Gemeinsam sind wir einzig - Anna Grue - E-Book

Gemeinsam sind wir einzig E-Book

Anna Grue

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Beschreibung

Eine Reise, eine Chance, ein Neuanfang - und eine wunderbare FreundschaftIhren kleinen Jungen, eine Madonna-Figur und Bargeld – das ist alles, was Vittoria bei sich hat, als sie im Februar 1958 beschließt, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und in ihrem Fiat 500 von Rom nach Kopenhagen flieht. Schnell muss sich die junge Italienerin eingestehen, dass der Neuanfang alles andere als einfach ist. Zum Glück weiß sie Conny, eine Dänin mit einer ausgeprägten Vorliebe für ein ungestümes Leben, stets an ihrer Seite. Sie werden beste Freundinnen. Doch als sich Vittoria verliebt, holt sie ihre Vergangenheit ein. Und plötzlich hängt ihr neu gefundenes Glück am seidenen Faden …

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Für Jesper. Amager, amore!

Übersetzung aus dem Dänischen von Marieke Heimburger

ISBN 978-3-492-97871-2 © Anna Grue 2015 Titel der dänischen Originalausgabe:»Italiensvej«, Politikens Forlag, Kopenhagen 2015 Published by arrangement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018 Umschlaggestaltung: zeromedia.net, München Umschlagabbildung: FinePic®, München und Gettyimages/Ikon Images/Neil WebbDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Volare

16. Februar – 6. März 1958

6. März 1958

7. März 1958

13. März 1958

14. März 1958

15. März 1958

15. März 1958

24. März 1958

26. März 1958

26. März 1958

28. März 1958

Fleissiges Lieschen

29. Mai 1958

1. Juni 1958

1. Juni 1958

2. Juni 1958

6. und 8. Juni 1958

17. bis 21. Juni 1958

24. Juni 1958

28. und 29. Juni 1958

11. und 14. Juli 1958

19. Juli 1958

Amore

7. Oktober 1958

10. Oktober 1958

11. und 12. Oktober 1958

16. Oktober 1958

18. Oktober 1958

23. Oktober 1958

24. Oktober 1958

28. Oktober bis 2. November 1958

4. und 5. November 1958

11. November 1958

3. und 8. Dezember 1958

10. Dezember 1958

12. Dezember 1958

22. Dezember 1958

31. Dezember 1958

1. und 4. Januar 1959

Aufbruch

1. März 1959

18. März 1959

21. März 1959

1. April 1959

8. April 1959

12. April 1959

17. bis 19. April 1959

27. April 1959

1. Mai 1959

1. Mai 1959

1. Mai 1959

9. Juni 1959

10. Juni 1959

17. Juni 1959

Hochzeit

1. August 1959

Danksagung

16. Februar – 6. März 1958

Vittoria Contini hatte ihre gesamte Habe im Auto verstaut: Kleidung, etwas Hausrat, warme Decken, den Schmuck ihrer Mutter und die Madonnenfigur sowie unzählige Taschen, Beutel und Pappkartons. Alles häufte sich nun im Wageninneren des kleinen Fiat 500. Auf der Rückbank, eingeklemmt zwischen Koffern und Wäschestapeln, stand ein Weidenkorb. Darin lag wohlbehütet ihr kleiner Junge. Der dicke Umschlag mit dem Geld aber steckte sicher unter dem Fahrersitz.

Vittoria verließ das Viertel Trastevere gegen Mitternacht. Im Rückspiegel sah sie, dass Suor Giovanna ihr noch lange hinterherwinkte. Bis zu diesem Moment war es Vittoria gelungen, die Fassung zu bewahren, aber kaum war die große, knochige Gestalt in der schwarzen Nonnentracht außer Sicht, verschleierten Tränen ihren Blick, und so hielt sie gleich hinter der Ponte Garibaldi auf dem Seitenstreifen und gab ihren Gefühlen nach. Sie beweinte ihre toten Eltern, Aurelia und das Leben, das sie nun hinter sich ließ: das Restaurant, die schmalen Gassen um die Piazza di Santa Maria, ihre Arbeit. Aber am meisten weinte sie, weil sie wusste, wie sehr Schwester Giovanna ihr fehlen würde.

Nach einigen Minuten hatte Vittoria sich wieder gefangen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und wer A sagte, musste auch B sagen. Der Abschied von ihrem Zuhause war der Preis, den sie zahlen musste, wenn sie mit dem Kind einen Neubeginn wagen wollte. Vittoria putzte sich gründlich die Nase, dann drehte sie sich auf dem Sitz um und betrachtete den schlafenden Säugling. Wird schon werden, dachte sie. Muss.

Der Motor startete mit einem eifrigen Brummen, der Wagen war nagelneu. Während sie sich durch die nördlichen Stadtteile Roms schlängelte, wurde die Traurigkeit von einer berauschenden Erleichterung abgelöst. Sie hatte es geschafft! Sie war frei! Sie beide waren frei. Jetzt galt es, so schnell wie möglich von hier fortzukommen, bevor irgendjemand Lunte roch.

Vittoria fuhr ohne eine Pause, bis der Kleine gegen vier Uhr morgens aufwachte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie die Stadt längst hinter sich gelassen und befanden sich an der Küste vor Albinia. Sie fuhr rechts heran und war dankbar für den Vollmond, der ihr ein wenig Licht spendete, während sie den Jungen wickelte. Als sie die nasse Windel in der Hand hielt, ging ihr auf, dass dies ein Problem war, das sie nicht bedacht hatte: Schmutzwäsche. Die Häufchenwindeln würde sie wegwerfen müssen, damit es nicht im ganzen Fahrzeug danach stank, die anderen konnte sie behalten, würde aber unterwegs nach Waschsalons Ausschau halten müssen. Sie holte die Thermosflasche mit der Milchmischung hervor, schüttelte sie gründlich und öffnete den Verschluss.

Wie lange würden sie, einschließlich der nötigen Rastzeiten, wohl bis Kopenhagen brauchen?, fragte sich Vittoria und goss die Flüssigkeit in eine Nuckelflasche. Zwei Wochen? Drei? Auch ein neuer Fiat 500 war nicht für lange Strecken gebaut. Nur gut, dass sie genügend Bargeld bei sich hatte, sie würden ein paarmal übernachten müssen. Bei der nächsten Bank musste sie etwas von dem Geld in die benötigten Währungen umtauschen.

Während sie dem Jungen das Fläschchen gab, ließ sie den Blick über sein Gesicht und seinen Körper wandern. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die schwachen Lichtverhältnisse gewöhnt, sie konnte ihn ganz deutlich erkennen. Seine langen, geschwungenen Wimpern, die unfassbar perfekte kleine Nase, den dunklen Flaum auf dem Kopf, der sich bereits in weiche Locken verwandelte. Sein Griff um ihren Zeigefinger war erstaunlich fest. Der kleine Mann war so stark und gleichzeitig so hilflos. Vittoria beugte sich über ihn und sog seinen Duft ein. Salz, süß, ein Hauch von fetter Olivenseife.

Wie sehr ich dieses Kind doch liebe, dachte sie, und in derselben Sekunde fiel ihr auf, dass sie es konsequent vermied, es bei seinem Namen zu nennen – selbst in Gedanken. Es war immer nur der Junge, das Kind, der Kleine, mein Schatz … Vielleicht sollte sie ihm einen neuen Namen geben? Eigentlich war er nach seinem Vater benannt, aber das hatte ihr von Anfang an widerstrebt. Diesen Mann wollte sie am liebsten vergessen, und das konnte sie nicht, wenn sie immer an die Vergangenheit erinnert wurde, sobald sie das Kind rief.

Und da wusste sie auf einmal, wie es von jetzt an heißen sollte – natürlich nach ihrem eigenen fürsorglichen, humorvollen Vater, der einen ganz hervorragenden Großvater abgegeben hätte. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen?

