Gemeinde gestalten - Uta Pohl-Patalong - E-Book

Gemeinde gestalten E-Book

Uta Pohl-Patalong

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Beschreibung

Neue Perspektiven für die Arbeit in den Kirchengemeinden vor Ort

Gemeinden stehen im Übergang in eine offene Zukunft. Angesichts der Notwendigkeit der Veränderung fragen viele, wie es gehen kann, lebendige und anziehende Gemeinde mit weniger Mitgliedern und weniger Hauptberuflichen zu sein.

Nach den Visionen für die gesamte Kirche in ihrem Buch „Kirche gestalten“ entwirft Uta Pohl-Patalong hier konkrete Perspektiven für die Gemeinden, die sich vor Ort auf den Weg machen möchten. Für zehn zentrale Arbeitsfelder wie z.B. Gottesdienst oder Kasualien, Kita-Arbeit oder Diakonie, Konfi-Zeit oder die Arbeit mit Senior*innen wird analysiert, wo genau die aktuellen Herausforderungen liegen. Uta Pohl-Patalong bietet wichtiges Hintergrundwissen, formuliert Alternativen für die Zukunft und unterstützt mit hilfreichen Hinweisen und bibliologischen Impulsen die Entscheidungsfindung vor Ort.

Das Buch für die Praxis macht Mut zur Veränderung und eröffnet neue Möglichkeiten, in Dörfern und Städten vor Ort Kirche zu sein.

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Seitenzahl: 288

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Neue Wege in die Zukunft der Gemeinde

Wie kann es gelingen, mit weniger Mitgliedern und weniger Hauptamtlichen eine lebendige und anziehende Kirchengemeinde zu sein?

Dafür entwirft Uta Pohl-Patalong konkrete Vorschläge für alle, die sich vor Ort auf den Weg machen möchten.

Für neun zentrale Arbeitsfelder wie Gottesdienst oder Kasualien, Kita-Arbeit oder Diakonie, Konfi-Zeit oder die Arbeit mit Senior*innen beschreibt sie, wo genau die aktuellen Herausforderungen liegen, bietet wichtiges Hintergrundwissen und formuliert konkrete Möglichkeiten für die Zukunft.

Ein Buch für die Praxis, das Mut zur Veränderung macht und neue Möglichkeiten eröffnet, in Dörfern und Städten vor Ort Kirche zu sein.

Foto: © privat

Uta Pohl-Patalong, Dr. theol., geboren 1965, ist Professorin für Praktische Theologie an der Uni Kiel. Sie beschäftigt sich intensiv mit Zukunftsfragen der Kirche und ist eine viel gefragte Referentin zu diesem Thema in kirchlichen und wissenschaftlichen Kontexten.

Uta Pohl-Patalong

Gemeinde

gestalten

Wie die Zukunft vor Ort gelingen kann

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Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.

Copyright © 2024 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-31486-6V001

www.gtvh.de

Inhalt

Einleitung

Prolog

Kapitel 1

Gottesdienst

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Zum Charakter des Gottesdienstes

2.2 Zu den Formen des Gottesdienstes

2.3 »Agendarische« und »alternative« Gottesdienste

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 2

Kasualien

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Zum Charakter der Kasualien

2.2 Kasualien und das Verhältnis zur Kirche

2.3 Individuellere Gestaltung von Kasualien

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 3

Seelsorge

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Was ist Seelsorge?

2.2 Die Rolle des christlichen Glaubens in der Seelsorge

2.3 Wer darf und kann Seelsorger*in sein?

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 4

Diakonie

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Was ist eigentlich Diakonie?

2.2 Was ist das Christliche der Diakonie?

2.3 Organisationsformen und Arbeitsfelder der Diakonie

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 5

Kindertagesstätten

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Die Aufgabe kirchlicher Kitas

2.2 Integrierte Religionspädagogik

2.3 Kitas als kirchliche Orte

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 6

Konfi-Zeit

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Was ist Sinn und Ziel der Konfi-Zeit?

2.2 Modelle der Konfi-Zeit

2.3 Einige Einsichten in die empirische Erforschung der Konfi-Zeit

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 7

Jugendarbeit

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Jugendliche und Kirche heute

2.2 Ziele und Inhalte kirchlicher Jugendarbeit

2.3 Gestaltungsformen kirchlicher Jugendarbeit

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 8

Erwachsenenbildung

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Was ist eigentlich kirchliche Erwachsenenbildung?

2.2 In welchen Gestalten findet kirchliche Erwachsenenbildung statt?

2.3 Milieus und Kontext als Zugänge zu der Vielfalt von Lebensorientierungen und Bedürfnissen

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Kapitel 9

Arbeit mit Senior*innen

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

2. Was man dazu wissen sollte

2.1 Bedeutung und Tradition der Arbeit mit Senior*innen für die Kirche

2.2 »Alter« heute

2.3 Senor*innenarbeit zwischen Betreuung und Selbstorganisation

3. Welche Alternativen gibt es?

4. Anregungen zur Weiterarbeit

Epilog

Einleitung

»Gemeinde gestalten« ist eine Aufgabe, die heute eine besondere Herausforderung bildet. Vordergründig geht es darum, mit weniger Kirchenmitgliedern, weniger Geld und vor allem mit weniger Hauptamtlichen ein lebendiges Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. Im Kern geht es jedoch um die Frage, welche Gestalten von Kirche und Gemeinde im 21. Jh. für mehr und andere Menschen als bisher attraktiv sein können. Das klingt wie die Quadratur des Kreises, muss es aber nicht sein. Denn die äußeren Notwendigkeiten zur Veränderung bieten die Chance, dass jetzt tatsächlich grundlegend gefragt wird, wie wir eigentlich Kirche und Gemeinde heute und künftig sein wollen. Dass dies inhaltlich ansteht, wurde bereits in der Kirchenreformbewegung der 1960er-Jahre formuliert. Dass die Kirche mit deutlich weniger Geld auskommen muss, wissen wir seit den 1990er-Jahren. Der massive Rückgang der Hauptamtlichen – und unter ihnen vor allem der Pfarrpersonen – macht die Veränderungen jetzt jedoch wirklich unausweichlich, weil die bisherigen Strukturen eine große Zahl von ihnen erfordern.

