Wenn's keiner sagt, sag ich's - Milosz Matuschek - E-Book

Wenn's keiner sagt, sag ich's E-Book

Milosz Matuschek

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Beschreibung

Milosz Matuschek legt überall dort den Finger in die Wunde, wo viele nicht einmal einen Kratzer sehen. Seine Texte sind brillante Analysen einer Gesellschaft, die Vielfalt preist, dabei aber Diskursräume verengt und Anpassung belohnt. Die Coronapandemie mitsamt Maßnahmenapparat stellen eine gänzlich neue Eskalation der Freiheitsbedrohung dar. Hellsichtig wie unnachgiebig zeichnet Matuschek nach, wie die unbehagliche Überlagerung von Themen wie Machtkonzentration, Cancel Culture, digitale Überwachung, Mehrfach-Impfungen und Pandemie-Panik zum Verlust von Freiheit, Transparenz und Demokratie führt. Wir blicken in den Abgrund einer Dystopie, in welcher der punktuelle Ausnahmezustand zum permanenten zu werden droht. In absurden Zeiten zielt Matuscheks Schreiben auf nicht weniger als eine Verteidigung demokratischer Werte und eine Weitung der Welt.

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Seitenzahl: 298

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Ebook Edition

Milosz Matuschek

Wenn’s keiner sagt, sag ich’s

Verengte Räume – Absurde Zeiten

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-946778-34-9

© Verlag fifty-fifty, Frankfurt / Main 2022

Satz: Publikationsatelier, Dreieich

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Einleitung: Was, wenn die Covidioten Recht haben? Oder: Schreiben in Zeiten der kollabierten Kommunikation

I. Verengtes Denken

Appell: Befreien wir das freie Denken aus dem Würgegriff1

Der Fall Assange: Unser Schweigen, unsere Komplizenschaft2

Kommt die CoviDDR 2.0 – oder ist sie schon da?13

Und jetzt alle: Die Überwachung wird euch frei machen!32

Mit Vollgas in die Verordnungsdiktatur47

Die Zensurwelle55

Kollabierte Realität: Was, wenn die Verschwörungstheoretiker Recht haben?71

Die Deutschen leben in der besten DDR aller Zeiten72

Wir brauchen einen Runden Tisch für die Meinungsfreiheit74

Im Bannstrahl der Massenpsychose79

Liebe Journalistenkollegen: Sorry, für was genau wollt ihr jetzt mehr Geld?84

In den Fängen der Zwangsbekenntnisgemeinschaft91

II. Verengte Räume

Der Souverän lässt sich nicht einsperren1

#allesaufdentisch: Die Gedanken sind frei und Mut ist ansteckend3

Das »Impfangebot«: Eine Massen-Nötigung mit Risiken und Todeswirkungen9

Causa Kimmich: »Bestrafe einen, erziehe Hunderte«18

Ein Bodybuilder hat mehr Durchblick als alle Intellektuellen20

Wenn die Walze walzt23

Lasst die Anthroposophen in Ruhe!34

Plötzlich und unerwartet totgeschwiegen41

Wann platzt die Biontech-Blase?54

Der Fisch stinkt vom Kopf her65

Verfassungsbruch mit Ansage68

Sprechen wir doch mal über Verschwörungspraxis78

Was steht in den geschwärzten Verträgen von Pfizer mit der EU-Kommission?85

III. Der Corona-Komplex

Der Corona-Komplex – was passiert hier eigentlich gerade?1

Die medizinischen Ungereimtheiten4

Das rechtliche Pandemieregime passt vorne und hinten nicht30

Die Pandemie der Panik61

Der Great Reset ist ein technokratischer Putsch90

IV. Die Weitung der Welt

Selbstverteidigung für den Geist1

Wenn Widerstand zur Pflicht wird4

Wie sieht intelligenter Widerstand aus?14

Wir Waldgänger16

Entfachen wir jetzt die Flamme der Freiheit!23

Die 7 Schichten des Bitcoin26

Die Welt als Wille und Eidgenossenschaft37

Nachwort: Und jetzt?

Anmerkungen

Orienterungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Titel dieses Buches, Wenn’s keiner sagt, sag ich’s, ist zugleich so etwas wie mein publizistisches Credo. Es drängte mich überhaupt erst zum Schreiben, weil ich so manchen Text, den ich mir gewünscht habe, nicht finden konnte und irgendwann damit angefangen habe, ihn selbst zu schreiben und Zeitungen anzubieten, mit anfangs sehr überschaubarem Erfolg. Meine Perspektive ist dabei immer die des Lesers geblieben, der sich einen Reim auf die Welt machen will.

Natürlich bin ich nicht der Einzige, der kritisch schreibt. Doch die wenigen kritischen Stimmen sind heutzutage im Vergleich zum offiziellen Meinungsorchester eine verschwindende Minderheit. Zudem befiel mich schon immer ein kaltes Grauen vor Situationen, in denen Probleme unausgesprochen im Raum stehen und im Grunde jeder darauf wartet, dass die Lage sich dadurch klärt, dass jemand das Kind mal beim Namen nennt. Diese Situation gibt es nicht nur im Kleinen, Privaten, sondern auch auf dem Feld der öffentlichen Meinung – im Grunde überall, wo eine Gruppendynamik am Werk ist, denn Gruppen lieben Konformität. Ich bin überzeugt, dass eine reife Demokratie nur unter Menschen möglich ist, die eine gewisse Sehnsucht nach Offenheit, Schonungslosigkeit und Leidensfähigkeit haben: Denn entweder wir verhandeln die Themen auf der Höhe der Zeit und im Lichte der Realität – oder wir sind ein Kollektiv von Traumtänzern in einer Wohlfühlblase.

