelt wurde, zugunsten des individuellen Lustgewinns aufgekündigt, bilde sich auch die moralische Urteilskraft der maximal triebbefriedigten Individuen zurück. Dies erleichtere die »Hinnahme der Untaten dieser Gesellschaft«,40 da das Über-Ich nur noch marginal ausgeprägt sei. Hemmungslose Handlungen können nicht mehr als unsittliche Abweichung wahrgenommen werden, wenn die moralischen Parameter fehlen. Dadurch breche sich eine »triebbestimmte […] Angriffsenergie«41 Bahn, die sich jederzeit gegen ein willkürlich gewähltes Objekt richten könne. In einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz und Ausbeutung beruht, wird die Triebentfesselung destruktiv. Die politischen Folgen, die Marcuse an dieser Stelle nur andeutet, hatten seinen einstigen Kollegen und späteren Kontrahenten Erich Fromm bereits früher ausführlich beschäftigt.42
Fromm war seit 1930 Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Frankfurter Instituts und galt lange als wichtigster Mitarbeiter in Sachen Theorie.43 Im US-amerikanischen Exil kam es dann jedoch immer häufiger zu Unstimmigkeiten zwischen ihm, Horkheimer und Adorno. Den beiden missfiel Fromms Kritik an Freud. Zwar kritisierten auch sie die Psychoanalyse, aber von links. Fromms humanistisches Menschenbild, seine Betonung der Spontaneität menschlichen Handelns widersprach ihrer materialistischen Orientierung. Nach seinem nicht sehr versöhnlichen Ausscheiden aus dem Institut veröffentlichte Fromm 1941 sein Werk Escape from Freedom, das in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Furcht vor der Freiheit erschien. Der englische Originaltitel trifft den Inhalt allerdings deutlich besser: Fromm versucht darin, autoritäre Dispositionen als eine Flucht vor der modernen Freiheit zu verstehen. Einer Freiheit, die statt Selbstbestimmung im Individuum negative Gefühle von Isolation und Ohnmacht befördere. Auch wenn ihm von den ehemaligen Kollegen eine revisionistische Freud-Interpretation vorgeworfen wurde, entwickelt Fromm darin eine Idee, die sich später auch in der Dialektik der Aufklärung finden wird. Die höchst freiwillige, bisweilen lustvolle »Unterwerfung«, die den autoritären Charakter ausmacht, entspringt für ihn aus einer schlechten Auflösung des dialektischen Charakters menschlicher Freiheit. Um faschistische und autoritäre politische Systeme zu verstehen, gilt es für Fromm folgerichtig, das »Doppelgesicht der Freiheit«44 in seinen höchst realen Widersprüchen darzustellen:
Auf der einen Seite handelt es sich um einen Prozeß der zunehmenden Stärke und Integration, der Meisterung der Natur und der zunehmenden Beherrschung der menschlichen Vernunft, der wachsenden Solidarität mit anderen Menschen. Zum anderen aber bedeutet diese wachsende Individuation auch zunehmende Isolierung, Unsicherheit und, hierdurch bedingt, zunehmenden Zweifel an der eigenen Rolle im Universum, am Sinn des eigenen Lebens und, durch das alles bedingt, ein wachsendes Gefühl der eigenen Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit als Individuum.45
Fromm beobachtet eine Parallele zwischen ontogenetischer und gesellschaftlicher Entwicklung des Menschen zur Freiheit. Das Kind formt sein Selbst, indem es aus der primären Bindung heraustritt, und wird dadurch seiner Autonomie und gleichzeitig seiner Schwäche gewahr. Ganz ähnlich ist für Fromm der gesellschaftliche Fortschritt der wachsenden Individualisierung organisiert. In der Moderne bildet das aus Schranken und Zwängen befreite Individuum zwar einen freien Willen mit kritischem Urteilsvermögen aus, aber es wird dadurch mit neuen Zweifeln behelligt. Das bürgerliche Zeitgefühl, das der kommunistische ungarische Philosoph Georg Lukács in seiner frühen Schrift Die Theorie des Romans (1920) so hellsichtig als »transzendentale Obdachlosigkeit« bezeichnete,46 stellt Fromm damit auf ein sozialpsychologisches Fundament. Die aufgeklärte Lebensimmanenz, die aus der Aufkündigung transzendentaler Bezüge resultierte, habe im Affekthaushalt der Individuen gleichsam befreiende wie überwältigende Folgen. Wie die Romanhelden, die Lukács untersuchte, irrt das moderne Individuum in einer konfus gewordenen Welt umher, die sich gegen seine Wünsche und Strebungen richtet.