In welche Richtungen sich die Kirche und ihre Akteur*innen verändern können, habe ich in dem Band »Kirche gestalten« thematisiert.1 Er nimmt die Perspektive der Gesamtkirche in den Blick und entwirft Zukunftsperspektiven für diese. Implizit werden darin natürlich auch Konsequenzen für die einzelne Gemeinde oder die Region deutlich. Diese verdienen jedoch auch eine eigene Betrachtung, die von den Möglichkeiten und auch den Entscheidungsspielräumen der einzelnen Gemeinde ausgeht und aufzeigt, wie sie mit weniger Kirchenmitgliedern, weniger Geld und weniger Pfarrpersonen ihre Handlungsfelder künftig gestalten kann. Darum geht es jetzt in diesem Buch.

Insofern baut »Gemeinde gestalten« auf den Überlegungen in »Kirche gestalten« und auch des ersten Bandes dieser Trilogie »Kirche verstehen« auf.2 Und gleichzeitig geht es den anderen Bänden wiederum im Handeln voraus: Es thematisiert, was Gemeinden tun können, wenn sie sich verändern wollen (oder müssen), aber eine Reform der kirchlichen Strukturen insgesamt noch auf sich warten lässt.

Das Buch richtet sich an Menschen, die für die Entscheidungen in den Gemeinden Verantwortung tragen, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich. Es ist aber auch für Menschen geschrieben, die sich allgemein für die Zukunft von Kirchen und Gemeinden interessieren und sich neue Formen wünschen, in denen sie sich eher wiederfinden als in den traditionellen. Es setzt kein Theologiestudium und möglichst wenig »Insiderwissen« voraus. Das Buch ist aus dem evangelischen Kontext heraus verfasst und hat primär die Realitäten der evangelischen Kirche im Blick. Manches davon dürfte auf die katholische Kirche übertragbar sein; allerdings wurde in den meisten Diözesen eine strukturelle Entscheidung für »Großpfarreien« getroffen, sodass die Optionen weniger offen sind als in den evangelischen Gemeinden.

Neun typische Handlungsfelder der Ortsgemeinde bilden die Grundlage der folgenden Kapitel. Diese auszuwählen war nicht leicht. Ich habe mich für die klassischen Felder Gottesdienst, Kasualien, Seelsorge, Diakonie und Kindertagesstätten sowie für die klassischen Zielgruppen Konfirmand*innen, Jugendliche, Erwachsene und Senior*innen entschieden. Gerne hätte ich den musikalischen Bereich, die Arbeit mit Kindern im Grundschulalter, Angebote zu Meditation und Spiritualität und einige weitere Elemente gemeindlicher Arbeit aufgenommen. Dass ich sie nicht berücksichtigt habe, bedeutet nicht, dass ich sie weniger wichtig finde, sondern ist eine Folge von pragmatischen Abwägungen: Die Kirchenmusik hat eine Querschnittsstruktur, weil sie in fast allen hier behandelten Handlungsfeldern vorkommt. Ein Kapitel zur Arbeit mit Kindern im Grundschulalter hätte sich teilweise mit den Überlegungen zur Zukunft der Kita-Arbeit einerseits und der Jugendarbeit andererseits überschnitten. Und Meditation und Spiritualität spielen in vielen Gemeinden bislang nur eine untergeordnete Rolle.

Die Kapitel sind ebenso aufgebaut wie in »Kirche gestalten«: Sie beginnen mit drei fiktiven Szenarien aus dem Gemeindeleben, die exemplarisch Anstöße zur Veränderung zeigen. Anschließend werden die besonderen Herausforderungen jedes Handlungsfeldes formuliert. Es folgt Hintergrundwissen, mit dem man das Thema und die Herausforderungen heute besser verstehen und Entscheidungen fundierter treffen kann. Dem schließen sich drei Alternativen an, in welche Richtung sich eine Gemeinde entwickeln könnte. Sie eröffnen jeweils ein Spektrum zwischen Nähe zu den bisher gewohnten Strukturen und Suche nach neuen Wegen. Selbstverständlich sind die Alternativen weder völlig neu (manche Gemeinden werden sich darin bereits wiedererkennen) noch die einzig möglichen – und sie dürfen gerne als Impulse für vierte und fünfte Alternativen genutzt werden. Schließlich gibt es Anregungen zur Weiterarbeit: Fragen zur Selbstreflexion können helfen, die eigene Position zu klären. Ein biblischer Impuls – geprägt vom Bibliolog, der in die Innenperspektive der biblischen Szenen hineinführt3 – öffnet die Überlegungen für die geistliche Dimension des Themas. Am Schluss wird eine Methode vorgeschlagen, wie sich ein Gremium oder eine Gruppe z. B. im Rahmen einer Gemeindeberatung oder einer Klausurtagung (idealerweise nach der Lektüre des Buches, aber auch ohne diese denkbar) kreativ mit dem jeweiligen Handlungsfeld beschäftigen und eine mögliche Entscheidung vorbereiten kann.

Die Kapitel müssen nicht in der Reihenfolge gelesen werden, in der sie stehen. Ebenso wenig müssen (und können) alle Handlungsfelder auf einmal bearbeitet werden. Sinnvoll ist es, dort mit der Veränderung zu beginnen, wo die Motivation dazu besonders groß ist, wo Energie für Neues vorhanden ist und wo rasch spürbar werden kann, worin der Gewinn des Wandels liegt.