»Massimo«, sagte sie leise und strich dem Jungen mit einer Fingerspitze über die gewölbte Stirn. »Massimo Contini, bambino mio. Ich werde immer auf dich achtgeben. Immer.«

*

Die Tage vor ihrer Abreise aus Rom waren hektisch gewesen. Vieles hatte sie regeln und besorgen müssen, von Koffern über Babyartikel bis hin zum Proviant. Und das alles so unauffällig wie möglich, damit niemand Verdacht schöpfte – darum hatte sie die Einkäufe in weit von Trastevere entfernten Stadtteilen erledigt. Ja, Vittoria hatte sich sogar regelrecht verkleidet, bevor sie in einer gut sortierten Buchhandlung auf dem Corso einen vernünftigen Straßenatlas ausgesucht hatte: Sie trug einen breitkrempigen Hut ihrer verstorbenen Mutter und Schwester Giovannas aussortierte Brille. Danach hatte sie in jeder freien Minute die Landkarten studiert. Sie wagte es nicht, die Strecke über die Alpen zu nehmen, aus Angst, der kleine Motor ihres Fiat würde an der Herausforderung scheitern – und weil um diese Jahreszeit noch mit Schnee zu rechnen war. Darum wollte sie an der Mittelmeerküste entlang- und dann durch Frankreich und Westdeutschland fahren. Auf alternativen Routen, sodass sie nicht so leicht wie auf den Hauptstraßen zu verfolgen wäre.

Fünfzehn Tage dauerte die Reise durch Europa gen Norden schließlich. Sie fuhr und fuhr, und doch ging es viel zu langsam voran. Nur etwa zweihundert Kilometer schaffte sie am Tag, oft holperte sie über schmale, schlechte Nebenstrecken, die sie durch kleine Bergdörfer und an winterkahlen Weingärten vorbeiführte. Jedes Mal, wenn Massimo aufwachte, musste Vittoria anhalten, um ihn zu versorgen. Gut, dass er noch so klein ist, dachte sie. Ein größeres Kind hätte häufigere und längere Ruhepausen verlangt, und das hätte die Reisezeit noch viel mehr in die Länge gezogen. Es war schon schlimm genug, dass sie immer mal wieder für mehrere Stunden rasten mussten, wenn Vittoria müde wurde.

Die Nächte verbrachten sie stets in Gasthäusern – kleinen Pensionen oder bescheidenen Herbergen –, wo Vittoria nicht mehr als zwei, drei Stunden am Stück schlief, wie es das Los aller jungen Mütter war. Nach ihrer Ankunft dort spülte Vittoria immer gleich die benutzten Windeln aus, damit sie bis zum nächsten Morgen neben dem Kachelofen trocknen konnten, und bereitete – entweder in der Küche oder auf ihrem kleinen Primus-Gaskocher – die Milchrationen vor, die Massimo im Lauf des nächsten Tages brauchen würde. Mit ein bisschen Einfallsreichtum und geschickter Planung ging das ganz gut, aber dieses Nomadendasein war nicht unproblematisch. So geriet Vittoria einmal ziemlich heftig mit einem französischen Wirt aneinander, dem das Babygeschrei auf die Nerven ging, und ein paarmal war sie der Verzweiflung nah, weil sie die Fläschchen und Sauger nicht in der Hotelküche auskochen durfte. Sie war vom Wohlwollen anderer Menschen abhängig und deren Launen schutzlos ausgeliefert.

Schon nach wenigen Tagen war Vittoria vollkommen erschöpft. Der Schlafmangel, das ständige Improvisieren und die vielen Stunden am Steuer forderten ihren Tribut. Und auch psychisch war sie angegriffen. Wie unendlich zermürbend es doch war, nur mit Händen und Füßen zu kommunizieren – aber eine andere Möglichkeit blieb ihr nicht, nachdem sie Italien erst verlassen hatte. Sie sprach weder Deutsch noch Französisch – und die Menschen um sie herum konnten kein Italienisch. Vittoria sehnte sich danach, mit jemandem reden zu können, um Hilfe bitten zu können, von ihren Sorgen und Zweifeln erzählen zu können oder auch einfach nur ein paar freundliche Worte zu wechseln. Ihr Kopf drohte zu zerplatzen vor so vielen neuen Eindrücken, und jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie die endlose Straße vor sich. Vittorias Körper schrie förmlich nach einer vernünftigen Mahlzeit, nach einem guten Bett, nach mehr als drei Stunden ungestörtem Schlaf – und je frustrierter Vittoria wurde, desto unruhiger reagierte auch Massimo.

Und dann war da die Angst. Die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, sich buchstäblich über die Schulter sehen zu müssen. Natürlich hatten Schwester Giovanna und sie alles sehr gründlich vorbereitet, und offenbar hatten auch alle die Geschichte geglaubt, die sie beide sich ausgedacht hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Vittoria verfolgt wurde, war gering und schrumpfte mit jedem zurückgelegten Kilometer. Trotzdem brachte die Angst, gefunden zu werden, sie manchmal fast um den Verstand. Sie musste ihre letzten Kräfte mobilisieren, um sich zusammenzureißen, die Route des nächsten Tages auswendig zu lernen und sich darauf zu konzentrieren weiterzufahren.

*

Am Montag, dem dritten März, erreichte Vittoria Kopenhagen. Sie war so müde, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte außer diesem: Sie musste ein Zimmer finden, wo sie und Massimo eine Weile bleiben konnten. Schluss mit dem täglichen Ein- und Auspacken, mit den langen, anstrengenden Fahrten. Sie hatte vor, möglichst zentral zu wohnen, und als sie in die Gegend hinter dem Hauptbahnhof kam, stellte sie erleichtert fest, dass sich dort ein Hotel an das andere reihte.

Sie parkte in der Helgolandsgade und nahm den Weidenkorb mit Massimo an sich. Erkundigte sich in den Unterkünften nach Preisen und sah sich gründlich um. Viele waren zu schäbig, als dass sie dort mit einem Säugling hätte bleiben können. Es wimmelte nur so vor betrunkenen Männern darin, obwohl es noch nicht einmal Abend war, und die Frauen, denen sie begegnete, sahen aus, als gehörten sie einem Gewerbe an, vor dem Vittorias Mutter sie gewarnt hatte. Einige wenige Hotels waren ansprechend, aber viel zu teuer, in anderen wiederum erklärte man nachdrücklich, kein Baby beherbergen zu wollen.

Letztendlich entschied sie sich für das Hotel Epsilon in der Colbjørnsensgade. Zu diesem Zeitpunkt war Massimo wieder wach, und Vittoria brauchte einen Ort, an dem sie ihn wickeln und füttern konnte. Deshalb war sie womöglich nicht ganz so kritisch, wie sie es sonst gewesen wäre, aber dieses Hotel wirkte doch zumindest sauber. Der pickelige Rezeptionist war ganz beeindruckt von Vittorias Dänischkenntnissen und sagte, Massimo sei ebenfalls willkommen. Kurz darauf betrat sie Zimmer zweihundertvierzehn. Es war klein und sehr weit vom Bad entfernt, ansonsten aber völlig ausreichend. Sie hatte nur das Notwendigste aus dem Auto mit nach oben genommen: Kleidung, alles für den Säugling, den Gaskocher, das Geld. Und die Heilige Jungfrau natürlich. Kaum war die schöne Figur ausgepackt und hatte einen Platz auf der Fensterbank bekommen, fühlte Vittoria sich schon gleich viel mehr zu Hause.

Die ersten Tage nach ihrer Ankunft schlief sie immer sofort ein, wenn Massimo einschlief. Sie versorgte ihn wie in Trance, und ihre eigenen Mahlzeiten bestanden lediglich aus Brot, Butter und Käse aus dem Milchladen um die Ecke. Doch nach und nach kam Vittoria wieder zu Kräften, und ihr angeborener Optimismus machte sich ebenfalls wieder bemerkbar, obwohl sie sich noch nicht in der Lage sah, sich auf die Suche nach einer festen Bleibe zu machen.

Nach drei Tagen im Hotel Epsilon bekam Massimo Bauchschmerzen. Mit dem Kind auf dem Arm ging sie im Zimmer auf und ab – was gar nicht so einfach war auf dem doch recht engen Raum zwischen Bett, Waschtisch, Schrank und Koffer. Unzählige Male wachte der Junge in der Nacht brüllend auf, Vittoria musste immer wieder aufstehen und ihn herumtragen. Im Morgengrauen kam Massimo endlich zur Ruhe, aber ein paar Stunden später war er schon wieder wach und schrie aus Leibeskräften. Vittoria war so aufgewühlt, dass ihr der Schweiß ausbrach. Zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, ob sie das Richtige getan hatte. War das wirklich das Leben, für das sie alles andere aufs Spiel gesetzt hatte?

