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Kirche im Umbruch
Die Kirche ist im Umbruch. In fast allen kirchlichen Gremien müssen weitreichende Entscheidungen über ihre Zukunft getroffen werden. Dafür bietet dieses Buch Unterstützung mit Orientierung und Entscheidungshilfen bei der Suche nach der künftigen Gestalt von Kirche und Gemeinden.
Für acht zentrale Themen – wie z.B. die Rolle des Ehrenamtes, die künftigen Formen von Gemeinde oder die Bedeutung des Pfarrberufs – wird anhand von Szenarien aus der Praxis wichtiges historisches und theologisches Hintergrundwissen vermittelt. Verschiedene Möglichkeiten, in welche Richtung es gehen kann, werden mit ihren Vor- und Nachteilen aufgezeigt. Konkrete Fragen helfen bei einer Entscheidungsfindung vor Ort und werden um Ideen, wie man damit in den Gremien weiterarbeiten kann, ergänzt. Ein biblischer Impuls rundet jedes Kapitel ab.
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Seitenzahl: 285
Uta Pohl-Patalong
Kirche
gestalten
Wie die Zukunft gelingen kann
Inhalt
Ein Wort vorweg: Wie dieses Buch entstanden ist
Prolog: »Kommunikation des Evangeliums« – die Kirche und ihr Auftrag
Kapitel 1
Warum sich die Kirche verändern muss
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Warum sich die Kirche immer verändern muss
2.2 Warum in der Gegenwart besonders einschneidende Veränderungen anstehen
3. Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Kapitel 2
Der Überforderung von Ortsgemeinden begegnen
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Die vier »Logiken« der Ortsgemeinde und ihre Entstehung
2.2 Unterschiedliche Ausformung der vier Logiken
2.3 Theologische Perspektiven
3. Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Kapitel 3
Was macht »Gemeinde« aus?
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Gemeinde als Ortsgemeinde – Stärken und Schwierigkeiten
2.2 Gemeinde in biblischer und reformatorischer Perspektive
2.3 Gemeindesein auf unterschiedlichen Ebenen
2.4 »Typen« von Gemeinde
3. Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Kapitel 4
Kirche jenseits der Ortsgemeinde
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Was macht die nicht-parochialen Formen von Kirche aus?
2.2 Einige Blicke zurück – die Anliegen der Dienste und Werke
2.3 Sind die nicht-parochialen Formen von Kirche »Gemeinde«?
2.4 Das Verhältnis zur Ortsgemeinde
3. Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Kapitel 5
Modelle der künftigen Gestalt von Kirche und ihre Konsequenzen
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Modelle einer künftigen Gestalt von Kirche
2.2 Elemente der künftigen Gestalt von Kirche
3. Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Kapitel 6
Veränderungen im ehrenamtlichen Engagement
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Strukturen des kirchlichen Ehrenamtes
2.2 Die theologische Konstruktion von Amt und Ehrenamt
2.3 Historische Wurzeln des kirchlichen Ehrenamtes
2.4 Freiwilligenarbeit in der Gesellschaft heute
3 Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Kapitel 7
Die Zukunft des Pfarrberufs
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Wozu und für wen ist der Pfarrberuf da?
2.2 Die »Lebensförmigkeit« des Pfarrberufs
2.3 Die Freiheit und die »Unendlichkeit« des Pfarrberufs
2.4 Begrenzung und Profil des Pfarrberufs
3. Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Kapitel 8
Die Bedeutung der gemeindepädagogisch-diakonischen Berufe
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
1. Die Herausforderung
2. Hintergrundwissen
2.1 Der Charakter von »religiösen Berufen«
2.2 Wer sind und was tun Gemeindepädagog*innen und Diakon*innen?
2.3 Wie sind diese Berufe entstanden?
2.4 Die kirchlichen Berufe und die künftige Gestalt der Kirche
3. Alternativen
4. Anregungen zur Weiterarbeit
Epilog: Plädoyer für eine fehlerfreundliche Kirche
Ein Wort vorweg: Wie dieses Buch entstanden ist
Wie soll die Kirche der Zukunft aussehen? Mit diversen Varianten dieser zentralen Frage bin ich in den vergangenen 20 Jahren in der Kirche unterwegs gewesen. Eingeladen haben mich Kirchengemeinderäte, Pfarrkonvente, Kirchenkreis- oder Landessynoden und andere kirchliche Gremien. Sie waren in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Wegen mit Überlegungen zu einer Veränderung der Kirche beschäftigt und erhofften sich von mir als Wissenschaftlerin mit einem besonderen Interesse für den Bereich der Kirchentheorie Impulse und Anregungen. Ich war und bin ausgesprochen gerne mit ihnen im Gespräch, weil ich mein Fach, die Praktische Theologie, in engem Kontakt mit der kirchlichen Praxis verstehe: Sie lässt sich Fragen und Themen aus der kirchlichen Praxis geben, denkt über diese in Verbindung mit wissenschaftlichen Theorien nach und spielt die Ergebnisse wieder in die Praxis zurück. Wie die Praxis mit diesen Impulsen umgeht, bleibt ihr dabei überlassen. Als Wissenschaftlerin nehme ich keine Entscheidungen vorweg, sondern biete bestimmte Perspektiven an, die bei Entscheidungen helfen können: z. B. die aktuellen Herausforderungen in historischer oder theologischer Perspektive zu betrachten, Hintergrundwissen dazu zu liefern oder die konkreten Fragen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Damit sind Impulse verbunden, wie die künftige Gestalt der Kirche aussehen könnte, die von den kirchlichen Entscheidungsgremien aufgenommen werden können, wenn sie sie als sinnvoll erachten. Gleichzeitig habe ich als Kirchenmitglied, als das ich meiner Kirche persönlich sehr verbunden bin, natürlich auch eine eigene Position und ein Interesse an der Zukunft der Kirche, was erkennbar werden darf.
