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In "Geniale Resilienz" spricht Psychotherapeutin Sonja Katrina Brauner mit über 40 brillanten Persönlichkeiten. Vom preisgekrönten Schüler mit Marsrover-Prototyp über die Boxweltmeisterin bis hin zum international erfolgreichen Schriftsteller gewähren die Interviews Einblicke in die Welt der Hochbegabung, Sensibilität, Willenskraft und Out of the box-Denkweise. Doch was genau zeichnet glückliche Erfolgsmenschen aus? Wie begegnet man Stress entspannt und erreicht durch innere Stärke Spitzenleistungen? Die verschiedenen Stimmen lassen erkennen, dass es einerseits spezielle Förderangebote und Schulmodelle braucht und gibt. Doch klar wird auch: Freundschaften außerhalb des Unterrichts, Freizeit und bewusster Leerlauf als Ausgleich zu geistiger oder körperlicher Höchstleistung spielen eine mindestens ebenso große Rolle, wenn es darum geht, gelassen ganz nach vorne zu kommen - und dort zu bleiben. Ein maßgebliches Buch zur Diskussion über Bildung, Förderungsmaßnahmen und Wettbewerbsfähigkeit mit resilienzstärkenden Übungen. Verlag edition riedenburg Salzburg * editionriedenburg.at *
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Seitenzahl: 310
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„Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“
Albert Einstein*
* Aus einem Brief an Carl Seelig vom 11. März 1952 (ethz.ch)
Vgl. Ulrich Weinzierl: „Carl Seelig, Schriftsteller“, Wien, 1982, S. 135
Für meine beiden Söhne
Leo Valentin und Luis Laszlo
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Vorwort
Dank
Geniale Resilienz und Begabung – erkennen und fördern
Wie viel Begabung braucht Resilienz und umgekehrt?
Was ist Begabung oder Talent?
Interview mit dem Begabungsforscher Roland H. Grabner
Interview mit dem Bildungsdirektor der OECD Andreas Schleicher
Ist mein Kind hochbegabt?
Welche Fragen sollte sich eine Familie stellen?
Wie sinnvoll ist ein IQ-Test?
Der 10-Punkte-Plan für begabte Kinder
GENIALE FREIZEIT – Lebensmodelle hochbegabter SchülerInnen
Was die brillante Jugend heute braucht
Eine Schule für Hochbegabte: Die Sir Karl Popper Schule
Eine Chance für sehr Begabte: Das START-Stipendium
Ada: „Normalität hängt davon ab, wie der Durchschnitt definiert ist.“
Amy: „Für meine kreativen Sachen muss ich mir aktiv Zeit nehmen.“
Bushra: „Ich entwickle begeistert neue innovative Technologien.“
Clemens: „Es motiviert mich, wenn ich meine Linie verfolgen kann.“
Constantin: „Reich ist, das tun zu können, was man will.“
David: „Ich erfinde gerne Melodien.“
David: „Ich bin besser mit Mädchen befreundet.“
Florian: „Struktur, Abwechslung und Freiheit sind das Fundament.“
Johanna: „Jeder ist begabt, aber auf sehr andere Art.“
Jonas: „Manchmal hält mich mein Perfektionismus von etwas ab.“
Julian: „Ich bewege mich gerne in logischen Lösungen.“
Konstantin: „Freiheit ist wichtig für die Entwicklung eigener Begabung.“
Luna: „Meine Geschichten kommen aus meinen Träumen.“
Marian: „Ich bewege mich gerne durch unterschiedliche Sichtweisen.“
Marlies: „Ich erlebe mich im kreativen Ausdruck.“
Moritz: „Man kann durch den Weltraum hier mehr erreichen.“
Nara: „Ich mag Menschen, die offen sind.“
Paul: „Glück ist, mit dem zufrieden zu sein, was man hat.“
Sara: „Ich möchte am großen Ganzen etwas beitragen.“
Valerie: „Glücklich zu sein muss man sich selbst erlauben.“
Vici: „Ich schenke der Welt gerne meine Ideen.“
Geniale Begleiter – Die Begabung im Interview
Ich: Die Begabung. Teil 1
Meine Begleiterin: Die Armut
Meine Begleiterin: Die Angst
Meine Begleiterin: Die Überforderung
Mein Begleiter: Das Über-sehen-werden
Meine Begleiterin: Die Demütigung
Meine Begleiterin: Die Lernfreude
Meine Begleiterin: Die Offenheit
Meine Begleiterin: Die Begeisterung
Meine Begleiterin: Die Willenskraft
Meine Begleiterin: Die soziale Kompetenz
Mein Begleiter: Der Neid
Meine Begleiterin: Die Innovation
Meine Begleiterin: Die Bewegung
Mein Begleiter: Das Trauma
Ich: Die Begabung. Teil 2
Geniale Resilienz Fördern – Pädagogische Praxis mit Hochbegabten
Psychologische Diagnostik und Hochbegabung (Interview mit Veronika Handschuh)
Volksschule und Begabtenförderung (Interview mit Elisabeth Mangst)
Erfahrungen im Gymnasium mit begabten SchülerInnen (Interview mit Edith Stepanow)
Hochschule und Hochbegabung (Interview mit Karen Diehl)
Mehrsprachigkeit und Begabungsförderung (Interview mit Zwetelina Ortega)
Erfolgreiche Resilienz - 13 brillante Persönlichkeiten berichten
Geniale (Lebens-)Geschichten
Faire Schokolade für die Welt: Interview mit Chocolatier Josef Zotter
Filigraner Filmstoff: Interview mit Filmemacherin Sabine Derflinger
Reich mit Boliden: Interview mit Investmentpunk Gerald Hörhan
Schlagfertig: Interview mit Boxweltmeisterin Nicole Wesner
Künstliche Intelligenz: Interview mit IT-Pionier Sepp Hochreiter
Dame schlägt König: Interview mit Schachweltmeisterin Elisabeth Pähtz
Bewegte Bilder: Interview mit Theater-Schauspielerin Salka Weber
Kräuterliebe: Interview mit Sonnentor-Gründer Johannes Gutmann
Fantastische Vielfalt: Interview mit Künstlerin Natalie Ananda Assmann
Millionen Geschichten: Interview mit whatchado-Gründer Ali Mahlodji
Bühne Musik: Interview mit Musikerschafferin Jelena Popržan
Brücken bauen: Interview mit Autorin Luna Al-Mousli
Wortwelten: Interview mit Schriftsteller Robert Menasse
Verletzte Resilienz – Wenn Begabung keinen Platz findet
Verhinderte Begabung
Fallbeispiel Maria: Begabung und geniale Resilienz als Rettung
Fallbeispiel Andreas: Begabung im neuen Rhythmus
Fallbeispiel Leila: Geniale Resilienz als Brücke zum Leben und Überleben
Fallbeispiel Mahmoud: Begabung als Anker zwischen den Welten
Fallbeispiel Amir: Begabung zwischen Fehldiagnose und Schach
Fallbeispiel Lisa: Begabung und Resilienz als kreativer Ausdruck
Fallbeispiel Benny: Begabung durch Zeit und Resilienzförderung statt Pathologisierung
Fallbeispiel Linda: Begabung und Resilienzförderung in geschützten Räumen
Fallbeispiel Marc: Begabung und Resilienzförderung durch stabile Vertrauenspersonen
Fallbeispiel Milan: Genial resiliente Begabung auf der schiefen Bahn
Vererbte und Erworbene Resilienz - Psychotherapeutische Übungen
Was ist vererbt, was ist erworben?
