Gerade gestern - Martin Meyer - E-Book

Gerade gestern E-Book

Martin Meyer

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Beschreibung

Plötzlich ist da etwas verschwunden: Ein Automodell, das über viele Jahre das Bild der Städte bestimmte. Eine Frisur, die Frauen begehrenswert machte. Die Kleinanzeige, die dem einsamen Mann helfen sollte, ebenjene Frau zu finden. Filme, Redewendungen, Umgangsformen, die noch vor wenigen Jahrzehnten zum Alltag gehörten: verschwunden. Und niemand kann sagen, wann. In wunderbaren Prosastücken erinnert sich Martin Meyer daran, was den Alltag vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren ausmachte. Und er regt dazu an, die eigenen Erinnerungen zu überprüfen: Wie hat sich die Welt verändert, wie hat man sich selbst verändert? Eine kleine Kulturgeschichte des Verschwindens.

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Seitenzahl: 370

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Über das Buch

Plötzlich ist da etwas verschwunden: Ein Automodell, das über viele Jahre das Bild der Städte bestimmte. Eine Frisur, die Frauen begehrenswert machte. Die Kleinanzeige, die dem einsamen Mann helfen sollte, gerade diese Frau zu finden. Auch Filme, Redewendungen, Umgangsformen, die noch vor wenigen Jahrzehnten zum Alltag gehörten: verschwunden. Und niemand kann sagen, wann.

Es gibt die große historische Zäsur, üblicherweise aber ändern sich die Zeiten schleichend. Diesem allmählichen Verschwinden des Gewohnten spürt Martin Meyer nach, indem er sich daran erinnert, was den Alltag vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren ausmachte. Nicht systematisch und repräsentativ geht er dabei vor, sondern sehr persönlich in wunderbaren Prosastücken. Womit er dazu anregt, die eigenen Erinnerungen zu überprüfen: Wie hat sich die Welt verändert, wie hat man sich selbst verändert.

Hanser E-Book

Martin Meyer

Gerade gestern

Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten

Carl Hanser Verlag

Für P. S. und für T. A. –

unterwegs im HK 500

Inhalt

Vorbemerkung

Sonntage

Verkehr

Comics (I)

Aufmerksamkeit

Anonyme Geschichte

Tote Augen

Zeitverlust

Suchen statt finden

Barbie

JFK

Nordwand

Grammophon

Krokodil (I)

Qualm

Sei brav

Dauerwelle

Suchen und finden

Poesie, Poesie

Album

Schlüsselloch

007

Dies ist eigentlich jenes

Kaputt

Für Kopf und Kragen

Lothar

Hermann Lübbe

Hula-Hoop

Krokodil (II)

Rucksack

Bleisatz

Die Mauer stand

Monokini

Liturgie

Stein um Stein

Cziffra

La Rubirosa

Schönschrift

Woody

Man fühlt sich wohl

Connaisseur

Inkognito

Langsam, schnell

Gruß vom Thunersee

Etwas fehlt

Im Museum

Wir – ich

Darkroom

21, rue de l’Odéon

Halle 5

HK 500

Knabenschießen

Der reine Text

Die Sprachen der Liebe

Der Mörder Deubelbeiss

Antonius, hilf!

Ambrose Chapel

Prora

Marina, Marina

Tram – eine Art von Frieden

May, Karl

Naomi & Co.

Comics (II) – Tim und Struppi

Contemporary

Hans & Co.

Homeland

Rembrandts Selfies

Von Leiste zu Leiste

Wie lange? (I)

Code

Babar

Digital – analog: Glenn Gould

Schnee von gestern

Ihr Beruf

Rayas

Charisma

Bikärfl

Verneigung vor dem Großen Brockhaus

Am Apparat

Hallo!

Wie lange? (II)

Suhrkampkultur

A. B.

Wunscherfüllung

Geräusche, Gefühle

Das süße Leben

Im Himmel

Vorbemerkung

Für dieses Buch gibt es nur eine einzige und sogar sehr einfache Gebrauchsanweisung. Es kann von allen Seiten her gelesen werden. Der rote Faden: Viele Wege führen nach Rom. Rom ist in diesem Fall die Wahrnehmung der Macht der Veränderung. Diese Macht besitzt auch Charme und Überzeugungskraft. Denn nicht alles, was früher war, war deshalb besser. Anderseits gilt ebenso: Nicht alles, was uns heute und morgen beschäftigt, ist deshalb schon gut. Zwischen Nostalgie und Gegenwartspathos versucht das Buch also eine Mitte zu finden – und natürlich hoffentlich auch das Amüsement, das damit verbunden sein kann, sich zu erinnern und darüber nachzudenken, wie Menschen und Dinge auftauchten, eine Zeitlang blieben und allmählich oder auch plötzlich wieder verschwanden.