Auch wenn es immer unterschiedliche Kontexte, unterschiedliche Fragestellungen und Schwerpunkte waren, zu denen ich eingeladen wurde, zeichneten sich doch bestimmte Themen ab, die offensichtlich viele Menschen in der Kirche und vor allem in kirchlichen Gremien beschäftigen. So entstand die Idee, meine Überlegungen und Anregungen zur Zukunft der Kirche über meine Vortragstätigkeit hinaus zugänglich zu machen. Da Vorträge in schriftlicher Form häufig nicht sehr attraktiv sind, habe ich sie vollständig umgearbeitet in Kapitel eines Buches. Jedes Kapitel ist identisch aufgebaut und an den Fragen der kirchlichen Praxis orientiert: Es beginnt mit einigen idealtypischen Szenarien, in denen deutlich wird, wo das Thema des Kapitels in der Praxis wichtig wird. Dann wird die jeweilige Herausforderung im Blick auf die Zukunft der Kirche formuliert. Anschließend wird Hintergrundwissen angeboten, mit dem man das Thema und die Problemlage besser verstehen kann. Daraus folgen mögliche Alternativen, für die sich in den aktuellen Problemstellungen Gremien entscheiden könnten. Anschließend gibt es Anregungen zur Weiterarbeit: Einige Fragen können helfen, die eigene Position zu klären. Ein biblischer Impuls zeigt die geistliche Dimension der Fragestellung auf und kann als Gesprächsgrundlage dienen. Er ist von der Herangehensweise des Bibliologs an die Texte geprägt, der »zwischen den Zeilen liest« und mit phantasievollen Deutungsmöglichkeiten in der Perspektive der biblischen Gestalten die Texte neu entdeckt. (Wer sich für den Bibliolog näher interessiert, findet dazu viel in meinem Buch: Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule. Band 1: Grundformen, Stuttgart 32013.) Die Textgrundlage dafür ist die Lutherübersetzung aus dem Jahr 2017. Schließlich schlage ich eine Methode vor, wie man in einem Gremium oder einer Gruppe z. B. im Rahmen einer Gemeindeberatung oder einer Klausurtagung (idealerweise, aber nicht notwendig nach der Lektüre des Buches) an der jeweiligen Frage weiterarbeiten kann. Dabei ist nicht jede Methode auf das jeweilige Thema beschränkt, manchmal können sie auch für ein anderes verwendet werden.
Gleichzeitig ist das Buch quasi der zweite Band einer Trilogie. Das gemeinsam mit Eberhard Hauschildt verfasste Buch »Kirche verstehen« (2020 in neuer Auflage erschienen) führt in die Entstehung und Entwicklung der heutigen Gestalt der Kirche ein und erläutert ihre komplexen und manchmal auch durchaus komplizierten Strukturen. Ist es sein vorrangiges Ziel, zum Verständnis der gegenwärtigen Gestalt von Kirche beizutragen, richtet sich dieser zweite Band auf die Zukunft der Kirche und ihre künftige Gestalt. Im nächsten Jahr soll ein dritter Band »Gemeinde gestalten« kleinteiliger die konkreten Handlungsformen wie Gottesdienst, Jugendarbeit, Konfi-Zeit etc. in den Blick nehmen und nach gelingenden Varianten unter den künftigen Bedingungen fragen.
Als Zielgruppe dieser Trilogie sind vor allem Mitglieder kirchlicher Gremien auf allen Ebenen im Blick, die heute häufig weitreichende Entscheidungen treffen müssen und dafür fundiertes Hintergrundwissen benötigen. Aber auch für sonstige an der Zukunft der Kirche interessierte Menschen bildet das Buch eine Möglichkeit, sich mit den Fragen nach der künftigen Gestaltung der Kirche eingehender zu beschäftigen. Das literarische Genre, wissenschaftliche Inhalte praxisorientiert und (hoffentlich) allgemeinverständlich darzustellen, gibt es insgesamt im deutschsprachigen Raum seltener als z. B. im angloamerikanischen und auch im Bereich der Praktischen Theologie nur vereinzelt – zu dessen Verbreitung möchte ich mit dem Buch gerne beitragen.
Das Buch ist aus evangelisch-lutherischer Perspektive geschrieben. Dies ist nicht nur in den Analysen und Beispielen, sondern auch in den Denkfiguren und Vorschlägen spürbar. Angehörige anderer Traditionen und Kirchen mögen prüfen, was ihnen für ihren Kontext einleuchtend erscheint und wo sie andere Wege gehen. Besonders die katholischen Bistümer in Deutschland stehen vor ähnlichen Herausforderungen und entwickeln Strategien und Lösungsansätze, die Schnittmengen zu Analysen, Thesen und Vorschlägen dieses Buches aufweisen. Die ökumenische Dimension ist daher in den Diskussionen um die Zukunft der Kirche von großer Bedeutung und würde sich eigentlich auch in diesem Buch nahelegen. Die Geschichte und die strukturellen Rahmenbedingungen für die Veränderungsprozesse sind jedoch wiederum so unterschiedlich, dass Fragen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den beiden großen Kirchen in Deutschland ein eigenes Thema wären, das die komplexen Fragen nach der Zukunft der Kirche noch komplexer machen würde.