6. März 1958

In Connys Faust saß der über mehrere Stunden aufgestaute Frust: Dreimal klopfte sie kräftig an die Tür. Sie wurde sofort geöffnet.

»Ja bitte?«, sagte die Frau. Mit einem Säugling auf dem Arm stand sie in der Tür und wirkte abweisend.

»Ich wohne im Zimmer nebenan«, begann Conny.

Die andere Frau sah sie an und antwortete nicht.

»Würden Sie bitte Ihr Kind beruhigen?«, fuhr Conny fort und zog ihren Morgenmantel am Hals etwas weiter zu. »Ich war gerade erst eingeschlafen.«

Die andere warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Ja, ich weiß«, wandte Conny ein, bevor die Fremde etwas sagen konnte. »Es ist zehn. Ich habe aber immer erst um vier Uhr morgens Feierabend. Und auch ich brauche meinen Schlaf.«

»Entschuldigung. Es … tut mir leid, dass wir Sie geweckt haben.« Die junge Frau sprach mit ausländischem Akzent.

»Vielleicht könnten Sie ja mit ihm spazieren gehen … oder … Ist es ein Mädchen?« Conny hob die Hand, um dem Kind die Wange zu streicheln. Die Frau wich einen Schritt zurück und drückte es schützend an sich.

»Verzeihung«, sagte Conny erschrocken und ließ die Hand sinken. »Ich wollte nicht …«

»Es ist ein Junge.« Mit einem entschuldigenden Blick trat die Mutter wieder vor, damit Conny sein Gesicht sehen konnte. »Er heißt Massimo.«

»Massimo? Das ist ja ein … ungewöhnlicher Name.«

Die Frau legte dem Kleinen eine Hand um den Hinterkopf. »Das ist italienisch.«

»Kommen Sie denn aus Italien?«

»Aus Rom.« Die junge Frau reichte Conny die freie Hand. »Vittoria Contini.«

»Conny Mortensen.« Sie schüttelte die Hand und sah ihrem Gegenüber zum ersten Mal in die Augen. Eins war blau, das andere braun. Das alles wirkte auf sie irgendwie beunruhigend. »Sind Sie wirklich Italienerin?«

»Ja.«

»Dafür sprechen Sie aber erstaunlich gut Dänisch.«

»Danke. Meine Mutter war Dänin. Wir sprechen immer Dänisch zusammen.« Frau Contini hielt inne. »Nein, nicht sprechen … sprachen.«

»Oh.«

»Meine Mutter ist letzten Herbst gestorben.«

»Oh«, wiederholte Conny. »Dann hat sie ihren Enkel also gar nicht mehr kennengelernt?«

»Nein.«

Der Säugling fing wieder an zu schreien.

»Entschuldigung, er hat Hunger«, sagte Frau Contini. Sie nahm ein Fläschchen aus einem Topf, der auf einem Gaskocher stand, und ließ routiniert ein paar Tropfen Milch auf ihr Handgelenk fallen. Offenbar war sie mit der Temperatur zufrieden, denn sie drehte das Gas ab und setzte sich auf das Bett. Gierig fing der Kleine an zu saugen.

Hinter Conny ging ein anderer Hotelgast auf dem Flur vorbei und murmelte einen kaum hörbaren Gruß. Conny drehte sich um. Die Schultern in seinem Wollmantel hingen tief herab. Ein unangenehmer, von ihm ausgehender Alkoholgeruch stieg ihr in die Nase.

Sie sah wieder zu Frau Contini. »Sie wissen schon, dass das verboten ist, oder?«

»Was? Sein Kind zu füttern?« Vittoria Contini blickte auf.

»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist verboten, einen Gaskocher im Zimmer zu haben. Von wegen Feuergefahr. Wenn der Hoteldirektor dahinterkommt, dann …«

Frau Contini zuckte die Achseln. »Was soll ich machen? Der Junge muss ja etwas essen. Ich gebe dem Zimmermädchen jeden Tag eine Krone, damit es … Come si dice? Den Mund behält?« Sie sah Conny an. »Sie werden doch nichts sagen, oder?«

»Natürlich nicht.« Conny lachte. »Ich glaube, das Zimmermädchen verdient nicht schlecht. Ich stecke ihr auch hin und wieder was zu, damit sie mein Zimmer immer als Letztes macht. Damit ich noch ein bisschen länger schlafen kann.«

Die andere Frau lächelte knapp.

»Es wäre doch viel einfacher, wenn Sie dem Kind die Brust gäben«, merkte Conny an.

»Stimmt. Ich habe nur leider keine Milch«, sagte Vittoria Contini. »Würden Sie bitte die Tür hinter sich schließen, damit niemand den Gaskocher sieht?«

Conny verstand sie absichtlich falsch und kam herein, bevor sie die Tür hinter sich zuzog. Dann sah sie sich um, während die andere Frau sich auf ihr Kind konzentrierte. Das Zimmer war ziemlich vollgestellt. Zwei große, edle Lederkoffer lagen aufgeschlagen auf dem Boden, sodass nur ein schmaler Gang neben dem Bett frei war. In einer Ecke standen ein kräftiger Leinenseesack und ein ovaler Weidenkorb, im offenen Kleiderschrank ein Karton mit Lebensmitteln. Über dem Heizkörper hingen Stoffwindeln und ein paar Babysachen zum Trocknen, und auf der Fensterbank befanden sich leere Fläschchen, Sauger, eine bunte Marienfigur und diverser Kleinkram. Der schwere Geruch von warmer Milch und Schmutzwäsche hing in der Luft.

»Wie lange wohnen Sie schon im Epsilon?«

»Seit Montag. Und Sie?«

»Seit zwei Monaten.« Conny wurde ganz heiß in der stickigen Zimmerluft, sie öffnete den Morgenmantel über ihrem Nachthemd und räusperte sich. »Und wie lange wollen Sie hierbleiben?«

Vittoria Contini sah sie an. »Hören Sie, normalerweise macht er nicht so ein … Wie sagt man? Ach ja, Theater«, erklärte sie. »Ich verspreche Ihnen, dass ich besser aufpassen werde. Jetzt weiß ich ja, dass Sie tagsüber schlafen.«

»So war das nicht gemeint«, sagte Conny. »Ich dachte nur … Es ist doch bestimmt nicht einfach, hier mit einem kleinen Kind zu wohnen.«

»Ich komme zurecht«, sagte Frau Contini.

»Vielleicht könnten Sie ja irgendwo ein Zimmer mit Zugang zu Küche und Bad bekommen?«

»Ich habe in drei Pensionen nachgefragt. Keine wollte mich wegen des Kleinen aufnehmen.«

»Aber warum sind Sie denn überhaupt …« Conny bremste sich. Sollte Vittoria Contini ihr eines Tages erzählen wollen, warum sie – eine junge, elegante Römerin mit teuren Koffern – hier mit ihrem Kind in einem heruntergekommenen Hotelzimmer in der Colbjørnsensgade saß, würde sie es schon tun. »Hätten Sie Lust auf eine Tasse Kaffee?«, fragte Conny stattdessen.

»Sehr gerne, ja.« Frau Continis Miene hellte sich auf.

»Ich hab welchen im Zimmer.« Conny ging zur Tür.

»Aber wollten Sie denn nicht schlafen?«

»Jetzt bin ich ja wach. Vielleicht kann ich heute Nachmittag noch ein Nickerchen machen, ich muss erst um acht zur Arbeit.« Sie verschwand in ihrem Zimmer und zog sich um, bevor sie einen Tauchsieder und eine Blechdose mit Nescafé hervorholte und ins Nachbarzimmer zurückkehrte.

Neugierig sah die Italienerin ihr bei der Zubereitung des Kaffees zu. »Ich dachte immer, Dänen benutzen einen … Come si dice? Trichter?«

»Nicht für Pulverkaffee«, sagte Conny und gab je einen Teelöffel voll in zwei Tassen. »Ist kolossal praktisch. Kennen Sie das gar nicht?«

Frau Contini schüttelte den Kopf. Sie schnupperte am dampfenden Kaffee und stellte ihn auf dem Nachttisch ab. »Setzen Sie sich doch. Da ans …« Sie machte eine Handbewegung und suchte wieder nach dem richtigen Wort.