Die Aufgabe des freien Publizisten im Meinungssektor, sei es als Buchautor, Kolumnist oder Kommentator des Zeitgeschehens, liegt für mich nicht darin, einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen, sondern Verkrustungen aufzubrechen und auf faule Stellen hinzudeuten. Manchmal sehe ich die Schreibtätigkeit wie die Tätigkeit eines Arztes, der Wunden verarzten, Pusteln und Vereiterungen ausschaben, so manchen faulen Zahn ziehen oder auch mal ein unrettbares Bein amputieren muss – stets im Wissen, dass es nur schlimmer wird, wenn er nichts tut. Der Anspruch, genau dies zu tun, ist im Laufe der Jahre immer stärker zu meinem inneren Kompass beim Schreiben geworden. Ich schreibe seit zwei Jahren mehr oder weniger das, was ich als drängendstes Thema des Moments empfinde.

Nach meiner Überzeugung taugt der Publizist nicht zum Herdentier oder Stammeskrieger. Wer mit der Herde blökt, ist Teil von ihr. Der Journalist ist im Kern seiner Berufsethik kein Auftragsschreiber oder eine Maulhure, sondern ein Filter der Realität, wie er sie wahrnimmt und von der er ein möglichst genaues Bild vermitteln soll. Um das Bild schärfer zu zeichnen, muss er sich von seinem Objekt, der Gesellschaft, ruhig auch etwas entfernen. Er kann nur schwer Teilnehmer und Beobachter zugleich sein.

Hin und wieder gegen den Strich oder Zeitgeist zu agieren, ist deshalb keine Pose oder ein Akt heroischen Immerdagegenseins, sondern eine notwendige Grundpositionierung und damit Existenzbedingung. Schon Thomas Mann fand, dass der Schriftsteller ein Gegengewicht sein soll, ein ausbalancierender Faktor. Auch politisch. Je nachdem ob das Schiff der öffentlichen Meinung eine Schlagseite nach links oder rechts hat, ist es zudem intellektuell reizvoller, sich entgegen der Gravität der Masse zu positionieren. »Man muss dahin gehen, wo ein Widerstand ist«, sagte Thomas Bernhard sinngemäß, diesen Satz habe ich beim Schreiben oft im Ohr.

Schon während meines Jurastudiums und später als Dozent fand ich die Position der Mindermeinung in der Lehre oft nicht nur überzeugender, sondern auch besser durchdacht als den einfachen, breiten und komfortablen Weg der herrschenden Meinung.

Wer sich einer skeptischen Tradition verpflichtet fühlt, findet seine Themen überall dort, wo ein Denkverbotsschild steht und wo jedes Weitergehen mit Konsequenzen geahndet werden kann. Heute ist das publizistische Handwerk eine Tätigkeit der Rückwärtsverteidigung ehemals hoch gehandelter westlicher Werte geworden. Cancel Culture, Zensur und Debattenverengung sind zu alltäglichen Phänomenen geworden. Statt in eine freie, demokratische und transparente Zukunft blicken wir in den Abgrund einer Dystopie, in der sich Themen wie glo­balistische Machtkonzentration, Pandemie-Panik, Massenimpfungen mit experimentellen Gentherapeutika, Transhumanismus, Überwachung und eine allgemeine Freiheitsdekadenz die Klinke in die Hand geben.

Die meisten meiner Texte der letzten zwei Jahre betreffen Corona. Doch diese Textsammlung ist kein weiteres Pandemietagebuch, auch wenn man es durchaus auch als persönliche Chronik lesen kann. Corona hat sich vielmehr als Durchlauferhitzer für ein Sammelsurium an Freiheitsbedrohungen herausgestellt. Viele Themen, die in den letzten Jahren mehr oder weniger unbeachtet vor sich hin schwelten – von Inflation über Machtkonzentration, Polarisierung bis hin zu Überwachung – wurden jetzt virulent. Der punktuelle Ausnahmezustand droht zum permanenten zu werden. Sicher geglaubte Errungenschaften werden gerade abgewickelt. Mich erschüttert bis heute, wie aufgeklärte Gesellschaften das haben mit sich machen lassen und es immer noch tun. Wir erleben eine Verengung der Welt.

Die Aufgabe des freien Publizisten in dieser Zeit kann für mich nur bedeuten, sich dieser Entwicklung mit der Kraft des Wortes entgegenzuwerfen. Wer auch immer die Umgestaltung der freien Welt in ein technokratisch geführtes Biosecurity-Krankenhaus vorantreibt, darf gerne jeden meiner Texte als einen kleinen Akt publizistischer Sabotage verstehen. Über das Versagen quasi aller Institutionen (Politik, Rechtssystem, Wissenschaft, Medien, Kirchen et cetera) in dieser selbst verschuldeten Krise kann ich bis heute nur den Kopf schütteln. Aber es war und ist jedem selbst überlassen, sich zu positionieren.

Publizistisch bin ich rückblickend immer gerne Grenzgänger gewesen. Letztlich ein heimatloser Schlesier mit Stift. Meine Texte erschienen dort, wo man mich ließ: über sechs Jahre als Kolumnen und Kommentare in der Neuen Zürcher Zeitung, bis es im September 2020 wegen der Verwertung einer covidkritischen Kolumne zum Bruch kam. Danach auf meiner eigenen, notgedrungen schnell aus dem Boden gestampften Publikation Freischwebende Intelligenz, dazwischen immer wieder als Originale oder Zweitverwertungen im Schweizer Satiremagazin Nebelspalter, in der Berliner Zeitung, der Weltwoche,auf der Achse des Guten, im Demokratischen Widerstand, bei der Hayek-Feder, auf Apolut, im Rubikon, bei eigentümlich frei, bei Gunnar Kaiser, bei Radio München, Transition News und vielen anderen, teils kleinen Blogs.

Auch diese Textsammlung ist eine Art Dokumentation. Jeder Text ist eine Momentaufnahme und allenfalls um der Lesbarkeit willen etwas angepasst sowie manchmal mit einem kleinen Kommentar versehen, wenn etwas mehr Kontext hilfreich ist.