Gleichwohl spreche ich immer wieder von »der Kirche«. Damit ist die weltweite Kirche Jesu Christi gemeint, die sich in eine Vielzahl von historischen Formen von Kirche konkretisiert. Bei allen Unterschieden zwischen den christlichen Konfessionen und Kirchen werden sie durch den gemeinsamen Auftrag vereint, das Evangelium zu kommunizieren, und können als unterschiedliche Wege verstanden werden, dies zu tun.
Das Buch hat von der Lektüre und den Rückmeldungen mehrerer kritischer Erstleser*innen aus unterschiedlichen Perspektiven und ihrem jeweiligen Erfahrungsschatz sehr profitiert. Ich bedanke mich dafür sehr herzlich bei Philipp Elhaus, Miriam Goldammer, Ursula Kranefuß, Maike Lauther-Pohl, Dr. Antonia Lüdtke, Dr. Gabriela Muhl, Inke Pohl, Stephan Pohl-Patalong und Thomas Steinke. Zum Aufbau und Charakter des Buches hat besonders Philipp Elhaus wertvolle Hinweise gegeben und auch manche methodische Idee beigesteuert – nach langjähriger Tätigkeit im Bereich von Gemeinde- und Kirchenentwicklung im Rahmen einer landeskirchlichen Einrichtung hat er gerade rechtzeitig dafür als wissenschaftlicher Mitarbeiter in meinem Team begonnen. Gedankt sei auch Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, der die Idee für dieses Buch sofort aufgegriffen und seine Umsetzung freundlich begleitet hat. Mein Dank gilt schließlich allen, die meine Vorträge angefragt, gehört und mit mir über sie – durchaus auch kontrovers – diskutiert haben. Ich lerne von diesen Dialogen zwischen Wissenschaft und Kirche ausgesprochen viel und hoffe, dass dieser Dialog mit diesem Buch produktiv weitergeführt wird.
Kronshagen, im Januar 2021
Uta Pohl-Patalong
Prolog: »Kommunikation des Evangeliums« – die Kirche und ihr Auftrag
Wenn es in den folgenden Kapiteln um die künftige Gestalt der Kirche geht, dann muss vorweg die Frage gestellt werden, auf welcher theologischen Basis diese Überlegungen erfolgen. Denn jedem Nachdenken über die Kirche liegt eine Vorstellung zugrunde, was Kirche ist, wozu sie da ist und an welchen Kriterien sich ihre Gestalt orientieren sollte. Für dieses Buch ist die zentrale Leitidee die Überzeugung, dass sich der Sinn und der grundlegende Auftrag der Kirche als »Kommunikation des Evangeliums« beschreiben lassen. Was ist damit gemeint?
Die Kirche entstand in der zweiten und dritten Generation der Christenheit, als deutlich wurde, dass das Reich Gottes vermutlich doch noch eine Weile auf sich warten lassen würde. Viele der ersten Christ*innen waren aller Wahrscheinlichkeit nach davon ausgegangen, dass sie die Durchsetzung der Gottesherrschaft noch selbst erleben würden. Die Enttäuschung über das Ausbleiben des Reiches Gottes wurde dann zur Chance: Die geschenkte Zeit ließ sich nutzen, um die gute Nachricht, die frohe Botschaft – griechisch euangelion, Evangelium – an Menschen weiterzugeben, die Jesus von Nazareth nicht selbst erlebt hatten: die unermessliche und bedingungslose Liebe Gottes zu seiner Schöpfung und zu jedem einzelnen Menschen. Wenn wir dies als »Evangelium« verstehen, beruht dies bereits selbst schon auf Kommunikationsprozessen: Diese Überzeugung hat Jesus von Nazareth auf dem Boden seiner jüdischen Tradition und den Schriften der Hebräischen Bibel vertreten. Galt die Liebe Gottes hier zunächst in besonderem Maße seinem Volk Israel, so gibt es doch schon in der Hebräischen Bibel Ansätze dazu, die gesamte Menschheit in dieses besondere Gottesverhältnis einzuschließen. (Deswegen spreche ich auch nicht gerne vom »Alten Testament«, weil der Ausdruck ein Überholtsein durch das so genannte »Neue Testament« suggerieren kann). In den vier Evangelien und vor allem in den Briefen des Paulus wird die universale Reichweite der Liebe Gottes mit Jesus von Nazareth als dem Messias verbunden. Dies war die Wurzel des entstehenden Christentums und einer der wesentlichen Aspekte, an denen die allmähliche Abgrenzung zwischen Juden- und Christentum manifest wurde. Nach allem, was wir wissen, hat Jesus von dieser Liebe in Gleichnissen und Reden erzählt, sie gelebt und in seinen Heilungen, Dämonenaustreibungen und Totenauferweckungen symbolisch gezeigt. Als er in der politischen Konstellation seiner Zeit für sein Reden und Handeln gekreuzigt wurde, schien diese Botschaft an den Maßstäben und Regeln der Welt gescheitert. Die Erfahrung seiner Auferstehung zeigte jedoch, dass die Liebe Gottes stärker ist als Gewalt und Hass – und sogar stärker als der Tod. Sie veränderte das Lebensgefühl von Menschen, indem Leiden und Gewalt nicht das letzte Wort behielten und neue Perspektiven auf Leben und Tod deutlich wurden.