M. M.

Zürich, im Januar 2018

Sonntage

Träge und spröd flossen die Sonntage damals dahin und durch die Stunden. Vielleicht hatte ein Kirchgang für etwas Ablenkung gesorgt. Aber zur Mittagszeit drückte bereits die Langeweile, zuerst auf der Fahrt ins Restaurant, später im Saal, wo die älteren Herrschaften den Burgunder besprachen und nach dem Dessert ihre Zigarren qualmten. Bald lag dicke Luft im Raum. Wenn die Sonne schräg durch die Fenster schien, formte sich der Rauch zu beweglichen Schichten, hinter denen die Gesichter der bereits etwas müde gewordenen Genießer an Röte zulegten. Ein Onkel war bekannt für das folgende Kunststück. Er atmete dreimal durch, inhalierte tief und ließ nun das graue Gewölk in Ringen aus dem Mund strömen. Manchmal gelang es ihm, einen kleineren und schnelleren Kreis durch den größeren und langsameren zu stoßen. Dann tönten Applaus und Gelächter. Niemandem wäre es eingefallen, solche Zauberstücke als gesundheitsschädigend anzusehen. Sogar die Kleinen durften an der Zigarre ziehen, worauf sie jedes Mal heftig zu husten begannen. Wieder wurde dröhnend gelacht. Das Lachen hatte, so fand die Mutter, etwas Ungebührliches.

Rückblickend kann man Muster und Figuren einer Lebenslehre erkennen. Die Alten waren, wie man gerne sagte, geeicht. Sie waren durch die Feuer seltsamer Rituale gegangen. Den Jungen stand dies noch bevor. Alt und Jung aber glaubten fest, dass sich an solchen Bewährungsproben sowie an der Verteilung der Rollen niemals etwas ändern würde. Am Vormittag hatte der Pfarrer von der Kanzel herunter mit klaren Worten den Verzicht gefordert. Drei Stunden später war alles vergessen. Nikotin war ein Attribut von Männlichkeit, Zigaretten ohne Filter animierten diese, während die Damen mit spitzen Fingern, die zu noch spitzeren Nägeln ausliefen, an einer milden Sorte saugten und sich vermutlich mit Gina Lollobrigida verglichen. Weil wir Menschen gern mit Vorschriften leben, ließ man sich von der Werbung davon überzeugen, dass das Rauchen zuträglich sei. Den Gipfel solcher Indoktrinierung, gegen die das Evangelium bereits einen schweren Stand hatte, besorgte schließlich der Marlboro-Cowboy. Plötzlich fühlten sich selbst dickbäuchige Prokuristen der Steppe und ihren Lockungen vollauf gewachsen. Für den Duft der großen weiten Welt war hingegen Peter Stuyvesant zuständig. Der berühmte Slogan, der 1958 von dem originellen Schweizer Fritz Bühler geprägt worden war, worauf wir stolz gewesen wären, wenn wir es gewusst hätten, bot einen literarisch-psychologischen Ersatz für jene, die noch nicht das Geld hatten, nach New York und via Sidney zurückzufliegen. Das war – damals – die riesengroße Mehrheit auch der mittelständischen Bevölkerung.

Zudem entwickelte sich aus dem Bewusstsein, für sich selber nur Gutes zu tun, eine intensive Körpersprache. Zum Burgunder passte nur der Burgunderkelch; ein Glas, das sich im unteren Teil in die Breite verlief und deshalb auch den Namen Schwenker hatte. Die Hand des Kenners fasste den Schwenker von unten her, hielt ihn zwischen Mittelfinger und Ringfinger und begann ihn in gemächlich kreisenden Bewegungen zu schwenken. Die Nase tauchte hinunter und erroch das Bukett, das sich bald betörend entfaltete. Häufig kam es zu Blind-Degustationen, bei denen die Herkunft des Gewächses, für Kenner dazu der Jahrgang zu erraten waren. Es ist nicht überraschend, dass daraus bei steigender Zufuhr auch streitlustige Einlagen resultierten. Nicht sehr korrekt, das Ganze, doch bereitwillig akzeptiert.

Im Fall der Zigarette lief alles viel einfacher und billiger. Hingegen war für gewiefte Blicke rasch zu entziffern, was es damit auf sich hatte, wie eine oder einer das Kräutchen hielt. Mein Klavierlehrer, ein übler Kettenraucher, dessen Wohnung fürchterlich ins Treppenhaus emittierte, hielt die Zigarette zwischen dem kleinen Finger und dem vierten, während er das Lenkrad jenes unauffälligen BMW führte, der die Marke aus dem drohenden Konkurs reißen würde. Die Handpartie war gelb eingefärbt und glich einem vergilbten Papyrus. Konnte jemand, der so bedenkenlos seiner Sucht nachgab, ein guter Pädagoge sein, der selber virtuos allerlei Tonleitern über die Tasten jagte und dabei immer pfiffig blieb? Die Antwort war klar, doch wurde sie großzügig überhört.

Zum Burgunder bleibt eine Kleinigkeit nachzutragen. Seine Traube ist eine zarte Kreatur, die schnell auf Ausschläge des Klimas reagiert. Bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts mischten die Winzer deshalb häufig auch Trauben aus dem Rhonetal unter die Ernte. Das Ergebnis konnte sich sehen und schmecken lassen. In guten Jahrgängen wurde eine unübertreffbare Fülle erreicht. Heute neigt der Burgunder sogar bei fabelhaften Provenienzen statt zur Fülle zur Dünne. Das Wort dafür lautet: filigran. Auch Reinheit kann schaden. Für unsere Sonntage bestand noch keine Gefahr, die Alten schwammen in schweren Teichen. Dass just der Burgunder die gefürchteten Schlaganfälle befördern könnte, erwähnten sie mit leisem Schaudern so, als würde es sie selber niemals treffen. So sanken sie schließlich selig in den Schlaf für den nächsten Morgen, der kaum Überraschungen bringen würde, während wir, wie es sich ziemt, mit Prüfungsängsten rangen, noch lange nachdem das übliche Lichterlöschen eine Spur unwirsch verkündet worden war. Selten und dann eher fremd klang mir zuletzt ein frommer Reim durchs Ohr. Der Sonntag ist der Tag des Herrn, am Sonntag ruh’ und bete gern.