»Fußende?«, schlug Conny vor.

»Ja, genau.« Die andere Frau lächelte verlegen. »Entschuldigen Sie die Unordnung.«

»Keine Sorge.« Conny schob einen Haufen Kleidung zur Seite und nahm Platz.

»Bitte, bedienen Sie sich«, sagte Frau Contini und hielt ihr eine Schachtel Schokolade hin. »Habe ich von zu Hause mitgebracht.«

»Danke.« Conny nahm ein Stück weiches Nougat in den Mund. Es zerschmolz sofort auf der Zunge, war aber so süß, dass es in den Zähnen schmerzte.

Schweigend saßen sie da.

Vittoria Contini stellte die leere Babyflasche weg und legte sich das Kind an die Schulter, damit es sein Bäuerchen machen konnte. Dann nippte sie am Kaffee – und schwieg.

»Schmeckt er ihnen nicht?«, fragte Conny. »Sie können noch einen Löffel mehr reintun, wenn Sie möchten.«

»Nein danke. Er ist gut so.«

Wieder schwiegen sie einen Moment. Conny rauchte eine Zigarette, während sie ihr Gegenüber heimlich beobachtete. Mit Ausnahme der Augen sah Vittoria Contini nicht besonders exotisch aus. Noch nicht einmal wie eine richtige Italienerin, stellte Conny mit einer gewissen Enttäuschung fest. Sie hatte weder die schwarze Mähne noch den üppigen Vorbau oder die riesigen Goldohrringe, die Conny damit assoziierte. Ihr Haar war straßenköterblond, ihre Brüste klein und die Handgelenke so zierlich, als könnten sie jederzeit brechen. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ein silberner Ring mit einem glitzernden blauen Stein. Sie war keine ausgeprägte Schönheit, aber die nachlässig aufgesteckten Haare, der lange Hals und das figurbetonte puderblaue Kleid verliehen ihr dennoch eine fremde Aura, die sie in den Augen eines gewöhnlichen Dänen ziemlich mondän erscheinen ließ.

Vittoria Contini drückte Nase und Lippen gegen die Wange des Kleinen. In regelmäßigen Abständen fielen ihr die blau marmorierten Lider zu – sie war in ihre ganz eigene Welt versunken. Und sicher auch todmüde, dachte Conny. Wenn der kleine Schreihals die ganze Nacht so einen Aufstand gemacht hatte, hatte seine Mutter wohl kaum ein Auge zugetan. Kein einziges Mal wandte sie sich ihrem Gast zu, es sei denn, Conny sprach sie direkt an.

Conny fühlte sich nicht willkommen. Sie bereute das mit dem Kaffee. In Wirklichkeit war Pulverkaffee für sie auch etwas relativ Neues, ganz gleich, wie nonchalant sie gerade darüber geredet hatte. In ihrem Elternhaus hatte es so etwas nicht gegeben, ihre Mutter hatte die Mischung aus Kaffeeersatz von Rich und echtem Kaffee stets zweimal aufgebrüht, um wirklich alles aus dem Getränk herauszuholen. Conny trank ihren Nescafé nur zu ganz besonderen Gelegenheiten. Immerhin kostete er ja über vier Kronen pro Dose. Was für eine Verschwendung, ihn jemandem zu servieren, der ihn nicht zu schätzen wusste, dachte sie und warf einen Blick auf Frau Continis Tasse, in der der kaum angerührte Kaffee inzwischen kalt geworden war.

Der Kopf des Säuglings lief rot an, er stieß einen lauten Schrei aus. Die Kindsmutter riss die Augen auf, rief »Oh!« und war mit einem Mal wieder hellwach. »Ich hole eben etwas Wasser.«

Während sie alles für den Windelwechsel vorbereitete, saß Conny auf dem Bett und betrachtete den kleinen Massimo. Nichts deutete darauf hin, dass der Junge die unterschiedlich gefärbten Augen seiner Mutter geerbt hatte. Seine Iris war so dunkelbraun, dass man kaum die Pupillen sehen konnte. Sie berührte sein rosa Händchen. Sofort umklammerte er ihren Zeigefinger. Der mohnrote Nagellack, den Conny eigentlich wahnsinnig schick fand, nahm sich neben Massimos perfekten runden, fast durchsichtigen Nägeln geradezu vulgär aus. Sie gab einen Laut von sich, ein sanftes Gurren, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es in sich trug. Massimo drehte den Kopf und sah sie an. Dann lächelte er, breit und zahnlos.

»Wie alt ist er?«, fragte Conny, als Frau Contini sich kurz darauf daranmachte, dem Jungen die schmutzige Windel auszuziehen.

»Zweieinhalb Monate«, antwortete sie. »Ist er nicht süß?«

»Sehr süß.« Fasziniert beobachtete sie, wie Vittoria Contini den Jungen wusch und jede Hautfalte trocken tupfte. Massimo lag ganz still, er schien den Vorgang zu genießen. Seine Mutter puderte ihn mit Talkum und zog ihn wieder an.

»Ich habe fast keine sauberen Windeln mehr«, sagte Frau Contini und knöpfte den weißen Strampelanzug ihres Sohnes an den Schultern zu.

»Dann müssen Sie welche waschen.«

»Das ist ja gerade das Problem«, begann die andere Frau und richtete sich auf. »Ich habe einen Topf, um die Windeln auf dem Primus auszukochen, dann spüle ich sie im Bad aus – aber ich kann sie nirgends richtig trocknen.« Ratlos zog sie die Schultern hoch. »Wie machen Sie das denn? Gibt es hier in der Nähe eine Wäscherei?«

»Ja, gleich um die Ecke in der Istedgade.« Conny sah Frau Contini an. »Ich muss sowieso da hin und saubere Wäsche abholen. Wollen Sie mitkommen?«

»Sehr gerne.« Vittoria Contini lächelte. »Ich hasse waschen.«

»Wer tut das nicht?«

Conny ging ihre Jacke holen, während Vittoria Contini einen beeindruckenden Haufen Schmutzwäsche zusammensammelte.

»Geben Sie her«, sagte Conny und streckte die Hand nach dem vollgestopften Seesack aus.

»Danke.« Frau Contini wickelte Massimo in eine dicke Wolldecke, zog ihm eine Strickmütze über das Köpfchen und legte ihn in den Weidenkorb. Dann steckte sie ihre Geldbörse unter seine Decke, bevor sie den Korb aufnahm und die Tür hinter sich abschloss.

»So einen Korb habe ich noch nie gesehen. Jedenfalls nicht, um Babys darin zu transportieren«, sagte Conny, als sie kurz darauf den Gehsteig entlangspazierten.

»Den hier?« Die Ausländerin sah auf den Weidenkorb hinunter. »Die sind in Italien ganz normal.«

»Aber wäre ein Kinderwagen denn nicht einfacher?«

»Ich möchte keinen kaufen, solange ich noch keine feste Bleibe gefunden habe«, sagte Frau Contini, die unter dem Gewicht des Kindes den Oberkörper neigen musste. »Ein Kinderwagen passt nicht in mein Auto.«

»Auto?«

Vittoria Contini lächelte. »Das da.« Sie nickte in Richtung eines cremefarbenen Wagens, der auf der anderen Straßenseite parkte. »Mein kleiner cinquecento. Er bietet nur Platz für das absolut Notwendigste. War schon schwer genug, unser ganzes Gepäck darin unterzubringen.«

Conny blieb stehen. »Das ist Ihrer? Der weiße Fiat?«

»Ja.«

»Ein eigenes Auto …«

Frau Contini sah sie an. »Haben Sie ein … Wie heißt das auf Dänisch? Patente di guida … Führerpatent?«

»Führerschein? Nein, aber ich hätte gerne einen.« Conny erwiderte ihren Blick. »Können wir nicht eine Spritztour damit machen?«

»Jetzt?«

»Nachdem wir die Wäsche weggebracht haben. Ich lade Sie auch zum Mittagessen in den Jægersborg Hirschpark ein. Was meinen Sie?«

*

Das war ein richtig schöner Ausflug, dachte Conny, als sie wenige Stunden später wieder in ihrem Zimmer war, um dringend ein paar Stunden Schlaf nachzuholen. Die beiden Frauen hatten sich mit dem Tragen des Säuglings abgewechselt und im Gasthaus Peter Liep Smørrebrød gegessen. Vittoria Contini hatte den ganzen Tag in ihren hohen Pumps bestritten. Es war Conny ein Rätsel, wie sie das aushalten konnte. Sie selbst hasste die Stilettos, die sie als Bedienung im Nachtklub tragen musste, und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, in ihrer Freizeit in so etwas herumzulaufen.