Übung: Mein Stammbaum
Übung: Mein Stammbaum im Wald
Übung: Teil des Ganzen
Übung: Szenenwechsel
Übung: Blick auf die Gegenwart (Einzelarbeit)
Übung: Blick auf die Gegenwart (Kleingruppenarbeit)
Übung: Die Sonne
Übung: Zugewiesene Identität – Gestaltete Identität
Übung: Meine Ressourcen
Übungen zur Resilienz
Übung 1: Mein Ahne in seiner Welt
Übung 2: Briefe an die Ahnen
Übung 3: Meine (Ahnen)-Zeitkapsel
Übung 4: Durch Länder und Kulturen – Heimweh oder Fernweh?Die Arbeit mit der Landkarte
Anhang
Bibliographie
Weiterführende Links
Ich erinnere mich noch genau: Strahlend kam mein dreijähriger Sohn aus dem Bad und verkündete, wenn auch mit fragendem Gesicht: „Mama, drei mal drei ist neun, oder?“ Überrascht fragte ich ihn, woher er das wisse. Er schaute mich mit großen Augen an und antwortete: „Ich habe die Fliesen im Bad abgezählt.“ Danach holte er sich immer wieder einmal heimlich den Taschenrechner, den ich ihm abnahm, weil ich der Ansicht war, er beschäftige sich zu früh mit Zahlen. Er weinte bitterlich – mit dem Ergebnis, dass ich ihm den Rechner mit einem etwas mulmigen Gefühl zurückgab. Mittlerweile sind bald zwei Jahrzehnte vergangen. In dieser Zeit haben wir beide viele überraschende, aufregende und erstaunliche Erfahrungen gemacht. Mein Sohn studiert und unterrichtet begeistert technische Mathematik. Doch bis es dazu kam, mussten er und ich mit und in seinem Umfeld viel lernen.
Denn: Kinder, die nicht der Norm entsprechen, werden schnell Opfer von Zuweisungen, Diagnosen und Sonderbehandlungen. Sie werden pathologisiert. Eltern sind diesen Zuschreibungen und ihren Folgen oftmals hilflos ausgeliefert. Sie möchten das Richtige tun und wissen nicht, wie. Dieses Buch soll jungen Menschen helfen, ihre individuellen Bedürfnisse zu erkennen. Erwachsenen soll es Mut machen, Kindern Zeit und Raum für ihre Entwicklung zu geben. Deshalb beginnt es mit der Frage, was Begabung und Talent, aber auch Resilienz eigentlich sind. Es zeigt auf, wie man dem Phänomen brillanter Begabung diagnostisch näherkommen kann. Es erkennt aber auch an, dass das Bedürfnis, Außerordentliches zu definieren, manchmal unzureichend bleibt. Hier hilft die konkrete Praxis: Zahlreiche Erfahrungsberichte junger Menschen zeigen, wie der gute Umgang mit Begabung und Talent im Konkreten funktionieren kann und was Resilienz in vielfältigen Ausprägungen bedeutet. Anschließend stellen namhafte ExpertInnen ihre Unterstützungsangebote vor. Nicht zuletzt geben auch die zahlreichen Interviews mit den teils prominent in der Öffentlichkeit stehenden Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst, Sport, Wirtschaft und anderen Bereichen vielfache Antworten auf die Frage, wie geniale Förderung im bestehenden Bildungssystem gelingen kann und was es braucht, um das Schulsystem und die Universitäten noch brillanter zu machen.
Mein persönliches Anliegen in diesem Buch ist, begabte Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Nur so erschließt sich die Vielfalt von Begabung und nur so können Ideen für Sie als LeserInnen entstehen. Dieses Buch soll begabte Vielfalt in all ihren Facetten zeigen. In meiner über 30-jährigen Berufspraxis als Psychotherapeutin und Pädagogin – und auch als Mutter – habe ich häufig erlebt, wie das Potenzial von Kindern nicht erkannt, unzureichend oder falsch gefördert wurde. Begabung zieht sich dann bisweilen zurück, sie kann sogar zum Problem werden. In beispielhaften Therapieabläufen zeige ich deshalb gute Veränderungen auf, damit sich Begabung in ihrer Vielfalt positiv entwickeln und Resilienz befördert werden kann.
Ich wünsche Ihnen viele interessante neue Blickwinkel.
Sonja Katrina Brauner
Herzlichen Dank an meine wunderbaren jungen InterviewpartnerInnen von der Sir Karl Popper Schule in Wien und über das Netzwerk des START-Stipendiums. Von jedem von euch habe ich im Interview Neues und Bereicherndes gelernt.
Ebenso ein großes Dankeschön an den Leiter der Sir Karl Popper Schule, Herrn Direktor Dr. Edwin Scheiber, und an die Leiterin des START-Stipendiums Wien, Frau Diplom-Soziologin Katrin Triebswetter. Sie haben mich beide beim Vernetzen mit den interviewten Begabten sehr unterstützt.
Für die ExpertInnenbeiträge danke ich ganz herzlich den im ersten und im achten Kapitel auftretenden WissenschaftlerInnen für ihre Expertise und den Willen, das Buchprojekt um ihre Perspektive zu erweitern. Frau Dr. Andrea Frauendorfer und Frau Dr. Claudia Resch danke ich für die hilfreichen Vorgespräche zum Thema (Hoch-)Begabung.