Verkehr

Die Straßen über Land erschienen uns immer rein und leer. Manchmal kreuzte ein Gegenwagen, ansonsten herrschte Stille. Bei einer Gabelung im Zürcher Unterland erwähnte der Großvater gern, dass sich ebendort ein schauriger Unfall ereignet habe. Die Wiesen glänzten in Unschuld, und die Pappeln wussten von nichts. Ein Unfall? Es gab doch fast keinen Verkehr. Da musste wahrlich ein Zufall hineingespielt haben. Solche Zufälle muteten – damals – an wie unheimliche und zugleich kostbare Kräfte.

Automobile waren keine Selbstverständlichkeit. Aber sie wurden seit den ersten Wellen des Wirtschaftswunders zu Objekten der Begierde quer durch Schichten und Klassen. Hochglanzprospekte zeigten die begehrten Marken aus allen möglichen Winkeln, eigenwillige Farben wie Rosa, Giftgrün oder Braungrau kontrastierten mit den Ornamenten aus Chrom. Allerdings fiel mir schon damals auf, dass die Räder im Verhältnis zur Größe der Wagen ziemlich unansehnlich daherrollten. Dies machte sich weniger bemerkbar bei Opel oder gar Simca, die sich auch nicht zum Imponieren eigneten. Doch bei den »Amerikanern« war das anders. Sie hießen im Volksmund Schiffe und benötigten große Garagen, wo das teure Blech mitsamt den benzinverschlingenden Motoren untergebracht werden konnte. Diese Schiffe oder jedenfalls Boote, die passenderweise blubbernde Geräusche von sich gaben und in engeren Kurven die Schieflage besuchten, rollten auf schmalen Fesseln, was ihnen bei entsprechendem Sehwinkel ein leicht unwirkliches Aussehen gab.

Passfahrten waren ein Risiko. Mindestens einmal im Jahr fuhren wir im Chevrolet von Zürich nach Chur. Verwandtentreffen, o weh. Autobahnen gab es erst in den Köpfen der Planer. Übrigens rauchten sämtliche Planer damals Pfeife. Ein einziger und dazu ziemlich harmloser Pass über den Kerenzerberg war zu überwinden. Doch an Bord des Schiffs, dessen Innenraum als Kommandobrücke eine breite Bank aufwies, die neben dem lenkenden Großvater zwei Passagieren Platz bot, knisterte seit dem Ort Ziegelbrücke die Nervosität. Mit beruhigender Pünktlichkeit begann der Achtzylinder kurz vor dem Erreichen der Passhöhe zu sieden. Grimmig öffnete Opa die Haube, riss darauf ein riesiges weißes Schnupftuch aus der Hosentasche, drehte am Verschluss des Kühlers, aber nicht zu schnell und nicht zu viel, worauf die Dampfwolke zischend ins Tannenwerk entwich. Darauf wurde kaltes Wasser eingelassen, und die Fahrt ging weiter.

Im Quartier floss der Verkehr gemächlich. Die Straßen bestanden aus Pflastersteinen. An Barrikaden und Wurfgeschosse dachte am Zürichberg keine Sterbensseele. Ein paar Straßen hatten Sand zur Unterlage. Deshalb war es überhaupt möglich, das von uns so genannte Autospiel zu spielen. Es lief so, dass die vorbeifahrenden Automobile nach bestimmten Regeln diesem oder jenem Spieler gehörten. Allerdings wurde die Abfolge im Voraus bestimmt: Man hatte zu nehmen, was kam. Volkswagen, also echte Käfer in mancherlei Schattierung, weckten bei den anderen bloß Schadenfreude. Ein mittlerer Mercedes war in Ordnung, doch in jener Epoche auch schon nichts Besonderes. Die Krone hielten Rolls-Royce oder Cadillac. Die allerseltenste Trophäe war ein schwarzer Cadillac mit weißem Futter und Chauffeur, der einen Potentaten aus Afrika zur Klinik von Bircher-Benner gleich um die Ecke brachte, wo der Ärmste sich nach offizieller Lesart einer Kur mit Müsli unterwarf.

Mein Auto ist auf neuem Stand der Technik und inzwischen mehr noch der Technologie. Es läuft wie am Schnürchen, und wenn es einmal nicht läuft, fehlt mir das Wissen über die Schalt- und Bruchstellen dieser komplexen Maschine. Segensreich ist die Elektronik. Oder sie versagt einmal plötzlich und ohne Vorwarnung, und dann wird es heikel. Ich gehe weder für das Positive noch für die möglichen Negativa ins Detail. Es kann – oder könnte – mir auch egal sein, dass dieses Fahrzeug aussieht wie fast alle anderen Fahrzeuge, die heute herumkurven. Das gehört zum Darwinismus der Anpassung an optimierte Leistung, die weniger Spielraum für Eskapaden von Designern zulässt. Sollte es dereinst – bald? – dazu kommen, dass unsere Autos selber fahren und damit auch ihrer Bezeichnung vollkommen gerecht werden, sind sie endgültig die Regisseure dieser Art von Fortbewegung geworden. Wir werden wie Idioten oder Kinder in den Sitzen liegen.