Nachdem seine Anhänger*innen dies erlebt hatten, waren sie überzeugt davon, dass diese frohe Botschaft und ihre Wirkung lebendig gehalten werden und möglichst viele Menschen erreichen sollte. Sie verbreiteten sie daher in ihrem persönlichen Umfeld und manche – wie der Apostel Paulus – taten dies auch weit darüber hinaus, indem sie in der damals bekannten Welt umherreisten und davon erzählten. Dabei entstand die Kirche, die (wie in der Pfingstgeschichte Apg 2 erzählt wird) als Wirken des Geistes verstanden wird. Sie wurde zu einem Raum, in dem Menschen die Wirkungen des Evangeliums erleben können, wie sich in den ersten Gemeinden zeigte. Gleichzeitig wurde die Kirche zur Unterstützerin der persönlichen Initiative und der individuellen Möglichkeiten der einzelnen Christ*innen, die Botschaft von der Liebe Gottes für alle Welt zu kommunizieren.
Damit ist auch gleichzeitig ihr Auftrag, ihre Funktion benannt: Kirche unterstützt die Kommunikation des Evangeliums. Um diesen Auftrag zu erfüllen, bildete sie Strukturen aus und schaffte organisatorische Rahmenbedingungen. Daraus entstanden im Laufe der Geschichte konkrete Kirchengestalten, heute z. B. die Landeskirchen, die Ortsgemeinden oder Formen wie Krankenhausseelsorge und Akademien. Das Evangelium würde es auch ohne diese kirchlichen Strukturen geben, und es würde sicher auch im persönlichen Leben erfahren und zwischen Menschen kommuniziert. Es wäre jedoch sehr viel mühsamer, sehr viel anstrengender und in der Wirkung ganz sicher nicht so weitreichend, wenn es diese Strukturen nicht gäbe. Dieser Kirche stehen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung, dass Menschen der unbedingten Liebe Gottes begegnen und sich damit Evangelium ereignet – weil sie Gebäude unterhält, in denen sich Menschen zur Kommunikation des Evangeliums versammeln, weil sie Sozialformen dafür anbietet, weil sie Menschen hauptberuflich dafür anstellt, weil sie Strukturen für ein ehrenamtliches Engagement zur Verfügung stellt etc. Man stelle sich vor, es gäbe diese Kirche nicht und wir seien rein auf unsere individuellen Möglichkeiten, die Wirkungen des Evangeliums zu erleben und sie anderen zu eröffnen, angewiesen: Die Kommunikation des Evangeliums bliebe weit hinter dem zurück, was mit der Kirche möglich ist.
Gilt der Auftrag zur »Kommunikation des Evangeliums« also von Anbeginn der Kirche an, ist die Formulierung erst wenige Jahrzehnte alt. Sie wurde von dem Praktischen Theologen Ernst Lange in den 1960er Jahren geprägt, wird aber erst in jüngster Zeit in der Praktischen Theologie häufig verwendet. Sie ist deshalb im Moment so beliebt, weil mit dieser Formulierung eine bestimmte Ausrichtung, wie die Kirche ihren Auftrag erfüllt, verbunden ist:
Während die früher oft gebrauchten Formulierung »Verkündigung des Evangeliums« stärker die Assoziation weckt, dass von einer Amtsperson das Wort »ausgerichtet« oder »weitergegeben« wird, sind bei dem Wort »Kommunikation« alle Beteiligten gleichberechtigt im Blick. Bei einem Kommunikationsvorgang ist es im Ergebnis ja nicht entscheidend, was jemand eigentlich sagen wollte, sondern was ankommt und was dies bewirkt. Diese Haltung kann sich auf reformatorische Wurzeln berufen. Martin Luther hat formuliert: »Denn auch wenn sich Christus tausendmal für uns gegeben hätte und gekreuzigt worden wäre, es wäre doch alles umsonst, wenn nicht das Wort Gottes käme, es austeilen und mir schenken würde und spräche: das soll dein sein, nimm hin und habe es als deines« (in der Schrift »Wider die himmlischen Propheten« von1525, Weimarer Ausgabe 18, 62–214, hier 202,37–203,2). Das meint: Das Evangelium ist erst dann an seinem Ziel, wenn es bei den Menschen und in ihrem Leben angekommen ist.
Ein zweiter Vorteil des Kommunikationsbegriffs ist seine Weite. Kommuniziert wird mit Worten, mit Taten, mit Gesten, mit Symbolen oder mit Ritualen. Kommuniziert wird bewusst und unbewusst, absichtlich und nebenbei. »Kommunikation des Evangeliums« ist also nicht auf die Predigt und den Gottesdienst zu beschränken. Das Evangelium wird also auf ganz unterschiedlichen Wegen kommuniziert. Dies kann beispielsweise in der Zuwendung und der selbstlosen Hilfe in der Seelsorge und der Diakonie geschehen, in dem spirituellen Erleben bei einem Konfi-Camp, in einem Jugendevent, einer Meditation, im Morgenkreis der evangelischen Kita oder einem Kirchentagsgottesdienst, in dem gegenseitigen Verstehen Verschiedener im interreligiösen Dialog oder in der Versöhnung von Feind*innen, in Gemeinschaftserfahrungen im Senior*innenkreis, auf der Paddelfreizeit oder auf einer Akademietagung, beim Gottesdienst anlässlich einer Katastrophenerfahrung, zum Schulanfang oder an einem normalen Sonntag … In allen diesen Formen können Menschen etwas von der bedingungslosen Liebe Gottes und damit dem Evangelium erleben. Dies kann sie berühren und etwas bei ihnen verändern: Es kann beispielsweise Hoffnung wecken entgegen den derzeitigen Umständen, Vergebung erfahren lassen oder eigene Vergebung ermöglichen, motivieren zum Einstehen gegen Unrecht oder zu einem anderen Umgang mit Menschen sowie der Umwelt und vielleicht das Wesentliche neu sehen lassen.
