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Eher nichts von Bedeutung, findet Milosz Matuschek, nicht einmal besonders viele Kinder. Dafür ein Datenmeer, das den Silicon-Valley-Konzernen zur Weltherrschaft verhilft. Dabei gelten die Jahrgänge ab 1980, auch "Generation Y" und "Millennials" genannt, doch angeblich als die smarteste Generation, die es je gab, als hochgebildete "digital natives". Anstatt jedoch aktiv die Zukunft zu gestalten, verwaltet sie lieber den Status Quo, begnügt sich mit der Jagd nach Statussymbolen und Diplomen als bloßem Selbstzweck, spiegelt ihr "Selfie" in der eigenen Filterblase aus Klicks und Likes. Matuschek klagt eine "Generation Fake" an, bietet aber auch Auswege aus der selbstgewählten Misere. Ein scharfzüngiger Appell, den ewigen "Chillstand" zu beenden und endlich Verantwortung für die Gesellschaft und ihre Zukunft zu übernehmen.
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Seitenzahl: 285
Ebook Edition
Milosz Matuschek
Generation Chillstand
Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben
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www.westendverlag.de
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Taschenbuchausgabe 2022
ISBN: 978-3-86489-884-6
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Titel
Vorwort zur Taschenbuchausgabe
!!Triggerwarnung!! – Vorwort zur Originalausgabe
Prolog
I. Outside the Bubble: Was wir nicht sehen wollen
Lerne fliegen mit gebrochenen Flügeln
Hilfe, ich bin akadämlich! Antwort auf einen Tweet
Wir sind die letzten Helden der Arbeit
Hilflosigkeit will gelernt sein: Die Smartdoofheit der Digital Naïves
Die Blickfeldverengung der Medien
Mehr Apathie wagen: Warum dich Politik anöden soll
Was ist das für K1 life: Das Unbehagen in der #YOLO-Kultur
II. Inside the Bubble: Was wir nicht sehen sollen
Bubbles: Sei der Hype, den die Welt sehen will
Fracht-Kult: Die Simulation der Realität
Schachteln: Living in a Box
Loop: Das Prinzip Vertröstung
Zwischenbilanz: Generationenlabel als Verzwergungsprogramm
III. Breaking the Bubble: Schaffe dir deine eigene Welt
Auf zu neuen Ufern!
Wie kommt das Neue in die Welt und durch wen?
Die Zeit der Entscheidung
1. Das »Hoch«
2. »Das Erwachen«
3. Umbruch
4. Krise
»Aber wir sind doch so narzisstisch!«
Und nun die Auflösung:
Anleitung zum Ungehorsam
IV. Beyond the Bubble: Deine Transformation
Was keiner wagt, das wag’ zu denken – Wie willst du gelebt haben?
Bei dir selbst anfangen: Mein Life-Hack
Mehr Mehrdimensionalität wagen
Transformation
Die Sinne schärfen
Technisch hochrüsten
Praktische Tools
Das Zauberwort hat drei Buchstaben: TUN
Reset: Beginne jetzt deine Heldenreise
404 – Sorry, diese Seite existiert nicht
Anmerkungen
Titel
Inhaltsverzeichnis
In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und materielle Hilfen, die sich kein Mensch vorher je so erträumt haben könnte. Was immer du kannst, oder dir vorstellst, dass du es kannst, beginne es.Kühnheit trägt Genius, Macht und Magie. Beginne jetzt.
William Hutchison MurrayDie Idee zu diesem Buch kam mir, als ich mich mit zyklischen Geschichtsauffassungen beschäftigte, irgendwann im Jahr 2016: Kann es sein, dass die Geschichte kreisförmig verläuft, sich also auf irgendeine Weise wiederholt? Und kann man die Gegenwart analysieren, indem man aus dem Jetzt herauszoomt und geschichtliche oder generationelle Muster der Geschichte in die Analyse miteinbezieht? Falls ja, was würden wir dann über die Gegenwart lernen? Welches Versäumnis wird man uns als Generation einmal unterstellen? Wo waren wir blind und gehorsam?
Generation Chillstand erschien erstmals im Jahr 2018, lange vor der Corona-Zeit, in welcher der Gehorsam der Bürger wie noch nie in demokratischen Zeiten eingefordert wurde, und lange vor der sich immer stärker abzeichnenden Inflation von 2022. Doch rückblickend zeigt sich, dass man die Muster der Zukunft bereits aus der Gegenwart ableiten konnte. Inflation, Gehorsam und allgemeine Blindheit für Muster waren bereits die Themen dieses Buchs, bevor sie in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Schlechtes Timing für Buchmarketing, könnte man meinen, aber immerhin ist dieses Buch bisher gut gealtert – nämlich fast gar nicht.
Ob es ein klassisches Generationenbuch geworden ist, mag ich rückblickend nicht mehr so genau bestätigen. Im Kern ist es ein Buch darüber, wie man die Gegenwart analysieren und darauf aufbauend sein Leben aktiv gestalten kann. Das ist auch mein Anspruch als Publizist: dem Leser vorausblickende Gedankenanstöße zu geben, mit denen die Herausforderungen unserer Zeit gemeistert werden können, statt schlaue Erklärungen für Vergangenes zu liefern.