Was war es denn, was die alten und damals neuen Kisten oft ganz unabhängig von ihrer Rangordnung so attraktiv machte? Es war zum größten Teil und bei nicht selten ziemlich wackliger Technik die Physiognomie. Also Gesicht in der Front mit Lampen und Augenbrauen, Hüftschwung nach hinten mit Flossen und Spitzen, dazu Fama oder Ruf für ihre Besitzer je nach Kaufkraft und Klasse. Nicht jeder Lehrling fuhr einen Porsche auf Abzahlung. Keine Mutter ruderte mit dem Isuzu durch den Frühling. Der Herr mit dem Facel Vega hatte Stil; vielleicht nur deshalb Stil. Es passte nicht zu Albert Camus, der sich auch im Erfolg niemals von der Bescheidenheit lossagte, dass er in dem Luxuswagen seines Freundes Michel Gallimard im Januar 1961 tödlich verunglückte. Aber es hatte doch irgendwie Stil. Kurz nach dem Unglück ließ sich ein Garagist für die Zeitungen über den Facel interviewen. Er sagte kurz und bündig: Cette voiture est un tombeau. Er meinte damit das Missverhältnis in der Konstruktion zwischen dem Fahrwerk und der Lenkung einerseits und dem dafür viel zu potenten Chrysler-Hemi-Achtzylinder-Motor anderseits. Dieser Wagen ist ein Grab. Darüber noch später. – Als der Politiker Jörg Haider im Oktober 2008 ebenfalls auf der Straße und ebenfalls durch zu hohes Tempo zu Tode kam, lag seine Leiche in einem Volkswagen. Dieser war ohne Fehl und Tadel, wie wir es heute fast überall erwarten können. Nur der Name der Klasse könnte für Abergläubische eine Verbindung zum Schicksal hergestellt haben: VWPhaeton. Aber mythenfest ist heute ohnehin kaum mehr einer.

Comics (I)

Dass die Zeiten anzogen, merkten wir kaum. Weder in der Schule noch in der Klavierstunde. Mittags kam der Vater regelmäßig an den häuslichen Tisch. Hatte er ein Geschäftsessen, wechselte er das Vokabular und sprach von einem Lunch. Für Kinderohren klang das wie »Löntsch«; mit einem blitzkurzen ö. Englisch kam langsam in Mode, und das Vorbild für viele Rekorde hieß Amerika. Amerika gab auch noch anderes vor. Darüber auch später. Tempo und Geschwindigkeit nahmen wir damals jedenfalls vor allem wahr in der Welt der Comics. Donald Duck und Goofy rannten, je nach Drehbuch, wie wild durch die Gegend und um ihr Leben. Unter ihren Füßen bildeten sich kleine weiße Wolken. Das musste ein herrliches Treiben sein, wo so viel passierte und alles immer mit dem Sieg des Guten endete. Als aber der Lehrer einen Elternabend einberief, um der sogenannten Schundliteratur den Garaus zu machen, wurde das Abonnement gekündigt. Die Eltern hatten pariert. Noch öfter zitierten sie mit mahnenden Blicken die einzige Sprechblase, die ihnen aus der Stunde der Indoktrination in Erinnerung geblieben war. Huch, Goofy. So konnte man damals schon als Kind mit den Wirklichkeiten des Zeitungswesens in Kontakt kommen: durch Entzug.

Natürlich fanden wir Wege, um uns gleichwohl der kostbaren Hefte zu bemächtigen. Dazu verhalfen Freunde und Freundschaften, die dann geheime Lesezirkel bildeten. Wenn ich mir’s überlege, hatte das etwas Subversives. Oder wir klaubten unser Münzgeld zusammen und schlichen uns zum Kiosk. Der Kiosk hatte es buchstäblich in sich. Für das physische Wohlbefinden bot er alle denkbaren Schleckereien an, auch und gerade solche, die heute einen Giftschein bräuchten. Für das pubertierende Schwitzen gab es die Herrenmagazine, die hinter einer Glaswand lagen und damit für jeden Trick unempfindlich blieben. Manchmal sahen wir Herren, die eher wie Männer aussahen, beim hastigen Durchblättern der Glanzfotos. Sie stellten sich dann tief in die Ecke und wähnten sich unerkannt. Welch ein Irrtum.

War es das nachwirkend mächtige Über-Ich, welches uns der Lehrer einzuimpfen versucht hatte, dass wir beim Kauf von Micky Maus meinten, die Kioskfrau blicke uns dabei strafend oder missbilligend an? Wie auch immer, Verbote steigern den Genuss; überwundene Hürden liefern ihm Legitimität. Das Ideal der Askese, das Max Weber so engagiert und zugleich mit subtiler innerer Distanz analysiert hat, fügte sich gerade noch in die Generation unserer Väter; mindestens in der Schwundform eines ähnlich strukturierten Unbehagens, wenn sie begannen, vielseitig und mitunter gefährlich über die Stränge zu schlagen. Für uns Kinder war es ebenfalls noch präsent, doch nur als Abglanz und unter Drohungen. Man könnte dazu sagen: Allmählich wurde die Welt immer weltlicher.

