Kirche verstehen - Uta Pohl-Patalong - E-Book

Kirche verstehen E-Book

Uta Pohl-Patalong

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Beschreibung

Praktische Orientierung für Ehrenamtliche in der Kirchenleitung

Was wird aus der Kirche? Gerade vor Ort in Dörfern und Städten ist dies heute eine häufig debattierte Frage: Wenn Gemeinden zusammengelegt, Gotteshäuser verkauft, gewohnte Dinge in Frage gestellt werden. Mehr als 130.000 Menschen, die im Ehrenamt kirchenleitend tätig sind, sollen dann Antworten geben. Für diese Menschen ist dieses Buch geschrieben. Es erschließt kompakt und verständlich, woher Kirche kommt, worin sie gründet, wie sie funktioniert, wie verschieden Kirche in ihrer Geschichte schon war und was darum alles noch möglich ist. Ein Buch voller Ermutigungen, die Handlungsspielräume der Gegenwart zu erkennen und zu nutzen.

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Seitenzahl: 232

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Uta Pohl-Patalong

Eberhard Hauschildt

Kirche

verstehen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

1. Auflage der Sonderausgabe 2020

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-19110-8V003

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur Sonderauflage

Kapitel 1

Einleitung: Was ist Kirche?

Kapitel 2

Kirche im 21. Jahrhundert

2.1. Gesellschaft heute und die Kirche

2.2. Religion heute und die Kirche

2.3. Kirche heute zwischen Krise und Reform

2.4. Konsequenzen für die Zukunft der Kirche: Relevanz von Religion und Kirche zeigen

Kapitel 3

Kontrastreiche Kirchenideale

3.1. Symbol »Kirche«

3.2. Kirche als Bewegung und die aktive Gruppe

3.3. Kirche als Institution und die Volkskirche

3.4. Kirche als Organisation und das »Unternehmen Kirche«

3.5. Konsequenzen für die Zukunft der Kirche: Kirche als »Hybrid« verstehen

Kapitel 4

Gemeinde sein und die Strukturen der Kirche

4.1. Die globale Kirche in vier Kirchenfamilien

4.2. Der Aufbau der evangelischen Kirche in Deutschland

4.3. Kirche parochial und nichtparochial

4.4. Kirche als Gemeinde

4.5. Kirche der Zukunft

4.6. Konsequenzen für die Zukunft der Kirche: Kirche als Netz von Gemeinden stärken

Kapitel 5

Viele Weisen, zur Kirche zu gehören

5.1. Was heißt eigentlich »Kirchenmitglied sein«?

5.2. Drei typische Weisen, zur Kirche zu gehören

5.3. Kirchenmitgliedschaft in Ostdeutschland und Westdeutschland

5.4. Milieus von Kirchenmitgliedern

5.5. Konsequenzen für die Zukunft der Kirche: Unterschiedliche Formen von Kirchenmitgliedschaft wertschätzen

Kapitel 6

Mitmachen im Handeln und Leiten

6.1. Akteurinnen und Akteure der Kirche

6.2. Presbyterien/Kirchenvorstände und Synoden als Struktur für Partizipation und Leitung

6.3. Geistliche Leitung

6.4. Konsequenzen für die Zukunft der Kirche: Zur »lernenden Organisation« werden

Kapitel 7

Auftrag und Zukunft der Kirche

7.1. »Kommunikation des Evangeliums« als Auftrag der Kirche

7.2. Orientierungen für die Aufgaben der Kirche: Thema, Mensch und Welt

7.3. Die Aufgaben der Kirche

7.4. Konsequenzen für die Zukunft der Kirche: Die grundlegenden Aufgaben erfüllen

Vorwort zur 1. Auflage

Wer sich in der Kirche engagiert und Verantwortung übernimmt, kommt in Kontakt mit verschiedenen Kirchenbildern, mit bestimmten Traditionen und mit manchem, was selbstverständlich erscheint – aber vielleicht gar nicht so selbstverständlich ist. Gleichzeitig wird über die Zukunft der Kirche diskutiert und es müssen heute oft Entscheidungen getroffen werden, wo es hingehen soll mit der Kirche oder mit der eigenen Gemeinde. Um solche Entscheidungen gut abgewogen und begründet treffen zu können, ist es wichtig, Kirche zu verstehen: Warum ist Kirche heute so, wie sie ist? Was bedeutet die heutige Gestalt der Kirche theologisch? Was ist der eigentliche Auftrag der Kirche und wie wird sie ihm am besten in der heutigen Zeit gerecht? Welche Möglichkeiten gibt es, Kirche und Gemeinde attraktiv und lebendig zu gestalten?