Eigentlich weiß ich immer noch nicht besonders viel über meine neue Nachbarin, dachte sie und stellte den Wecker auf sieben Uhr abends. Vittoria Contini hatte ihr praktisch nichts von sich erzählt, und Conny hatte sich bemüht, ihre Neugier im Zaum zu halten. Es mag ja nicht jeder sein Innerstes nach außen kehren und seine ganze Lebensgeschichte erzählen, dachte sie und drückte ihre Zigarette im überfüllten Aschenbecher auf dem Nachttisch aus.

7. März 1958

Am nächsten Vormittag ließ Vittoria die Fenster beim Aufräumen weit offen stehen. Ohne die Schmutzwäsche sah es im Zimmer schon wesentlich ordentlicher aus, aber es lag immer noch sehr viel herum. Das Chaos, in dem sie zurzeit leben musste, belastete sie, die sie von Natur aus ein Ordnungsmensch war. Andererseits redete ihr zum ersten Mal in ihrem Leben niemand herein, was sie zu tun und zu lassen hatte. Da musste sie sich eben mit den Nachteilen, die das mit sich brachte, arrangieren. Vittoria war jedenfalls so optimistisch, daran zu glauben, dass ihr Aufenthalt im Hotel Epsilon nur von kurzer Dauer sein würde. Sie bereute nichts. Zumindest nicht mehr seit Massimos kleinem Schreianfall gestern, der die Bekanntschaft mit Conny Mortensen zur Folge gehabt hatte.

Sie holte Wasser aus dem Bad, nahm die Flasche mit der Kuhmilch vom Gesims und machte sich daran, die Mischung für Massimo herzustellen: zwei Teile Milch, ein Teil Wasser, ein Löffel Zucker. So hatte sie es von Schwester Giovanna gelernt. Geistesabwesend rührte sie im Topf, bis die Flüssigkeit fast kochte, und füllte sie in eine Thermosflasche.

Massimo lag ganz entspannt mit vollem Milchbauch auf dem Bett und sah zur gemusterten Tapete, strampelte hin und wieder unter der Häkeldecke oder boxte in die Luft. Vittoria betrachtete ihn. Sie liebte ihn, natürlich liebte sie ihn, aber manchmal hatte sie das Gefühl, mit der Verantwortung für dieses kleine Kind überfordert zu sein. Vor allem unter diesen Umständen. Conny Mortensen hatte ganz recht gehabt, als sie sagte, sie bräuchten eine Küche, eine eigene Toilette und etwas mehr Platz. Vittoria hatte sich vorgestellt, eine kleine Wohnung zu mieten, aber das war gar nicht so einfach. Die Wohnungsnot in Kopenhagen war noch größer als in Rom, und für eine alleinstehende Frau wie sie war es schier unmöglich, etwas zu finden. Aber irgendetwas wird sich schon ergeben, dachte Vittoria und strich dem Jungen über die Wange.

Die Idee, von Rom wegzuziehen, war Vittoria gekommen, als ihre Mutter im Sterben lag – aber erst nach Massimos Geburt hatte festgestanden, dass ein Umzug unvermeidbar war. Vittoria war davon überzeugt gewesen, im Vaterland ihrer Mutter leben und dort heimisch werden zu können. Zwar war sie als Kind nur ein-, zweimal in Dänemark gewesen, aber ihre Eltern hatten stets betont, dass sie zur Hälfte Dänin war. Bis zu ihrer Ankunft hier hatte Vittoria geglaubt, fließend Dänisch zu sprechen, aber ohne ihre Mutter an ihrer Seite war sie plötzlich überraschend unsicher in dieser eigenartigen Sprache. Mehrfach hatte sie ihr Gegenüber bitten müssen, einen Satz zu wiederholen, und ganz oft kannte sie bestimmte Wörter nicht oder verstand eine Redewendung falsch. Sie kam sich dumm vor und fühlte sich isoliert.

Vittoria fiel ein, wie sie ihren Vater einmal in einer ganz ähnlichen Situation erlebt hatte. Der breitschultrige Gastronom stammte aus einer einflussreichen Familie und war sehr selbstsicher gewesen. Massimo Contini hatte alle anderen überragt, körperlich wie geistig, von nichts und niemandem hatte er sich unterkriegen lassen. Jedenfalls nicht bis zu den Ferien direkt nach dem Krieg, als er mit seiner Frau und seiner Tochter seine Schwiegereltern in Store Magleby besucht hatte. Dort hatte der stolze Mann sich ständig wie ein Außenseiter gefühlt. Niemand verstand, was er sagte, niemand redete mit ihm. »Di cosa parlate?«, fragte er die ganze Zeit. »Wovon redet ihr?« Immer und immer wieder. Dass er mit der Sprache seiner Frau nicht zurechtkam, verletzte nicht nur Herrn Continis ausgeprägtes Ehrgefühl – er langweilte sich auch ganz einfach. Massimo Contini war von jeher ein geselliger Mensch gewesen, und in Dänemark kam er sich vor wie amputiert. Nur, wenn er mit seiner Frau und Vittoria allein war, blühte er auf und war wieder ganz die Selbstsicherheit in Person, aber das hielt nie lange an. Denn sobald entweder die Schwiegermutter oder eine Nachbarin auftauchte und erneut anfing, Dänisch zu reden, war Vittorias Vater wieder schweigsam und gereizt gewesen. In jenem Sommer hatte Vittoria zum ersten Mal so etwas wie Mitleid mit ihrem Vater verspürt – aber auch einen Hauch von Verachtung. Gänzlich unbewusst hatte sie sich vom Kopfschütteln der anderen anstecken lassen: Wieso lernte der Mann denn nicht einfach Dänisch? War doch die leichteste Sprache der Welt! Erst jetzt, nach so vielen Jahren, verstand sie, wie einsam er sich damals gefühlt haben musste.

Vittoria griff unter die Bettmatratze und zog den Umschlag mit den Banknoten hervor. Auf dem Boden sitzend, betrachtete sie die vielen Lirescheine, die ihr gesamtes verfügbares Kapital darstellten. Jeder Tausendlireschein war elf dänische Kronen wert, das hatte sie sich gemerkt. Sie zählte das Geld und überlegte, wie lange es wohl noch reichen würde. Vermutlich mehrere Jahre. Sie könnte sich sogar jetzt sofort ein kleines Haus davon kaufen, wenn es sein müsste. Aber wovon sollten sie dann leben? Und wie sähe ihre und Massimos Zukunft aus, wenn sie schon gleich zu Beginn sämtliches Geld verpulverte? Nein, sie musste vernünftig sein und so lange wie nötig sparsam damit haushalten. Man wusste ja nie, was käme. Bald würde sie sich eine Arbeit suchen müssen. Das Problem war nur, dass sie ihren Jungen dorthin mitnehmen musste, sie konnte also weder in einem Laden noch an einem Fließband stehen.

Und die freie Stelle in dem Nachtklub, von der ihre neue Bekannte ihr erzählt hatte, konnte sie auch nicht annehmen. Selbst wenn Massimo im Pausenraum liegen könnte, solange sie arbeitete, wie Fräulein Mortensen ihr versichert hatte. Vittoria lächelte schief und schüttelte den Kopf. Glaubte sie denn, der Kleine würde den Rest seines Lebens still daliegen und das Tapetenmuster beäugen? Vittoria wusste, dass Massimo sich schon in wenigen Wochen würde umdrehen können. Bald darauf würde er sich aufsetzen und anfangen zu krabbeln, dann aufstehen und laufen. Und damit würde auch sein Schlafbedürfnis sinken und seine Neugier wachsen. Ein Kleinkind im Hinterzimmer eines belebten Nachtklubs voller alkoholisierter Menschen – unmöglich!