Aufmerksamkeit

Heute ist alles – fast alles – anders. Die Langeweile hat sich verzogen. Was Micky und Dagobert zustande bringen, läuft da und dort noch unter Druck, doch ein Vergleich lässt die beiden alt aussehen. Gemessen an den Bildschirmhelden, die durch das Weltall donnern, wirken sie wie gemütliche Gesellen aus dem Dasein des Rentnerplauschs. Viel bedeutsamer ist natürlich, dass wir alle dauernd auf Sendung sind. Ein Ereignis jagt das nächste, und im Zwischendurch stehen wir unterm Strom der Kommunikation. Was dabei im Alltag gesagt wird, ist zu großen, ja größten Teilen unerheblich. Nur: Wenn nichts gesagt wird, der Äther schweigt, die Antennen eingefahren sind, dann wird es ebenfalls unheimlich. Glücklicherweise kommt das praktisch nie vor. Es führte an die Grenzen des uns inzwischen Erträglichen.

Aber psychologisch interessant wäre, wie sich Beschaffenheit und Intensität von Aufmerksamkeit historisch verschieben. Würde Letztere als konstante Größe angenommen, seit wir Menschen von den Bäumen stiegen, um etwas mit uns anzufangen, so sähe eine Beispielreihe des Wandels etwa so aus. Ur- und Frühzeit: Furcht und Vorsicht vor wildem Getier. Viktorianische Epoche für Begüterte: endlos episches Werben um eine angebetete Frau; heute und morgen: Es blinkt und zirpt und zupft von überall, und Konzentration in der Gleichzeitigkeit ist die rettende Devise. Tatsächlich läuft das multitasking inzwischen sogar Greisen über die Lippen.

Nachzutragen bleibt, dass die Zeitung von früher – abgesehen davon, dass sie intensiv und häufig integral gelesen wurde – auch nicht von langsamen Eltern war. Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts erschien die »Neue Zürcher Zeitung« lange dreimal, dann zweimal am Tag. Wenn wir in der Setzerei den Bleisatz umbrachen, kam schnell einmal Hektik auf. Doch der Chefmetteur, der in seinem Glashaus stand und einen Zweireiher trug, warf einen Feldherrenblick in die Runde, und alles lief wieder am Schnürchen. Warum wohl? Weil jedermann kompetent war und genau wusste, was er wann wie und wo zu tun hatte.

Anonyme Geschichte

In seinem epochalen Werk »Die Herrschaft der Mechanisierung« aus dem Jahr 1948 beschreibt der Kunst- und Kulturhistoriker Sigfried Giedion eine Vielfalt von Entwicklungen und Prozessen, die seit dem 19. Jahrhundert das Gesicht der Zivilisationen veränderten. Giedion bezeichnet sein Opus im Untertitel als »Ein Beitrag zur anonymen Geschichte«. Diese anonyme Geschichte aus Erfindungen und Strategien – im Wesentlichen zur Steigerung der Effizienz – liest sich noch immer wie ein Krimi. Es gibt kaum Täter, doch ungezählte Leichen der Rückständigkeit im Unterwegs der Moderne. An ihre Stelle treten tolle Dinge: von der Konstruktion des Stiftzylinderzuhaltungsschlosses (»Yale«) über die Organisation des mechanischen Tötens auf den Schlachthöfen von Chicago (inzwischen fragwürdig) bis zu den diversen Apparaten der Förderung des Komforts im Haushalt (»Hoover«, damals noch ungemein laut).

Dabei geht es nicht um Gut und Böse. Schon eine Keule konnte ja dazu verwendet werden, einen unliebsamen Nachbarn hinwegzumorden. Doch es geht – auch und signifikant – um Verluste an Anschaulichkeit. Was man früher die Lebenswelt nannte, nämlich ein Milieu aus Eingewöhnung und verstandenem Vertrauen in die Umgebung der Sachen und Gerätschaften, verändert sich rapid. Die Gehäuse der Maschinen verbergen deren Arbeit, die ohnehin immer mysteriöser wird, und die Anteile der menschlichen Arbeit an der Arbeit insgesamt verschwinden ohne Zäsur. Sigfried Giedion wäre der Mann gewesen, vor dem Hintergrund solch ungeheurer Macht aus unsichtbaren Abläufen und Schaltungen auch die Revolution der Digitalisierung zu analysieren. Kulturkritikern sei versichert: Er hätte noch manches mit Begeisterung präsentiert. Das ändert nichts daran, dass wir längst nicht mehr begreifen können, was uns von allen Seiten her umgreift.

Ist das schlimm? Im Prinzip nicht. Unsere Spezies strotzt von Anpassungsfähigkeit. Anderseits gehen wir seit der Aufklärung vom Individuum aus, und da ist auch anderes zu gewichten. Nicht nur die Zeit läuft laufend schneller; zugleich unterliegen die Räume einer massiven Dynamisierung. Sie rücken näher und näher zusammen, oder sie lösen sich gar auf: im Bewusstsein jenes global village, das uns Verkehr, Technik und Technologie so generös beschert haben. Der »Ort«, der im Damals als je eigener eine spezifische Lage besaß, wird relativiert durch Verbindungen, die ihn – etwa im Medium von Skype – mit unzähligen anderen kombinieren. Differenzen und Distanzen schmelzen ein. Der Globetrotter lässt sich willig durch Kanäle schleusen; Abenteuer, die einst mit dem Zauberwort der Ferne ihren Anfang nahmen, sind rar geworden.