Diese und andere Fragen haben wir uns gestellt und versuchen sie zu beantworten. Im Hintergrund steht eine erheblich umfangreichere und wissenschaftlich ausgerichtete Kirchentheorie, Anfang 2013 veröffentlicht unter dem Titel »Kirche« im Gütersloher Verlagshaus. Im nun vorliegenden Band konzentrieren wir uns auf diejenigen Inhalte, die für die Praxis der Gestaltung von Kirche wichtig sind und formulieren in allgemein verständlicher Sprache. Die aktualisierte Darstellung bezieht sich vorrangig auf die evangelische Kirche in Deutschland, spricht jedoch andere Konfessionen ebenfalls an. Sie richtet sich an alle, die sich für die (evangelische) Kirche interessieren und sie besser verstehen möchten, besonders an Kirchengemeinderäte, Presbyterien bzw. Kirchenvorstände und diejenigen, die hauptamtlich in der Kirche tätig sind.

Das Buch ist in einer Kooperation seiner Autorin und seines Autors entstanden. Ausgehend von jeweils durch eine Person verfassten Kapiteln oder Teilkapiteln wurde es gegenseitig in vielen Diskussionsgängen ausführlich gegengelesen und diskutiert und ist so zu einem Text geworden, den wir beide gemeinsam verantworten.

Wir danken Studierenden der Theologie in Bonn und Kiel und Hörerinnen und Hörern von Vorträgen, durch die wir ständig dazu angeregt werden weiter zu lernen und unsere wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse auf die Praxis der Kirche zu beziehen. Ein besonderer Dank gilt auch unseren kritischen Erstleserinnen und -lesern, besonders Ulrike Knichwitz sowie Reinhild und Reimer Pohl. Unser Dank geht auch an Diedrich Steen, Programmleiter im Gütersloher Verlagshaus, der sofort unserer Idee zugestimmt hat, wissenschaftliche Kirchentheorie in dieser Form für die Praxis zu veröffentlichen.

Wenn das Buch dazu beiträgt, dass sich Menschen und Kirche noch besser verstehen, Entscheidungen leichter und begründeter getroffen werden und das Engagement in der Kirche vor allem Freude macht, dann hat es seinen Zweck mehr als erfüllt.

Kiel/Bonn im September 2015

Uta Pohl-Patalong und Eberhard Hauschildt

Vorwort zur Sonderauflage

Der gesamte Text wurde noch einmal durchgesehen. Dabei wurden letzte Druckfehler beseitigt sowie Zahlenangaben aktualisiert. An wenigen Stellen haben wir den Text angesichts von kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen leicht verändert.

Das Buch vermittelt weder Rezepte noch stellt es den Anspruch, den »richtigen« Weg zu kennen und zu weisen. Es möchte der Veränderung der Kirche dadurch dienen, dass es Einblicke in Zusammenhänge und Verknüpfungen mit theologischen Grundthemen vermittelt und so zur eigenen Orientierung und Urteilsbildung beiträgt. Praxisbeispiele und Konkretionen, die wir bisweilen auch bieten, haben ihren Wert nicht als Kopiervorlage, sondern als Anregung, selber passend zur verstandenen Situation Bekanntes wie Ungewohntes auszuprobieren. Die »Konsequenzen für die Zukunft der Kirche« am Ende jedes Abschnittes lassen gleich wohl erkennen, welche Entwicklungen wir für besonders bedeutsam halten und wohin sich die Kirche entwickeln könnte.

Kiel/Bonn im September 2019

Uta Pohl-Patalong und Eberhard Hauschildt

Kapitel 1

Einleitung: Was ist Kirche?

Erste Eindrücke

Was ist »Kirche«? Wer Kindern diese Frage stellt und ihnen dann noch einen Stift und Papier in die Hand drückt, wird wahrscheinlich schnell eine Antwort bekommen. Ruckzuck entsteht das markante große Gebäude mit dem hohen Dach und vor allem mit dem Kirchturm. Und wenn man weiter fragen würde, was denn das für ein Gebäude ist, dann würden sie vielleicht sagen: »Da wohnt Gott« oder »da wohnt die Pfarrerin«.