Diese negative Freisetzung folgt für Fromm, ähnlich wie für Horkheimer und Adorno, aus einer industriell-kapitalistischen Naturbeherrschung, die zwar technisch rational organisiert die Freiheitsräume vergrößert, gesellschaftlich aber irrationale Folgen zeitigt: »Ganz im Gegenteil ist diese vom Menschen geschaffene Welt zu seinem Herrn geworden, dem er sich beugt.«47 In Deutschland, aber auch in den USA dominierten Anfang des 20. Jahrhunderts Großkonzerne den Markt, deren Monopole zunehmend die wirtschaftliche Dynamik gefährdeten. Das Individuum unterliege, wie Fromm noch ganz in marxistischer Diktion formuliert, in diesem »Monopolkapitalismus« externen Zwängen. Ökonomische Krisen oder die Übermacht von Kartellen riefen in ihm das Gefühl hervor, es werde von dunklen Mächten gesteuert, denen es hilflos ausgeliefert sei.48 Wenn die sozialen Institutionen das Individuum mit einem Gefühl des Mangels an Sicherheit und Zusammenhalt zurückließen, mache »dieser leere Raum die Freiheit zu einer unerträglichen Last«.49 Es ist diese Freiheit von Bindung, die laut Fromm zu einem Wunsch nach Unterwerfung führt. Der Autoritarismus ist ein regressiver Versuch, die Spannung zwischen bedrohlicher Außenwelt und prekärem Selbst aufzulösen.
Mit Fromms Konzeption erfährt die Kritische Theorie der Freiheit eine Wende. Wie seine ehemaligen Kollegen sieht er die autoritären Gefahren einer negativen Freiheit. Anders als Horkheimer und Adorno formuliert er aber ein Ideal positiver Freiheit. Der Bruch mit seinen Kollegen, die damals noch stark vom Marxismus beeinflusst waren, wird in seinem Menschenbild deutlich: »Der Mensch hat die Möglichkeit, spontan in Liebe und Arbeit mit der Welt in Beziehung zu treten und auf diese Weise seinen emotionalen, sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten einen echten Ausdruck zu verleihen.«50 Die Antinomien der modernen Freiheit lassen sich darum für Fromm regressiv über eine autoritäre Beherrschung und Unterwerfung auflösen oder aber über eine responsive Beziehung zur Welt. Im Anhang zu Die Furcht vor der Freiheit betont er dies als entscheidende Differenz seiner Sozialpsychologie zur Psychoanalyse Freuds: »Das Schlüsselproblem der Psychologie ist das Problem der besonderen Art der Bezogenheit des einzelnen auf die Welt, und nicht die Befriedigung oder Frustrierung einzelner triebhafter Begierden.«51 Gegen den Determinismus der Triebe setzt er die freie, spontane Beziehungsfähigkeit der Menschen. Was sich wie eine implizite Abrechnung mit den Frankfurter Kollegen liest, ist gleichzeitig eine Erweiterung der modernen Freiheitsproblematik um ihre intersubjektiven Strukturen, in denen Resonanz erfahren oder blockiert werden kann.52
In diesem kurzen Durchgang durch die Freiheitsmodelle der ersten Generation der Kritischen Theorie tritt ein Grundgedanke klar zutage: In einer radikalen Desillusionierung des optimistischen Fortschrittsbewusstseins gilt ihr das Projekt der modernen Freiheit von Anbeginn als dialektisch strukturiert, so dass es im historischen Verlauf zu Pathologien und Bedrohungen kommt. Die Antinomien, denen die individuelle Freiheit im gesellschaftlichen Progress ausgesetzt ist, liegen in ihr selbst, »das heißt, daß wir, wirklich und höchst real, frei und nicht frei in eins sind«.53 Aus der rein formalen Freiheit in arbeitsteilig organisierten Marktgesellschaften resultiert so der Widerspruch, de jure frei zu sein, aber de facto nicht über sich selbst bestimmen zu können.
Diese Idee ist in zwei Binnendifferenzierungen in der Kritischen Theorie angelegt, die historisch vor der Folie des frühen organisierten Kapitalismus des 20. Jahrhunderts zu verstehen sind. Die erste bezieht sich auf das Paradox der Befreiung in einer spätindustriellen Moderne, die über eine umfassende Liberalisierung neue Freiheitsspielräume schuf, damit aber paradoxerweise eine ungeahnte Konformität des Handelns und Denkens produzierte und so die Emanzipationsräume letztlich verkleinerte. Wir erinnern uns an Marcuse, der die befreiende, entfesselnde, im Kern jedoch destruktive Potenz der liberalen Freiheit hervorhob. Mit der zweiten Differenzierung tritt der zwingende Charakter der Individualfreiheit hinzu, der aus einer eigentümlichen Verschränkung von Konkurrenz und Monopol abgeleitet wird. Zwischenmenschliche Beziehungen sind wettbewerbsförmig organisiert, die Arbeitswelt durch die Macht großer Konzerne geprägt. Dies setzt, wie wir bei Fromm gesehen haben, Gefühle der Isolation und Abhängigkeit frei, die für autoritäre Reaktionsweisen anfällig machen.