Als wir in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts für eine Beilage auch den Philosophen Hans-Georg Gadamer aufboten, versprach Gadamer zeitige Lieferung. Das Gegenteil war der Fall. Die Beilage war fertig, in der Mitte gähnte ein Loch. Gadamer hatte geschlampt. Die Zeit lief davon. Doch der rüstige Greis sammelte Kräfte und schrieb den Text im Flugzeug von Zürich nach New York. Acht Stunden Flugzeit kamen gerade recht. Das Manuskript wechselte am Airport in die Gegenmaschine, die dafür ihren Start um zwanzig Minuten verschob. Nach weiteren Aktionen schafften wir den Andruck im letzten Moment. Der Fortschritt hat solchen Heroismus quer durch Räume und Zonen ziemlich obsolet gemacht. Eine Genugtuung bleibt: Das Schreiben geht dem Senden voraus.

Tote Augen

Gestern versuchte ich, meine kleine Drohne durch die Zimmer zu steuern. Das gelang mehr schlecht als recht. Nachdem sich der Hund beruhigt und schmollend verzogen hatte, flog das Gerät ein paar Schlaufen, bevor es in eine Wand krachte und scheppernd zu Boden fiel. Immerhin. Früher hätten wir nur eine durchbrochene Scheibe aus Plastik losgelassen. Doch nicht das Fliegen ist heute der Witz. Spannend bis gefährlich ist, was die Maschine dabei kann. Sie kann zum Beispiel – ein harmloses Vermögen – Bilder schießen. Als die Drohne auch den bereits installierten Weihnachtsbaum umflog, drückte ich auf den Knopf. Später hob ich sie bis unter die Decke, so dass sie die Position der Vogelschau erhielt. Abermals klick. Es folgte die Auswertung. Die Kugeln des Baums strahlten sehr unscharf und körnig, ließen aber mit Phantasie an seltsame Planeten denken, während die Familie – so teilnahmslos kalt aus der Höhe Gottes betrachtet – plötzlich unansehnlich und wie verloren saß. Wir hatten es doch eigentlich lustig und gesellig gehabt. – Aber was heißt nun noch »eigentlich«?

Man könnte von einer kopernikanischen Wende auf zweiter Stufe sprechen. Der Beobachter ist »im Bild«, das ihn seiner Sonderstellung beraubt. Was Kameras inzwischen leisten, ist nicht nur gefüllt mit Wundern der Technik; es geht uns ans Eingemachte, nämlich an die Identität. Wie wir uns selber und rastlos aus allen Winkeln heraus ausspionieren und abbilden, werden wir aus allen Winkeln heraus ausspioniert und dokumentiert. Die Linie zwischen Subjekt und Objekt zerfließt. Als Sigmund Freud 1930 in seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« das Wort vom Prothesengott prägte, konnte er noch kaum ahnen, was hierzu noch kommen und triumphieren würde.

Da war es in der guten alten Zeit doch noch anders. Wenn fotografiert wurde, so meistens mit dem Weihrauch eines Rituals. Das Einspannen der Rollfilme setzte Fingerfertigkeit voraus. Ein kleines Fenster im Gehäuse der Kamera ließ beim Weiterdrehen des Films die Nummerierung der hierfür vorbereiteten Negative erkennen. Man konnte nicht wild drauflosschießen. Das Motto Geduld knisterte im Wohnzimmer oder auf der Blumenwiese in den Bergen. Damit waren Verkrampfungen vorprogrammiert. Große Fotografen – die sich damals Photographen schrieben – beherrschten das Metier fast ausschließlich gegen die Widerstände der Technik. Durchschnittliche Bürgerfamilien besaßen keine großen Photographen. Manchmal kam einer von auswärts, um einen Auftrag auszuführen. Doch seltsam; auch diesem Zauberer gelang es in der Regel nicht, die Gesichter in heitere Gelöstheit zu verflüssigen. Das Ergebnis war jedoch insofern wenigstens eine psychologische Leistung, als das schlechte Gewissen, das damals zu den Errungenschaften abendländisch-christlicher Erziehung gehören musste, oft fast herrisch in den Gesichtern Einsitz nahm.

Übrigens gab es für solche Séancen akustisch erlösende Momente. Für Innenaufnahmen war ein Blitzlicht angesagt. Die Birne wurde vermittels eines Bajonettverschlusses in den Schirm des Geräts versenkt – jeweils eine Birne pro Bild. Wenn der Blitz gezündet hatte, entstand gleich danach ein trockener Knall. Das galt als höchste Beglaubigung der Aktion, die zusätzlich mit einem Räuchlein aus der sterbenden Birne gekrönt wurde. Es ist seltsam, wie solche Gewitterszenen mit Donner und Blitz eine Spur des Atavismus hinterließen. Die gute Stube als Kulisse oder Bühne für Blendungen, wenn auch im Taschenformat. Gegenüber solchen verschachtelten Erfahrungen aus dem Prozess der Technik von Agfa oder Kodak wirkt das Dauerspiel mit der Linse des Smartphones unendlich banal. Überdies ist es eine niemals endende Selbstbefriedigung, die ungeheure Berge von sogenannten Dokumenten aufschichtet, die selten in ein Ordnungsraster gefasst werden.