Den erfolgreichen Begabten, die anderen Begabten mit ihren Lebens- und Wirkensgeschichten Mut machen, danke ich sehr für Ihre persönlichen und wertvollen Erfahrungen und Empfehlungen.
Als Autorin gilt mein großer Dank allen wunderbaren und einzigartigen Begabungen, denen ich im Laufe dieses Buchprojekts begegnet bin, allen Gesprächen mit neuen Impulsen, die ich führen durfte, und dem persönlichen Wissen, dass ich seit über fünf Jahrzehnten folgendes Zitat leben kann: „Ich mache nur, was mir persönlich wichtig ist und sich in Beziehung zu meinem Gegenüber positiv entwickeln lässt“
Für das medizinische Lektorat mit wertvollen Tipps gebührt mein Dank Herrn Dr. Siroos Mirzaei.
Das Verlagslektorat übernahm umsichtig Frau Dr. Heike Wolter. Dankbar bin ich meiner Verlegerin Frau Dr. Caroline Oblasser, die mit mir gemeinsam diese Buchidee entwickelte.
Ein ganz besonderer Dank gilt meinen beiden Söhnen, die mich in jedem Augenblick Neues lernen lassen.
Nicht zuletzt geht ein herzliches Dankeschön an meinen Mann Bernhard, der meine Texte stets als Erster liest, sie kritisch kommentiert und mich bei allen meinen Vorhaben unterstützt.
In den letzten Jahren wandelte sich die ursprüngliche Bedeutung von Resilienz. Der Ursprung des Wortes geht auf das lateinische resilire, das bedeutet „zurückspringen“ oder „abprallen“, zurück.
Bezog es sich bei den ersten Studien vor allem auf arme, kranke und bedürftige Menschen und deren Fähigkeit, sich gegen krisenhafte Bedingungen abzugrenzen – also Überlebensstrategien zu entwickeln –, so ist es heute in seiner vielschichtigen Bedeutsamkeit in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Genauso wie bei Begabung gibt es auch hier keine einheitliche Definition. Resilienz wird in der Regel mit den Begriffen der Widerstandskraft und Stärke, des Optimismus, der Lösungsorientierung und Fähigkeit zur Umsetzung von diversen Lösungsstrategien verstanden, die wirksam und bisweilen lebensnotwendig für das Überstehen großer und kleiner Krisen war und ist.
In der modernen Psychologie wird Bezug darauf genommen, ressourcenstärkende Modelle zur Erhaltung und Förderung von Resilienz zu entwickeln. Die Interviews im Buch zeigen sowohl die Vielfalt diverser Begabungen als auch die Möglichkeiten in ihrer lösungsorientierten Umsetzung.
Hierbei wird deutlich, dass Resilienz eine biographische Grundlage sein kann, die zudem immer wieder neu erlernt werden kann. Unser Gehirn ist plastisch, das heißt, wir lernen nie aus. Insofern ist Resilienzförderung die Quelle für innovatives und schöpferisches Entwicklungspotenzial.
Begabung und Resilienz befinden sich in einer Wechselwirkung. Beide lassen sich entwickeln, fördern und unterstützen – bei jedem Menschen.
„Unabhängig von den unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten der Schüler muss alles gelernt werden, was später gewusst und gekonnt wird. Lernen ist der mächtigste Mechanismus der kognitiven Entwicklung. Das gilt uneingeschränkt sowohl für hochbegabte Kinder als auch für schwächer begabte Schüler.“
(Franz E. Weinert, 2001, S. 85)
Es gibt keine einheitliche Definition von Begabung oder Talent. Das Wort Talent (griech. Talanton für Waage, Gewicht) war eine ursprünglich altbabylonische Maßeinheit der Masse. Sie orientierte sich an der möglichen Traglast eines Mannes.
Dieses Talent sowie davon abgeleitete kleinere Talente waren in der Antike gebräuchliche Gewichtseinheiten. Wie andere antike Masseeinheiten wurde das Talent durch Aufwiegen von Silber (seltener Gold oder Kupfer) als Währung benutzt.
Die heutige Bedeutung beruht auf dem Matthäus-Evangelium, in dessen 25. Kapitel von den einem Menschen anvertrauten Talenten die Rede ist, die von Gott übertragene Fähigkeiten symbolisieren. Diese ursprüngliche Bedeutung klingt in einer gebräuchlichen Redensart an: Man solle doch „sein Talent in die Waagschale werfen“. Das bedeutet nichts anderes, als das einzusetzen, was man kann. Und das zeigt dann auch, dass die „Traglast“ keine absolute Masse ist, sondern von der jeweiligen Person abhängt.
Univ.-Prof. Dr. Roland H. Grabner ist Professor für Begabungsforschung und Leiter des Arbeitsbereichs Educational Neuroscience am Institut für Psychologie der Universität Graz. Nach seiner Promotion in Psychologie (2005) an der Universität Graz war er in Forschungsprojekten an der Technischen und Medizinischen Universität Graz beschäftigt und wechselte 2007 an die ETH Zürich, an der er sich 2012 habilitierte. Vor seinem Wechsel zurück nach Graz hatte er von 2012 bis 2014 den Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie an der Universität Göttingen inne.
Roland H. Grabner ist ehemaliger Koordinator der Special Interest Group Neuroscience and Education der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI) und Mitglied des International Panel of Experts for Gifted Education (IPEGE) sowie mehrerer wissenschaftlicher Beiräte von Institutionen der Begabungs- und Begabtenförderung. Neben seiner Forschung zu den neurokognitiven Grundlagen von Begabungsunterschieden und Lernprozessen mit dem Schwerpunkt Mathematik ist er in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrpersonen im deutschsprachigen Raum engagiert.
Wie definieren Sie Begabung?
Die Definition von Begabung ist eine herausfordernde Angelegenheit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber herrschen. Insbesondere teilen sich die Meinungen dahingehend, ob Begabung ein Potenzial für etwas darstellt oder bereits mit außergewöhnlichen Leistungen gleichzusetzen ist.