Das Buch ist somit aus meiner Sicht am ehesten eine Einladung zur bewussten Veränderung des Blickwinkels im Mantel eines Generationenessays. Mich interessieren Ende und Anfang der Dinge, Aufstieg und Niedergang, Auflehnung und Niederschlagung, die Umstände der Evolution, des Fortschritts und der Veredelung des Daseins. Ich versuche, mit dem Weitwinkelobjektiv in den Eingeweiden der Gegenwart zu lesen, mir zunächst meinen Reim darauf und danach meine tägliche Wette auf diese Umstände zu machen. Genau das wollte ich dem Leser, ob jung oder alt, auch ermöglichen.
Die ersten Arbeiten an Generation Chillstand fielen in eine Zeit, in der auch bei mir persönlich Weltbilder ins Wanken gerieten und ich kritischer wurde. Irgendwie hatte ich es mir in meiner Welt gefühlt ein wenig zu bequem gemacht, fühlte mich als promovierter Jurist mit Dozentenstelle an der Sorbonne als mit allen Wassern gewaschen. So behaglich dies war, so langweilig war es jedoch auch irgendwann. Ich fing an, als Gedankenexperiment, die eigene Bubble meines Denkens zu zerstechen und mir ketzerische Fragen zu stellen: Wo sind die blinden Flecken meines eigenen Denkens? Wo sind die faulen Stellen meines Weltbildes?
Ich hatte mich immer als Publizisten des breiten Meinungsstroms empfunden; mein Anspruch war auch immer ein möglichst großes Publikum mit meinen Texten zu erreichen. Der NSA-Skandal und die Lage des Wikileaks-Gründers Julian Assange machten erste Brüche sichtbar. Die Erklärungen des Mainstreams genügten mir nicht mehr. Ich schaute häufiger alternative Medien, stieg in den »Kaninchenbau« zu Themen wie Alchemie, Fasten, Meditation, Krypto-Geld, dem Geldsystem im Allgemeinen. Irgendwie öffnete ich in dieser Zeit eine Tür in eine andere Welt, vielleicht merkt man das dem Buch ein klein wenig an. Es ist das Buch von einem, der mit 36 erneut auszog, um noch einmal alles auf den Prüfstand zu stellen, alles zu hinterfragen und sich aus der Rolle des Allwissenden in die Rolle des Suchenden zu begeben. Das, was mir wert schien, berichtet zu werden, ist hier versammelt.
Seit der Erstausgabe des Buchs sind die Zeiten stürmischer geworden. Cancel Culture, Zensur sowie Diskursraum- und Blickfeldverengung sind massiv stärker geworden. Die Welt ist heute dystopischer, als ich es mir vor ein paar Jahren hätte vorstellen können. Ich verlor meine Kolumne bei der NZZ nach einem covidkritischen Artikel und dessen Wiederverwertung als Podcast bei KenFM. Irgendwann teilte mir der Verlag dtv mit, dass er das Buch aus dem Programm nehmen wird. Ich freue mich deshalb besonders, dass der »Chillstand« nun beim Westend Verlag eine neue Heimat gefunden hat.
Tessin, im Juli 2022
Ich wünschte mir, die Lektüre dieses Buches hinterließe bei Ihnen den Eindruck eines wollüstig durchlebten Albtraums.
Fernando Pessoa
Wie können wir bei Büchern verweilen, zu denen der Autor nicht fühlbar gezwungen worden ist?
Georges Bataille
Vielleicht fragst du dich, ob dieses Buch etwas für dich ist. »Generationenbuch«, denkst du vielleicht. Mal wieder. Doch um die Probleme von Basti und Sophie in Berliner WGs wird es hier nicht gehen. Eine weitere Panoramafahrt durch unsere Lebenswelt braucht kein Mensch. Und selbst wenn ich aus der Perspektive eines Generation Y-ers schreibe, der ich nun mal bin, und meine Generation oft genug hart angehe: Es geht um mehr. Egal ob du 17, 35 oder 55 bist: Fragst du dich manchmal, ob das schon alles im Leben war? Ob die Realität, an der du dich orientierst, die einzig mögliche ist? Wann hast du zuletzt deine Überzeugungen und Glaubenssätze überprüft? Noch nie? Dann solltest du weiterlesen. Wenn du mit allem zufrieden bist und auch keine offenen Fragen hast, dann eher nicht. Denn entweder bist du den Weg schon gegangen, für den ich hier eine Anregung geben will. Oder du bist schlicht noch nicht bereit dazu.
Da du gerade weiterliest: Auf den nächsten Seiten erwartet dich ein Trainingsprogramm des Denkens, welches dein Leben oder zumindest deine Sicht auf die Welt grundlegend verändern kann. Es wird stellenweise anstrengend und schmerzvoll werden. Aber am Ende wirst du vielleicht froh sein, durchgehalten zu haben.
Ich wollte ein Buch schreiben, das in seiner Analyse schonungslos offen und in seinen Vorschlägen nützlich und sofort umsetzbar ist. Also die Art von Buch, das ich mir selbst an bestimmten Weggabelungen im Leben gewünscht hätte, aber nicht gefunden habe. Im Idealfall ist dieses Buch für dich eine Initiation – und Inspiration, mutig zu träumen, richtig zu urteilen und kraftvoll zu verändern. Es ist dem verhinderten Visionär in dir gewidmet.
Wenn du weiterlesen willst, lass dich mit Herz und Verstand auf diese Reise ein. Zu dieser Reise gehören jedoch auch die Überwindung so mancher zeitgenössischen Illusion sowie die Bereitschaft, eingefahrene Denkmuster infrage zu stellen. Ich begleite dich dabei als einer Art von Freund, der nicht anders kann, als dir nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit zu sagen.