Da hatten wir’s mit den Fotoalben von dazumal doch einfacher. Nicht nur, dass sich das Leben von damals nur in winzigen Ausschnitten zwischen den einzelnen Seiten einfand – und auf der Unterlage von schwerem Bütten bei eingewobenem Seidenpapier nun fast erhaben anmutete. Es gab sich zugleich als eine Mischung aus Erwähltheit und Zufall zu erkennen. Viel Erwähltes bedeutete: Hochzeit, Geburtstag, Ostern und ähnliche Monumente, schwarzweiß oder auch einmal farbig gebleicht. Wenig Zufall hieß hingegen recht treffend, dass das Album auch Schnappschüsse enthielt – wenn es denn unbedingt sein musste. Erst allmählich wurden diese das Lustigste im Album.

Zeitverlust

Der entfesselte Narzissmus, der in den Spiegelbildern kristallisiert, die die bild- und tongebenden Digitalverfahren ermöglichen, wäre kein massiver Grund zur Sorge, wenn er nicht eine weitere der klassischen Todsünden bedienen würde: die Gier oder Sucht, davon nicht loslassen zu können und die Umwelt zum Dauerzeugen dafür aufzurufen. Vor bald dreißig Jahren schrieb ein Freund einen schönen Essay des Titels »Mein Golem«. Iso Camartin trug als Pionier im Umgang mit dem Computer die Erlebnisse zusammen, die ihm derselbe gestattete. »Sein« Golem befand sich erst in den Anfängen der Entwicklung und war deshalb vergleichsweise zahm. Doch mit den Potenzen wächst die Verführung; mittlerweile ist dieser Geist, der Schlimmes sinnt, allgegenwärtig und frisst unablässig an den Vorräten unserer Lebenszeit.

Nicht nur die »Echtzeit« selbst, die wir hier investieren, ist davon betroffen. Das Dabeisein ist das eine. Die Erwartung ist das andere. Denn es erfordert längst ausgeklügelte Selbsthilfeprogramme, die Geräte einmal beiseitezulassen und davon abzusehen, dauernd sehen und hören zu müssen, ob etwas »kommt«. Als die christliche Naherwartung der Spätantike schließlich begreifen musste, dass der Advent des Herrn im Sinne der Erlösung alles Irdischen so schnell nicht eintreffen würde, suchte und fand sie Heimat in den Institutionen und Riten der Kirche. Die Liturgie war das probateste Mittel, jeweils »Anschluss« an das versprochene Heil herzustellen. Christus war zwar noch nicht zum letzten Male gekommen, doch in der Realpräsenz seines »Corpus« gleichwohl da. Davor und danach herrschte genug Alltag mit den üblich vielen Sorgen, die irdischen Dinge irgendwie zu meistern. Eine Welt ohne Götter und Himmel kennt solche Pausen der Verdichtung, in denen man sich selber zugunsten eines Größeren vergisst, kaum mehr. Wir stürzen dauernd auf uns selbst. Dürrenmatt hat in seiner kurzen Geschichte »Der Tunnel« und insbesondere in dessen Schlusssatz ein anschauliches Szenario dafür entworfen – und das schon vor einem halben Jahrhundert. Wir stürzen immer tiefer ins Nichts.

Schwer zu sagen, woher es kommt: das mobil gewordene Wollen, für sich selbst und für andere immer erreichbar zu sein; einzusehen und abzufragen, was los ist; zu senden, zu chatten, zu empfangen, zu speichern, dabei zu sein. Zweitens: Wie ist es noch möglich, gegen den Strom überhaupt noch Höhepunkte der »Kommunikation« herzustellen? Unendlich wertvoll sind handgeschriebene Briefe geworden. Ihre Seltenheit kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihnen nun beinah etwas Künstliches anhaftet. Man ertappt sich dabei, zu mutmaßen, ob der Absender etwa verdeckte Motive gehabt habe. So weit haben wir’s gebracht, pflegte die Tante zu sagen.

Suchen statt finden

Wunderbare Erfindungen sind die Suchmaschinen. Wie die Höhlen des Ali Baba breiten sie ihre Schätze aus. Keiner, der ein Sachbuch schreibt, möchte sie entbehren. Wenn ich denke, wie ich Stunden, Tage, ja Wochen früher verbrachte, um bloß ein paar Quellen zu finden. Anderseits. Wieder liegt es länger zurück, dass ein Kollege von einem Kollegen nach einem Zitat aus Jacob Burckhardts »Griechischer Kulturgeschichte« gefragt worden war. Der Befragte war ein Burckhardt-Kenner. Konnte aber nicht auf Anhieb sagen, wo es zu finden sei, worauf er nach Hause ging und abends suchte. Suchte? Viel eher las und las er, und so fand er das Zitat; und kam am nächsten Morgen und reichte es, das Zitat, weiter. Vielleicht hätte er’s dem anderen gar nicht gegönnt. Vor allem aber war er ungeheuchelt glücklich, wieder Burckhardt gelesen zu haben.