Ich danke vor allem all den vielen Lesern meiner Publikationen für ihren vielfältigen Zuspruch und die Unterstüt­zung, sei es durch ein Abonnement meines Newsletters www.­freischwebende-intelligenz.org, sei es als Teilnehmer des www.symposium.ws oder als Spender.

Sie sind mein Publikum, für Sie schreibe ich. Dies ist eine Auswahl meiner Texte, die ich ab September 2020 geschrieben habe.

Last but not least: Meiner lieben Freundin Lilly Gebert danke ich für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.

Tessin, im Mai 2022

Einleitung: Was, wenn die Covidioten Recht haben? Oder: Schreiben in Zeiten der kollabierten Kommunikation

Am 1. September veröffentlichte ich in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) die Kolumne »Was, wenn die Covidioten Recht haben?«.1 Ich hatte bis dahin hunderte Texte geschrieben. Sechs Jahre davon für die NZZ. Doch diesmal war etwas anders. Denn dieser Text sollte mein letzter sein.

Es schien mir, als wenn der rosa Elefant im Raum plötzlich für einen kurzen Moment sichtbar geworden wäre. Und ich richtete den Lichtkegel auf ihn. Die Gefährlichkeit von Covid und die Maßnahmen dagegen standen in scharfer Diskrepanz! Was für freie Medien schon einige Monate Thema war, las man jetzt plötzlich in aller Deutlichkeit auch in der NZZ. Die Kolumne sammelte über 500 Kommentare und wurde auf Social Media mit etwa 300 000 Shares der meistgeteilte Meinungstext des Jahres. Kurze Zeit später wurde ich von der NZZ entlassen – als wohl zugkräftigster Kolumnist. Dazu gibt es eine Vorgeschichte.

Vor acht Jahren schickte ich neben meiner Arbeit als Universitätsdozent an der Sorbonne immer mal wieder Artikel an Zeitungen, quasi als Handübung, um im Training zu bleiben für das Schreiben von Büchern. Ich sah mich bis dahin eher als Sachbuchautor, weniger als Journalist. Ich bekam damals bei weitem nicht jeden Text unter, den ich schrieb. Doch diesmal klappte es. Ein scharfer Kommentar über Millennials war mir gerade vom Magazin brandeins gecancelt worden und weil ich dann oft ein »jetzt erst Recht« Gefühl habe, schickte ich den Text an die von mir bis dato ehrfürchtig gemiedene, gediegene NZZ. Für eine Ausgabe der NZZ fuhr Thomas Bernhard hunderte Kilometer mit dem Auto durch Europa. Adenauer las aus ihr wegen ihres guten Deutsch und Helmut Schmidt informierte sich aus ihr verlässlicher über internationale Politik als aus dem Bundesnachrichtendienst. Die NZZ hielt ich für »out of my league«. Doch es ergab sich eine glückliche Fügung. Der Millennial-Text wurde akzeptiert2, ging durch die Decke und ich hatte ein Kolumnenangebot in der Mailbox, das ich gerne annahm. Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel dankte auf seinem Kolumnenplatz ab und ich machte mich erstmals ans Kolumnistenhandwerk. Ohne überhaupt genau zu wissen, was das ist.

Die Verbindung zur NZZ wurde zu einem Turning Point für mich und meine publizistische Biographie. Ich bekam plötzlich ein großes, gebildetes und anspruchsvolles Publikum, und ich hätte auch ohne Dozentenstelle erstmals vom Schreiben leben können. Die Texte trafen oft den Zeitgeist oder dienten zumindest als Aufreger für das eher bürgerliche Publikum: Ich schrieb zu Meinungsfreiheit und Charlie Hebdo, ich forderte die Abschaffung von Religionen, ich schrieb gegen Böhmermann an, gegen Nudging, Big Data, Überwachung, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, für Bitcoin, für Dezentralität, für Assange, für die Pressefreiheit und die Freiheit allgemein; am Ende war meine Kolumne für mich jedes Mal wie eine kleine Tiefenbohrung. Ich sah es als meine Aufgabe als Kolumnist an, ein Thema aus der Vogelperspektive und im Querschnitt zu anderen Themen auf ihre Essenz einzudampfen und dem Leser eine Art engagiert vorgetragene sowie dichte Analyse zu präsentieren. Bei vielen Themen lag ich womöglich nah auf Redaktionslinie, bei einigen war ich mehr oder weniger weit entfernt, vermute ich. Genau vermessen habe ich das nie.

Doch die Linien wurden irgendwann sichtbar. In einer Kolumne fragte ich, ob es die westliche Wertegemeinschaft noch gibt, wenn mit Assange ein Aufdeckungsjournalist in britischen Gefängnissen vor sich hin schmort3; aus NZZ-Sicht ist das eher die Praxis autoritärer Regime.

Es war die erste Kolumne, die nicht so recht durchgehen wollte, es mit Änderungen aber noch ans Tageslicht schaffte, wir schreiben das Jahr 2019. Weitere Verweise auf das Thema Assange geschahen etwas verdeckter. Als ich erneut in einer Kolumne zum Thema Assange unmissverständlich wurde, fiel diese ein einziges Mal in sechs Jahren aus. Im Feuilleton der NZZ bekam ich trotzdem noch einmal die Möglichkeit mit einer Analyse der Person Assange als Freiheitsheld.4 Kurz: Meine drängenden Appelle in Bezug auf das Schicksal des Wikileaks-Gründers begann in der Außenwahrnehmung die Linie der NZZ zu gefährden, vermute ich. Ich verstehe das aus redaktioneller Sicht. Was ich nicht verstehe, ist die Linie.