Darüber hinaus wird manchmal Begabung synonym mit Hochbegabung und Talent verwendet. Für mich ist eine potenzialorientierte Perspektive am überzeugendsten: Begabung als das individuelle Potenzial für Leistungen in einem bestimmten Bereich. Jeder Mensch verfügt über ein solches Potenzial für jeden Leistungsbereich. Bei manchen Personen ist es geringer ausgeprägt, das heißt das maximal erreichbare Leistungsniveau ist niedriger, bei anderen ist es stärker ausgeprägt. Wenn es besonders stark ausgeprägt ist, würde ich von Hochbegabung sprechen.
Ein Problem oder eine Einschränkung bei dieser Definition ist allerdings, dass das individuelle Leistungspotenzial und damit die Begabung nicht messbar sind. Das Potenzial hängt stark von genetischen Faktoren ab, über die wir derzeit noch zu wenig wissen. Wir können lediglich die entwickelten Leistungen messen und daraus Rückschlüsse auf die Begabung ziehen. Mit anderen Worten: Wenn jemand in einem bestimmten Bereich außergewöhnliche Leistungen erbringt, attestieren wir ihm oder ihr eine Hochbegabung.
Trotz dieser Einschränkung bevorzuge ich die Sichtweise von Begabung als Potenzial, weil damit das Augenmerk auf den individuellen Entwicklungsprozess gerichtet wird. Die Umsetzung von Potenzial in Leistung benötigt gewisse Rahmenbedingungen. Jemand kann ein hohes Potenzial in einem Bereich aufweisen – sei es intellektuell, kreativ, motorisch, sozial und so weiter –, aber es gelingt aus verschiedenen Gründen nicht, dieses Potenzial vollständig zu entwickeln.
Dieses Phänomen wird auch als Underachievement bezeichnet. Würde man Begabung mit (bereits entwickelter) Leistung gleichsetzen, gäbe es das Phänomen des Underachievements nicht, und die Rahmenbedingungen würden vermutlich nur retrospektiv untersucht werden. Eine Stärke der potenzialorientierten Perspektive ist aus meiner Sicht, dass der Entwicklungsprozess sowohl prospektiv als auch retrospektiv betrachtet werden kann.
Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit sich Begabung gut entwickeln kann?
Dies hängt vom Begabungsbereich ab. Die erfolgreiche Entwicklung einer intellektuellen Begabung, zum Beispiel in Mathematik, braucht natürlich etwas andere Rahmenbedingungen als die Entwicklung einer kreativen oder motorischen Begabung.
Allerdings gibt es ein paar Kernelemente in diesem Entwicklungsprozess, die über verschiedene Bereiche hinweg relevant sind. Jede Entwicklung von Begabung in Leistung erfolgt grundsätzlich über Lernen. Kein/e Meister/in fällt vom Himmel, und Übung macht nach wie vor den/die Meister/in. Dies gilt für alle Begabungs- und Leistungsbereiche. Inwieweit dieser Lernprozess stattfindet, hängt nun von mehreren Einflussfaktoren ab, die beispielsweise im Integrativen Modell der Talentwicklung von Gagné sehr gut nachvollziehbar klassifiziert sind.
Zum einen handelt es sich um sogenannte intrapersonale Faktoren. Dazu gehören einerseits stabile körperliche und mentale Merkmale, zum Beispiel die Körpergröße, die für bestimmte Sportarten relevant ist, oder Persönlichkeitsmerkmale wie emotionale Stabilität oder Gewissenhaftigkeit.
Oftmals noch entscheidender sind hier jedoch motivationale Faktoren, die im Modell als Faktoren des „Zielmanagements“ gelistet sind. Insbesondere aus der Expertiseforschung wissen wir, dass die Entwicklung herausragender Leistungen mehrere Jahre intensiven Lernens (beziehungsweise Übens oder Trainierens) benötigt. Ein solches Engagement kann nicht ohne eine entsprechend hohe Motivation und Ausdauer erbracht werden.
Neben diesen intrapersonalen Faktoren braucht es entsprechende Rahmenbedingungen in der Umwelt. Es müssen zunächst einmal adäquate Lernangebote vorhanden sein, damit überhaupt gelernt und/oder geübt werden kann. Ein musikalisch hochbegabtes Kind benötigt beispielsweise Zugang zu Musikinstrumenten und entsprechenden Lehrpersonen. Die Verfügbarkeit dieser Zugänge hängt wiederum vom sozialen Umfeld ab. Dazu gehören in erster Linie Familie, Freunde und Schule, aber auch politische und kulturelle Einflüsse können die Begabungsentwicklung beeinflussen.
Schließlich weist Gagné auf eine weitere wichtige Komponente hin, die in anderen Begabungsmodellen häufig außer Acht gelassen wird: den Zufall. Der Zufall spielt sowohl beim genetischen Potenzial (der Anlage) als auch bei den Rahmenbedingungen für die Entwicklung (der Umwelt) eine wichtige Rolle. Die individuelle genetische Ausstattung ist eine zufällige Kombination des Erbmaterials von Vater und Mutter, und hier gibt es Billionen von Möglichkeiten, wie die elterliche Erbinformation an die Nachkommen weitergegeben wird.
Darüber hinaus prägt der Zufall die Umweltbedingungen. Dies reicht vom Hineingeborenwerden in bestimmte Familien und sozioökonomische Schichten bis hin zu zufälligen Ereignissen und Begegnungen, die entscheidend für die individuelle Karriereentwicklung sein können.
Welche hilfreichen Modelle zur Begabungsförderung gibt es?
In diesem Zusammenhang wird häufig zwischen Begabungsförderung und Begabtenförderung differenziert. Begabungsförderung zielt darauf ab, alle Kinder und Jugendliche bei der Entwicklung ihrer Potenziale bestmöglich zu fördern, während Begabtenförderung darüber hinausgehende Angebote für hochbegabte Personen beinhaltet. Begabtenförderung kann somit als Spezialfall der Begabungsförderung betrachtet werden.
Diese Differenzierung erscheint mir manchmal etwas „künstlich“, weil damit impliziert wird, dass Hochbegabte qualitativ anders lernten als durchschnittlich Begabte und daher andere Unterstützungsangebote benötigten. Zumindest für die intellektuelle (Hoch-)Begabung weiß man heute, dass dies nicht der Fall ist. Von einer begabungsfördernden Umwelt (zum Beispiel einem entsprechend gestalteten Schulunterricht) profitieren alle. Die intellektuell Hochbegabten lernen allerdings schneller, sodass Akzelerations- oder Enrichmentangebote – also Möglichkeiten beschleunigten und zusätzlichen Lernens – erforderlich sind. Diese Angebote sollten sich aus meiner Sicht allerdings eher am Lernfortschritt orientieren als an einer Intelligenzdiagnostik, die oftmals zwischen durchschnittlich Begabten und Hochbegabten eine willkürliche Grenze bei einem IQ von 130 zieht. Sollte ein Kind, das in einem bestimmten Bereich hochbegabt ist, aber keinen Gesamt-IQ von über 130 hat, nicht ebenso durch Akzelerations- und Enrichmentmaßnahmen gefördert werden?