Dies darf allerdings nicht so missverstanden werden, als wäre das Evangelium so etwas wie eine Medizin, die verabreicht wird und dann ihre Wirkung quasi automatisch entfaltet. Die Begegnung zwischen Mensch und Evangelium ist ein komplexes Geschehen, in dem nach christlicher Überzeugung Gott selbst wirkt – traditionell beschrieben als Wehen des Geistes. Der weht jedoch, wie es im Johannesevangelium (Joh 3,8) heißt, wo er will. Das Bild macht deutlich, dass eine solche »Wirkung« der Kommunikation des Evangeliums nicht »gemacht« werden kann, sondern sie bleibt immer unverfügbar und auch unberechenbar. Kommunikation ist ein offenes Begegnungsangebot mit vielen möglichen Ausgängen. Oft genug ist diese auch nicht spürbar oder nur als ganz leise Ahnung. Nur ganz selten hat dies eine lebensverändernde »Bekehrung« zur Folge. Daher kann nicht von außen beurteilt werden, wo, wann und wie Menschen »Evangelium« erleben. Und wenn jemand von »Evangelium« spricht, ist das kein objektives Ereignis, sondern immer schon eine Deutung einer Erfahrung göttlicher Liebe und Annahme, die jemand anderes anders (oder auch gar nicht) erleben kann.
Dabei wird es natürlich auch von den Formen der Kommunikation geprägt, welche Erfahrungen gemacht werden, denn sie bieten ja bestimmte Möglichkeiten der Deutung und der Gemeinschaft an. Was Menschen genau erleben und was damit bei ihnen geschieht, ist bei den Einzelnen jedoch sehr unterschiedlich. Erst recht ist es unterschiedlich, ob und wie sie dies benennen können und wollen. Zumindest in den evangelischen Landeskirchen sind wir es wenig gewohnt und haben wenig Übung darin, Begegnungen mit dem Evangelium in Worte zu fassen und mit anderen darüber zu sprechen. Zu lange schien dies entweder selbstverständlich oder wurde von formelhafter theologischer Sprache dominiert. Auch in der praktisch-theologischen empirischen Forschung wurde bisher erst ansatzweise untersucht, was Menschen in verschiedenen Kontexten und Formen als Erleben des Evangeliums beschreiben und wie sie diese Erfahrung deuten. In meinen Augen bildet dies eine eklatante Forschungslücke, die wir in den nächsten Jahren füllen müssen.
Auf diesen Gedanken zur »Kommunikation des Evangeliums« als grundlegenden Auftrag der Kirche bauen die folgenden Kapitel auf.
Kapitel 1
Warum sich die Kirche verändern muss
Einstieg: Szenen aus der kirchlichen Praxis
Szenario 1:
Die neu gewählte Synode eines ländlich geprägten Kirchenkreises tritt das erste Mal zusammen. Unmittelbar nach der Begrüßung hält die Synodalvorsitzende eine längere Rede, die deutlich macht: Die allseits bekannte Krise der Kirche wird in den nächsten fünf Jahren diesen Kirchenkreis besonders hart treffen. Mehrere große Firmen hätten nach der Coronakrise Insolvenz angemeldet. Gleichzeitig gingen überdurchschnittlich viele Pfarrer*innen in den Ruhestand und es kämen nur wenige Jüngere nach. Den neuen Synodalen komme daher die Aufgabe zu, weitreichende Entscheidungen zu treffen, die die Kirche radikal verändern würden.
Auf einige von ihnen wirkt dies erschreckend: Natürlich war ihnen bewusst, dass die Kirche in Veränderungsprozessen steht, aber sie haben sich in erster Linie wählen lassen, weil sie die Kirche schätzen, so wie sie ist, und weil sie gebeten wurden, ihre Region gut zu vertreten. Darauf, sich verantwortlich an einem radikalen Umbau der Kirche zu beteiligen, waren sie nicht eingestellt. Woher sollen sie denn die Kompetenzen für solche wichtigen Entscheidungen nehmen? Und ist das überhaupt wirklich nötig, die Kirche radikal zu verändern, wenn Geld und Hauptamtliche weniger werden?