Paris, im Mai 2018
Ich folgte im Traum einem kleinen Weg, bis ich an eine Kreuzung kam. In alle vier Himmelsrichtungen gingen Straßen weg und trugen seltsame Namen: Nach rechts ging die »Alle-Optionen-Allee« ab, nach links ging es auf den »Ihr-hattet-es-noch-nie-so-gut-Weg«, geradeaus ging es die »Du-kannst-machen-was-du-willst«-Straße hinab und der Weg, von dem ich kam, nannte sich »Du-bist-hochbegabt-Boulevard«. Alle Wege, die vor mir lagen, führten letztlich zu dem kleinen See in der Mitte dieser Traumlandschaft, daher ging ich einfach geradeaus, ohne nach links und rechts zu schauen.
»Da bist du ja endlich«, begrüßte mich ein älterer Herr von etwa 75 Jahren. Er trug einen Zopf, Sandalen und eine Lederweste über einem weißen Leinenhemd. »Ich bin der Gerd.« »Willkommen«, sagte die Frau neben ihm, sie war vielleicht 50 Jahre alt, trug gebleichte Jeans mit Nieten, einen Blazer sowie auffällig grelle Sneakers. »Ich bin die Kerstin, setz dich doch zu uns.«
Der Gerd und die Kerstin saßen an einem prächtig gedeckten Tisch mit weißer Tischdecke, silbernen Kerzenständern und einer enormen goldenen Schale mit Obst in der Mitte. Gerd nippte an seinem Weinglas, Kerstin hatte einen exotischen Cocktail vor sich stehen. Sie saßen auf gepolsterten Sesseln im Stil Napoleons III. Ich setzte mich auf den Allerweltsplastikstuhl »Monobloc«.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Kerstin, und deutete auf ein Insekt vor sich. »Sieht aus wie eine Raupe«, erwiderte ich. »Ja, genau«, sagte Gerd. »Das arme Tier mühte sich schon seit Minuten ab, um aus seiner Puppe zu kriechen, schaffte es aber nicht, die eigene Hülle abzustreifen. Deshalb haben wir etwas nachgeholfen. Jetzt ist das Tier endlich befreit.«
Ich nickte anerkennend. »Wie freundlich von euch«, murmelte ich.
»So sind wir eben«, meinte Kerstin. »Immer aufmerksam und hilfsbereit.« Sie nippte an ihrem Cocktail. »Deshalb bist du heute auch hier. Wir wollten dir einfach mal die Wahrheit sagen.«
»Die Wahrheit? Worüber?«, fragte ich verdutzt und neugierig.
»Über dich, über die Welt, über deine Generation, über alles«, ergänzte Gerd. »Ihr seid als Generation wie diese Raupe hier. Eingewoben in die tote Struktur eurer Umwelt, eures Milieus, eurer kleinen Bubble-Welt. Ihr könnt euch nicht außerhalb davon sehen oder begreifen.«
»Weißt du«, meinte Kerstin, »es ist ganz einfach. Jede Generation kämpft für sich allein. Dachtet ihr ernsthaft, wir seien alle befreundet? Das Leben ist ein Versuchsaufbau, den wir für euch geschaffen haben. Jede Generation belügt die Generation nach ihr ein bisschen, um ihr eigenes Leben möglichst angenehm zu gestalten. Das geht so lange, bis die neue Generation den Betrug merkt und sich auflehnt. Das ist meistens dann, wenn das Geld alle ist. Und dann ist es zu spät.«
»Lug und Trug? Was redet ihr denn da?«, fragte ich.
»Ihr seid unser kleiner Streichelzoo«, sagte Gerd gutmütig und strich mit der Fingerkuppe über die sich windende Raupe auf dem Tisch.
»Und wir sind die Wärter. Wir bestimmen, was ihr seht, was ihr esst, das Kulturprogramm, die Information in den Medien, woran ihr glaubt und eure Träume.«
»Sorry, aber das klingt wie in irgendeiner totalitären Utopie à la Orwell und Huxley«, entgegnete ich. »Meine Welt ist ziemlich in Ordnung, würde ich sagen. Ich habe studiert, spreche Fremdsprachen und mir steht die Welt offen.«
»Sagen wir mal so«, fing Kerstin an, »Freiheiten habt ihr, ja, zumindest sollt ihr das glauben. Aber welche davon ihr tatsächlich nutzt, das bestimmen wir durch die Umstände, die wir geschaffen haben. Ist dir noch nie aufgefallen, dass ihr trotz eurer angeblichen Individualität doch alle recht gleichförmig seid, egal ob in Sachen Kleidungsstil, Musikgeschmack, Freizeitverhalten oder materiellem Denken? Das war unser Werk.«
»Ich glaube nicht, dass man meine Generation so leicht auf einen Nenner reduzieren kann«, meinte ich.
»Ich fürchte doch«, entgegnete Gerd. »Überleg mal: Im Endeffekt landet ihr alle in unserem Trichter. Wir, die 68er, haben die Grenzen eurer Welt gezogen, wir haben euch klargemacht, dass es nicht lohnt, noch weiterzugehen als bis nach Indien oder Tibet. Wir haben die Umkehr zum Individualismus wieder eingeleitet. Und die Baby-Boomer (er blickt zu Kerstin) haben es auf die Spitze getrieben, indem sie das Thema Selbstentfaltung als ökonomische Disziplin erfunden haben.«
»Das klingt nach einer Verschwörungstheorie«, entgegnete ich.