Im Jahr 2012 wurde eine umfangreiche Befragung unter evangelischen Kirchenmitgliedern und Konfessionslosen durchgeführt. Zu Beginn stellte man die Frage: »Was fällt Ihnen ein, wenn Sie ›evangelische Kirche‹ hören?« In 39 % der Fälle fiel den Kirchenmitgliedern der Gottesdienst ein, und meistens tauchten dabei bestimmte Gottesdienste vor ihren Augen auf: Taufe, Trauung, Bestattung, Weihnachten, Ostern. Zu 29 % fiel ihnen sonstige religiöse Praxis ein: Glauben, Religion, Beten etwa lauteten dann die Antworten. 10 % nannten als erstes so etwas wie »Gemeinschaft« und »Zusammenhalt«. Einigermaßen erstaunlich ist: Nur 6 % fiel zuerst das Kirchengebäude ein, nur 4 % nannten sofort Pfarrer und Pfarrerinnen. Zu ergänzen bleibt noch: Einige dachten nicht an Kirche allgemein, sondern an die »evangelische« Kirche, also eine Kirche, die sich unterscheidet – von der katholischen Kirche. 12 % nannten als erstes solche Unterschiede oder erwähnten den Namen Martin Luthers. Von Nicht-Kirchenmitgliedern, den sogenannten Konfessionslosen, wurde übrigens zu 35 % als erstes Kirchenkritisches genannt. Bei den Kirchenmitgliedern hatten das nur 6 % getan. 14 % der Konfessionslosen fiel die Kirchensteuer ein. Aber auch bei 7 % von ihnen wurden zuerst Taufe, Trauung oder Bestattung genannt.

Was ist Kirche für die Menschen? So sehr natürlich Gebäude und Personen eine wichtige Rolle spielen, mehr noch verbinden die Kirchenmitglieder offensichtlich ihre Kirche mit einem bestimmten Geschehen, ganz besonders mit dem Gottesdienst.

Der Begriff »Kirche«

Das Wort Kirche, das die ersten Christen aufgriffen, war ein ziemliches Allerweltswort der griechischen Sprache. Ekklesia – das klang damals in den Ohren der griechisch-sprechenden Christen so ähnlich wie heute im Deutschen die Worte »Gemeinde« und »Gemeinschaft«: Es konnte eine – wir würden heute sagen – kommunale Gemeinde meinen oder eine religiöse Gemeinde. Es konnte eine Gemeinschaft der Anwesenden vor Ort sein oder auch die Gemeinschaft aller überhaupt, die irgendwie dazugehören. Für diejenigen, die sich in der griechischen Ausgabe der Hebräischen Bibel auskannten (die die Christen dann später das »Alte Testament« nannten), hatte dieses Wort ekklesia/Gemeinde eine bestimmte religiöse Färbung. Es klang für sie wie die Versammlung des Gottesvolkes Israel auf der Wanderung durch die Wüste im Sinai, wenn Mose zu ihnen sprach.

Dass die Kirche das Volk Gottes ist, das übernahmen die Christen auch für sich. Und sie setzten hinzu: Die Gemeinde lebt »in Christus« (z.B. Galaterbrief 3,28; 5,6; Römerbrief 6,10f.; 12,5), sie ist »Leib Christi« (u.a. 1. Korintherbrief 12,12-26; 10,17; Epheserbrief 4,12). Die Kirche ist Leib Christi so, dass die Menschen mit ihren jeweiligen Gaben der Verschiedenheit der Körperteile und Organe eines Leibes entsprechen (1. Korintherbrief 12), und so bilden sie eine Einheit mit Christus als Haupt (Epheserbrief 4,12-14; Kolosserbrief 1,18). Kirche ist da, wo der auferstandene Christus gegenwärtig ist.

Man sieht: Von Anfang an war es vielschichtig, was das Wort Kirche meint: etwas ganz Lokales und etwas ganz Globales, etwas, das unter der Leitung Christi steht und was durch viele Menschen in je ihrer Eigenart zu dem wird, worin Christus steht. Das deutsche Wort »Kirche« übrigens stammt vom griechischen Wort »kyriaké« und bedeutet: »Haus des Herrn«. Mit dem Herrn, dem Kyrios, ist dabei Christus gemeint.

Eine Definition aus der Reformationszeit

Zur Zeit der Reformation gab es im Jahr 1530 ein bemerkenswertes Treffen. Da kamen Vertreter der katholischen Seite und derer, die eine Reform der Kirche wollten (Fürsten einiger Gebiete und Stadträte einiger unabhängiger Städte) in Augsburg zum Reichstag zusammen, vor Kaiser Karl V. und den deutschen Kurfürsten. Versucht wurde, ob nicht doch eine Verständigung möglich sei. Die Protestanten legten unter der Leitung von Philipp Melanchthon eine Erklärung vor. Sie formulierte in 28 Artikeln, wie ihr evangelisches Verständnis des Christlichen war.