Szenario 2:
Auf der Klausurtagung des Kirchengemeinderates der Maria-Magdalena-Gemeinde sollen die Weichen für die Zukunft der Gemeinde gestellt werden – und es geht dabei hoch her. Die Gemeinde ist erst vor drei Jahren aus der Fusion dreier kleinerer Gemeinden entstanden und eigentlich ist sie noch immer damit beschäftigt, sich als Gemeinde zu finden. Nachdem aber deutlich geworden ist, dass nicht nur der Haushalt in den nächsten Jahren kleiner werden wird, sondern von den bisherigen fünf Pfarrstellen dann nur noch zweieinhalb übriggeblieben sein werden, sehen einige einen grundlegenden Umbau der Gemeinde als unumgänglich an. Andere halten dagegen, dass man der Fusion doch gerade deshalb zugestimmt habe, um in größerem Rahmen möglichst viel des bisherigen Gemeindelebens erhalten zu können, und dafür viel Kraft investiert habe. Wieder andere sehen ein, dass größere Veränderungen notwendig sind, fragen sich aber, was das denn heißen kann. Und noch einmal andere Stimmen möchten nichts überstürzen, sondern die Fülle des Gemeindelebens reduzieren – bzw. möglichst viel davon ehrenamtlich weiterführen. Sie suchen nach Perspektiven, die in diesem Konflikt helfen können.
Szenario 3:
Seit die Landeskirche entschieden hat, zu »Erprobungsräumen« zu ermutigen und diese zu fördern, hat sich die kirchliche Landschaft in dieser Kirche verändert. Neben die Ortsgemeinden sind kleinere Gemeinden getreten, in denen sich Menschen mit einer bestimmten Frömmigkeit oder einem bestimmten Engagement zusammengeschlossen haben. Zusätzliche diakonische Aktivitäten sind entstanden, beispielsweise lädt eine Gruppe jeden Tag zu einem generationenübergreifenden Mittagstisch für Menschen ein, die lieber in Gemeinschaft als alleine essen. Es gibt einen kirchlichen Gemeinschaftsgarten, in dem jüngere und ältere Menschen miteinander pflanzen und ernten. In einer nicht mehr genutzten Kirche gibt es ein Café mit christlichem Profil. Eine andere ist zu einer »Kirche für Stille und Meditation« geworden, in der Menschen ehrenamtlich Kurse anbieten und Schulklassen zu spirituellen Erfahrungen einladen.
Auf der Landessynode muss nun entschieden werden, wie mit diesen Projekten künftig finanziell und rechtlich verfahren werden soll. Sollen sie auch nach der Anschubfinanzierung auf Dauer finanziell unterstützt werden? Stehen ihnen hauptamtliche Stellen zu? Welcher Status soll ihnen zukommen? Und was hieße das für die Ortsgemeinden und auch die Dienste, Werke und Einrichtungen, die in den letzten Jahren sowieso schon beständig den Gürtel enger schnallen mussten? Wie kann mit möglichen Konkurrenzgefühlen umgegangen werden? Rasch wird deutlich: Hier stehen die grundsätzlichen Fragen auf der Tagesordnung, was »Kirchesein« bedeutet und wie die Gestalt der Kirche künftig aussehen soll. Manchen der Synodalen sind die neuen Formen von Kirche näher, anderen die alten. An welchen Kriterien können sie sich für diese weitreichenden Entscheidungen für die gesamte Kirche orientieren?
1. Die Herausforderung
Dass sich die Kirche verändern muss, ist nicht nur in solchen Szenarien deutlich, sondern gegenwärtig überall zu hören und zu lesen. In der Öffentlichkeit geschieht dies häufig mit einem entweder warnenden oder auch triumphierenden Unterton, der in kirchenkritischer Haltung ausdrückt: »So wie bisher könnt ihr wirklich nicht weitermachen!« Von kirchenleitender Seite wird die Notwendigkeit zu Veränderungen teils besorgt, teils mahnend kommuniziert: »Ihr müsst einsehen, dass wir uns bewegen müssen, es geht einfach nicht anders.« Sicherlich werden Veränderungen der Kirche manchmal auch in einer positiven Grundstimmung und mit Lust an der Suche und dem Experiment thematisiert. Häufig wird es aber mit einem Verlust begründet, warum sich die Kirche verändern muss: Der Rückgang der Kirchenmitglieder, der Kirchensteuermittel, der in Kirchengemeinden Engagierten und der Pfarrer*innen. Zumindest indirekt und manchmal auch ganz offen wird damit eine Haltung leitend, die eine Veränderung der kirchlichen Formen als durch die aktuellen Umstände aufgezwungene, unliebsame Anforderung sieht, die man einsichtig-resignativ ausführt: »Wenn unsere vertrauten Formen denn wirklich nicht mehr realistisch sind, müssen wir die Gestalt der Kirche eben den veränderten Verhältnissen anpassen.«
Wenn eine solche Haltung leitend ist, folgt daraus für die Perspektive, aus der heraus Veränderungen in der Kirche erfolgen:
Die bisherigen Formen werden kaum inhaltlich hinterfragt.Es sind nur selten inhaltliche – theologische – Kriterien im Veränderungsprozess leitend.Die Veränderungen orientieren sich an den bisherigen Formen, von denen möglichst viel übernommen werden soll. Als Kriterium dient, welche Formen sich die Kirche (noch) leisten kann.Es gibt eine relativ geringe Bereitschaft zu Lernprozessen, die Offenheit und Bereitschaft zur Selbstkritik erfordern, bzw. diese haben schwierige Bedingungen. Es gibt wenig Lust und Motivation zur Entwicklung von und zum Experiment mit neuen Formen.Emotional sind oft stärker die bisherigen Formen von Kirche präsent (und damit das, vor dessen Verlust man sich fürchtet) als Bilder von einer künftigen attraktiven Kirche (und damit das, was wir zu gewinnen haben).Nur selten ist mit den Veränderungsprozessen eine geistliche Dimension verbunden, die fragt: Welche Wege können wir im Vertrauen auf Gottes Gegenwart und Begleitung gehen?Nun ist es eine zutiefst menschliche Eigenschaft, dass man an den Formen hängt, die einem vertraut sind und die man als engagiertes Kirchenmitglied oder Hauptamtliche*r befürwortet – denn in der Regel hat die bisherige Gestalt der Kirche ja dazu motiviert, in ihr aktiv zu sein. Ob man sich in der Kirche wohl und zu Hause fühlt, hat eine zutiefst emotionale Ebene, und gerade diese Ebene wird in den bisherigen Strukturen mit ihrer Orientierung an menschlichem Kontakt und Gemeinschaftsgefühl noch einmal verstärkt. Es entspricht einem nachvollziehbaren Interesse, für sich persönlich möglichst viel von dem bewahren zu wollen, was man schätzt, oder zu trauern, wenn sich verändert, was einem bisher wichtig war.