Kerstin: »Ist es dir noch nicht aufgefallen? Ihr arbeitet, ohne wirklich aufzusteigen beziehungsweise damit wohlhabend zu werden, glaubt aber ganz fest daran. Ihr habt mehr Diplome als alle Generationen vor euch und lebt trotzdem noch mit 30 in WGs. Mit 20 rauben wir euch die letzten Träume, mit 30 denkt ihr an die Rente, mit 40 seid ihr zum ersten Mal geschieden und mit 50 seid ihr verfettete, ergraute Zyniker, denen wir dann versuchen, die neuesten Diät-Programme anzudrehen.«
»Aha, und warum sagt ihr mir das jetzt alles?« Gerd und Kerstin brachen in lautes Gelächter aus.
»Weil es egal ist, ob du es weißt oder nicht. Du kannst nichts ändern«, rief Gerd. »Wenn du es jemandem erzählst, werden dich alle für verrückt halten«, ergänzte Kerstin.
»Ich glaube, ich brauche was zu trinken«, erwiderte ich und griff nach der Rotweinflasche (ein Château Pétrus), der vor Gerd auf dem Tisch stand.
»Sorry« sagte Gerd, »in dieser Welt kannst du meinen Wein nur virtuell trinken, als Option für später. Aber gleich kommt eine Bedienung, dann kannst du dir ein Wasser bestellen.«
»Als Option auf später?«, fragte ich. »Was soll das heißen?«
»Euer gesamtes Leben ist aufgeschoben. Alles findet immer erst später statt, nie im Hier und Jetzt. Das ist unser Trick, das ist unsere Religion. Ihr glaubt an das wahre Leben im Später. Ihr glaubt an ewiges Leben nach dem Tod oder an Wiedergeburt nach dem Tod.« Gerd deutete auf den Hügel. »Siehst du das große Windrad? An dem dreht deine Generation angeblich seit 20 Jahren, bewegt sich aber nur im Kreis. Aber dieser Irrglaube hält das ganze System am Laufen. Ihr seid unser Strom.«
»Woran sollen wir sonst glauben, wenn nicht daran, dass es uns vielleicht später mal besser geht?«, erwiderte ich.
»Wie wäre es, wenn ihr versuchen würdet, das Bessere gleich im Hier und Jetzt zu verwirklichen? Wie wäre es mit einer geistigen Wiedergeburt vor dem Tod?«, meinte Kerstin. »Wir haben euch als lebende Ungeborene in die Welt gesetzt. Ein Kind von heute muss mehrere Geburtsvorgänge durchmachen, bis es auf der Welt ist: aus der Fruchtblase, aus der Gebärmutter und aus dem Geburtskanal, erst dann ist es in der Welt und …«
»Danke für den Biologieunterricht«, unterbrach ich sie.
»Doch dann beginnt nur ein weiterer Geburtsvorgang, der niemals enden soll«, fuhr Kerstin fort. »Das Leben nach unseren Spielregeln. Die Welt, die wir gebaut haben, ist nur eine weitere Hülle, aus der es eben kein Entrinnen gibt. Das glaubst du nicht? Dann schau dich nur um!«
Gerd: »Siehst du nicht die vielen jungen Menschen, die im Gleichschritt mit Blick auf ihr Smartphone durch die Shoppingcenter laufen? Das sind deine Generationskumpanen. Wir nennen euch Generation, obwohl ihr nur eine Kohorte seid, ihr seid zufällig zur gleichen Zeit geboren. Zusammen hält euch so gut wie nichts, außer Fernsehserien, Mode und Musik. Die Generationen-Label erfinden wir alle paar Jahre neu, erst Golf, dann X, dann Y, dann Z, damit ihr euch auch beim Zeitunglesen noch etwas mit euch selbst beschäftigen könnt. Im Grunde ist uns das Label ziemlich egal, solange ihr abgelenkt, sediert, blasiert und arbeitsam bleibt.«
»Ambitioniert dürft ihr sein«, so Kerstin. »Aber nur, wenn es darum geht, uns zu gefallen. Das hat ganz gut geklappt. Ihr wolltet bisher zumindest lieber eure Eltern, Lehrer und Professoren glücklich machen als euch selbst.«
»Was ich nie verstanden habe«, so Gerd, »ihr habt euch jeden Entzug von Natur, Geist und Fantasie gefallen lassen. Ihr stellt euch sogar noch auf Laufbänder, nur um dabei einen Bildschirm vor euch zu haben. Euren Sex findet ihr über ein Computerspiel namens Tinder, und wenn ihr nicht gerade fernseht oder im Netz surft, um zu konsumieren, dann lauft ihr durch Einkaufszentren, um euch eure neueste Uniform abzuholen: Gerade sind es Sneakers, enge Jeans, T-Shirt, Lederjacke, dicke Hornbrille. So jung, dynamisch, smart und doch so doof. Und es fehlt euch nicht mal viel dabei.«
»Wie habt ihr das gemacht?«, frage ich verdutzt. »Ich meine, wie war es möglich, dass uns als Generation XYZ, oder wer auch immer ab 1970 unter welchem eurer Label geboren wurde, das nicht aufgefallen ist?«
»Das ist natürlich nicht so leicht zu erklären«, meinte Gerd.
»Und vielleicht ist es auch etwas schmerzhaft zu erfahren«, fügte Kerstin hinzu. »Aber es ist möglich, für jeden, der es will, in den Maschinenraum unseres Systems herabzusteigen und sich alle Mechanismen anzuschauen, die wir entworfen haben, damit ihr blind bleibt und nur das seht, was ihr sehen sollt und wollt.«
»Siehst du den See hinter uns?«, fragte Gerd.