Gleichwohl sehe ich die Funktion des Kolumnisten nicht darin, permanent der Nestwärme des redaktionellen Konsenses nachzueifern, denn über diesen wusste ich ohnehin nur wenig und er war mir auch egal. Ich wollte einfach die Dinge schonungslos auf den Punkt bringen. Auch darin liegt für mich eine legitime Aufgabe eines Kolumnisten: Missstände benennen, sich selbst zum Anwalt einer Sache oder eines Themas machen und sie auf einer etwas größeren Tribüne präsentieren. Ich sehe mich vielleicht nicht als aktivistischen Publizisten, wohl aber als engagierten.

Der Kolumnist atmet die Gegenwart ein, er ist direkt an ihrer Entstehung beteiligt, er kann einem Thema Leben einhauchen und die Luft aus anderen Themen herauslassen. Plötzlich war ich Teil der meinungsbildenden Infosphäre des Mainstreams mit latentem »Nichtzugehörensdrang«. Wieder mal Grenzgän­ger, so wie ich es am liebsten mag. Relative Narrenfreiheit, und – da ohne Vertrag – eben ständig kündbar. Man ließ mich gewähren als wohl etwas bunten Hund. Es war eine insgesamt vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Dann kam Corona. Und mit Corona kamen Maßnahmen, kamen Demonstrationen dagegen, kam Ken Jebsen als Joker, Bill Gates und die Frage nach Sinn und Unsinn der ganzen Corona-Politik. Meine Texte wurden deutlicher, sie wurden kritischer und anti-mainstreamiger. Für die NZZ begann wohl spätestens jetzt ein kleiner Seiltanz. Sie hat in Deutschland den Ruf als »Westfernsehen«, weil sie etwas differenzierter auf die Alternative für Deutschland (AfD) blickt oder mit Hans-Georg Maaßen spricht.5 Sie schaltete sogar Anzeigen auf Facebook, wo sie sich als Plattform für kritisches Denken beim Covidioten-Publikum anbot. Doch während meine Klicks immer stärker durch die Decke gingen, sank mein Stern bei der Redaktion. Irgendwann kam die Nachricht, dass alle externen Kolumnen beendet werden sollten. Ich hätte weiter in der NZZ veröffentlichen können. Mit nur einem Unterschied: jetzt nicht mehr als Kolumnist, dem man nicht reinredet, sondern als Gast, dem man die Texte leichter zuschneiden kann.

Die Wände wurden enger, wir sind im Sommer 2020, es gab die ersten Lockdowns, das Thema Cancel Culture und Demos gegen Corona-Maßnahmen und Black Lives Matter. Corona beschleunigte mein Leben, machte mir Beine, brachte alles durcheinander. Je mehr Lockdown, desto mehr wollte ich raus in die Welt. Je mehr Enge, desto eher strebte ich in die Weite. Sternzeichen Fische. Wenn man zudrückt, entglitscht er. So wie viele andere in der Schweiz schwang ich mich erstmals seit 20 Jahren wieder auf ein »Töff«, wie man hier Motorräder nennt, und fuhr 20 000 km auf einer kofferbeladenen, schweren »Honda Pan European« quer durch Europa, offiziell im Homeoffice, aber eben nicht immer Home. Beruflich hätte es an dieser Stelle nicht besser laufen können. Die Kolumne brummte, ich hatte einen guten Job als Stellvertretender Chefredakteur des Magazins Schweizer Monat. Ich konnte in einer der teuersten Städte der Welt vom Schreiben gut leben. Was wollte ich mehr?

Doch es war Corona und damit stellte sich für mich die Frage, ob ich lieber komfortabel in einer Lüge leben oder eher unkomfortabel auf der Suche nach Wahrheit bleiben will. Ich entschied mich für Letzteres. Aber in einer besonderen nicht selbst bestimmten Konstellation. Es war einer dieser Scharniermomente im Leben, wo man sich entweder weiter in die Augen schauen kann oder sich selbst ein Stück weit verrät. Im September 2020 kam alles zusammen, ich wurde vor meine persönliche Prüfung gestellt. Das Thema Cancel Culture wurde immer drängender. Zeitgleich mit der Kolumne »Was wenn die Covidioten Recht haben«, die wie eine Supernova abging, veröffentlichte ich mit Gunnar Kaiser den »Appell für freie Debattenräume«, der ebenfalls größere Wellen schlug.

Im Appell spreche ich mich deutlich gegen jegliche Kontaktschuld, gegen den Boykott von Plattformen aus. Der Appell ist aus dem Herzen geschrieben, aus vollster Überzeugung. Jetzt geht der NZZ-Text durch die Decke, es scheint etwas aufzubrechen, und es kommt eine Anfrage von Ken FM. Können wir den Text als Podcast haben? Ich zögere. Die NZZ wäre wohl nicht begeistert, denke ich mir. Ich scherze, dass ich dann wohl meinen Job los wäre. Doch ich hatte seit Beginn der Kolumne zwei Regeln. Erstens, nicht so zu schreiben, wie die Leute, die gerne mal in der NZZ erscheinen wollen und sich erst noch eine Krawatte umbinden, bevor sie den Füllfederhalter aufziehen. Sondern immer nur mir treu zu bleiben. Und zweitens, dass eine Kolumne immer erst dann wirklich interessant ist, wenn sie normalerweise nicht erschienen wäre. Ich wollte nicht klingen wie jemand, der sich mit jeder Kolumne bei der Redaktion darum bewirbt, dass er sie behalten kann, sondern wie jemand, der jederzeit damit rechnet, herausgeschmissen zu werden.

Kurz: Ich konnte mich im Moment der Anfrage von KenFM nur für die Freigabe der Kolumne entscheiden. Mir war’s den Ärger mit der NZZ wert, wenn ich dafür mit mir im Reinen darüber war, dass ich nicht gegen Kontaktschuld appellieren und sie gleichzeitig als Feigenblatt hervorholen kann, wenn es mir passt. Entweder ich glaubte an das, was ich forderte oder eben nicht. Am Ende spricht der Autor und nicht die Plattform. Etwas, was bei der NZZ wahr ist, ist woanders nicht weniger wahr. Zweitverwertungen waren bisher kein Thema und das Urheberrecht lag mangels Vertrages bei mir.