Insgesamt halte ich es für entscheidend, dass für jedes Kind, jeden Jugendlichen, jeden Erwachsenen individuell geprüft wird, welche Maßnahmen der Begabungsförderung zielführend eingesetzt werden können. Die aktuellen Modelle der Begabungsentwicklung, wie zum Beispiel das erwähnte Modell von Gagné, legen eine wichtige theoretische Grundlage hierfür, indem sie die verschiedenen potenziellen Einflussfaktoren aufzeigen, deren Bedeutung in der Praxis individuell reflektiert werden sollte.
Aktuell arbeite ich als Teil eines internationalen Teams an der Entwicklung eines neuen Rahmenmodells der Talententwicklung, das sowohl in der Forschung als auch in der Praxis einsetzbar sein soll. Die Stärke dieses Modells liegt darin, dass es für verschiedene Begabungsbereiche spezifiziert werden kann. Wie bereits erwähnt, erfordert die Entwicklung einer mathematischen Begabung andere Rahmenbedingungen als die Entwicklung einer musikalischen Begabung. Diese Unterschiede werden darin berücksichtigt.
Welche Empfehlungen geben Sie diesbezüglich dem Bildungssystem?
Im Prinzip nur eine: Bildungspolitische Entscheidungen sollen auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Befundlage getroffen werden.
Was war Ihre persönliche Motivation, sich auf Begabungsforschung zu spezialisieren?
Tatsächlich hat dies mit meiner wissenschaftlichen Biographie zu tun, die als studentischer Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zum Thema Intelligenz begann. In diesem Projekt untersuchten wir die Hypothese der neuralen Effizienz, wonach sich intelligentere Personen durch eine effizientere Gehirnaktivierung beim Lösen von kognitiven Aufgaben auszeichnen.
Diese Hypothese sowie die damit verbundene neurowissenschaftliche Arbeit interessierten mich von Beginn an und lenkten mein Interesse auf individuelle Begabungsunterschiede. In meinen weiteren Forschungsarbeiten ging ich der Frage nach, inwieweit die Effizienz der Gehirnaktivierung auch eine gewisse Plastizität für Lernprozesse aufweist. Kann die neurale Effizienz durch Lernen erhöht werden? Mit dieser Fragestellung beschäftigte ich mich vor dem Hintergrund der Expertiseforschung, in der die Entwicklung von außergewöhnlichen Leistungen retrospektiv beleuchtet wird. Insbesondere untersuchte ich die Bedeutung verschiedener Begabungsfacetten, Persönlichkeitseigenschaften und Trainingstätigkeiten für den Expertiseerwerb im Turnierschach.
Mein Ziel war es, eine Brücke zwischen der Intelligenz- und Expertiseforschung zu bauen – zwei Forschungsrichtungen, die nur wenig Überschneidungspunkte aufwiesen und größtenteils sehr konträre Ansichten beinhalteten. Mitbedingt durch meine Tätigkeit in der Ausbildung von Lehrpersonen kam später noch die Lehr-Lern-Forschung dazu. In dieser wird unter anderem den Fragen nachgegangen, wie Lernprozesse ablaufen und bestmöglich unterstützt werden können.
Die Begabungsforschung erlaubt es mir, alle drei Forschungsrichtungen miteinander zu verknüpfen und mit unterschiedlichen Methoden (Verhaltensmessungen und neurowissenschaftlichen Verfahren) den Entwicklungsprozess von Potenzialen zu Leistungen aus einer integrativen Perspektive zu untersuchen. Diese Kombination entspricht auch dem Kern des noch relativ jungen Forschungsfelds Educational Neuroscience, das sich durch eine interdisziplinäre und multi-methodale Herangehensweise auszeichnet.
Andreas Schleicher ist Direktor für Bildung und Kompetenzen und Sonderberater des Generalsekretärs bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Dort initiierte er und koordiniert internationale Vergleichsstudien wie PISA (Schülerleistungsvergleich), PIAAC (Erwachsenenbildung) und TALIS (Lernen und Lehren) sowie darauf aufbauend Länderanalysen und Begleitstudien, die eine globale Plattform für Bildungspolitik und Bildungspraxis schaffen, um Reformen anzuregen und zu begleiten. Als wichtiges Mitglied des leitenden Managementteams der OECD unterstützt er den Generalsekretär bei der Umsetzung der OECD-Agenda zur Förderung von sozialem Fortschritt.
Andreas Schleicher studierte Physik in Deutschland sowie Mathematik und Statistik in Australien. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Theodor-Heuss-Preis für „beispielhaftes demokratisches Engagement“ sowie eine Berufung zum Honorarprofessor an der Universität Heidelberg.
Wie definieren Sie Begabung?
Begabung ist für mich, wenn gewöhnliche Menschen außergewöhnliche Seiten zeigen, die es zu entdecken und zu entwickeln gilt.
Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit sich Begabung gut entwickeln kann?
Verschiedene Menschen leben und lernen verschieden. Es braucht einen individualisierten Zugang auf SchülerInnen. PädagogInnen sollten ihre Lernformen und Strategien den Menschen anpassen. Es geht vielmehr um ein Entwickelnlassen als um ein Vermitteln der Inhalte. Meist stören besonders Begabte das Regelsystem. Hier ist es sehr wichtig, deren Besonderheiten Raum zu geben, so dass diese sich frei entfalten können.
Welche hilfreichen Modelle zur Begabungsförderung gibt es?
Das Schulsystem in Deutschland hat – wie in vielen europäischen Ländern – eine industrialisierte Struktur. Das „Kästchendenken” – 4 Jahre Grundschule und danach unterschiedliche Schulmodelle – richtet häufig Schäden an. Defizite sollten ernst genommen und gefördert werden, ebenso verstärkt die Talente der Kinder. Das System schiebt seine Probleme auf die Kinder ab, mit dem Modell des Sitzenbleibens. Wichtig wäre, dass es sich auf die SchülerInnen zubewegt. In Finnland, dem besten Schulsystem Europas, wird mit den Kindern zu 30 Prozent außerhalb des Klassenverbands gearbeitet.