Unterstützt und sehr gefördert wurde das Buch durch die kritischen Hinweise und guten Ideen meiner Erstleser*innen aus ihren unterschiedlichen Perspektiven. Alle Kapitel wurden gelesen und wertvoll kommentiert von Philipp Elhaus, Jan Fragner, Juliane Göweke, Ursula Kranefuß, Dr. Gabriela Muhl, Inke Pohl sowie Kristina und Stefan Ziegenbalg. Zusätzlich habe ich Expert*innen für die jeweiligen Handlungsfelder aus der kirchlichen Praxis um ihre kritischen Kommentare gebeten und davon ebenfalls sehr profitiert. Dies waren Claudia Aue, Gudrun Babendererde, Maike Barnahl, Gabriele Ehrmann, Dr. Tobias Fritsche, Ingrid Klein, Maike Lauther-Pohl, Dr. Achim Plagentz, Michael Raddatz, Diana Robel, Antje Rösener und Kirsten Sonnenburg. Ihnen allen einen sehr herzlichen Dank für die enorm hilfreiche Unterstützung!

Danken möchte ich auch meinem wunderbaren Team am Institut für Praktische Theologie der Uni Kiel, das gemeinsam mit mir inspirierend und kreativ über die Zukunft der Kirche nachdenkt. Dabei entstehen auch Formen jenseits der klassischen wissenschaftlichen Zugänge – beispielsweise in unserem Instagram-Account PT_ImEchtenNorden, in dem wir das Nachdenken über religiöse Praxis mit Impulsen für diese Praxis verbinden, nicht zuletzt in Visionen für eine Kirche der Zukunft.

Ein herzlicher Dank geht auch an Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, der die Idee für die Trilogie von »Kirche verstehen«, »Kirche gestalten« und »Gemeinde gestalten« sehr unterstützt und hilfreich begleitet hat.

Mein Dank gilt schließlich allen Gemeinden, Kirchenkreisen, Synoden, Pfarrkonventen und anderen Einrichtungen, die mit mir im Rahmen von Vorträgen meine Ideen diskutieren. Dies sind immer Begegnungen zwischen praktisch-theologischer Wissenschaft und kirchlicher Praxis, von denen ich viel lerne und die die Praktische Theologie meinem Verständnis nach ausmachen. Davon können meiner Meinung nach beide Seiten sehr profitieren – gerade in diesen Zeiten großer und herausfordernder Veränderungen mit einem immensen Potenzial für Menschen und Kirche.

Weseby an der Schlei, im Juli 2024

Uta Pohl-Patalong

1 Vgl. Uta Pohl-Patalong: Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh 2001.

2 Uta Pohl-Patalong/Eberhard Hauschildt: Kirche verstehen, Gütersloh 2016, 2020.

3 Mehr dazu findet man in: Uta Pohl-Patalong: Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule. Band 1: Grundformen, Stuttgart 32013.

Prolog

Überlegungen zur Zukunft der Kirche sind nie voraussetzungslos, sondern beruhen immer auf bestimmten Annahmen und Überzeugungen. Welche dies für die folgenden neun Kapitel sind, soll vorweg transparent gemacht und erläutert werden. Diese vier Überzeugungen bilden gleichsam die Grundlage, auf der die folgenden Kapitel basieren.

Die grundlegende Aufgabe der Kirche ist die lebensrelevante Kommunikation des Evangeliums.

Fragt man nach der grundlegenden Aufgabe der Kirche in theologischer Perspektive, wird dies heute gerne mit der Formulierung »sie soll Evangelium kommunizieren« beantwortet. Diese Begrifflichkeit geht zurück auf den Praktischen Theologen Ernst Lange in den 1960er-Jahren, ist aber erst in den letzten Jahren so bedeutsam geworden.

»Kommunikation des Evangeliums« übersetze ich mit: Die Kirche soll möglichst vielen unterschiedlichen Menschen die Möglichkeit eröffnen, in Kontakt zu kommen mit der unendlichen Liebe Gottes zu ihnen persönlich und zu der gesamten Schöpfung. Sie soll ihr Mögliches dazu tun, dass diese Begegnung gelingt und Menschen die Liebe Gottes in ihrem Leben wirklich erfahren. Ob das geschieht, haben die Kirche und die Menschen, die in ihr tätig sind, natürlich nicht in der Hand. Theologisch verstehen wir das, was sich zwischen Gott und Menschen ereignet, als Wirken des Geistes – und der weht bekanntlich, wo er will. Gleichzeitig lässt er sich gerne einladen. Daher ist es keineswegs gleichgültig, welche Kontaktmöglichkeiten mit der Liebe Gottes die Kirche eröffnet und wie sie sie gestaltet: Formen und Formate, die für die jeweilige Person in ihrem Alter und ihrer Lebenssituation, ihren Fragen und Themen gut zugänglich sind, erhöhen die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass sie die Liebe Gottes entdeckt und erfährt. Hier kommt der Charakter der Kommunikation ins Spiel.

Dieser Begriff setzt im Gegensatz zu der früher gebräuchlichen »Verkündigung« einen anderen Akzent. Während »Verkündigung« Bilder von einer Kanzel weckt, von der aus eine Amtsperson das Wort Gottes »ausrichtet«, ereignen sich Kommunikationsvorgänge zwischen Menschen auf Augenhöhe. Entscheidend ist dabei nicht, was man eigentlich sagen oder erreichen wollte, sondern es geht darum, was bei Menschen ankommt und was die Kommunikation bewirkt. Theologisch bedeutet das: Das Evangelium zielt nicht darauf, ausgerichtet zu werden, sondern bei Menschen anzukommen und etwas in ihnen zu berühren.