Ich nickte.
»Es ist tatsächlich ein gewaltiger flüssiger Spiegel der Realität. Wenn du dich in den See begibst und immer tiefer hinabtauchst, wirst du all das, worüber wir jetzt reden, klar und deutlich vor Augen sehen. Es beginnt bei der Erziehung und geht bis zum Finanzsystem oder zu den Medien.«
Er sagte das in einem Ton der Selbstverständlichkeit, als würde er über die Schichten der Torte referieren, die auf dem Tisch stand.
»Ist es gefährlich, in diesen flüssigen Spiegel hineinzutauchen?«, fragte ich mit einem leichten Unbehagen.
»Gefährlich nur für dein altes Ich mit den alten Überzeugungen und Glaubenssätzen. Dieses alte Ich wird in diesem flüssigen Spiegel sterben. Du kannst durch diesen Weg also nur eine neue Sicht auf die Welt erlangen, diese neue Sicht aber nie mehr gänzlich abstreifen. Du kannst das Omelett nicht mehr in ein Ei zurückverwandeln, verstehst du?«, sagte Kerstin in ernstem Unterton.
»Tu es also nur, wenn du dazu bereit bist«, sagte Gerd.
Ohne mich umzusehen, stand ich auf und begab mich die wenigen Schritte zum Spiegel-See hinab, der silbern schimmerte. Ich spürte das Wasser an meinen Knien, an meiner Hüfte und an meiner Brust. Ich konnte es nicht erwarten, hinabzutauchen.
Das Letzte, was ich hörte, war die Stimme der jungen Kellnerin, die inzwischen an den Tisch gekommen war: »Was ist eigentlich mit dieser Raupe los? Die bewegt sich ja nicht mehr.«
Gerd: »Wir wollten ihr helfen aus der Puppe herauszukriechen.«
»Ihr wisst schon, dass das keine normale Raupe ist, sondern dass das ein Schmetterling werden sollte?«
Kerstin: »Dann wird es eben schneller ein Schmetterling.«
Die Kellnerin: »Gar nichts wird es mehr. Der Befreiungskampf aus der Puppe ist doch nötig, damit der Schmetterling die Kraft aufbaut, die später nötig ist, um die Flügel auszubreiten. Wusstet ihr das nicht?«
Gerd: »Ach, das ist ja interessant. Und nun?«
»Nichts mehr. Wenn man der Raupe dabei hilft, bringt man sie um. Punkt. Sie ist tot. Dank eurer Hilfe.«
Ich ging weiter in das Wasser hinein, das mir nunmehr bis zum Hals ging. Das Letzte, was ich hörte, war Kerstins Stimme.
»Ups«, sagte Kerstin.
Hush now baby, baby, don’t you cry. Mamma’s gonna make all of your nightmares come true. Mamma’s gonna put all of her fears into you.
Mamma’s gonna keep you right here under her wing, She won’t let you fly but she might let you sing.
Mamma’s gonna keep baby cosy and warm.
Oooh babe Oooh babe.
Pink Floyd, »Mother«
Solange die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln; sind sie ältergeworden, gib ihnen Flügel.
Aus Indien
Ein junger Mann, nennen wir ihn James, geht in den 1960er Jahren nach Kalifornien. Im Herzen ist er Dichter. Die Uni verlässt er bald, am Strand trifft er einen anderen jungen Mann, der Klavier spielt und ihm vorschlägt, seine Gedichte zu vertonen. Sie beschließen, gemeinsam Musik zu machen. Zwei Jungs aus dem Yoga-Kurs, die Gitarre und Schlagzeug spielen, stoßen dazu. Der Vater von James, ein Marineoffizier, ist gar nicht begeistert. Er hält seinen Sohn für talentfrei. James wird seine Eltern später in einem Interview offiziell für tot erklären. Die typische Geschichte eines Generationenkonflikts.
Heute läuft es in etwa so: Das tatsächlich talentfreie Kind wird von übermotivierten Eltern schon seit Jahren notorisch bezüglich aufkeimender Talente beäugt, um es sofort mit »Frühförderung« zu überhäufen. Kaum im legalen Alter angekommen, wird es für eine Talentshow im Fernsehen angemeldet. Dort erstmals mit der bitteren Wahrheit konfrontiert und in der ersten Runde des Vorsingens ausgeschieden, erklären die Eltern kurzerhand die Talentjury aus Musikern und Produzenten für inkompetent und beschließen, das Kind auf eigene Faust weiterzufördern. Mit 25 Jahren und nach etlichen Privatstunden durch überbezahlte Musiklehrer dämmert dann auch dem Letzten, dass aus dem Plan nichts wird. Zudem sind die Eltern nun der Meinung, das Kind solle doch auch langsam auf eigenen Füßen stehen. Das Kind findet das asozial, bricht den Kontakt zu den Eltern ab und wundert sich, dass die ignorante Umwelt die eigene Genialität so geringschätzt.
Auch dies ist die Geschichte eines Generationenkonflikts, und er gärt gerade vor sich hin. Generationenkonflikte hat es immer gegeben, sie sind ein gleichsam natürlich auftretendes, ja notwendiges Ereignis. Die Älteren gebären die Jüngeren in ihre Welt hinein; sie erziehen die Jüngeren im Einklang mit ihren Überzeugungen und mit dem Ziel, diese (ihre) Welt und ihre Glaubenssätze zu erhalten. Die Aufgabe der Jüngeren besteht darin, die Welt und ihre Glaubensregeln beständig zu hinterfragen, zu verbessern und zu verändern, im Extremfall sogar zu zerstören und danach neu aufzubauen. Die 68er taten genau das mit der Welt der NS-Eltern und der Illusion, »man habe von nichts gewusst«.