Die historisch entwickelten Perspektiven der frühen Kritischen Theorie unterscheiden sich in ihren Nuancierungen, relativ einig ist man sich indes darin, dass »das Individuum unter den Bedingungen des Spätkapitalismus kaum eine Überlebenschance hat«.54 In den letzten fünfzig Jahren hat das Individuum jedoch neue Vitalität geschöpft, in vielen Bereichen ist es individualistischer (und aus der Perspektive der Kritischen Theorie damit auch konformistischer) denn je. Für Zygmunt Bauman, den feinsinnigen Diagnostiker der Moderne, wurden dem »›Individuum‹« – er setzt es selbst bewusst in Anführungszeichen, um den Zweifel an der Individualität des Individuums syntaktisch einzupreisen – »alle nur erdenklichen Freiheiten, alle Freiheiten, auf die es gehofft hatte, gewährt«.55
Eine Kritische Theorie der Freiheit in der Gegenwart muss diesen Veränderungen Rechnung tragen. Sie kann gewinnbringend an die Deutungen der immanenten Spannungen moderner Individuen anknüpfen, ist aber herausgefordert, diese mit der neuen gesellschaftlichen Situation abzugleichen. Die klassische Kritische Theorie entstand im Angesicht des Totalitarismus und entwickelte sich unter den Bedingungen einer »organisierten Moderne«56 weiter. Diese Moderne war »ein eingeschworener Feind der Kontingenz, Vielfalt und Ambiguität, des Eigensinns und der Idiosynkrasie«.57 Sie wurde von oben reglementiert und standardisiert, ihre sozialen Institutionen verurteilten das Individuum zwar nicht moralisch, pressten es aber über homogene Lebens- und Erwerbschancen in eine verwaltete Welt – und ließen es dadurch entfremdet und isoliert zurück. Wir leben heute in einer anderen Gesellschaft: Die Spätmoderne ist beschleunigt, flüchtig und auf permanente Differenzierung angelegt.58 Begehren, Wünsche und Fantasien müssen nicht mehr befreit werden. Die Idee der Befreiung als eine inhärente Potenz des menschlichen Vermögens, die allenfalls durch äußere Schranken blockiert wird, muss unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu justiert werden.59 Freiheit ist zu einer Aufgabe des Individuums geworden. Die Antinomien, die sich zuvor weitestgehend auf die gesellschaftliche Differenz zwischen Institution und Person, zwischen Öffentlichkeit und Privatheit erstreckten, muss der Einzelne nun selbst austragen. In ihm wirken die Spannungen als ein Strom konfligierender Gefühlslagen fort, der energetisch brodelt und nach Entladung drängt. Die Kritische Theorie der Gegenwart muss das Individuum nicht länger über die Gefahren einer repressiven Gesellschaft aufklären, sie ist vielmehr aufgefordert, das gegen die Gesellschaft rebellierende Individuum vor sich selbst zu warnen. War die Kritische Theorie ursprünglich von der Idee getragen, Subjektivität als Quelle der Befreiung zu betrachten, gilt es nun, den Raum der Öffentlichkeit als eine Sphäre der Freiheit zu rehabilitieren.
Vor dem Hintergrund einer extremen historischen Erfahrung, in der sich liberale Gesellschaften in faschistische Diktaturen transformierten, waren Autoritarismus und Liberalismus aus Sicht der Kritischen Theorie keine sich ausschließenden Gegensätze.60 Im Vorwort zum ersten Band von Kultur und Gesellschaft betont Marcuse diese Gewissheit, die er mit den Kollegen des Instituts für Sozialforschung teilte: »[D]ie totalitäre Gewalt und die totalitäre Vernunft [kamen] aus der Struktur der bestehenden Gesellschaft […], die im Begriff stand, ihre liberale Vergangenheit zu bewältigen und ihre geschichtliche Negation sich einzuverleiben.«61 Während liberale Gesellschaften ihre Legitimation aus der Garantie von Freiheitsräumen für ihre Bürger:innen zogen, streben totalitäre Gesellschaften per definitionem danach, in nahezu alle Sphären des sozialen Zusammenlebens hineinzuregieren. Räume der Unverfügbarkeit sind ihnen ein Dorn im Auge. Dies teilen sie mit dem traditionellen Autoritarismus, der auf der Souveränität der staatlichen Macht gegenüber dem Einzelwillen beruht.
Im amerikanischen Exil wandten sich die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung der Aufgabe zu, die Knotenpunkte zu identifizieren, die die liberale Gesellschaft mit ihrer totalitären Aufhebung verbanden – nicht zuletzt, um das Umschlagen der bürgerlichen Freiheit in Autoritarismus erklären zu können. Autoritäre Maßnahmen galten der Kritischen Theorie als ein dunkler, keinesfalls aber wesensfremder Auswuchs des Liberalismus, griff dieser doch notfalls auf das staatliche Gewaltmonopol zurück, um die freie Verfügungsgewalt über das Privateigentum zu verteidigen. Marcuse verweist darauf, dass »gewaltsame Eingriffe der Staatsgewalt«62