Kommunikation ereignet sich auf vielfältige Weise. Man kommuniziert ja bei Weitem nicht nur mit Worten (Kommunikationsstudien zeigen sogar, dass von nur Gehörtem wenig ankommt), sondern auch mit Taten, mit Gesten, mit Klängen, mit Symbolen oder mit Ritualen. Kommunikation geschieht nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst, nicht nur absichtlich, sondern auch nebenbei. Wenn man von der »Kommunikation des Evangeliums« spricht, ist also keinesfalls nur die Predigt oder der Gottesdienst gemeint. Menschen können die unbedingte Liebe Gottes auf sehr verschiedenen (Kommunikations-)Wegen erfahren – in der Seelsorge ebenso wie in der Diakonie, in einem Jugendevent ebenso wie in einer Meditation, im Morgenkreis der evangelischen Kita ebenso wie in der Kirche am Urlaubsort, in dem Gottesdienst zum Schulanfang ebenso wie im interreligiösen Dialog, im Senior*innenkreis ebenso wie in der digitalen Kirche. Überall dort und an ganz vielen anderen Orten können Menschen etwas von der Liebe Gottes erleben und sie kann etwas in ihnen bewegen. Was dies ist, ist sehr unterschiedlich. Es kann Konsequenzen haben für das Zusammenleben von Menschen, in der Kindererziehung, im Umgang mit Menschen anderer Kulturen, in der Bewahrung der Schöpfung, im Umgang mit Krisen, mit Stress und in vielerlei anderer Hinsicht. Von außen sind diese Konsequenzen oft kaum zu erkennen und sie sind auch nicht immer leicht zu formulieren.

In einem Forschungsprojekt haben wir allerdings genau danach gefragt und viele Antworten bekommen, die einen Eindruck davon geben, was dieses Erleben von »Evangelium« bedeuten kann. Einige Beispiele dafür:

»Also ich habe, glaube ich, habe mein Auftreten sehr verändert. Also einfach dieses, ähm, mich nicht noch vor anderen in der Schule zum Beispiel zu verstellen, weil ich so den Gedanken habe, ›okay, ich muss denen jetzt gefallen‹. Das ist einfach nicht mehr, das ist einfach so dieses ›okay, ich muss mir gefallen und ich gefalle Gott und deshalb muss ich mich nicht verstellen vor anderen.‹« (aus einem Interview im Rahmen einer Jugendkirche)»Und eben das Positive: Wie kann ich negative Sachen in eine positive Form bringen? Ich kann sagen: Ich bin in einer Depression. Ich kann aber auch sagen: Ich bin in einer Lebenssuche. Und das fasziniert mich hier bei all der Schwere, die es auch in dieser Welt gibt, dann trotzdem zu diesem Positiven hinzukommen. Trotz allem ein ›Ja‹.« (aus einem Interview im Rahmen einer Online-Kirche)»Wir hören ja auch von den Problemen der anderen und auch von den Lebensschicksalen zum Teil, und dann sag ich immer wieder: ›Danke, lieber Gott, ich darf mit dir über Mauern springen und ich kann die Probleme lösen, hab die Probleme gelöst, die ich hatte.‹ Trotzdem kommen immer neue und da fällt mir das ein: ›Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.‹« (aus einem Interview im Rahmen eines Senior*innenkreises)»… weil da, zumindest was meine Perspektive angeht, wirklich ein Mindshift passiert ist. Da hat sich so viel verändert in meinem Denken, in meinem Fühlen, in meinem Überlegen.« (aus einem Interview im Rahmen einer Online-Kirche)

Die zurückgehende Bindung an die Kirche bedeutet nicht, dass im gleichen Maße das Interesse für religiöse Themen und Fragen schwindet.

Seit einigen Jahrzehnten wird eine Frage diskutiert, die für die Zukunft der Kirche zentral ist: Bedeutet die zurückgehende Bindung an die Kirche, dass Menschen deutlich weniger religiös sind als in früheren Generationen und dass das Interesse für religiöse Fragen und Themen insgesamt zurückgeht? Oder haben sich die Formen von Religiosität verändert und religiöse Fragen und Themen werden zunehmend woanders verhandelt als in den traditionellen kirchlichen Mustern? Dieser alte Streit zwischen der sog. »Säkularisierungsthese« (»die moderne Gesellschaft wird insgesamt immer säkularer«) und der »Transformationsthese« (»in der modernen Gesellschaft verändern sich die Formen von Religiosität«) wurde durch die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Ev. Kirche in Deutschland neu belebt.1 Diese kommt zu dem Schluss, dass mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland (56 %) den »Säkularen« zuzuordnen ist, in deren Leben nach eigenen Angaben Religiosität keine Rolle spielt. 25 % werden als »religiös-distanziert« eingestuft. Nach der Definition der KMU glauben sie zwar überwiegend an Gott, aber stimmen den traditionellen Formulierungen christlicher Lehre nicht zu, sie sind nicht eng an kirchliche Strukturen gebunden und haben eher einen fragenden Zugang zum Glauben als feste Überzeugungen. 6 % werden als »alternativ-religiös« bezeichnet, womit nicht-kirchliche, teils esoterische Formen von Religiosität gemeint sind. 13 % der Bevölkerung sind nach den hier angesetzten Kriterien einer kirchlichen Religiosität zuzuordnen, die traditionellen theologischen Aussagen zustimmen und einen Kontakt zur Kirche pflegen. Sie haben ein überdurchschnittlich hohes Lebensalter und das höchste Bildungs- und Einkommensniveau aller Gruppen.