Der Drang zu Zerstörung und zum Aufbau ist in jedem Jugendlichen mehr oder weniger natürlich vorhanden. Diese natürliche Form des Generationenkonflikts scheint heute ausgesetzt oder zumindest zeitlich nach hinten verlagert zu sein. Die bestehende Welt wird von Jüngeren in der Adoleszenzphase kaum infrage gestellt. Eine Jugendstudie prägte dafür den Begriff »Neo-Konventionalismus«. Für Aufbegehren gibt es keinen Grund, denn schließlich erfährt man Lob, Anerkennung, Annehmlichkeit und Komfort. Die Eltern sind Vorbild, man ist auf Facebook befreundet und telefoniert jede Woche (sagen mehr als die Hälfte der jungen Erwachsenen), pflegt einen ähnlichen Kleidungsstil und will seine Kinder so erziehen, wie man selbst erzogen wurde (sagen 73 Prozent). Dem Kind oder dem Jugendlichen von heute wird sein natürlicher Widerstandsgeist abtrainiert, der junge Geist wird mit falscher Freundlichkeit korrumpiert, mit dem neuesten iPhone, Privatchauffeur zur Schule, Aussicht auf Erbschaft und dem Glauben, man sei etwas ganz Besonderes, zumindest aber etwas Besseres als die anderen.
Die Generationen sind verkumpelt. Doch diese »Freundschaft« beruht auf einem falschen Fundament. Sie ist erkauft. Und sie bringt junge Menschen um ihre Ansprüche. Niemand bekam je etwas geschenkt oder als Belohnung fürs »Bravsein«. Warum sollte das jetzt anders sein? Die Versprechensblase des »besseren Lebens«, das es statistisch schon seit den 1980ern für nachfolgende Generationen nicht mehr gibt, wird irgendwann platzen. Und damit der Generationendeal, der auf Sand gebaut ist. Ja, wir haben mehr Diplome (deren Wert rapide sinkt, weil fast jeder eines hat) und wir haben mit 35 schon sieben iPhones gehabt, doch unsere Großeltern hatten in diesem Alter eben ein eigenes Häuschen. Kann man also wirklich sagen, »wir haben es besser«? Das wird, wie so oft, vielen erst klar werden, wenn es zu spät ist. Die Revolution, die dann stattfindet, wird keine der Jungen sein, sondern von einem Beschwerdekollektiv angegrauter, verarschter Mittvierziger ausgehen, die im Stil der DDR- Bürger sagen werden: »40 Jahre lang belogen und betrogen worden.«
Wir beginnen die Analyse mit dem Thema Erziehung, denn es ist das erste System, dem wir unterworfen werden, wenn wir auf die Welt kommen. Hier werden die Weichen gestellt. Dem Erziehungssystem ist das Kind hilflos ausgeliefert; es muss sich als natürlich Schwächerer mit den Erwachsenen verbünden, mit den Eltern und Lehrern.
Die Hoffnung des Schwächeren liegt darin, in einem geschützten Raum Stärkung und Reife zu erfahren und sich den natürlichen Talenten gemäß zu entwickeln. Diese Hoffnung wird heute zunehmend enttäuscht. Der junge Mensch von heute gerät in eine freundlich-manipulative Disziplinargemeinschaft, die ihm unnötige Hilfestellung leistet, ihm einen Fremdwillen als den eigenen aufzwingen will und ihn dabei von jeder Entwicklung und Potenzialentfaltung abhält. Aufkommende rebellische Energien werden umgeleitet auf Pseudospielplätze, Wettbewerbe, digitale Ablenkungsgeräte, später auf Studienordnungen und bürokratische Versuchsanordnungen, die darauf abzielen, abweichende Ideen oder Visionen im Laufe der Zeit als unsinnig zu erkennen. Das Erziehungssystem ist eine Traumvernichtungsfabrik. Die Geschichte von der Raupe, die kein Schmetterling werden durfte, hat gezeigt, wie viel Schaden Überbehütung und guter Wille anrichten können.
Überall wird gepäppelt, überschwänglich gelobt und gefürsorgt, bis der Arzt kommt. An jeder Ecke lauert heute eine freundliche Aggression, eine Hilfestellung, eine Krücke. Das macht es schwer, die Welt mit eigenen Augen zu entdecken. Wenn wir es dann mal versuchen, sind bestimmt mindestens fünf smarte Geräte auf uns gerichtet, um die bemüht authentisch wirkende Darstellung aufzuzeichnen. Das Kunststück, das junge Menschen von heute vollbringen sollen, besteht darin, wie die Raupe mit unterentwickelten Entwicklungsmuskeln prächtige Flügel auszubreiten. Anders gesagt: Man stutzt jungen Menschen die Flügel und sagt: »Und jetzt flieg mal bitte.« – Wie soll das gehen?
Jedes System ist auf Stabilisierung angewiesen und damit auch darauf, die Herzen und Hirne ihrer Bürger gefügig zu machen. Nur erfolgt dies hier nicht mit Gewalt oder durch Repression, sondern durch das Verabreichen süßer Pillen, und zwar ohne dass man es merkt. Wer unfähig ist, selbst zu denken, auf eigenen Beinen zu stehen und die Welt mit seinen Augen zu entdecken, ist zur Abhängigkeit vom System und den systemkonformen früheren Generationen verurteilt. Die Fortführung des Bestehenden wird zu einem »freiwilligen Zwang«. So schafft man in allen Teilbereichen der Gesellschaft Konformisten, egal ob es brave Studenten für die Wissenschaft sind, gute Konsumenten für die Wirtschaft oder gute Untertanen für die Politik. An die Stelle des Anspruchs auf ein eigenes Leben tritt ein Grundgehorsam in einem fluffig-zuckrigen Kokon. Und die Falle klappt zu.