Vittoria nahm dreißigtausend Lire aus dem Umschlag und steckte ihn wieder unter die Matratze. Sie musste zur Bank, um so viel Geld zu wechseln, dass es für ihren Lebensunterhalt in der nächsten Woche reichte.

Die Heilige Jungfrau sah mit einem liebevollen Blick von der Fensterbank auf sie herunter, und Vittoria bekreuzigte sich unwillkürlich. Eigentlich war sie selbst nicht besonders religiös, aber die Madonnenfigur spielte eine ganz wichtige Rolle in ihrem Leben. Ihr italienischer Großvater aus Umbrien hatte sie Vittoria zur Taufe geschenkt, und seither hatte sie die Familie beschützt.

Vittoria holte die Metallkiste mit den Lebensmitteln hervor, schmierte sich eine dicke Scheibe Weißbrot, belegte sie mit Salami und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Sie sehnte sich so sehr nach einer richtigen Mahlzeit! Einer warmen Mahlzeit. Das Mittagessen am Vortag war eine Enttäuschung gewesen. Vittoria hatte sich auf ein ordentliches Stück Fleisch gefreut, dampfendes Gemüse und jede Menge dicke braune Soße – so, wie sie es von ihrer dänischen Großmutter her kannte. Doch Conny Mortensen hatte Smørrebrød bestellt. Das sei typisch dänisch, hatte sie gesagt. Kalte, pappige Scheiben dunkles Brot mit einer dicken Schicht Margarine, auf der sich viel zu viele verschiedene Sachen stapelten. Dass man das Mittagessen nennen konnte, ging über Vittorias Verstand.

Massimo war eingeschlafen. Vittoria legte ihn in den Korb auf dem Boden, setzte sich mit ihrer Schreibmappe aufs Bett, schraubte den Deckel von ihrem Füllhalter und schrieb:

Kopenhagen, den 7. März 1958

Liebste Suor Giovanna,

nur ein kurzer Brief, damit Sie wissen, dass wir vor ein paar Tagen wohlbehalten in Kopenhagen angekommen sind. Die Fahrt war sehr anstrengend und hat länger gedauert, als ich dachte, aber nun sind wir hier, und alles ist gut.

Wir wohnen in einem Hotel in der Innenstadt. Es ist billig und sauber, aber das Publikum lässt etwas zu wünschen übrig. Ich hoffe, bald eine geeignete Unterkunft zu finden, und schreibe Ihnen dann wieder, sobald ich eine feste Adresse habe. Bis dahin erreichen Sie mich unter dieser: Hotel Epsilon, Colbjørnsensgade, Kopenhagen.

Noch einmal tausend Dank für alles! Ich weiß, dass Sie ein großes Risiko eingegangen sind, um mir zu helfen, das steigert meine Dankbarkeit nur noch.

Gott sei mit Ihnen.

Ganz herzliche Grüße von

Vittoria

Sie schrieb das nicht bloß, um der alten Nonne eine Freude zu machen. Sie war Schwester Giovanna wirklich zutiefst dankbar. Ohne sie hätte sie ihre Spuren niemals so effektiv verwischen können. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand ihr gefolgt war, obwohl die Angst davor sie immer noch ab und zu einmal beschlich. Sie las den Brief abermals durch. Hätte sie Fräulein Mortensen erwähnen sollen? Es würde Schwester Giovanna freuen, dass Vittoria bereits ein bisschen Anschluss gefunden hatte, dass ihr und dem Jungen freundlich begegnet wurde. Andererseits … Conny Mortensen war nicht gerade das, was die alte Nonne guten Umgang nennen würde. Dazu war sie viel zu aufreizend gekleidet – sie trug Hosen! –, und ihre Arbeit im Nachtklub klang auch nicht nach einer respektablen Tätigkeit für eine junge Frau. Außerdem rauchte und trank die Dänin ziemlich viel. Schon wenige Worte über sie würden ausreichen, um Schwester Giovanna zu beunruhigen. Conny Mortensen gehörte wohl zu den Dingen, von denen Vittoria ihrer alten Mentorin nicht zu berichten brauchte.

Auf der anderen Seite der dünnen Wand lief ein Radio. Ihre rothaarige Nachbarin war also schon wach. Vittoria stellte sich vor, wie sie im Zimmer umherlief und aufräumte. Vielleicht versuchte sie mit einer Zigarette im Mund, ein Loch im Strumpf zu stopfen. Vittoria lächelte. Sie war froh über diese neue Bekanntschaft. Fräulein Mortensen war hilfsbereit, sie hatten Spaß zusammen, und sie mochte den Kleinen. Vittoria steckte den Brief in einen Umschlag, legte ihn auf den Waschtisch und dankte der Heiligen Jungfrau, dass sie Conny Mortensen begegnet war.

13. März 1958

»Für welche Art von Anzeigen interessieren Sie sich, werte Frau? Stellenanzeigen? Wohnungen?«

»Beides.«

»Die meisten sind in der Berlingske Tidende, aber wenn ich Sie wäre, würde ich auch die Politiken nehmen. Da sind auch einige Kleinanzeigen drin.« Der Verkäufer des Vesterbro-Kiosks hob beide Tageszeitungen hoch. »Vierzig Öre das Stück, bitte.«

Vittoria wusste nicht, was Kleinanzeigen waren, hakte aber nicht nach. Sie zählte die Münzen ab und reichte sie ihm. »Bitte schön.«

Der Zeitungsmann lächelte. Im Unterkiefer fehlten ihm zwei Zähne.

Vittoria steckte die Zeitungen ins Einkaufsnetz zu den Waren aus dem Milchladen. Sie ging weiter zur Istedgade. In der Wäscherei überreichte man ihr den Seesack mit ihrer sauberen Wäsche. Fräulein Mortensen hat recht, dachte Vittoria, als sie den schweren Sack schulterte und das Netz und den Korb mit Massimo anhob: Schon bald würde sie einen Kinderwagen brauchen. Der Junge wurde schließlich nicht leichter. Die Dame hinter dem Wäschereitresen kam ihr zu Hilfe und öffnete Vittoria die Tür.

Es gibt also doch freundliche Menschen in Dänemark, dachte Vittoria, während sie durch den Schneematsch zum Hotel in der Colbjørnsensgade zurückging. Ihre Mutter hatte immer behauptet, die Dänen seien alle missmutig, weil das Wetter in Dänemark so schlecht sei, und da war wohl auch etwas dran. Vittoria hatte selten so viele abgewandte Blicke erlebt, so viele Menschen, die sich offenbar mehr für den Gehsteig interessierten als für die Menschen, an denen sie vorbeikamen. Umso erfreulicher war es, wenn man einem Einheimischen begegnete, der sich von dem dichten weißgrauen Schleier, der über der Stadt lag, nicht beeindrucken ließ.

Zurück in ihrem Zimmer, beugte sie sich zu Massimo über das Bett, zog ihm die Mütze aus und schlug sein Deckchen ein bisschen zurück, damit ihm nicht zu heiß wurde. Er schlief so tief und fest, dass er überhaupt nicht reagierte. Sie richtete sich gerade wieder auf, als es an der Tür klopfte. Draußen im Gang stand Conny Mortensen. »Störe ich?« Um ihre Schultern lag ein Handtuch, und ihre Haare waren feucht, als käme sie geradewegs aus der Dusche.

»Überhaupt nicht.« Vittoria bat sie herein.

»Ich dachte, wir könnten vielleicht Brüderschaft trinken?« Fräulein Mortensen hielt eine Flasche und zwei Gläser hoch. »Ein Dubonnet. Auf den krieg ich im Klub Prozente.«

»Brüderschaft trinken?«

»Ja, wenn wir schon Nachbarn sind, dann sollten wir uns doch duzen, oder nicht?« Vittoria sah offenbar immer noch etwas verwirrt aus, denn Fräulein Mortensen fuhr fort: »Ich zeig’s Ihnen.«

Vittoria stellte den Korb mit Massimo auf den Boden, und die beiden Frauen setzten sich auf die Bettkante.