Die wirklich herausfordernde Aufgabe für diejenigen, die kirchenleitende Verantwortung tragen, ist jedoch, sich in den Entscheidungsprozessen zur Zukunft der Kirche nicht von den eigenen Zugängen zur Kirche, den persönlichen Vorlieben und möglicherweise auch Verlustängsten dominieren zu lassen. Die synodalen Verfassungen der evangelischen Kirchen legen fest, dass die maßgeblichen Entscheidungsgremien über die Zukunft der gesamten Kirche mehrheitlich aus einer bestimmten Sozialform, nämlich der Ortsgemeinde, heraus delegiert werden. Für diese ja durchaus zeitintensive und verantwortungsvolle Aufgabe finden sich in der Regel Menschen, die den jetzigen Formen sehr verbunden sind. Dies stellt in der Gegenwart hohe Anforderungen an die Entscheidungsträger*innen, gerade wenn Entscheidungen über die künftige(n) Gestalt(en) der Ortsgemeinde anstehen (klein oder groß, generalistisch oder mit Profil, stärker hauptamtlich oder stärker ehrenamtlich gestaltet …?). Aus der Form von Kirche, mit der sie emotional verbunden sind, müssen sie innerlich einen ziemlich großen Schritt zurücktreten. Sie müssen aus dieser Distanz die Kirche als ganze sehen und eine neue Perspektive auf sie einnehmen. Statt möglichst viel von dem Bisherigen unter veränderten Bedingungen zu bewahren, ist es geboten zu fragen, welche Formen von Kirche inhaltlich sinnvoll und angemessen sind. Sie sind gefordert, die Perspektiven der Kirchenmitglieder, die sich nicht in den bisherigen Sozialformen engagieren, einzunehmen und zu fragen, was diesen (die die große Mehrheit der Kirchenmitglieder stellen) Kirche bedeutet oder in anderen Formen bedeuten könnte. Sie sind herausgefordert, sich mit neuen Bildern und Formen von Kirche zu befassen, auch mit einem Blick in andere Kirchen, die weltweite Ökumene und in manche Epochen der Kirchengeschichte. Und sie sollen diese nüchternen strukturellen Entscheidungen auch noch mit der geistlichen Dimension (also einer Orientierung an dem, was sie als Gottes Willen für die Kirche erkennen) verbinden.
Helfen kann dabei vielleicht die theologische Perspektive, dass der Gott, von dem die Bibel erzählt, auch ein Gott der Veränderung ist. In der Hebräischen Bibel, dem Ersten Testament, begleitet Gott Menschen auf sehr unterschiedlichen Lebenswegen und in sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen – und gerade auch dann, wenn sich diese vollständig verändern (wenn beispielsweise Abram und Sarai ihre Heimat verlassen [Gen 12, dazu unten mehr], Jakob aus seiner Heimat flieht [Gen 27–28], Josef nach Ägypten verschleppt wird [Gen 37–50], Israel Ägypten verlässt [Ex 12] und durch die Wüste zieht [Ex – Dtn] oder Naomi und Ruth von Moab nach Bethlehem auswandern und dort eine neue Heimat finden [Ruth 1–4]). Oft genug geschieht diese Veränderung der Lebensverhältnisse sogar auf Anweisung Gottes. In der Griechischen Bibel, dem Zweiten Testament, ruft Jesus von Nazareth Menschen dazu auf, ihre vertrauten Lebensverhältnisse zu verlassen und mit ihm ein anderes Leben zu führen – ebenfalls in der Begleitung Gottes, auch über seinen Tod hinaus. Gott zeigt sich darin als ein Gott, der zu Veränderungen auffordert und diese bewirkt, aber auch auf dem Weg dahin unterstützt und begleitet. Auch die neuen Verhältnisse sind Gottes Verhältnisse. Insofern ist Gott uns auch immer schon voraus in dem, was wir noch nicht kennen.
2. Hintergrundwissen
2.1 Warum sich die Kirche immer verändern muss
»Ecclesia semper reformanda« – die Kirche muss beständig reformiert werden – ist ein Grundsatz der evangelischen Kirche. Er folgt aus einer zentralen Einsicht Luthers und anderer Reformator*innen, die zum Grundimpuls der Reformation wurde: Die Kirche ist nicht dazu da, um bestimmte Formen zu pflegen, sondern es geht ihr um das Evangelium, um die Botschaft von der unermesslichen Liebe Gottes. Die jeweiligen Formen und Strukturen sollen dem Evangelium dienen und nicht umgekehrt. Wie genau sich die Kirche organisiert, wird dabei als Aufgabe der Menschen betrachtet – es ist nicht göttlich festgelegt, nicht heilig oder unantastbar. Theologisch wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen »Gotteswerk« und »Menschenwerk«: Gott ist zwar der Grund der Kirche, aber ihre Ausgestaltung ist Sache der Menschen. Daher kann auch keine kirchliche Organisationsform von vornherein einen theologischen Vorrang für sich beanspruchen.