Ein Blick auf die Zahlen bestätigt dieses Bild: Die Beziehung zu den Eltern schätzen 90 Prozent der Jugendlichen als gut ein. Doch eine derartige Nicht-Erziehung macht keine Lust auf das Neue, Unbekannte, vielleicht sogar auf das Risiko. Sie konditioniert auf Risikoaversion. Der junge Mensch von heute hat nichts als Käfighaltung kennengelernt und strebt höchstens nach einer angenehmen Einrichtung seines Käfigs.
Sicherheit steht heute ganz oben, zunehmend träumen Studenten von einer Stelle im öffentlichen Dienst, also von Behördenfluren, Stempelkarten, Bildern der Bundespräsidenten und dem Geruch von Bohnerwachs. Hauptsache sicher und um 17 Uhr Dienstschluss. Wer trotzdem mal weiter ausgeflogen ist, sehnt sich irgendwann zurück nach dem Nest, wenn er nicht sowieso bis 30 bei Mama wohnen bleibt (Männer zu 40 Prozent).
Wie zum Hohn erfolgt jetzt der Vorwurf der Älteren: »Seid mal nicht so angepasst. Seid doch mal rebellisch. Wir haben damals ganz anders gelebt, gedacht und so weiter.« Doch wodurch soll Ungehorsam überhaupt entstehen? Er ist ja kein Selbstzweck, sondern hat eine Funktion. Pseudo-Rebellentum ist nicht die Lösung. Ungehorsam entsteht oft, wenn Autoritäten nicht mehr anerkannt werden, wenn also die Jugend merkt, dass mit den Erwachsenen etwas faul ist, die Muster veraltet oder nicht glaubwürdig sind. Oder wenn die Perspektiven aussichtslos sind. In dieser Situation zu rebellieren, ist verständlich und keine große Überraschung.
Heute ist die Misere junger Menschen überzuckert, das Protestpotenzial wird durch Pseudogeschenke kleingehalten. Der Wohlstand wird über billige Zinsen und Verschuldungsprogramme auf Jahre gestreckt. Manchen winkt vielleicht eine hübsche Erbschaft. Die Anerkennung auf dem Papier oder durch Lob ist sofort da, das böse Erwachen ist auf später verschoben. Die Generationen Y und Z sind in diesen Versuchsablauf eingespannt, es vollzieht sich ein zynisches Experiment am lebenden Objekt.
Gegen wen auch aufbegehren? Der Feind ist unsichtbar. Alle sind gut. Es gibt keinen bösen Staat mehr, keine Bullenschweine, keine NS-Eltern, keine Älteren, die einem sagen, wie vergammelt und verkommen man doch ist. Alle sind lieb: Die Lehrer geben gute Noten, die Eltern sind Vorbild, der Job ist die nette Zweitfamilie. Wogegen protestieren? Gegen sich selbst? Wie paranoid! Und hier liegt das Problem: Der moderne Mensch diszipliniert sich inzwischen selbst. Er »will es doch jetzt auch«. Die »eigene« Stimme im Kopf sagt einem, dass man abnehmen, nicht so viel trinken, besser und fleißiger sein soll als die anderen. Wenn man im Leben versagt, soll man glauben, dass es nur an einem selbst gelegen hat. Man war wohl schlicht zu faul.
Hier liegt ein zentraler Unterschied zu früheren Generationen. Spätestens die Generationen Y und Z erleben ein gänzlich neues pädagogisches Muster, eine Veränderung der Ideologie, weg von repressiv hin zu freundlich manipulativ. Dagegen vorzugehen ist schwer, denn der Feind sitzt einem quasi hinter der Stirn bzw. im Nacken. Das Problem der Selbstwerdung ist also zunächst mal ein psychologischer Hindernislauf. Man muss hinter dieses Muster blicken, um überhaupt halbwegs zu erkennen, was das Problem ist. Und der Erkenntnisprozess ist auch nicht sehr verlockend, hat er doch im Grunde nur Enttäuschungen zu bieten. Der Preis wäre die Erkenntnis, dass man betrogen wurde – und wer gesteht sich das schon gerne ein? Den letzten Rest an selbstständigem Denken bringen demzufolge die »anonymen Autoritäten« zur Strecke, die uns umgeben wie die Luft zum Atmen: ein übertriebener Wissenschaftsglaube, die öffentliche Meinung, die gültigen Regeln von psychischer Gesundheit, Normalität, gesundem Menschenverstand.
Man hängt im Honigtopf fest (»Ihr habt es so gut!«) und könnte ja auch sonst mit unterentwickelten Flügeln gar nicht losfliegen. Hinzu kommt, dass es ja auch noch »dumm« wäre, wenn man es versuchte. Also bleibt man, wo man ist, und richtet sich in der Lüge ein. Das Leben, wie wir es von klein auf kennen, soll ein Mikrokosmos der Alternativlosigkeit sein, eine Erziehung zur Strukturblindheit. Das perfekte Selbstverzwergungsprogramm.