Folgt man dieser Einschätzung, hätten Veränderungen in den Gestalten der Kirche und in der Ausrichtung der Gemeinde nur eine begrenzte Reichweite. Realistisch würde man sich dann auf das »religiös-distanzierte« Viertel der Bevölkerung konzentrieren müssen, da 13 % mit den jetzigen Formen der Kirche zufrieden sind und die Mehrheit mit Religion abgeschlossen oder sich noch nie für sie interessiert hat. Demgegenüber ist dieses Buch von der Auffassung getragen, das sich wesentlich mehr Menschen für eine christlich geprägte Beschäftigung mit existenziellen Fragen des Lebens interessieren könnten, wenn ihnen andere Zugänge dafür eröffnet werden. Die Ergebnisse von empirischen Studien hängen immer von dem Setting, den Formulierungen der Fragen und der Antwortoptionen ab und können zudem auf unterschiedliche Weise ausgewertet und gedeutet werden. So ist an die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung die Frage zu richten, ob Antworten, die vorrangig auf das Verhältnis zur Kirche zielen, sich für Aussagen über die heute ja sehr vielfältigen Formen persönlicher Religiosität eignen. Zu fragen ist auch, ob es wirklich ein Indiz für eine Distanz zu Religiosität insgesamt ist, wenn man seinen Glauben in der Formulierung »ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat« nicht gut ausgedrückt findet oder wenn man nicht regelmäßig in den Gottesdienst geht. Zudem gibt es auch in den Ergebnissen der Studie selbst Hinweise auf andere Lesarten von Religiosität, wenn man beispielsweise berücksichtigt, wie viele Menschen gelegentlich eine Kerze aus religiösen Gründen anzünden.

Selbstverständlich lässt es sich nicht vorhersagen, in welchem Maße und in welcher Weise sich Menschen neu für Kirche und christlichen Glauben interessieren, wenn ihnen durch neue Gestalten andere Zugänge eröffnet werden. Die neuen Formen von Kirche, wie sie beispielsweise in dem Konzept der »Erprobungsräume« in vielen Landeskirchen sichtbar werden oder als Jugendkirchen, Kasualagenturen, digitale Gemeinden, spirituelle Angebote, missionarisch orientierte »Fresh Expressions of Church« und auf viele andere Weisen erscheinen, stimmen jedoch sehr optimistisch, dass sich auf diesen Wegen mehr und andere Menschen für christliche Inhalte und kirchliche Angebote interessieren als bisher. Vermutlich wird dies auf formaler Ebene nicht unmittelbar zu einer Eintrittswelle in die Kirche führen, weil Menschen sich in der Gegenwart seltener langfristig an Institutionen binden, wie es auch Parteien, Sportvereine etc. erleben. Sie könnten aber bereit sein, konkrete Arbeitsfelder auch finanziell zu unterstützen, deren Bedeutung ihnen einleuchtet und zu denen sie eine Beziehung entwickeln. Vor allem aber würde die Kirche ihre Sozialformen und Strukturen weniger einseitig auf bestimmte Bevölkerungsgruppen konzentrieren und damit gute Voraussetzungen dafür schaffen, dass nicht mehr die Lebensorientierung und das »Milieu« die Zugänge zur kirchlichen Kommunikation des Evangeliums hindern.

Das Prinzip der Dehnung der ortsgemeindlichen Strukturen kommt an seine Grenzen.

Bislang orientieren sich viele kirchliche Reformbemühungen daran, die bisherigen ortsgemeindlichen Strukturen in einem größeren Rahmen weiterzuführen und sie damit quasi zu dehnen. Um zu verstehen, was das bedeutet, ist ein genauerer Blick auf die traditionelle Struktur der Kirchengemeinde erforderlich. Sie beruht nämlich auf drei Eckpunkten:

Die Ortsgemeinde basiert auf dem aus dem Mittelalter stammenden Prinzip der »Flächendeckung«: Jedes Wohngebäude in Deutschland ist einer Gemeinde zugewiesen, deren Mitglied man automatisch wird, wenn man der evangelischen Kirche angehört. Gemeinde wird damit räumlich gedacht. Das Unterscheidungsmerkmal zur nächsten Gemeinde bildet nur die Bezirksgrenze, nicht ihr Charakter oder ihr Profil. Verbunden damit ist eine enge Verbindung von Kirche und Dorf bzw. Stadtteil. Die Ortsgemeinde hat seit Ende des 19. Jhs. zum Ziel, Gemeinschaft und soziale Nähe sowie persönlichen Kontakt zu vermitteln – und zwar nicht nur der Gemeindeglieder untereinander, sondern auch zu den Pfarrpersonen.2 Als in der Zeit der Industrialisierung der Anonymität der Großstadt entgegenwirkt werden sollte, wurden die Pfarrpersonen zu einem entscheidenden Zugangspunkt zur Gemeinde und damit verbunden zum christlichen Glauben. Die Beziehung zu möglichst vielen der Gemeindeglieder wurde geradezu zu einem Qualitätsmerkmal des pastoralen Berufes. Gleichzeitig bekam der Pfarrberuf die »Schlüsselrolle« für das Gemeindeleben zugewiesen – die Pfarrperson sollte die Fäden in der Hand halten und für alle Aktivitäten die Letztzuständigkeit haben. Und drittens bemüht sich die Ortsgemeinde seit den 1970er-Jahren um ein breites Angebotsspektrum. Sie möchte damit in der pluralen Gesellschaft möglichst für alle da sein und den Gemeindegliedern »vor Ort« eine Kontaktfläche zur Kirche mit zielgruppengerechten Aktivitäten bieten.

Diese drei Elemente Flächendeckung, persönlicher Kontakt zur Pfarrperson und Angebotsvielfalt gehörten also ursprünglich nicht zusammen. Dass sich ihre Verbindung historisch so ergeben hat, macht ihre Schwierigkeit aus, mit weniger Ressourcen auszukommen: Überall soll es eine Gemeinde mit einem breiten Angebot geben, das von einer Pfarrperson letztverantwortet wird, von der zudem eine persönliche Beziehung zu den Gemeindegliedern erwartet wird.