»Also«, sagte Fräulein Mortensen und schenkte ihnen beiden einen kräftigen Schluck von dem Dubonnet ein. »Man hält das Glas auf diese Art«, sagte sie und machte vor, wie man den rechten Arm mit dem Arm seines Gegenübers verschlang. »Und dann trinkt man.«

Vittoria tat, was Conny ihr sagte.

»So«, sagte Fräulein Mortensen und zog ihren Arm wieder zurück. »Und jetzt sind wir per Du.«

»Perduh?«

»Kennst du den Ausdruck nicht? Das heißt einfach nur, dass wir uns von jetzt an duzen. Und mit Vornamen anreden.«

»Ach so!« Vittoria lachte. »Jetzt versteh ich.« Sie trank noch einen Schluck. »Schmeckt lecker, du, Conny.«

Conny lächelte. »Eigentlich gehört da Eis rein, das machen wir nächstes Mal.« Sie hatte sich die Lippen mohnrot angemalt, was ihren blassen, sommersprossigen Hauttyp unterstrich. »Wie alt bist du eigentlich, wenn ich fragen darf?«

»Vierundzwanzig. Und du?«

»Einundzwanzig.« Conny hielt ihr die Flasche hin. »Noch einen?«

»Nein danke, davon werde ich so furchtbar müde. Noch etwas Nougat? Ein bisschen ist noch da.«

»Nein danke«, sagte Conny.

Über den Rand ihres Glases hinweg sah sie Vittoria an. Sie wirkte, als wollte sie etwas sagen, hielte sich dann aber doch zurück.

»Was?«, fragte Vittoria.

»Wie ›was‹?«

»Du wolltest mich doch gerade etwas fragen, oder?«

»Woher weißt du das?«

»Frag einfach.«

Conny stellte ihr Glas ab und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Erst, als sie den Rauch auspustete, richtete sie ihren Blick wieder auf Vittoria. »Deine Augen«, sagte sie. »Ich habe noch nie jemanden mit zwei verschiedenfarbigen Augen gesehen.«

Vittoria lächelte. »Ich bin so geboren«, sagte sie. »Das braune« – sie zeigte auf das rechte Auge – »habe ich von meinem Vater, und das blaue« – sie bewegte den Finger nach links – »von meiner Mutter.«

»Das ist ja … eigenartig.«

»Ich habe gelernt, damit zu leben, aber als ich klein war, habe ich meine Augen gehasst«, sagte Vittoria. »Die anderen Kinder in der Straße haben mich immer geärgert, haben gesagt, ich sei eine Teufelsbrut oder eine Missgeburt. Abends im Bett habe ich oft geweint und gebetet, Gott möge mir zwei gleichfarbige Augen geben wie allen anderen auch. Ich fühlte mich so hässlich. Potthässlich.«

»Du bist überhaupt nicht hässlich.«

»Danke.«

»Kannst du mit beiden Augen gleich gut sehen?«

»Sicher.« Vittoria lachte. Der Dubonnet fing an, ihr zu Kopf zu steigen. »Eigentlich witzig, dass du das sagst. Mein Vater meinte immer, meine Augen seien ein ganz besonderes Geschenk, das mir besondere Kräfte verleihe. Er hat behauptet, ich könne die Welt entweder wie eine Dänin sehen oder wie eine Italienerin – je nach Lust und Laune.«

»Und? Kannst du das?«

»Ich bin wohl eher so etwas wie ein Mischwesen. Aber als ich klein war, habe ich das wortwörtlich genommen. Ich dachte, wenn ich nur mit dem linken Auge guckte, sei ich Dänin – und umgekehrt. Manchmal habe ich mir sogar mit meinem Kopftuch ein Auge verbunden, als wäre ich ein … pirata. Wie heißt das? Pirat?«

»Ja.«

Vittoria lachte. »Die anderen Mädchen haben mich für verrückt erklärt.«

»Klingt, als hättest du einen guten Vater gehabt.«

»Stimmt. Er war wirklich einzigartig.« Vittoria wurde ernst. »Vor ein paar Jahren hatte er einen Herzanfall. Rums, da lag er auf einmal in seiner Küche. Mausetot. Mit vierundsechzig.«

»Schrecklich.« Conny runzelte die Stirn. »Du sagst ›in seiner Küche‹. Hat bei euch zu Hause dein Vater gekocht?«

»Mein Vater besaß ein Restaurant. Das hatte er von seinem Vater geerbt.«

»Und wem gehört es jetzt? Deinem Bruder?«

Vittoria merkte, wie sich ihre Miene verschloss. »Einem anderen Familienmitglied.«

Conny schien den Stimmungswechsel nicht bemerkt zu haben.

»Und jetzt ist deine Mutter auch tot … Woran ist sie gestorben?«

»An Krebs. Darmkrebs.«

»Heißt das, du bist jetzt ganz allein auf der Welt? Was ist mit dem Rest der Familie?«

Vittoria zuckte mit den Schultern. »Ich hab ja Massimo.«

»Du hast also keine Geschwister?«

Wieder zuckte Vittoria mit den Schultern. Wie genau muss ich ihr antworten?, fragte sich Vittoria. Sie hätte sich Conny jetzt wirklich gerne geöffnet, wusste aber auch, wie gefährlich es einem werden konnte, wenn man zu vertrauensselig war. Sie hatte Schwester Giovanna versprochen, vorsichtig zu sein. Aber wie konnte man mit jemandem befreundet sein und sich ihm gleichzeitig erschließen? Das war ein regelrechter Balanceakt. Von Massimo kam ein Wimmern. Vittoria war froh über die Ablenkung, stand auf und gab ihm den Schnuller. Der Junge seufzte zufrieden und schlief weiter.

Als Conny in den zerkratzten Blechaschenbecher auf dem Nachttisch aschte, fiel ihr Blick auf die Zeitungen.

»Nein! Guck doch mal, sind die süß!« Sie faltete die Politiken auseinander und zeigte auf das große Bild auf der Titelseite: im Schnee spielende Zirkuselefanten. »Die sind vom Zirkus Benneweis.«

»Ich dachte immer, Elefanten mögen keinen Schnee«, sagte Vittoria und fröstelte allein bei der Vorstellung, damit in Berührung zu kommen. »Die stammen doch aus Afrika.«

»Indien, glaube ich. Die sehen doch aus, als hätten sie ihren Spaß.« Conny suchte nach dem Datum. »Ist die von heute?«

»Ja.«

»Typisch«, sagte Conny und blätterte die Seiten um. »Kein Wort über den Grand Prix. Bei uns lief gestern den ganzen Abend der Fernseher.«

»Im Nachtklub gibt es einen Fernseher?«

»Eigentlich steht er im Büro vom Chef, aber gestern hat er ihn im Klub aufgestellt, damit die Gäste und wir mitgucken konnten. Mann, war das spannend! Obwohl Dänemark nicht gewonnen hat.«

»Vielleicht haben sie deshalb nichts darüber geschrieben.«

»Doch, hier«, sagte Conny. »Auf Seite zehn.« Sie las Vittoria den kurzen spöttischen Text mit Wörtern wie »Gedudel« und »Schmachtfetzen« laut vor. »Beim Siegertitel handelt es sich um einen überdurchschnittlich durchschnittlichen, seichten Schlager.«

»Wer hat denn gewonnen?«

»Frankreich. Aber hör mal hier: ›Lediglich der Beitrag der Schweiz – Musik von Paul Burkhard – sowie der Beitrag Italiens waren von etwas beseelt, das an Originalität erinnern könnte.‹« Conny sah sie an. »Das muss dich doch freuen.«

Vittoria lächelte schief. »O ja.«

»Der italienische Beitrag war wirklich gut«, sagte Conny. »Ein richtiger Ohrwurm.« Sie fing an zu singen: »Volaaaaare, oh-oh, cantaaaare, oh-hoho-ho.«

»Das heißt ›ich fliege, ich singe‹«, erklärte Vittoria und warf einen Blick zu Massimo hinüber, der sich von Connys Gesang zum Glück nicht stören ließ.

»Ach ja? War wirklich gut, kam aber nur auf den dritten Platz. Ich verstehe das nicht.«

»Können wir mal zu den Stellenanzeigen vorblättern? Ich muss mir langsam wieder Arbeit suchen.«

»Ja, sicher«, antwortete Conny und hielt kurz inne. »Wir haben übrigens noch immer niemanden für die Garderobe gefunden.«

»Aber das geht doch nicht …«

»Was schwebt dir denn vor?«

»Ich würde so gut wie alles machen, Hauptsache, ich kann Massimo mitnehmen.« Vittoria zuckte die Achseln.