Die Kolumne schoss hoch, die Ken-FM-Geschichte befeuerte das Ganze noch zusätzlich, die NZZ drohte Ken mit rechtlichen Schritten und er löschte den Podcast wieder. Mich setzte man vor die Tür. Bei der NZZ flatterten Leserbriefe und Abokündigungen ein. Zugleich warb ich für meinen Appell ohne mich als Cancel-Opfer darzustellen, während die Leute fragten, was denn da bei der NZZ los sei.

Erdrutsche. Überall. Jetzt bei mir. Rauswurf! Immer mehr Leute beim Appell, wir gingen in die Tausende. Am Tag des Rauswurfs klingelt ab 8 Uhr das Telefon. Ich bekomme an diesem Tag sieben Kolumnenangebote, am hartnäckigsten ist DieWelt aus Berlin. Doch ich konzentriere mich lieber auf den Appell. Zusage von John Cleese! Ich wollte auch nicht gleich in einem anderen Stall das nächste Schreibpferdchen machen. Ich fuhr nach Dubrovnik, nach Nizza, durchpflügte Europa, fühlte immer mehr, dass ich aus der Enge des Alten nur noch herauswill. Lieber gar nichts mehr publizieren, als so schreiben zu müssen wie die, die man jetzt liest.

Im Grunde müsste man den Journalismus völlig reformieren, vom Kopf auf die Füße stellen. Er ist völlig dysfunktional. Der Bruch mit der NZZ war nur Symptom für eine größere Entfremdung, die viele Intellektuelle seit Jahren wahrnehmen; der Eindruck, dass man in zwei Realitäten lebt, die nicht mehr kongruent sind, und der sich zwangsläufig irgendwann zu der Frage verdichtet: Wer von uns beiden lebt in der Wahrheit, wer in der Lüge? Nichts entzweit Menschen stärker als die Ferne im Denken.

Den dritten Erdrutsch löste ich selbst aus und kündigte beim Schweizer Monat meine 100-Prozent-Stelle. Wenn schon, dann gleich richtig. Ich wollte mir grundsätzlich darüber Gedanken machen, woran der Journalismus krankt und entweder direkt für meine Leser schreiben oder gar nicht. Dieser Versuch war mir ein gutes Monatsgehalt wert, um bei null wieder anzufangen. Ich hatte einen Substack-Newsletter angelegt, um die Unterzeichner des Appells auf dem Laufenden zu halten. Zahlreiche Anmeldungen kamen auch von erbosten Ex-NZZ-Abonnenten.

Dann kam der Oktober 2020. Vielleicht erstmalig befiel mich das Gefühl, dass das ganze Corona-Thema extrem faul ist und dass das Ganze auch nicht so schnell aufhören würde. Der nächste Lockdown kündigte sich durch Dementis an. Im Grunde war man immer auf der sicheren Seite, wenn man das Gegenteil von dem glaubte, was offiziell gesagt wurde. Ich war jetzt Beschreiber in einer Welt, die auf dem Kopf stand. Ich wollte weiter weg. Ich buchte blind nach Fuerteventura, wurde ordnungsgemäßes Mitglied im lokalen Social Club, surfte und fing an, meine erste kleine virtuelle Druckerpresse anzuwerfen: die »Freischwebende Intelligenz«. Wenn schon über den ganzen Wahnsinn schreiben, dann dort, wo der Wahnsinn weniger stark ist, wo sich vielleicht am ehesten noch freiheitsliebende Menschen (Surfer?) tummeln, wo alles einfach nicht so streng ist. Ich fing an zu segeln, ich erforschte die Kanaren, ich tourte durch Mittelamerika, Panama, Costa Rica sowie Kolumbien, Mexiko. Ich suchte nach Freiheitsinseln. Nach Refugien. Umsonst. Denn irgendwie war das Thema überall. Reisen war durchaus möglich. Doch gleichzeitig nützte es wenig: Letztlich war man nirgends davor sicher.

In einem meiner Assange-Texte schrieb ich, dass Freiheit unteilbar ist. Und ich denke immer noch so. Freiheit ist wie ein Lichtschalter, der umgelegt werden kann. Assange ist als Beispiel physisch in das Gefängnis vorausgegangen, in dem wir alle zumindest geistig ebenfalls schon sitzen. Die Vorzeichen der Freiheit sind in ihr Gegenteil umgeschlagen.

Doch gerade in einem solchen Moment gilt es zu sagen: Jetzt erst Recht. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die ähnlich erschrocken über die Lage sind wie ich und ähnlich denken. Ich bin dankbar, dass ich als Publizist gerade in einer solchen Situation direkt mit meinem eigenen Publikum sprechen kann. Heute bekomme ich statt zehn Briefe jährlich plötzlich hunderte Mails pro Woche.

Lesen Sie meine Texte, nunmehr aus der Feder des freischwebenden Autors, als Warnschilder; in der Gegenwart errichtet, um in die Zukunft zu weisen.

I.Verengtes Denken

Im August 2020 sprach ganz Deutschland über Lisa Eckhart und Dieter Nuhr. In Amerika machte ein Appell gegen Cancel Culture die Runde. Gab es das auch bei uns? Ich rief Gunnar Kaiser an, damals noch ein Youtuber mit ca. 80 000 Followern, der mit philosophischen Lehrvideos eine eher pädagogische als politische Lücke auf YouTube bediente. Ob er Lust hätte, bei einem Appell mitzumachen? Er hatte.