Gestützt wird diese Überzeugung durch die Erkenntnis, dass wir weder biblisch noch in den grundlegenden Schriften des Protestantismus klare Aussagen über die Gestalt der Kirche finden. In der Confessio Augustana, einer der wichtigsten Bekenntnisschriften der Reformation von1530, heißt es im 7. Kapitel: Wort und Sakrament »sind genug« (lateinisch: »satis est«), um rechte Kirche zu sein. In welchen Formen dies erfolgen soll, dazu wird nichts gesagt. Deutlich wird jedoch: Die »Kirche«, in welcher Gestalt auch immer sie vor Augen steht, dient letztlich dem Evangelium. Die Barmer Theologische Erklärung der Bekennenden Kirche von 1934 formuliert zudem als Auftrag der Kirche, die Botschaft von der Gnade Gottes »allem Volk« auszurichten. Sie benennt damit die Aufgabe, Menschen nicht aufgrund bestimmter Formen und Strukturen den Zugang zum Evangelium zu erschweren.
Damit wird aber gleichzeitig ein wichtiges inhaltliches Kriterium für die Strukturen der Kirche genannt: Sie sollen so beschaffen sein, dass möglichst viele Menschen in ihnen dem Evangelium begegnen können. Strukturen, die entweder der Erfahrung der Liebe Gottes im Weg stehen oder diese auf bestimmte Menschen und Gruppen beschränken, entsprechen nicht dem Auftrag der Kirche. Das aber bedeutet: Wenn die äußeren Ordnungen dem Evangelium nicht gut dienen (wie die Reformator*innen es zu ihrer Zeit als gegeben sahen), dann dürfen sie nicht nur, sie müssen sogar verändert werden.
Zwar ist die Kommunikation des Evangeliums, wie im »Prolog« dargestellt, unverfügbar. Menschen und auch die Kirche können nicht »machen« oder bewirken, dass das Evangelium Menschen erreicht und betrifft. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Evangelium bei Menschen ankommt und dass Begegnungen mit ihm gelingen, wird jedoch deutlich größer, wenn es in leicht zugänglichen Formen kommuniziert wird. Schon deshalb lohnt sich viel Aufwand und Mühe dafür. Vor allem aber ist es schlicht der theologische Auftrag der Kirche, die Kommunikation möglichst gut zu gestalten und dem Evangelium nicht nur nicht im Weg zu stehen (was ja manchmal auch schon eine Herausforderung ist), sondern ihm Wege zu ebnen. Aufgabe der kirchenleitenden Gremien ist es damit, Formen zu schaffen, in denen die Kommunikation zwischen Menschen und Evangelium voraussichtlich – nach bestem Wissen und Gewissen – besonders gute Chancen hat zu gelingen.
Diese Formen können aus zwei Gründen nicht durch die Zeiten gleich bleiben: Zum einen verändern sich Menschen ständig und werden von Formen, die vor2000, 200 und vielleicht auch noch vor 20 Jahren gut zugänglich waren, heute nicht mehr in gleicher Weise erreicht. Zum anderen wird nur die Bereitschaft zu permanenter Veränderung dem Charakter des »Menschenwerks« der kirchlichen Strukturen gerecht – denn diese sind selbstverständlich irrtumsfähig und bilden im Grunde immer nur experimentelle Versuche, der großen Aufgabe gerecht zu werden. Werden diese nicht beständig überprüft, reflektiert und potenziell verändert, wächst die Gefahr, dass sie selbst in die Nähe des göttlichen Evangeliums rücken, das Richtschnur und Kriterium bildet – und man sich in der Gestaltung der Kirche an Strukturen orientiert statt an deren Funktion für das Evangelium.
Insofern ist eine Veränderung der (Formen und Strukturen der) Kirche zu jeder Zeit und immer erforderlich und eine zentrale Aufgabe für alle, die in der Kirche Verantwortung tragen, sei es hauptberuflich oder ehrenamtlich, um immer neu möglichst gute Rahmenbedingungen für die Kommunikation des Evangeliums zu schaffen. Möglicherweise kann die Perspektive, an einer solchen Aufgabe mitwirken zu dürfen, noch einmal anders Motivation und Lust zu diesen Prozessen vermitteln als die Einsicht, dass äußere Gründe der Kirche Veränderungen aufzwingen.
Gilt der Reformbedarf der Kirche also grundsätzlich und zu allen Zeiten, stehen die großen Kirchen im deutschsprachigen Raum – und übrigens auch darüber hinaus in Europa und auch in großen Teilen anderer Kontinente – heute vor besonderen Herausforderungen, die die immer erforderlichen Reformen gleichzeitig dringender und schwieriger machen als in anderen Generationen.
2.2 Warum in der Gegenwart besonders einschneidende Veränderungen anstehen
In der heutigen Situation und für die jetzigen Generationen in kirchenleitender Verantwortung kommen gleich mehrere Herausforderungen in einer besonderen Kombination zusammen.
Der lange Schatten des »christlichen Mittelalters«