In dieser Augsburger Konfession liefert der Artikel 7 eine Definition von Kirche. Was an ihr zuerst ins Auge springt, ist die Kürze. Kirche ist demnach »Zusammenkommen der Gläubigen (die lateinische Fassung sagt: der Heiligen), bei dem recht gelehrt und die Sakramente dargereicht werden«. Diese Knappheit der Definition ist gewollt. Zur Erläuterung heißt es nämlich direkt im nächsten Satz: »Genug« ist das zur Einheit der Kirche: Übereinstimmung über die Lehre und die Darreichung der Sakramente. Nicht nötig sei die Übereinstimmung bei Traditionen, Riten und Zeremonien, diese seien ja menschengemacht.

Nun kann man natürlich nicht so leicht auseinanderdividieren, wo es noch um das richtige Reden und Praktizieren in Übereinstimmung mit der Bibel und wo es schon um die Pluralitäten menschlicher Traditionen und Ausdrucksweisen geht. Aber das Prinzip ist deutlich benannt: Der zentrale Unterschied zwischen Kirche und Nicht-Kirche war für die Protestanten damals sehr klar und eindeutig: Kirche ist Gottesdienst, liturgischer Gottesdienst wie der am Sonntag (von da aus dann auch der »Gottesdienst« in der alltäglichen Lebensführung, vgl. Römerbrief 12,1).Kulturelle und zeitlich bedingte Vielfalt ist kein grundsätzliches Problem.

Kennzeichen von Kirche – um die zu benennen, dafür reichte die knappe Definition nicht aus. In den folgenden Jahrzehnten wurden damals dafür von den Evangelischen mehrfach Listen aufgestellt, einander ähnliche, aber auch immer mit ein paar Unterschieden. Manche Nennungen blieben über die folgenden Jahrhunderte sehr beständig, andere erwiesen sich offensichtlich auch als zeitbedingt. In der Reformationszeit wurde typischerweise genannt: Taufe, Abendmahl, Ämter, Gebet, aber auch Kreuz, Ehrung der Obrigkeit, Ehestand und – evangelische Kirche! – Fasten.

Geglaubte Kirche

Die Protestanten damals wussten sich zusammen mit der Kirche, aus der sie herkamen und die dann zur römisch-katholischen Kirche wurde, auf einer gemeinsamen Basis: der Kirche der ersten Jahrhunderte. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehörte auch das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis. Es geht in seinen frühesten Formulierungen bis auf das 2. Jahrhundert zurück. In fast jedem evangelischen Gottesdienst in Deutschland wird es gesprochen. Nach dem Bekenntnis zu Gott dem Vater und dem Schöpfer im ersten Artikel und dem Bekenntnis zu Jesus Christus im zweiten Artikel enthält es einen dritten Artikel. Der beginnt mit den Worten: »Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen.« (Das aus dem Griechischen übernommene Wort »katholisch« übrigens meint hier »weltumspannend«. Da es in der evangelischen Kirche anstößig klingt, als ob die römisch-katholische Konfession gemeint sei, hat die protestantische Fassung das Wort »katholisch« durch das neutrale »christlich« ersetzt.) Im Glaubensbekenntnis kommt die Kirche vor; nicht einfach als eine beschriebene empirische Kirche, sondern darüber hinaus als geglaubte Kirche: »Ich glaube an die Kirche«. Genauer: Der dritte Artikel des Glaubensbekenntnisses ist ein Bekenntnis dazu, dass Gott nicht nur als Vater/Schöpfer und als Christus, der Erlöser, sondern auch als »Heiliger Geist« da ist. Gegenüber diesem Bekenntnis zur Trinität, zur Dreifaltigkeit Gottes, stellt der Glaube an »die Kirche« nicht noch einmal etwas Weiteres dar; er wird nicht als ein vierter Artikel präsentiert. Sondern der Glaube an die Kirche ist verstanden als eine Auslegung des Glaubens an den Heiligen Geist. Damit ist nicht gesagt, dass die Kirche und »Heiliger Geist« das Gleiche seien. Man kann das daran sehen, dass die Aufzählung noch weitergeht: »Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung von den Toten und das ewige Leben.« Aber doch ist damit gesagt: Zur Gegenwart Gottes, wie sie sich auch als »Heiliger Geist« vorstellen lässt, gehört »die Kirche« zentral mit dazu.

Wozu das Buch?

So klar und so einfach, wie eben ausgeführt, lässt sich sagen, was Kirche ist: Bei der Kirche geht es um ein Geschehen, ganz besonders um den Gottesdienst, es geht um die Anwesenheit Gottes – in Christus und durch den Heiligen Geist. Die christliche Tradition, auch die der evangelischen Kirche, gibt ein solches Verständnis von Kirche vor. Man kann es zur Kenntnis nehmen: Kirche ist so definiert.