Bisher wird vielerorts versucht, mit der Dehnung der bisherigen Strukturen die gewohnte Gestalt in einem größeren Rahmen weiterzuführen. Das geschieht dann, wenn im Rahmen einer Regionalisierung oder Fusion »Seelsorgebezirke« oder eine »pastorale Grundversorgung« aufrechterhalten werden, in der eine Person primär für die Kasualien und seelsorglichen Anliegen eines Bezirkes zuständig ist. Es gilt dann, wenn in einer fusionierten Gemeinde am gleichen Tag ähnlich ausgerichtete Gottesdienste gefeiert werden. Ebenso ist es der Fall, wenn möglichst viele Angebote für unterschiedliche Zielgruppen vor Ort aufrechterhalten werden, um Menschen nicht zu enttäuschen und ihren Erwartungen gerecht zu werden.

Diese Strategie der Dehnung und Weiterführung mit deutlich weniger Ressourcen hat jedoch Grenzen. Zunächst wirkt sie überlastend: Sie übt einen hohen Druck auf diejenigen aus, die möglichst viel von dem Bisherigen bewahren und gleichzeitig neue Wege suchen wollen. Insofern ist das im Moment verbreitete Gefühl von Überlastung, das viele Haupt- und auch Ehrenamtliche spüren, kein persönliches, sondern ein strukturelles. Weitergedacht führt die Dehnung dazu, dass das System kollabiert. Mindestens eines, vermutlich sogar zwei der drei Aspekte Flächendeckung, persönlicher Kontakt zu den Hauptamtlichen und breites Angebotsspektrum vor Ort können nicht mehr erfüllt werden. Wir sehen es in manchen Gegenden Ostdeutschlands: Pfarrstellen mit einer Zuständigkeit für 12 Gemeinden und 19 Predigtstellen oder eine fusionierte Gemeinde mit 25 Kirchen und einer Pfarrstelle bieten nicht nur Arbeitsbedingungen, die für den pastoralen Nachwuchs unattraktiv sind, sondern sind kaum gute Rahmenbedingungen dafür, Evangelium lebensnah zu kommunizieren und Menschen für die Kirche zu begeistern.

Damit sind wir bei der zweiten Problematik der Ortsgemeinde und ihrer klassischen Arbeitsformen: Sie spricht manche Menschen in ihrem Lebensgefühl und ihren Zugängen zum Glauben gut an – aber die meisten nicht. Seit Jahrzehnten trifft sie die Bedürfnisse von ca. 10-15 % der Kirchenmitglieder – obwohl deren Zahl in den letzten 50 Jahren um ca. die Hälfte gesunken ist und in den Gemeinden große Anstrengungen unternommen wurden, das zu ändern. Der Rückgang hat eine demografische Komponente, weil die traditionellen Sozialformen primär ältere Menschen ansprechen und die jüngeren Generationen nicht mehr nachrücken, wenn sie das Alter erreichen. In letzter Zeit kommt jedoch ein Mentalitätswechsel hinzu: Ein sporadischer Kontakt zur Kirche – bei Taufen, Trauungen und Bestattungen und möglicherweise zu Weihnachten oder zum Erntedankfest – reicht nicht mehr aus dafür, dass Menschen Kirchenmitglied bleiben. Ebenso unterstützen Menschen zunehmend weniger selbstverständlich den kulturellen und sozialen Beitrag der Kirche für die Gesellschaft, den sie mit ihren symbolischen Gebäuden und Ritualen sowie ihrem sozialen Engagement leistet. Wie extrem dieser Wandel ist, zeigt der Vergleich der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen von 2012 und 2022: Waren es 2012 noch 26 %, die sich möglicherweise vorstellen konnten, aus der Kirche auszutreten, stieg die Zahl 2022 auf 65 %! Nachgefragt, ob die Kirche etwas tun könne, damit sie nicht austreten würden, sagten 66 % der potzenziell Austrittswilligen, dass sie sich dafür deutlich verändern müsste. Insofern kann die Kirche sich nicht mehr damit zufriedengeben, dass der Hauptteil der Arbeitszeit von Hauptamtlichen und der Finanzen den ca. 10-15 % der Kirchenmitglieder zugutekommt, denen die bisherigen Formen gut liegen. Stattdessen muss sie Formen finden, die mehr und andere Menschen ansprechen als bisher. Das spiegelt sich auch darin, dass in der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 80 % der evangelischen Kirchenmitglieder meinen, dass sich die Kirche deutlich verändern muss, wenn sie eine Zukunft haben will.3

Folgt man diesen Überlegungen, kann die Konsequenz nur sein, kirchliche Sozialformen neu zu entwerfen, statt die bisherigen in einem größeren Rahmen und mit leicht veränderten Formen weiterzuentwickeln. Kriterium für die Kategorie des »Neuen« bildet dann zunächst die Auflösung der Kombination von Flächendeckung, persönlichem Kontakt zu den Hauptamtlichen und breitem Angebotsspektrum vor Ort. Alle drei Aspekte würden dann aber auch in sich verändert werden:

Statt Gemeinde einseitig räumlich zu denken und Menschen einer Gemeinde zuzuweisen, gibt es eine Vielfalt von Gemeindeformen, denen sich Menschen selbst zuordnen. Statt Pfarrpersonen und andere Hauptamtliche in Person als Zugänge zu Kirche zu verstehen, überzeugen die Inhalte – was natürlich von (haupt- und ehrenamtlichen) Personen unterstützt wird. Statt ein möglichst breites Angebotsspektrum möglichst überall vorzuhalten, werden an den kirchlichen Orten exemplarisch bestimmte Handlungsfelder gestaltet.