Ich schrieb eine erste Version, Gunnar ergänzte. Dann ging der Text durch viele Hände, die alle einen zusätzlichen Schliff hinterließen: Alexander Grau vom Cicero, die Schriftstellerin Cora Stephan, der Statistik-Professor Walter Krämer, vermutlich noch einige mehr. Das Thema lag auf der Straße, wir hoben es auf. Der Appell traf den Nerv der Zeit. Gut 200 prominente Erstunterzeichner konnten wir gewinnen, darunter Dieter Nuhr, Götz Aly, Necla Kelek, Mathias Bröckers, Harald Martenstein, Peter Singer, John Cleese, Günter Wallraff und Rüdiger Safranski. Noam Chomsky sagte uns ab, er hatte seit dem letzten Appell schon zu viel Stress an der Backe. Doch was noch wichtiger ist: 20 000 Unterschriften aufmerksamer Bürger. Wir bekamen ein Rauschen und Abwatschen im Blätterwald, in Feuilletons und Radios.

Das Meiste war negativ: Zu alarmistisch sei das Ganze, wir seien Rechtsradikale und Cancel Culture sei ein Hirngespinst. Was man halt so hört. Gunnar durchbrach die Grenze von 100 000 Followern. Während der Appell viral ging, flog ich bei der NZZ raus und ich hatte einige Mühe, das objektive Anliegen des Appells nicht mit meiner persönlichen Cancel-Geschichte zu mischen. Rückblickend war die Cancel-Culture-Debatte nur die Ouvertüre für eine Corona-Säuberungswelle, die letztlich alle betreffen konnte, die sich auch nur ansatzweise kritisch äußerten.

Dies ist die Langversion des Appells, der bis heute online steht.

01.09.2020

Appell: Befreien wir das freie Denken aus dem Würgegriff1

Von Veranstaltern ausgeladene Kabarettisten; zensierte Karikaturisten; pauschal verbotene Demonstrationen; Schriftsteller, deren Bücher aus dem Sortiment genommen werden oder von Bestsellerlisten getilgt werden; verfolgte und eingesperrte Whistleblower und Enthüller; Opernaufführungen, die abgesagt werden. Seminare oder Vorlesungen, die nicht stattfinden können, weil sie gestört werden. Verla­ge, die gedrängt werden, bestimmte Bücher nichtherauszubringen.

Absagen, löschen, zensieren: Seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt. Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert. Es ist keine zulässige gesellschaftliche »Kritik« mehr, wenn zur Durchsetzung der eigenen Weltsicht Mittel angewendet werden, die das Fundament der offenen liberalen Gesellschaft zerstören.

Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral. Stammes- und Herdendenken machen sich breit. Das Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten – und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn. Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist inzwischen in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.

Die Grenze des Erträglichen ist längst überschritten. Inzwischen sind die demokratischen Prozesse selbst bedroht. Der freie Zugang zum öffentlichen Debattenraum ist die Wesensgrundlage eines jeden künstlerischen, wissenschaftlichen oder journalistischen Schaffens sowie die Basis für die Urteilskraft eines jeden Bürgers. Ohne unverstellten Zugang zu Informationen keine unverzerrte Urteilsfindung, keine wohlbegründete Entscheidung und keine funktionierende Demokratie. Wie wollen wir in Zukunft Sachfragen von öffentlichem Interesse behandeln? Kuratiert und eingehegt – oder frei?

In einer freien Gesellschaft ist das gezielte Ausüben von Druck auf Intellektuelle, Künstler und Autoren und auf jeden, der eine Meinung äußert, die dem aktuell Akzeptierten widerspricht, sowie auf Veranstalter, Verleger oder Arbeitgeber eine inakzeptable Anmaßung. Weder der Staat noch andere, seien es Einzelne oder eine Gruppe »Betroffener«, dürfen den Zugang zum Debattenraum reglementieren. In der Demokratie gehört die Macht entweder dem Einzelnen oder der Einzelne gehört der Macht.

Das Recht auf freie Rede und Informationsgewinnung sowie auf freie wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung ist ein Recht und kein Privileg, das von dominierenden Gesinnungsgemeinschaften an Gesinnungsgleiche verliehen und missliebigen Personen entzogen werden kann. Es ist dabei unerheblich, auf welcher politischen Seite die Gruppierung steht, ob sie religiös, weltanschaulich oder moralisch motiviert ist – ein Angriff auf die Demokratie bleibt ein Angriff auf die Demokratie. Zuerst verarmt die öffentliche Debatte, dann kollabiert die vernunftgeleitete, öffentliche Entscheidungsfindung.

Die erste »Spielregel« für einen offenen Diskurs muss deshalb lauten: Das Spiel findet statt! Doch das Problem ist größer.

Wir brauchen eine generelle Ent-Politisierung und Ent-Ideologisierung der öffentlichen Debatte. Sonst öffnen wir der Willkür des Zeitgeistes Tür und Tor. Politische Sprache ist ein Machtinstrument. Sie ist, wie schon George Orwell wusste, dazu geschaffen, »Lügen wahrhaftig und Mord respektabel klingen zu lassen und dem bloßen Wind einen Anschein von Festigkeit zu verleihen.« Besinnen wir uns stattdessen auf die Standards und die bewährten methodischen Werkzeuge des demokratischen Prozesses. Fördern wir, was der Wahrheitssuche und dem Erkenntnisinteresse dient und das Wissen aller vermehrt.

Gerade in unübersichtlichen Zeiten braucht es nicht weniger, sondern mehr unkonventionelles Denken. Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben Zensur und Zurückhaltung von Informationen den Fortschritt befördert. Meinungsfreiheit gilt im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnungen prinzipiell für alle Meinungen, und besonders für solche, die als anstößig, provokant oder verstörend eingestuft werden. Sonst bräuchte es die Meinungsfreiheit nicht.