Aber wenn das Buch, das Sie in der Hand haben, damit aufhören würde, wären Sie als Leserinnen und Leser dann doch enttäuscht. Zu Recht. Denn die Fragen hören mit Definitionen nicht auf. Jede Definition reizt zu neuen Fragen. Zum Beispiel: Wenn Kirche das Zusammenkommen zum Gottesdienst ist, was geht denn von diesem Gottesdienst am Sonntag aus in den Alltag weiter? Es ist mit der fast 500 Jahre alten Definition auch nicht gesagt, was denn der Gottesdienst im Sonntag und im Alltag jetzt bedeutet, in unserem Land hier und in unserer Gegenwart. Die Frage, was Kirche ist, interessiert ja deshalb, weil wir Erkenntnisse wollen, die uns helfen zu verstehen, wie die Kirche hier bei uns ist, wie sie sein sollte und könnte, und auch, wie sie vielleicht besser nicht sein sollte und könnte.

Es interessiert die Frage, was Kirche ist. Noch einmal besonders interessiert es die, die sich für ihre Kirche verantwortlich wissen – Kirchenvorsteher*innen etwa (in manchen Landeskirchen Presbyter*innen oder Kirchengemeinderäte genannt) und andere, die sich in der Kirche engagieren, Menschen, die beruflich in ihr tätig sind, als Pfarrer*innen, als Gemeindepädagog*innen, als Diakon*innen, als Gemeindesekretär*in oder als Küster*in (süddeutsch: Mesner*in) usw. Alle, die zur Kirche gehören, die ehrenamtlich in ihr Tätigen ganz besonders, haben ihre Vorstellungen von Kirche und Erwartungen, und die anderen, die die Kirche von außen wahrnehmen, haben das auch.

Wir, die Autorin und der Autor dieses Buchs, hatten im Jahr 2013 eine rund 450-seitige fachwissenschaftliche praktisch-theologische evangelische Gesamtdarstellung zum Thema »Kirche« veröffentlicht. Das hier vorliegende Büchlein ist nicht nur kürzer, sondern bewusst allgemeinverständlich formuliert. Seit gut 15 Jahren haben sich weit verbreitet in den Kirchen und Gemeinden neue Debatten darüber aufgetan, was Kirche eigentlich ist – unter sich schnell verändernden Verhältnissen. Veränderungen verursachen Verunsicherung – und bieten vielleicht auch Chancen, nicht nur sich irgendwie anzupassen, sondern manches auch neu, jedenfalls etwas anders zu machen. Aber die Richtung ist nicht so klar. Ein vertieftes Nachdenken über Kirche und Debatten mit hoher Beteiligung finden wir darum wichtig. Das vorliegende Buch will mit seinen Informationen und Deutungen aufklären über die Vielfalt der Muster, die sich in der Kirche finden. Das soll dann dazu helfen, auf Handlungsspielräume aufmerksam zu werden.

Zum Aufbau des Bandes

Im nächsten Kapitel 2 fragen wir: Worin genau besteht die Situation der Kirche heute? Wo kommen die Trends her, und welche Arten von Reaktionen in der Kirche auf die Trends sind geläufig? Der Eindruck, dass die Kirche in der jeweiligen Gegenwart in der Krise stecke, ist ja gar nicht so neu. Wie steht es mit Religion in der Gesellschaft überhaupt? Worin liegt eine Relevanz von Religion und Kirche heute?

In Kapitel 3 befassen wir uns damit, dass Menschen Vorstellungen haben, wie Kirche idealerweise sein sollte. Nur widersprechen sich diese Erwartungen, es sind eben kontrastreiche Kirchenideale. Die lassen sich, so wollen wir zeigen, auf dreiganz typische Arten von Kirchenbildern mit ihren Logiken zurückführen. Für jedes der drei spricht einiges. In ihrer Spannung geben sie der evangelischen Kirche in unserer Gesellschaft einen hybriden Charakter. Muss das aber ein Nachteil sein?

In der deutschen Sprache haben die Begriffe »Gemeinde« und »Kirche« einen jeweils anderen Akzent. Gemeinde vor Ort ist ein Teil der Struktur der Kirche, in evangelischem Verständnis die Basis – aber dann eben doch nicht das Ganze. So wollen wir in Kapitel 4 Gemeinde sein und die Strukturen der Kirche aufeinander beziehen. Wie ist die evangelische Kirche auf den verschiedenen Ebenen aufgebaut, und was nennen wir eigentlich »Gemeinde« – und wo reden wir nicht von Gemeinde, womöglich nur weil es »übergemeindlich« oder »funktional« sei? Kirchliche Orte, sogenannte Parochien klassischer Art und andere Gestalten bilden gemeinsam ein Netzwerk von Gemeinden. Dabei sollte man im Blick behalten, dass in anderen christlichen Konfessionen das Kirchenverständnis und vieles in der kirchlichen Praxis auch sehr anders gelagert sein kann. Dazu gibt es eingangs dieses Kapitels einen orientierenden Überblick.