Mit Verlusterfahrungen durch die Veränderungen muss bewusst und seelsorglich umgegangen werden.

Solche Veränderungen in der Kirche sind nicht nur Aufbrüche und neue Chancen. Für manche Menschen sind damit auch Verluste verbunden. Das gilt vor allem für die Kirchenmitglieder, die mit den bisherigen Strukturen eng verbunden sind. Es gilt aber manchmal auch für Menschen, die einen gelegentlichen Kontakt zur Kirche pflegen und sich wünschen, dass sie z. B. bei einer Trauung noch die gleiche Kirche möglichst mit der gleichen Pfarrperson vorfinden, wie sie sie bei ihrer Konfirmation erlebt haben. Und selbstverständlich kann es auch für hauptamtlich in der Kirche Tätige gelten, die ja lange in diesen Strukturen und manchmal auch für ihren Erhalt gearbeitet haben.

Im Umgang mit diesen Verlustgefühlen erscheint es wichtig, die Ebenen zu unterscheiden: Sie sind als persönliche Äußerungen eines Verlustes ernst zu nehmen und seelsorglich zu begleiten, wobei Verständnis für ihre Perspektive geäußert werden sollte. Dies bedeutet jedoch nicht, diesen Schmerz niemandem zumuten zu wollen und daher auf die Veränderung zu verzichten. Die Kirche darf und muss vermutlich heute auch Menschen aufgrund von Veränderungen enttäuschen. Dafür ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder nur deshalb keine Enttäuschung äußert, weil sie gar nicht von der Kirche erwartet, dass sie ihnen gemäße Formen anbietet. Dass sie nichts sagen, bedeutet nicht, dass sie mit den bisherigen Formen zufrieden sind – man denke daran, dass sich 80 % der Kirchenmitglieder eine deutliche Veränderung der Kirche wünschen.

Wichtig für den Umgang ist jedoch auch, nicht zu warten, bis die Enttäuschung artikuliert wird, bevor man darauf reagiert. Ein engagierter und sorgfältig durchdachter Dialog, der von den Perspektiven der Menschen ausgeht, bildet eine wichtige Grundlage für gelingende Veränderungsprozesse. An den Überlegungen sollten möglichst viele Menschen – und zwar solche, die an den bisherigen Formen teilgenommen haben, und solche, die das nicht getan haben – beteiligt werden. Dabei muss transparent gemacht werden, wer auf welchen Wegen in welchem Zeitraum Entscheidungen trifft und wie die Berücksichtigung der verschiedenen Stimmen erfolgt. Dass am Ende alle mit dem Ergebnis zufrieden sind, ist unwahrscheinlich – aber je mehr Menschen den Eindruck haben, dass ihre Anliegen gehört und ernst genommen werden, desto besser können sie sich mit Veränderungen arrangieren.

Hilfreich in diesen Prozessen ist auch, immer mitzudenken und zu kommunizieren, was der mögliche Gewinn in einem Verlust sein könnte. So kann es schmerzlich sein, nicht mehr in der gewohnten Kirche den Gottesdienst zu feiern, in dem man sich wohlfühlt; aber dafür feiert man ihn vielleicht mit deutlich mehr Menschen und er findet an einem anderen Ort zuverlässig in der gleichen Form statt.

Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass die bisherige enge Verbindung von Kirche und Ort die Erwartung hervorgerufen hat, dass die »eigene« Gemeinde in kurzer Distanz erreichbar ist. Zumindest für den Übergang und teilweise auch auf Dauer müssen Lösungen gefunden werden, wie weniger mobile Menschen unkompliziert die Gemeinde ihrer Wahl erreichen können. Wenn jedoch argumentiert wird, dass Menschen nur bereit seien, die Kirche oder Gemeinde in ihrem eigenen Dorf aufzusuchen, kann dies als Folge jahrhundertelanger Praxis und auch expliziter Erwartungen kirchlicherseits aufgefasst werden. Dann ist es keine unabänderliche Tatsache, sondern ein Argument dafür, nun eine andere Logik von Kirche behutsam anzubahnen, gut zu gestalten, transparent zu machen sowie Mobilitätslösungen anzubieten und einzuüben. Dabei sind neue und attraktive Bilder von Kirche und gute Erfahrungen mit ihren neuen Gestalten wichtig. Denn ohne eine Vision von einer lebendigen Kirche der Zukunft besteht die Gefahr, in den vertrauten Denkmustern zu bleiben und diese nur ein wenig zu erweitern. In diesem Sinne sind die folgenden Kapitel zu verstehen.

Insofern geht dieses Buch davon aus, dass Veränderungen der gemeindlichen Strukturen und Lebensäußerungen nicht nur im Blick auf die Ressourcen notwendig, sondern auch inhaltlich sinnvoll und schließlich realistisch umsetzbar sind. Ihr Ziel ist es, die Aufgabe der Kirche bestmöglich zu unterstützen, möglichst vielen und unterschiedlichen Menschen einen Zugang zu der Liebe Gottes zu ihnen und der gesamten Schöpfung zu eröffnen.