Das Kind sagt dann nicht „Ich kann das nicht”, sondern „Kannst du mir helfen, das zu verstehen? Bitte erkläre mir das.”
Welche Empfehlungen geben Sie diesbezüglich dem Bildungssystem?
LehrerInnen müssen lernen, gut auf die Kinder zu schauen. Diagnostik sollte ausgeweitet werden, ebenso wie Fördermöglichkeiten. Es braucht viel mehr Zeit für jedes Kind, ohne Zeitdruck zu arbeiten wäre wichtig. Raum für persönliche Begegnungen ist nötig. Das Kind sollte als Person wahrgenommen werden, um sich gut entwickeln zu können.
Was war Ihre persönliche Motivation, sich auf Bildungsforschung zu spezialisieren?
Ich wollte Bildung objektivierbar machen und durch die Vergleiche eine gemeinsame Sprache finden, mit dem Ziel daraus zu lernen. Ich habe mich selbst als Schüler in der Waldorfschule sehr wohl gefühlt. Obwohl manche Gegenstände nicht ganz meinem Naturell entsprachen, habe ich durch diese Vielfalt sehr profitiert.
Wenn Kinder deutlich von Erwartungshaltungen abweichen, gibt es im Umfeld vieler Familien schnell Zuweisungen, (küchenpsychologische) Diagnosen oder Empfehlungen. Die Unsicherheit, das eigene Kind eventuell nicht gut genug zu fördern, macht Eltern offen für Ratschläge aller Art – manche vielleicht gut, andere nur gutgemeint.
Wie erkennt man also eine hohe oder besondere Begabung?
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Kleinere Kinder zeigen bisweilen Verhaltensmerkmale, die auf Besonderheiten hinweisen können, sich im Laufe ihrer Entwicklung aber wieder verlieren. Aufgrund dessen halte ich es für sehr wichtig, dem Kind Zeit zu lassen und seine Besonderheit wahrzunehmen, ohne es einzuschränken.
Hier ist eine Auflistung von Anzeichen mit kurzen Beispielen aus meiner Praxis, die bei Ihrem (Klein-)Kind auf außergewöhnliche Begabungen schließen lassen könnten:
1. Ihr Kind hat eine schnelle Auffassungsgabe und vernetzt sehr schnell Zusammenhänge.
Beispiel: Marc (4) betrachtet begeistert Bauanleitungen für Möbel. Er bringt beim Schrankaufbau immer die richtigen Teile und beginnt selbst Pläne auf kleine Zettel zu zeichnen. Obwohl er noch nie Gebrauchsanleitungen gesehen hat, kann er mit wenigen Strichen das Wesentliche darstellen.
2. Ihr Kind erreicht früher oder überspringt Entwicklungsstadien.
Beispiel: Lisa (5) hat sich Lesen selbst beigebracht. Neben den Kinderbüchern liest sie begeistert Kochbücher und Zeitungen. Sie beginnt schon, selbst kleine Bücher zu schreiben und zu zeichnen.
3. Ihr Kind ist sehr wissensdurstig und fragt viel nach.
Beispiel: Lukas (7) möchte wissen, wie Triebwerke von Flugzeugen funktionieren. Seine Eltern besuchen mit ihm technische Museen und Flughäfen. Aber es ist manchmal schwierig, Informationen zu finden, die für sein Alter zugeschnitten sind.
4. Ihr Kind fällt durch divergentes und kritisches Denken mit der Fragestellung auf: „Kann ich das nicht anders machen?“
Beispiel: Leonie (9) möchte im Kunstunterricht dreidimensionale Modelle aus der Physik nachbauen. Sie verweist auf die Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus beiden Fächern.
5. Ihr Kind bevorzugt eigene Lösungswege und geht an Aufgabenstellungen anders heran, als in der Schule gewünscht oder erlernt.
Beispiel: Martin (10) schreibt bei der Matheschularbeit nur das Ergebnis ohne Lösungsweg hin, weil er die Aufgabe im Kopf gelöst hat. Dadurch bekommt er eine schlechte Zensur, versteht aber nicht, warum es nötig sein soll, Selbstverständliches zu notieren.
6. Ihr Kind langweilt sich bei Routineaufgaben.
Beispiel: Bernadette (7) möchte keine Zierzeilen malen, weil sie lieber gerne neuen Stoff lernen will. Sie bekommt von ihrer Lehrerin deshalb kein Sternchen und ist traurig.
7. Ihr Kind hat einen altersunüblichen Wortschatz und drückt sich sprachlich sehr gewandt aus.
Beispiel: Ben (5) spricht für seine Freunde manchmal unverständlich. Im Kindergarten erwähnt dies der Nikolaus negativ und ermahnt ihn, „nicht so komische Worte zu sagen“, aber Ben findet diese Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten spannend.
8. Ihr Kind kann schon vor Schulbeginn lesen und/oder rechnen.
Beispiel: Justus (5) interessiert sich brennend für Autokennzeichen. So hat er sich selbst die Buchstaben beigebracht, indem er seine Eltern immer wieder nach den Kennzeichen gefragt hat. Mittlerweile addiert er auch die Zahlen der Nummernschilder – ein beliebtes Reisespiel für ihn.
9. Ihr Kind wirkt sehr wach und hat ein geringes Schlafbedürfnis.
Beispiel: Samira (2) schläft in der Nacht maximal 7 Stunden und ist am Tag wenig müde. Ihre Eltern sind sehr belastet und kommen kaum zur Ruhe. Samiras Blick war von Geburt an sehr interessiert und offen. Ebenso lacht sie wenig und beobachtet dafür mehr. Sie interessiert sich für geometrische Formen und ist sehr verärgert, wenn sie diese nicht malen oder einordnen kann. Auffällig ist, dass sie immer mehr möchte, als ihr physisch noch möglich ist. Deshalb reagiert sie oftmals zornig.
10. Ihr Kind beobachtet sehr genau. Es erkennt aufgrund seiner hohen sozialen Begabung Gefühlsregungen bei anderen Personen, selbst wenn diese nur angedeutet werden oder subtil aus dem Verhalten der Person erkennbar sind.