Kein Thema von öffentlichem Interesse darf prinzipiell aus dem Debattenraum ausgeschlossen sein. Demokratie wird unter Schmerzen der Beteiligten geboren. Sie stirbt durch Monotonie und Konformismus oder wenn der Mut, eine unkonventionelle Ansicht zu vertreten, eine Art Berufsverbot zur Folge haben kann – und die Öffentlichkeit dazu schweigt. »Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt als seine Abwesenheit Schmerzen.« (Jean Paul)

Seien wir generell skeptisch gegenüber Reinheitsfanatikern, die uns vor gefährlichen Ideen und Meinungen bewahren wollen. Stärken wir das Vertrauen in das intellektuelle Immunsystem unserer Gesellschaft – wir schwächen es, wenn wir es abschotten und quasi vor »Erregern« unkonventioneller Ideen bewahren wollen. Werden wir immun gegenüber Herdenmentalität und Konformismus: Beide führen letztlich in die Unfreiheit, gleich unter welchem Etikett.

Entziehen wir dem öffentlichen Debattenraum die Angst und bringen wir den Mut zurück! Entgiften wir das Meinungsklima und schaffen wir ein Klima der anregenden, redlich geführten Auseinandersetzung sowie von kultureller Vielfalt, intellektueller Neugier, Gedankenfrische und Spaß am geistigen Schaffen.

Wir fordern sämtliche Veranstalter, Multiplikatoren oder Platt­formbetreiber auf, dem Druck auf sie standzuhalten und nicht die Lautstarken darüber entscheiden zu lassen, ob eine Veranstaltung stattfindet oder nicht.

Wir solidarisieren uns mit den Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten oder unsichtbar Gewordenen. Nicht, weil wir ihre Meinung teilen. Vielleicht lehnen wir diese sogar strikt ab. Sondern weil wir sie hören wollen, um uns selbst eine Meinung bilden zu können. Wir senden ein Signal des Mutes an alle Personen des öffentlichen Lebens, sich mit betroffenen Kolleginnen und Kollegen zu solidarisieren. Erhöhen wir gemeinsam den Preis für Feigheit und senken wir den Preis für Mut.

Wir beenden hiermit das unselige Phänomen der Kontaktschuld. Ohne sie wäre die Absageunkultur nicht möglich. Kontakt ist nicht geistige Komplizenschaft. Die Nutzung einer gemeinsamen Plattform oder Bühne ändert nichts daran, dass jeder für sich spricht und auch nur dafür verantwortlich ist, was er oder sie sagt.

Auch die Unterzeichner dieses Appells sprechen jeweils nur für sich selbst. Uns eint vielleicht nichts, außer die Sehnsucht nach einer aufregenden, für beide Seiten erhellenden Konversation und nach einem vielfältigen Kulturangebot, was auch immer jede und jeder darunter verstehen mag.

Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser

Initiatoren und Erstunterzeichner

10.10.2020

Der Fall Assange: Unser Schweigen, unsere Komplizenschaft2

Der Fall Julian Assange ist kein Prozess. Es ist ein Fuck-up. Wenn Assange ausgeliefert wird, ist der investigative Journalismus tot. Ein Unfallbericht.

Dies sollte einmal ein Prozessbericht werden. Es ging nicht. Einmal wegen Corona und auch weil letztlich aus London nie eine Akkreditierung kam. Der Prozess gegen Julian Assange ist ein Unfall mit Ansage. Ein vorsätzlich herbeigeführter Unfall. Und deshalb ist dies ein Unfallbericht.

Gerade läuft in London ein Jahrhundertprozess. Gut, es ist wenigen aufgefallen, denn viel berichtet wird nicht. Es passiert nicht häufig, dass in der westlichen Welt ein Journalist vor Gericht steht, der seit Jahren Informationen über Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Massenüberwachung, Korruption und sonstige Missstände von öffentlichem Interesse veröffentlicht – und dafür angeklagt ist. Das sind Dinge, die eigentlich in Zeitungen enthüllt gehören.

Es sind Dinge, die hin und wieder auch mal in Zeitungen standen oder stehen, so wie die Enthüllungen von Daniel Ellsberg über die Pentagon-Papers, die Missstände des Vietnam-Krieges oder die Snowden-Enthüllungen. Doch das könnte bald Geschichte sein, sollte Assange verurteilt werden. Der Preis für die Veröffentlichung von wahren Informationen – Wikileaks hat nachweislich noch nie eine Falschinformation veröffentlicht – wird zu hoch sein. Momentan beläuft sich der Preis auf 175 Jahre Haft. Assange soll in die USA ausgeliefert werden, wo er wegen Spionage angeklagt ist, gestützt auf ein Gesetz von 1917. Es wäre ein Präzedenzfall, eine Überschreitung sämtlicher Grenzen.

Julian Assange ist eine Person, in der auf besondere Weise die Zeitläufte zusammenlaufen. Er ist Herz und Kopf einer Organisation, die Informationen von öffentlichem Interesse veröffentlicht, er ist Verantwortlicher eines Geheimdiensts der Bürger. Assange ist schon als vieles bezeichnet worden, aber am ehesten ist er ein nomadischer Transparenzphilosoph und Maschinenstürmer, der mit einem selbstgebauten Programm Licht auf unangenehme Wahrheiten wirft und damit auch das Selbstverständnis der westlichen Welt in Frage stellt. Er ist ein anarcho-libertärer Denker, ein Aktivist, der mit technologischen und journalistischen Mitteln Wahrheiten in den öffentlichen Raum befördert.

Herrschaft braucht aus seiner Sicht Verschwörung. Es gibt keine Herrschaft weniger über viele ohne Absprachen. Julian Assange hasst die Verschwörung der Mächtigen gegen die Vielen. Sie ist ein Verrat an der Demokratie. Und er hat sich vorgenommen, die Verschwörung zu zerschlagen. Wenn die Informationen zwischen Verschwörern nicht mehr fließen, weil ihre Kanäle zerstört sind, werden Absprachen zwangsläufig weniger, da sie zu einem Risiko werden, bis sie schließlich (so die Hoffnung) gegen null gehen. Verschwörung lässt sich laut Assange durch Transparenzdrohung eindämmen.3

Assange brauchte für seine Revolution kein lautstarkes Manifest. Wikileaks war sein Manifest. Wikileaks ist ein Asyl für geheime Informationen. Es funktioniert wie eine Babyklappe im Internet. Ein unzensierbares, nicht zurückverfolgbares System zur massenhaften Weitergabe von Geheimdokumenten und zu ihrer Analyse. Eine virtuelle Fabrik der Wahrheit. Jeder Leak zeigte den Mächtigen: Ich sehe das, was ihr nicht wusstet, dass ich es sehe. Sonst hättet ihr es vielleicht nicht gewagt. Und ich zeige es allen. Ihr könnt euch nie mehr sicher sein, wenn ihr etwas Kriminelles tut, egal ob es Kriegsverbrechen von Staaten, Steuerhinterziehung von Banken oder die Methoden von Scientology sind.