Es gibt viele Weisen, zur Kirche zu gehören. Kapitel 5 führt aus, wer die Mitglieder sind, was sie denken und wie sie handeln. Das ist wohl in keiner Kirche der Welt so gut und tief erforscht wie für die Evangelische Kirche in Deutschland. Spannende Einsichten sind dazu zu finden – auch zu den Zusammenhängen zwischen Lebensstil bzw. Milieu und bevorzugten Weisen, die Kirchenmitgliedschaft zu leben.

Kapitel 6 handelt vom Mitmachen im Handeln und Leiten. Die Evangelische Kirche zeigt ausgeprägte Formen des Miteinanders. Die Theologinnen und Theologen haben nicht allein das Sagen, sondern es gibt ein Zusammenspiel mit den Entscheidungen in Kirchenvorständen und Synoden, in denen Ehrenamtliche genauso mitbestimmen. Und was ist geistliche Leitung? Wie sehen die Rollenverteilungen überhaupt aus in einer Kirche, zu der auch andere Berufe gehören als der des Pfarrers, der Pfarrerin allein – und was ist das Besondere an den Ehrenamtlichen?

Das abschließende Kapitel 7 fragt nach Auftrag und Zukunft der Kirche. Die Aufgaben der Kirche werden hier in einer neuen abgeleiteten Anordnung von sechs Grundaufgaben dargeboten. Das, so meinen wir, kann entlasten und auch durchsichtig machen, was auf jeden Fall dazugehört und warum dies so ist.

Kapitel 2

Kirche im 21. Jahrhundert

Wer Kirche verstehen will, muss sie immer auch als Teil der Gesellschaft verstehen. Denn wie sich die Kirche organisiert und wie sie handelt, welche Möglichkeiten sie hat und welche Probleme, hängt immer auch davon ab, in welcher Gesellschaft sie sich befindet. Ebenso werden die Formen von Religion immer von der Gesellschaft geprägt, also wie Menschen zum Glauben kommen, wie sie ihren Glauben ausdrücken, welche Rolle die Kirche dabei spielt usw.

Daher soll in diesem Kapitel zunächst ein Blick auf die Gesellschaft der Gegenwart geworfen werden: Was ist typisch für die Gesellschaft, in der wir leben und anders als zu anderen Zeiten – und was bedeutet das für die Kirche (2.1.)? Anschließend werden wir fragen, welche Formen von Religion heute typisch sind und was dies wiederum für Auswirkungen auf die Kirche hat (2.2.). Diese Entwicklungen von Religion und Gesellschaft führen zu bestimmten Problemen für die Kirche, die als Krisen der Kirche bezeichnet werden. Sie rufen Bemühungen um Reformen hervor, wie in einem dritten Schritt dargestellt wird (2.3.). Anschließend fragen wir danach, was diese religionssoziologischen Erkenntnisse für die Zukunft der Kirche bedeuten (2.4.).

2.1. Gesellschaft heute und die Kirche

»Spätmoderne« als Etikett unserer Gesellschaft

Es gibt in der Soziologie verschiedene Bezeichnungen für die Gesellschaft, in der wir leben. Uns erscheint der Begriff der Spätmoderne geeignet, um wichtige Aspekte unserer Gesellschaft zu erläutern. Er zeigt nämlich an, dass wir einerseits immer noch in der »Moderne« leben, die mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begonnen hat. Andererseits sagt er auch, dass wir in einer anderen Phase der Moderne leben, die das Leben im 21. doch ziemlich vom 19. Jahrhundert und von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Manche Aspekte der Moderne haben sich heute verstärkt, andere haben sich verändert. Den Beginn der »Spätmoderne« setzt man mit den späten 1960er Jahren bzw. den 1970er Jahren an, wobei die »68er-Revolution« eine wichtige Rolle spielt.

Die Kirche heute befindet sich also in einer spätmodernen Gesellschaft. Davon ist sie in vielen Aspekten beeinflusst, d.h. in mancher Hinsicht ist sie auch »typisch spätmodern«. In anderen Bereichen hat sie aber auch frühmoderne Züge und entspricht dann eher der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dann finden sich aber auch noch Spuren der Vormoderne, in denen sich die Kirche z.B. seit dem Mittelalter nicht mit der Gesellschaft gewandelt hat. Darin zeigt sich schon, dass die Kirche geprägt ist von der Gesellschaft, aber nicht identisch mit ihr.