Beispiel: Lars (9) erzählt zu Hause, wie die Lehrerin mit den Kindern umgeht. Bis ins Detail kann er Mimik, Gestik und Wortwahl differenziert beschreiben.
11. Ihr Kind umgibt sich gerne mit älteren Kindern.
Beispiel: Luna (5) langweilt sich oft im Kindergarten. Sie mag nicht im Sand spielen, schaukeln oder etwas bauen. Viel lieber trifft sie sich mit ihrer Freundin Bella, die schon in der zweiten Klasse ist und mit der sie Schreiben und Lesen übt.
12. Ihr Kind hat ein starkes Bedürfnis nach Selbstbestimmung.
Beispiel: Linus (8) mag keine kurzärmligen Pullover und Hosen tragen. Er möchte nicht mit den anderen Kindern Fußball spielen, sondern lieber Aufgabenblätter für die Klasse entwerfen. Die Erwartungen seiner Umwelt findet er belastend.
Was also tun, wenn Ihr Kind von den Erwartungen des Kindergartens, der Schule und dem Lebensumfeld abweicht?
Folgende Fragestellungen können für die Entwicklung Ihres Kindes und das Zusammenleben in der Familie sehr hilfreich sein:
Hat mein Kind einen Leidensdruck in seinem Umfeld? Wenn ja, woran leidet es und wie äußert sich das?
Gibt es Veränderungen im Verhalten meines Kindes, die ich nicht einordnen kann?
Kann mein Kind sich dort, wo es ist, gut entwickeln? Gehen die Betreuungspersonen respektvoll mit meinem Kind um?
4. Gibt es große Wahrnehmungsunterschiede bei den Entwicklungsgesprächen zwischen meinen Eindrücken und denen des Betreuungspersonals?
Gibt es genügend allgemeine und/oder spezielle Angebote? Werden die Talente meines Kindes gesehen? Wie groß ist der Anteil dessen, was mein Kind in der Betreuungseinrichtung gerne macht und lernen kann?
Wie ist das soziale Umfeld meines Kindes? Hat es Freunde oder einen Freund/eine Freundin, mit dem/der es gerne Zeit verbringt?
Welchen Gewinn könnte eine besondere Bildungseinrichtung für mein Kind haben? Ist es besser, dass es mit seinen FreundInnen zusammen ist, oder braucht es neue Herausforderungen?
8. Was sollten wir als Familie in sozialer, finanzieller und persönlicher Sicht beachten?
Wenn Sie nach der Beantwortung der Fragen den Eindruck gewinnen, dass sich Ihr Kind in seiner Umgebung wohl fühlt und adäquat gefördert wird, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sollte das Gegenteil der Fall sein, ist es wichtig, sich nach Veränderungsmöglichkeiten umzusehen und ExpertInnen zu konsultieren.
Ein IQ-Test sagte lange Zeit vor allem etwas über die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen aus. Der US-Psychologe Howard Gardner entwickelte in den 1980er Jahren die Theorie der „multiplen Intelligenzen“. Sie berücksichtigt musikalische und ästhetisch-kreative Kompetenzen, tänzerisches oder sportliches Talent sowie Sozialverhalten. Diese Sichtweise ist umfassender und komplexer und versucht viele Lebensbereiche des Menschen einzubeziehen.
Ganz generell ist es vor der Durchführung eines Intelligenztests wichtig, sich vorab zu überlegen, warum man sein Kind testen lassen möchte. Es gibt Eltern, die Gewissheit erlangen möchten, weil sie beispielsweise
von anderen Menschen häufig auf ihr Kind und seine Besonderheiten (oder sogar eine mögliche Hochbegabung) angesprochen werden.
die Verhaltensweisen ihres Kindes besser verstehen möchten.
eine passende Entscheidung über den Bildungsweg treffen möchten.
ausschließen möchten, dass ungünstige Verhaltensweisen durch eine Unterforderung bedingt sind.
auf eine Differentialdiagnose bezüglich bestimmter Erkrankungen (z.B. Autismusspektrumsstörung, AD(H)S) angewiesen sind.
Der statistische Mittelwert der gemessenen IQ-Punkte ist mit 100 festgesetzt. Rund zwei Drittel aller Menschen liegen rund um diese Marke. Nur zwei Prozent – das gilt weltweit gleichermaßen für Kinder wie Erwachsene – erreichen einen Intelligenzquotienten über 130. Ab dieser Marke gilt ein Mensch als hochbegabt. Der IQ basiert also auf einem statistischen Konzept und steht in Relation zu anderen Menschen derselben Altersgruppe. Umgekehrt heißt das, dass bei 98 Prozent aller Menschen der Testwert unter 130 liegt. Dennoch gibt es unzählige Begabungen, die in diesem Testergebnis nicht zu erfassen sind. Die psychosoziale Situation des Kindes und sein Umfeld spielen genauso eine Rolle wie die Förderung, die das Kind bis zu diesem Zeitpunkt erfahren hat.
Was also tun, wenn ein Wert von 128 oder 129 getestet wird? Nach dem aktuellen Messsystem ist das Kind dann nicht hochbegabt. Dennoch ist deutlich wahrnehmbar, dass es eine besondere Förderung braucht. Umgekehrt stellt sich genauso die Frage, was zu tun ist, wenn der Wert über 130 liegt. Unter Umständen steigt die Erwartungshaltung an das Kind so, dass es sich überfordert fühlt. Möglich ist auch, dass Familien nach einem Test zwar von der Hochbegabung wissen, aber keine adäquate Förderungsmöglichkeit finden. All das gilt es abzuwägen.
Wenn Eltern mit der Frage zu mir kommen, ob sie ihr Kind testen lassen sollen, empfehle ich eine Betrachtung der Folgen dieser Entscheidung. Ich erarbeite mit ihnen vorab die Sichtweisen auf unterschiedliche Testergebnisse. Ein Kind sollte nicht der Enttäuschung ausgesetzt sein, der Erwartung „hochbegabt“ nicht zu entsprechen, genauso wenig wie umgekehrt das besondere Aushängeschild der Familie zu werden.
Große Vorsicht ist mit IQ-Tests aus dem Internet geboten. Seriöse Tests werden von Fachleuten wie PsychologInnen, MedizinerInnen oder speziell ausgebildeten PädagogInnen angeleitet und ausgewertet. Im Normalfall gibt es ein ausführliches Vorgespräch mit den Eltern mit einer genauen Anamnese, erst danach die Testsituation im Einzelsetting mit dem Kind und abschließend ein ausführliches Nachgespräch mit den Eltern und – je nach Alter – mit dem Kind/Jugendlichen.