Das ist für Mächtige ein Affront. Eine Beleidigung. Die ultimative Kampfansage. »Eine soziale Bewegung zum Aufdecken von Geheimnissen«, so Assange, »könne viele Regierungen stürzen, die sich darauf stützen, dass sie die Realität verschleiern – einschließlich der US-Regierung.«4 Die USA sehen Julian Assange und Wikileaks schon seit 2008 als eine Art Public Enemy No. 1, den Bin Laden des Informationszeitalters.5

Wie verhindert man also den Verrat Mächtiger an der Demokratie? Leaks sind ein brutales, aber letztlich einzig mögliches, und daher notwendiges Mittel. Die Ultima Ratio. Die Snowden-Enthüllungen sind ein gutes Beispiel: Snowden hatte keine andere Möglichkeit, als das Datenmaterial über die Massenüberwachung der National Security Agency (NSA) und Co. zu entwenden. Er musste die Beweisstücke veröffentlichen und Geheimnisverrat begehen, um die illegale Massenüberwachung von Bürgern in aller Welt durch ihre Regierungen offenzulegen. Hätte er darüber nur einem Journalisten berichtet, hätte dieser Bericht von den Geheimdiensten mit Verweis auf Geheimnisverrat unterbunden werden können, und das Ganze wäre erneut mit Verweis auf Geheimhaltung in einem ebenso geheimen Gerichtsverfahren versteckt worden. Geheim, geheim, weg. Niemand hat’s gesehen. Es ist, wie es ist: Je heikler die Information, desto brutaler muss sie ans Tageslicht befördert werden, sonst wird sie nicht lange überleben.

Assange veröffentlichte ab 2006 zuerst Dokumente über Wahlfälschung in Kenia, über die Praktiken von Scientology und die Steuerhinterziehungstaktiken von Banken. Er wurde gefeiert und mit Preisen überhäuft. Wikileaks landete seit seiner Gründung im Jahr 2006 mehr journalistische Coups als die New York Times und Washington Post in 30 Jahren. Das Blatt wendete sich ab dem Jahr 2010, als Assange begann, sich verstärkt durch Veröffentlichungen mit den USA anzulegen. »Collateral Murder«, das bekannte Video von dem Hubschrauberangriff auf Zivilisten im Irakkrieg, bei dem auch zwei Reuters-Journalisten ums Leben kamen, ging um die Welt.

Die US-Militärs legten dem Reuters-Verantwortlichen im Irak, Dean Yates, damals Fotos vor, auf denen Kalaschnikows und Raketenwerfer zu sehen waren, um zu zeigen, dass die Getöteten bewaffnet waren.6 Lügen in Zeiten des Krieges, wie wir heute wissen. Julian Assange war tatsächlich der einzige Mensch der Welt, der die Wahrheit ans Licht brachte. Dann das »Afghan War Diary« und die »Iraq War Logs«, unzensierte Frontberichte, die »Gitmo-Files« über Folter in Guantánamo, schließlich die Veröffentlichung diplomatischer Depeschen der letzten Jahrzehnte (»Cablegate«).

Was seitdem passieren sollte, konnte man grob schon 2012 nachlesen, wieder auf Wikileaks, und zwar in privaten Mails der als Schatten-Central Intelligence Agency (CIA) bekannten Firma Stratfor.7 »Lasst ihn uns die nächsten 25 Jahre von einem Land ins nächste verlegen und ihn mit Klagen überziehen. Zieht alles ein, was er und seine Familie besitzt, um jede Person in Verbindung mit Wikileaks einzubeziehen.« Assange hatte allen Grund, misstrauisch zu sein, auch auf jegliches Vertrauen selbst gegenüber seinen besten Freunden zu verzichten. Er las seine Zukunft schlicht aus den Unmengen von geheimen Daten, die ihm sein System Wikileaks anspülte. Misstrauen war seine Lebensversicherung. Dabei hätte das Verfolgen der Nachrichten auch schon genügt. Journalisten und Politiker fabulierten öffentlich darüber, warum man »den Hurensohn nicht einfach abknalle«.8

Seine Computer wurden konfisziert, Wikileaks mit Leuten des Federal Bureau of Investigation (FBI) infiltriert, Misstrauen gesät. Der seit 2012 in der ecuadorianischen Botschaft in London im politischen Asyl sitzende Assange wurde seit 2015 rund um die Uhr durch die Firma UC Global überwacht, sogar seine Vergiftung wurde erwogen.9 Stoff aus einem Spionagethriller. Sowas kann man sich fast gar nicht ausdenken.

Der zynische Höhepunkt des Spektakels ist nun der juristische und öffentliche Umgang mit Assange. Dass dieser Prozess überhaupt stattfindet, ist eine Farce. Erst das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London und die Höchststrafe von fast 50 Wochen für die Verletzung von Kautionsauflagen. Dazu Einzelhaft, psychologische Folter, wie Experten, Ärzte und der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, letztes Jahr aufdeckten.10 Es gibt keinen Zweifel: Julian Assange ist ein politischer Gefangener. Er wird gedemütigt, muss sich täglich entkleiden, wird geröntgt. Was glaubt man zu finden: einen Mikrofilm mit noch ein paar diplomatischen Depeschen im Enddarm?