1 Ev. Kirche in Deutschland (Hg.): Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Leipzig 2023, 19-23.

2 Vgl. dazu Uta Pohl-Patalong: Kirche Gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh 2021, 51-53.

3 Zu diesen Zahlen vgl. a.a.O., 57f. bzw. 48.

Kapitel 1

Gottesdienst

Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis

Szenario 1:

»Gottesdienst als Mitte der Gemeinde« – das hat in der Petrusgemeinde einer Kleinstadt bis vor einigen Jahren noch recht gut funktioniert. Auch an einem ›normalen‹ Sonntag war die Kirche ziemlich gut besetzt mit älteren Menschen, Besucher*innen aus den verschiedenen Gruppen und Konfirmand*innen, die sich ihren Stempel abholen wollten. Mittlerweile sind viele der Älteren ins Pflegeheim gezogen, verstorben oder nicht mehr mobil genug. Manche der Gruppen gibt es nicht mehr und für viele Teilnehmer*innen der verbliebenen Gruppen ist der Sonntagsgottesdienst einfach nicht ihre Form, wie sie auf Nachfrage ehrlich sagen. Die Konfirmand*innen werden nicht mehr verpflichtet, sondern sollen in selbst gestalteten Jugendgottesdiensten die Chance bekommen, den Gottesdienst als lebendig und bedeutungsvoll für ihr Leben zu erfahren – und freiwillig kommen sie nicht in den traditionellen Gottesdienst.

Die Gründe für den gesunkenen Gottesdienstbesuch leuchten den Hauptamtlichen und dem Kirchengemeinderat ein. Es stellt sich jetzt aber die Frage: Was tun? Weitermachen wie bisher in immer kleinerer Zahl – oder etwas ändern? Und wenn ja, was?

Szenario 2:

In der Gemeinde St. Gertrud ist der Gottesdienstbesuch schon seit vielen Jahren gering. Der Dorfgemeinde war ihre Eigenständigkeit immer wichtiger als regionale Zusammenarbeit. Jede Woche soll ein Gottesdienst in der wunderschönen, vom Kirchbauverein aufwändig renovierten kleinen Dorfkirche stattfinden. Dafür nimmt die Gemeinde in Kauf, dass er schon um 8.45 Uhr beginnt, damit die für mehrere Gemeinden zuständige Pfarrerin danach noch zwei weitere Gottesdienste schafft. Drei bis vier Gemeindeglieder bemühen sich sehr, regelmäßig zu kommen, damit die Pfarrerin nicht alleine dort steht. Manchmal kommen einige Tourist*innen dazu, die sich dann ein wenig unbehaglich umsehen, aber der Kirche viele Komplimente aussprechen. In der Grippewelle im letzten Winter fiel der Gottesdienst schon mal mangels Beteiligung ganz aus. Die Pfarrerin fragt sich, ob dieser Gottesdienst nicht zu den Aufgaben gehört, die angesichts ihrer permanenten Überlastung vielleicht doch einmal wegfallen könnten, bringt es aber bisher nicht über das Herz, die treuen Gottesdienstbesucher*innen und den Kirchbauverein damit vor den Kopf zu stoßen. Glücklich ist jedoch niemand mit der Situation.

Szenario 3:

In der städtischen fusionierten Thomasgemeinde gibt es ein vielfältiges gottesdienstliches Angebot: Neben dem klassischen Gottesdienst am Sonntagmorgen, der einmal monatlich mit anderer Liturgie als Familiengottesdienst gefeiert wird, wird an jedem ersten Sonntag im Monat um 18 Uhr ein alternativer Gottesdienst »für Suchende« angeboten und ebenfalls jeden Monat ein Jugendgottesdienst, der die Konfis einbezieht. Ostermontag und Himmelfahrt werden Open-Air-Gottesdienste gefeiert, im Mai gibt es einen Motorrad-Gottesdienst und in der Passionszeit mittwochs um 20.30 Uhr meditative Gottesdienste. Die Gemeinde ist stolz auf ihre lebendige Gottesdienstkultur, von der sehr unterschiedliche Menschen angesprochen werden, und die bei Weitem nicht nur Gemeindemitglieder anzieht.

Nachdem allerdings die Pfarrstellen von vier auf zwei reduziert worden sind und nun die Diakonin für die Region zuständig ist, erweist sich diese Fülle von Gottesdiensten als Last für die Hauptamtlichen. Neben ihren vielen anderen Aufgaben gehen die Vorbereitung und Durchführung über ihre zeitlichen Grenzen. In der Vorbereitung müssen sie immer öfter auf schon einmal gehaltene oder aus dem Internet gezogene Predigten zurückgreifen. Dazu gab es schon erste kritische Nachfragen.

Die Hauptamtlichen halten mit dem Kirchenvorstand Krisenrat: Sollen wir einen Teil der Gottesdienste abschaffen, und wenn ja, welchen? Wenn es nach der Zahl der Teilnehmenden geht, müsste es der agendarische Sonntagsgottesdienst sein, aber ist der nicht »Pflicht«? Können Ehrenamtliche einen Teil der Gottesdienste übernehmen? Können wir uns mit den Nachbargemeinden abstimmen und Gottesdienste zwischen uns aufteilen? Sind die Jugendgottesdienste noch sinnvoll, wenn gerade für die ganze Stadt eine Jugendkirche aufgebaut wird? Und seit die Nachbargemeinde ein Profil als Familienkirche entwickelt hat, sind die Gottesdienste für Klein und Groß ja auch nicht mehr so gut besucht. Die Gemeinde merkt bei der Auseinandersetzung: Hier geht es nicht nur um das Gottesdienstkonzept, sondern auch um das Selbstverständnis der Gemeinde – ein guter Anlass, sich damit zu beschäftigen.

1. Vor welchen Herausforderungen stehen die Gemeinden?

Der evangelische Gottesdienst wird schon seit dem 19. Jh. nur von einer Minderheit der Kirchenmitglieder besucht. Deren Anteil hat in den letzten Jahrzehnten und noch einmal in den letzten Jahren stark abgenommen. Vor der Corona-Pandemie besuchten den Gottesdienst an einem »normalen« Sonntag 3,2 % der evangelischen Kirchenmitglieder, Karfreitag waren es 3,8 %, Erntedank 6,6 %, während für Heiligabend 37,1 % gezählt wurden.1