Mit dieser Perspektive – dass es in der Kirche gleichzeitig spätmoderne, frühmoderne und vormoderne Elemente gibt – lassen sich ziemlich viele Eigenheiten der Kirche heute, manche Widersprüchlichkeiten und auch manche Probleme erklären.

Typisch für die Moderne: »Individualisierung« und »Ausdifferenzierung«

Mit zwei soziologischen Begriffen wird ein ganz wichtiger Unterschied zwischen der Zeit vor der Moderne und der Moderne beschrieben, der auch unser Leben heute prägt: »Individualisierung« und »Ausdifferenzierung«. »Individualisierung« bedeutet, dass das Leben viel weniger vorgezeichnet ist als im Mittelalter und Menschen viel stärker selbst über ihr Leben entscheiden können: über Wohnort, Partnerwahl, Beruf etc., aber auch über Ernährung, Werte und Lebensorientierung. Der Mensch selbst, das Individuum, ist dadurch viel wichtiger geworden, weil er die wesentlichen Dinge seines Lebens bestimmt und sie nicht durch seine Herkunft, seinen Stand oder seine Klasse, sein Geschlecht etc. vorentschieden sind.

Das hat weitreichende Folgen für die Kirche, denn auch das Verhältnis zu ihr ist zum Gegenstand der Wahl geworden. Man entscheidet selbst, ob man Kirchenmitglied ist, ob man an ihren Angeboten teilnimmt und an welchen und wie häufig man dies tut. Man ist nicht in der Kirche bzw. nimmt am Gottesdienst oder an sonstigen kirchlichen Angeboten teil, weil man dies selbstverständlich tut, sondern weil man es tun möchte, es einem selbst plausibel erscheint und einem etwas bedeutet. Das war lange ganz anders: Im Mittelalter konnte die Kirche bestimmen, dass alle zu ihr gehörten, am Sonntag in die Kirche gingen, ihre Kinder taufen ließen etc. – wer sich dem widersetzte, musste drastische Strafen fürchten.

Aus dieser Tradition ist es erklärbar, dass die Kirche die typisch moderne selbstbestimmte Form, sich zur Kirche zu verhalten, lange nur schwer akzeptiert hat. Dass Menschen selbst entscheiden, ob und wie sie an ihren Angeboten teilnehmen, wurde und wird gelegentlich auch heute noch kritisch gesehen. Dann besteht die Erwartung, alle Kirchenmitglieder sollten eigentlich jeden Sonntag in der Gemeinde, der sie angehören, zum Gottesdienst kommen und/oder an einem weiteren kirchlichen Angebot wöchentlich über Jahre hinweg teilnehmen. In den letzten Jahrzehnten hat allerdings in vielen Gemeinden ein Umdenken begonnen, das eine gelegentliche Teilnahme akzeptiert und Angebote entwickelt, die auf eine bewusste Wahl setzen.

Ein Beispiel dafür sind alternative bzw. thematisch orientierte Gottesdienste. Sie mögen in größeren Abständen stattfinden oder die Gemeinde überhaupt auszeichnen. Man geht nicht mehr von selbstverständlicher Teilnahme aus, sondern die Werbung für sie setzt darauf, dass die andere Form bzw. das angekündigte Thema überzeugen.

Mit der »Individualisierung« hängt die »Ausdifferenzierung« der Gesellschaft zusammen. Sie bedeutet, dass anders als im Mittelalter die Gesellschaft heute aus vielen einzelnen Bereichen besteht, die jeweils bestimmte Aufgaben erfüllen und sozusagen nach eigenen Gesetzen funktionieren. So gibt es das Wirtschaftssystem, das politische System, das Bildungssystem, das Gesundheitssystem usw. – und schließlich auch das Religionssystem. Im Mittelalter hatte die Kirche einen massiven Einfluss auf alle diese Aufgabenbereiche: Sie organisierte die Bildung, beeinflusste die Rechtssprechung und das Gesundheitssystem und war auch mit der Politik eng verquickt. Seit der Moderne ist sie auf den Bereich der Religion beschränkt. Dies stellt einerseits einen Machtverlust dar, und es wird manchmal immer noch als Kränkung empfunden, gesamtgesellschaftlich so stark an Bedeutung verloren zu haben. Gleichzeitig hat die Verquickung mit den anderen Lebensbereichen die Kirche oft genug von ihren eigentlichen Aufgaben entfernt und kaum jemand würde es heute begrüßen, wenn sie Recht, Politik, Medizin etc. dominieren würde.