Von wem sollten wir auch gelernt haben, mutig zu träumen? Wo sind die Vorbilder? »Die Jugend müsste etwas rebellischer sein«, findet zum Beispiel Gregor Gysi in einem Interview. Abgesehen davon, dass dieser Satz ein einziger Widerspruch ist, da Rebellion auf Aufforderung ja wieder Gehorsam ist, ist man geneigt, zurückzufragen: »Wo waren Sie denn bitte jemals rebellisch? Vor allem in jungen Jahren? Wann haben Sie denn gegen das System aufbegehrt, als es mal richtig riskant war? Als es darauf ankam?« Den alten Gysi von heute mag man mit einigem Recht toll und unterhaltsam finden. Der junge Gysi von damals war der Sohn eines DDR-Kulturministers, der später brav studiert und in der DDR Karriere gemacht hat. Nix Rebell. Trotzdem sollte uns der Gysi-Satz zu denken geben. Wir schaffen es doch tatsächlich, den Standard an Subversion eines Mitglieds des DDR-Establishments zu unterbieten! Das ist ein Dilemma. Es gibt anscheinend keinen Ausweg, weder von innen, noch von außen, weil es Rebellion auf Zuruf nicht gibt. Wer in der Blase steckt, sieht nur, was er sehen soll. Das bewies übrigens niemand besser als die junge Journalistin, die auf Gysis Aufforderung doch tatsächlich fragte: »Wie wird man rebellisch?«
Wie bringt man einem Tiger im Zoo bei, dass es so etwas wie Freiheit gibt? Wir sind empört, wenn wir sehen, dass ein Tierpark Vögeln die Flügel stutzt, um sie von ihrem natürlichen Bedürfnis zu fliegen abzuhalten. Wir sind nicht empört, dass mit uns das Gleiche passiert. Wir leben im Tierpark, in Käfighaltung und sind froh, denn wir bekommen Nahrung, Bespaßung und Anerkennung frei Haus. Dem im Zoo geborenen Tiger kann man nicht beibringen, dass es eine freie Wildbahn gibt. Er ist für das normale, natürliche Leben gar nicht geeignet.
Potenziale müssen entfaltet werden, ansonsten verkümmern sie. Man muss sie trainieren wie einen Muskel. Es ist ein Naturgesetz: Was nicht gebraucht wird, kann weg. Ein Säugling verfügt über die natürliche Fähigkeit, zu sehen. Wird er fünf Jahre in einem dunklen Raum gehalten, verliert er diese Fähigkeit unwiederbringlich. Er erblindet. Das passiert uns gerade auf sozialem Gebiet. Wir leben im Zustand einer gesellschaftlichen Unwissenheit, einem »sozialen Agnostizismus«, wie es der Technikphilosoph Günther Anders nannte. Die Umstände dringen nicht zu uns vor, obwohl (oder gerade weil) sie ständig da sind. Man geht eben in die Arbeit, man muss früh raus, man will mehr und mehr an Geld, Titeln, Status. Wozu? Keine Ahnung, alle machen es so.
Die Erziehung läuft heute nach dem Spiegelprinzip. Ich werde ein guter Vater, eine gute Mutter sein, wenn ich mein Kind immer »gut« behandle, also lieb bin und seine Wünsche erfülle. Denn dann zeigt es mir ja auch durch Zuneigung, dass ich »gut« bin. Der Erwachsene erkauft sich also durch eine Anerkennungs– und Verhätschelungsoffensive die Liebe und den Respekt des Kindes und hält diese dann für echt. An die Stelle von Erziehung tritt Wunscherfüllung, Anpassung, Bonding.
Die Wunscherfüllung sieht dann so aus: Viele Eltern glauben, dass ihre Kinder ein Smartphone brauchen, damit sie nicht aus der Gruppe ausgeschlossen werden. »Es geht doch heute gar nicht mehr anders.« Das ist der leichteste Weg. Doch würden Kinder nicht charakterlich stärker durch die Erfahrung, auch einmal nicht mit dem Strom zu schwimmen, vielleicht sogar isoliert zu sein und zu merken, dass sie auf Akzeptanz, die sich auf den Besitz eines elektronischen Gadgets stützt, nicht angewiesen sind?
Ein Beispiel für »Bonding« bot vor einiger Zeit der SZ-Journalist Till Raether: Er spiele jetzt mit dem Sohn (12) Killerspiele auf der Konsole und lasse sich von der Tochter (8) die Schminktipps auf YouTube zeigen. Spricht daraus nicht eine Erziehungskapitulation nach dem Motto: Zeigt mir eure Welt, ich habe euch nichts beizubringen? Nicht der Erwachsene bringt den Kindern etwas bei, er lässt sich von ihnen »ausbilden«. Damit drängt man Kinder in die Lücke, die man selbst lässt: die des Lehrers, die des Orientierungsgebers.
Das ist aber nicht ihre Aufgabe. Soll man sich dann wundern, wenn einen die Kinder irgendwann nicht mehr ernst nehmen? Nichts anderes geschieht im Habitus: Eltern und Kinder kleiden sich zunehmend ähnlicher. Der neueste Trend ist laut Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung sogar die Klamottenidentität zwischen Eltern und Kindern; das tun sie nicht, weil die Kinder sich anziehen wollen wie die Erwachsenen, um älter zu wirken. Es passiert, weil die Eltern sich selbst in die Jugendlichkeit zurückversetzen wollen, mit engen Hosen, Sneakers und Lederjacke. Das kann nicht gut gehen: Eltern, die sich selbst nicht ernst nehmen, werden das auch nicht von ihren Kindern verlangen können.