IQ-Tests gibt es sogar schon für sehr kleine Kinder ab drei Jahren. Die Aufgaben basieren auf visueller Kommunikation mit Bildern. Beispielsweise sollen Muster erkannt und zugeordnet oder eine geometrische Form nach dem Puzzleprinzip aus Plastikteilen dreidimensional nachgebaut werden.
Allerdings ist ein zuverlässiges Prüfungsergebnis erst ab einem gewissen Alter realistisch. Denn Entwicklung ist glücklicherweise nichts Statisches und die Entwicklungssprünge sind bis zu einem Alter von 12 oder 13 Jahren viel zu groß. Sollte Ihr Kind den Test machen, ist es daher empfehlenswert, den Test im Erwachsenenalter nochmals zu wiederholen. So kann ein aussagekräftiger Wert ermittelt werden.
Ich würde insbesondere jüngere Kinder nur dann testen, wenn es zwingend erforderlich ist. Ein Testergebnis oder eine Diagnose legen zumindest vorläufig etwas Gemessenes fest – das kann einerseits entlasten, andererseits auch sehr belasten.
Das spricht aus unserer Sicht für einen Intelligenztest:
Das spricht aus unserer Sicht gegen einen Intelligenztest:
Aus meiner dreißigjährigen Arbeitspraxis heraus habe ich einen 10-Punkte-Plan zur Hilfestellung für die Betrachtung begabter Kinder entwickelt:
Nehmen Sie Ihr Kind ernst und lieben Sie es so, wie es ist. Das klingt sehr selbstverständlich und einfach, ist aber bei Kindern, die deutlich von gesellschaftlichen Erwartungen abweichen, oftmals in der Realität schwieriger umsetzbar.
Vertrauen Sie auf Ihre eigene Wahrnehmung. Sie kennen Ihr Kind am besten. Überprüfen Sie Vor- und Ratschläge gut, bevor Sie Handlungsmaßnahmen setzen.
Hören Sie genau zu, was Ihr Kind äußert und möchte. Begabung zeigt sich schon sehr früh und braucht einen entspannten Platz, Ruhe und Zeit, um zu gedeihen.
Unterscheiden Sie zwischen der sozialen Reife Ihres Kindes und seiner Begabung. Jedes noch so hochbegabte Kind braucht Liebe, Urvertrauen und Nestwärme.
Überprüfen Sie, ob die Umgebung Ihres Kindes förderlich ist. Auch wenn ein Kind optimal intellektuell gefördert ist, ist der Leidensdruck in einer lieblosen Umgebung zu hoch. Umgekehrt entwickelt sich Ihr Kind in einer liebevollen Umgebung und umgeben von Freunden sicher besser, wenn es zusätzlich in seinen Interessen gefördert wird.
Holen Sie unterschiedliche ExpertInnenmeinungen ein. Achten Sie genau darauf, wie Ihr Kind im jeweiligen Umfeld reagiert. Meist zeigt es deutlich, wo und mit wem es gerne zusammen ist.
Förden Sie seine jeweilige Begabung, aber überbewerten Sie nicht die Resultate. Vielleicht ist ein sehr begabter Pianist doch nicht für die Solokarriere gemacht und möchte lieber Musiklehrer werden.
Bestärken Sie Ihr Kind bei allem, was es sagt und macht. Innere Sicherheit ist der Ausgangspunkt für eine glückliche Biographie.
Bieten Sie ihm viele unterschiedliche Möglichkeiten an. Bei sehr spezifisch begabten Kindern ist es sinnvoll, die anderen Bereiche, die eventuell nicht so besonders ausgebildet sind, ebenfalls zu fördern.
Vertrauen Sie darauf, dass Ihr Kind seinen Weg findet und unterstützende Menschen trifft, die es fördern.
„Wir dürfen nicht hoffen, eine bessere Welt zu erbauen, ehe nicht die Individuen besser werden. In diesem Sinn soll jeder von uns an seiner eigenen Vervollkommnung arbeiten, indem er auf sich nimmt, was ihm im Lebensganzen der Menschheit an Verantwortlichkeit zukommt, und sich seiner Pflicht bewusst bleibt, denen zu helfen, denen er am ehesten nützlich sein kann.“
(Marie Curie)
Wer könnte besser über Begabung Bescheid wissen als Begabte selbst? Ich habe 21 Interviews mit jungen begabten Menschen geführt. Den Kontakt zu ihnen habe ich über die Sir Karl Popper Schule für hochbegabte SchülerInnen in Wien und über das START-Stipendium für engagierte SchülerInnen mit Migrationshintergrund in Wien knüpfen können.
Ich habe mich für diese Auswahl entschieden, weil nach den aktuellen Messsystemen in beiden Institutionen junge Menschen ausgewählt wurden, die ein hohes Begabungs- und Reflexionspotenzial haben.
Es gibt sehr differenzierte Fragebögen, um Begabung zu testen. Das ist diagnostisch ausgesprochen wichtig, um in einem Maßsystem eine Orientierung zu finden. Da es sich bei meinem Buch aber nicht um eine Studie handelt, habe ich bei den Fragen andere Schwerpunkte gesetzt. Es geht nicht nur um Begabung und wie sie sich ausdrückt, sondern vor allem um Wohlbefinden und Glück im familiären wie auch schulischen und sozialen Umfeld. Ich frage nach der Individualität in Bezug auf die
Entwicklung von Begabung und das persönliche Glücklichsein. Dazu habe ich folgende Angaben – auf Wunsch auch anonymisiert – aufgenommen und diese Fragen gestellt:
Name/Nickname
Alter, Geburtsort
Wo lebst du?
Welche Schule besuchst du derzeit?
Hat es in der Vergangenheit Schulwechsel oder eine Schulpause gegeben?
Was magst du an deinem Zuhause? Was gefällt dir nicht?
Welche Dinge machen dir Spaß?
Wie oft und mit wem kannst du sie tun?
Was macht dir in der Schule am meisten Spaß? Was gefällt dir in der Schule gar nicht?
Welche Menschen magst du am liebsten?
Mit wem verbringst du am meisten Zeit? Was macht ihr gemeinsam?