»Wenn du eine gut bezahlte Arbeit fändest, könntest du den Jungen in eine Krippe geben.«

»In eine was?«

»In eine Krippe. Das ist so eine Art …« Conny überlegte, wie sie das erklären sollte. »Also, eine Einrichtung, in der sich Kinderpflegerinnen um dein Kind kümmern, während du arbeitest.«

»Massimo in die Obhut anderer geben? Niemals!«

»Wäre das denn so schlimm?«

»Ich habe mal in einem Säuglingsheim gearbeitet. Ich weiß, wovon ich rede.« Vittoria biss sich auf die Lippe. »Niemals«, wiederholte sie.

Conny sah sie an, wartete aber vergebens auf eine genauere Erklärung. »Hm. Na, dann wollen wir mal gucken, was es so gibt.« Sie blätterte weiter zu den Kleinanzeigen. Durch den Zigarettengeruch nahm Vittoria den Duft von Connys Shampoo wahr.

»Hier. Da sucht jemand Näherinnen in Heimarbeit. Kannst du nähen?«

»Ja«, sagte Vittoria und beugte sich etwas tiefer über die Zeitung, um die kleine, leicht zerknitterte Anzeige zu lesen. »Aber guck mal, da steht, dass man eine eigene Nähmaschine braucht. Selbst wenn ich eine hätte – hier ist einfach kein Platz dafür.«

»Stimmt.« Conny ließ den Zeigefinger weiter über die Zeitungsspalten gleiten. »Wie wär’s damit? ›Daells Warenhaus sucht Fotomodelle‹. Das dauert immer nur ein paar Stunden. In der Zeit könnte ich auf den Jungen aufpassen.«

»Fotomodell? Hör doch auf!«

»Du hast doch eine gute Figur.«

»Und deshalb soll ich mich in Unterwäsche fotografieren lassen?« Vittoria lachte.

»Soweit ich weiß, wird Unterwäsche auf Zeichnungen dargestellt. Es gibt noch weitaus mehr Kleidung, die fotografiert werden soll. Mäntel und Kleider.«

»Ich weiß nicht …« Vittoria sah Conny an. »Wäre das nicht eher was für dich? Du hast doch so schöne Beine.«

»Danke, jetzt, wo du es sagst! Ein bisschen mehr Geld kann man immer gebrauchen.« Sie angelte sich einen Stift von Vittorias Nachttisch und kringelte die Anzeige ein. »Mannequin zu sein stelle ich mir wahnsinnig aufregend vor.« Sie beugte sich wieder über die Tagespresse. »Hier ist was«, sagte sie.

»›Damen zur Reinschrift in Heimarbeit. Schreibmaschine wird kostenlos zur Verfügung gestellt‹.« Vittoria richtete sich auf. »Das geht überhaupt nicht.«

»Warum? Für eine Schreibmaschine wäre hier doch Platz.«

»Aber ich kann nicht dänisch schreiben.«

»Wieso? Dein Dänisch ist doch fantastisch.«

»Sprechen ist nicht dasselbe wie schreiben. Ich kann zwar Dänisch lesen, aber ich habe noch nie etwas auf Dänisch geschrieben«, unterstrich Vittoria. Da fiel ihr ein, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach: Als Kind hatte sie mithilfe ihrer Mutter Weihnachtskarten an ihre dänische Großmutter geschrieben. Sie erinnerte sich noch an das Gefühl des viel zu dicken Füllhalters in ihrer schwitzigen Hand, an die Zungenspitze im Mundwinkel und die Stimme ihrer Mutter, die ihr geduldig jedes schwere Wort buchstabierte. Sie hatte den Eindruck, dass Dänisch völlig anders geschrieben als ausgesprochen wurde, und Vittoria hatte noch nicht herausgefunden, ob ein System dahintersteckte.

»Das ist natürlich nicht so gut.« Conny steckte sich noch eine Zigarette an und ließ sich auf das Bett zurücksinken. »Was kannst du denn überhaupt?«, fragte sie und stieß blauen Rauch aus. »Worin bist du gut?«

»Hm«, machte Vittoria. »Ich bin ja in einem Restaurant aufgewachsen, darum … kann ich gut kochen.« Sie zählte mithilfe ihrer Finger auf: »Und ich kann backen. Und dolce zubereiten … Desserts. Servieren. Sauber machen. Abwaschen.« Kurz saß sie einfach so da und sah in die Luft. »Ich kann bügeln und nähen und stricken … und Kinder hüten, natürlich.«

Conny lachte. »Die perfekte Hausmutter.«

»Hausmutter?«

»Ja.«

»Das Wort kenne ich nicht.«

»Eine Hausmutter ist eine verheiratete Frau, die nicht arbeitet und sich zu Hause um die Kinder, das Heim und alles andere kümmert.«

»Ja, aber ich bin doch nicht verheiratet.«

Wieder lachte Conny. »Vielleicht solltest du dir lieber einen Mann statt Arbeit suchen.« Sie setzte sich wieder auf, beugte sich über Vittoria zum Aschenbecher und klopfte mit einem langen roten Fingernagel die Asche von der Zigarette. »So einen richtigen Scheich mit jeder Menge Geld und einem großen Anwesen.«

»Ich will nicht heiraten«, sagte Vittoria und fügte noch hinzu: »Einmal reicht.«

»Hat Massimos Vater dich nicht gut behandelt?«

»Er ist tot.«

»Oh. Das tut mir leid.«

Vittoria wandte sich wieder der Zeitung zu. »Hier sucht jemand eine Haushälterin«, sagte sie. »Was ist das?«

»Fast dasselbe wie eine Hausmutter – allerdings ohne verheiratet zu sein. Eine Haushälterin ist eine Frau, die sich um die Kinder und den Haushalt von reichen Ehefrauen kümmert, die keine Lust haben, das selbst zu tun.«

»Ach so, eine governante also.« Vittoria zeigte auf eine Annonce. »›Kind kein Hindernis‹, steht da. Und die heißen Mortensen. Wie du. Sind das vielleicht Verwandte von dir?«

»Es gibt Tausende Menschen, die Mortensen heißen, Vittoria.«

»Guck doch mal.« Vittoria schob Conny die Zeitung zu.

»Meinst du die?« Conny las vor: »›Haushälterin für kleine Landwirtschaft bei Taastrup gesucht. Kind kein Hindernis.‹«

»Taastrup ist nicht so weit, oder?«

»Glaube ich nicht.« Sie sah Vittoria an. »Aber so ein Landhaushalt ist eine große Verantwortung«, sagte sie. »Und harte Arbeit. Da wird geschlachtet und eingemacht und Brot gebacken und richtig viel Wäsche gewaschen.«

»Das schreckt mich nicht ab. Ich kann gut … Wie sagt man? Anpacken?«

Conny lächelte. »Zupacken?«

»Genau«, sagte Vittoria. »Aber da ist ja noch eine. Da.«

Conny beugte sich über die Zeitung. »›Witwe sucht gebildete, patente Haushälterin. Gammel Kongevej – freie Logis. Frau Professor Helgasson‹.« Sie schüttelte den Kopf. »Da langweilst du dich zu Tode, Vittoria. Den lieben langen Tag mit einer alten Dame in einer Wohnung eingesperrt … Und was ist mit Massimo?«

»Es kann doch nicht schaden, mal mit ihr zu reden. Und mit den Leuten in Taastrup auch. Kannst du ein paar Minuten hier bei dem Kleinen bleiben, während ich runtergehe und telefoniere?«

14. März 1958

Ein Kalkanstrich hätte dem Wohnhaus und den beiden Ställen gut zu Gesicht gestanden, und das Reetdach würde in nicht allzu ferner Zukunft erneuert werden müssen, aber ansonsten sahen die Gebäude doch eigentlich ganz einladend aus, dachte Vittoria, als sie am nächsten Tag gegen Mittag den Hof erreichte. Der gepflasterte Hofplatz war aufgeräumt, die Linden entlang der Einfahrt waren frisch gestutzt.

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