Typisch für die Spätmoderne: Noch radikalere Individualisierung und Pluralisierung

War die Idee, dass Menschen über ihr Leben selbst entscheiden können und sollen, im 19. und auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf bestimmte Gruppen von Menschen beschränkt, so hat sie sich in den letzten 50 Jahren stark ausgeweitet. Das betrifft vor allem Frauen, für die die Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, erst in den letzten Jahrzehnten erheblich gewachsen sind. Für diese Entwicklung waren die deutlich verbesserten Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten wichtig (die Sätze wie »Wozu Gymnasium bzw. Studium – du heiratest ja doch« unüblich machten). Aber auch die Frauenbewegung der 1970er Jahre trug mit ihrer Forderung, dass Frauen das gleiche Recht auf Entscheidung über das eigene Leben bekommen sollen, wie es Männer seit Beginn der Moderne in Anspruch nahmen, zu dieser Entwicklung bei. Entsprechend wurden auch die Geschlechterrollen flexibler. Das gleiche gilt für die frühere »Arbeiterschicht«, die ebenfalls von den besseren Bildungsmöglichkeiten profitierte.

Bei beiden Gruppen zeigt sich jedoch bis heute, dass es mehr gesellschaftlich bedingte Hürden gibt, als die theoretische Idee der spätmodernen Gesellschaft sie propagiert. Zwar stehen Frauen theoretisch alle beruflichen Möglichkeiten offen (einschließlich der Möglichkeit, als Pfarrerin den geistlichen Beruf in der evangelischen Kirche zu ergreifen und auch das bischöfliche Amt zu bekleiden – hier erscheint die evangelische Kirche »moderner« als die katholische), doch faktisch gibt es nach wie vor Schieflagen zwischen den Geschlechtern: Immer noch besetzen in der Kirche und erst recht in der Wirtschaft mehr Männer als Frauen einflussreiche Positionen und immer noch verdienen Frauen fast ein Viertel weniger als ihre männlichen Kollegen bei gleicher Arbeit und Qualifikation, ebenso wie sich die Haus- und Familienarbeit (auch bei Berufstätigkeit beider) ungleich verteilt. Das gleiche gilt für die Bildungschancen sog. »bildungsferner« Bevölkerungsgruppen: Seit PISA wissen wir noch deutlicher, dass besonders in Deutschland die Prägung des Elternhauses ganz wesentlich mit über die Chancen entscheidet, Abitur zu machen, interessante berufliche Positionen zu bekleiden und Einfluss zu gewinnen.

Das bedeutet: Die Individualisierung der Gesellschaft ist zunächst einmal ein Anspruch und ein Leitbild, das durch gesellschaftliche Hindernisse, aber auch durch die – wiederum kulturell vermittelten – Selbstbilder in den Köpfen und Herzen von Menschen eingeschränkt wird: Wenn ich mir Erfolg nicht zutraue, wenn ich von meinem Elternhaus nicht bestätigt werde, wenn ich anderslautende Botschaften bekomme, ist es viel schwerer, beruflich (und auch im Privatleben!) erfolgreich zu sein, als wenn ich gute Startbedingungen habe.

Dies allerdings wird im gesellschaftlichen Klima der Spätmoderne für den einzelnen Menschen oft anders gesehen. Wenn jemand nicht erfolgreich ist, wenn jemand seine oder ihre (theoretischen) Wahlmöglichkeiten für die Gestaltung des Lebens nicht nützt, wenn jemand Bildungsmöglichkeiten nicht wahrnimmt, wird das nicht selten dem Menschen selbst angelastet. Dann sind Frauen eben nicht genügend an Führungspositionen interessiert (oder doch nicht ganz so gut) oder Menschen aus bildungsfernen Familien strengen sich eben nicht genügend an. Das kann für Menschen zu einem erheblichen Druck führen, wenn ihnen suggeriert wird, dass ihnen alles möglich ist, es aber dennoch nicht gelingt.

Dass nicht alles nur der freien Wahl folgt, obwohl dies theoretisch möglich wäre, zeigt sich übrigens auch im Verhältnis zur Kirche. Religionssoziologische Untersuchungen belegen, dass der Einfluss des Elternhauses sehr wichtig ist: Wachsen Menschen in Familien mit kirchlichen Bindungen auf, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass sie als Erwachsene ein positives Verhältnis zur Kirche haben. Dennoch gilt: Sie können sich in beide Richtungen auch anders entscheiden – und manche tun dies auch.

Trotzdem: Im Vergleich zur Vormoderne und auch noch einmal im Vergleich zur ersten Phase der Moderne sind die Möglichkeiten, das eigene Leben selbst zu gestalten