Burckhardt unterscheidet in demselben Werk zwischen »Zeitungen« und »Ewigungen«. Zeitungen sind Ausprägungen der Geschichte, Reflexe und Gedanken auf sie – und so auch »Zeitungen« in unserem Sprachgebrauch. Ewigungen sind Dinge, Wesenheiten, Charaktere, die durch alle Zeiten hindurchscheinen. Für Burckhardt beinah ein Hauch des Göttlichen. Auch Albert Camus war, als Burckhardt-Leser, von solcher Transzendenz angetan und berührt. Aber in sein Tagebuch schrieb er einmal doch mit trockener Geste einen Satz, der mir immer besonders gut gefallen hat. »Tout mon oeuvre est ironique.« Das darf man glauben – oder auch nicht. Es ist vielleicht eine der wenigen nicht knackbaren Strategien, sich auch bei immer lauteren Forderungen nach der totalen Transparenz von Absichten und Ansinnen nicht in die Karten schauen zu lassen.

Mit der Ironie ist es allerdings nicht einfacher geworden. Häufig wird sie heute weder verstanden noch gebilligt. Das hat vielleicht mit unserem zunehmend binär werdenden Denken zu tun, das die Zwischentöne und Umwege zugunsten der klaren Botschaften in den Hintergrund verschiebt. Ironie hingegen setzt für ihre Wirkung voraus, dass man immer noch unterscheiden kann: zwischen der Sache und ihren Perspektiven, zwischen dem Wahren, Guten und Schönen einerseits, dem Fragezeichen anderseits, das ja dann einst als Zweifel in die Welt kam, ohne diese gleich zu negieren. Etwas Schwebendes halt. Schwierig, schwierig, wie ebenfalls schon Camus wusste.

Barbie

In den sechziger Jahren kamen auch hierzulande die Puppen des Namens Barbie auf. Sie präsentierten auf langen Beinen, besaßen einen durchgeschwungenen Oberkörper und endeten mit einem putzigen Kopf samt Stupsnase, flattrigen Augen, rundem Mund und blonder Mähne. Für viele Mädchen war Barbie der Traum der Träume. Welten trennten diese amerikanische Schwester von den ehrwürdigen Puppen der Firma Käthe Kruse, die zwar kunstvoller gefertigt sein mochten, doch mit ihrem germanischen Stallgeruch plötzlich die Vorzeit verkörperten. Sie retteten sich dafür bald in den Status von Sammelobjekten.

Barbie war frisch, frech und fast erwachsen. Barbie war sexy. Dieses Adjektiv hatte sich durch die Hintertüren spießbürgerlicher Anständigkeit eingeschlichen und begann mit sanfter Beharrlichkeit den Sprachgebrauch zu verändern. Zweideutigkeiten und Anzüglichkeiten, die noch kurz zuvor als gut verpackte Sprüche der Männerriege bewirtschaftet worden waren, durften sich allmählich sehen und hören lassen. Barbies Unschuld war bereits zweiten Grades. Das geschätzte Alter von achtzehn guckte zuversichtlich erwartungsvoll nach vorn. Gleichzeitig besaß diese Puppe auch das Flair der Regression: Sie würde eben niemals ganz erwachsen werden. Dieses Ineinander von Lolita und Madame machte Barbie sogar im prüden Milieu des schweizerischen Mittelstands langsam unwiderstehlich.

Der American Dream war hier mit raffinierter Körperlichkeit niedergekommen. Fast alles, was aus Amerika kam, war damals noch gut. Dazu fügte sich bestens, dass Barbie eine immer größer werdende Garderobe bespielen konnte, in passenden Accessoires zirkulierte und als Höhepunkt des Realismus einen Freund erhielt, der ebenfalls nicht frieren oder modisch abgehängt bleiben durfte. Die alte Puppenstube, deren Dynamik ziemlich viel Phantasie verlangt hatte und die auf dem Estrich wie fast alles nach Mottenkugeln roch, wurde von Barbie mit einer einzigen Augenbraue ins Abseits befördert. Den Müttern gefiel solches nicht wirklich. Aber zum einen begannen sie sich, von den immer zahlreicher erscheinenden Frauenzeitschriften dazu aufgerufen, als ihrer Töchter allerbeste Schwester zu verstehen. Zum andern teilten sie insgeheim die visionären Energien, die das Setting von Barbies Agenda befeuerte.

Die nächste Generation soll es besser haben. Das war über Jahrhunderte einer schließlich als geschichtlich fortschreitend verstandenen Zeit die Maxime der und der Antrieb zur innerweltlichen Askese. Wenn dann die Knaben mit der Modelleisenbahn hantierten, drückte sich darin zwar auch der Fortschritt aus. Aber er lief doch etwas ärgerlich halt im Kreis, was sogar den Kleinen ziemlich rasch auffallen musste. Barbie hingegen war mehr wie Lego – immer ausbaufähig, dazu aber das Ziel all dessen, was Lego an Gehäusen, Gefährten und weiteren Hüllen dafür produzierte, nämlich das gelebte Sein. Barbie war Probe und Vorbereitung auf die folgenden magischen Institute: den Flirt, die Liebe, die Heirat, die Ehe, den Wohlstand, das Glück. Und schließlich hatte Barbie gleichwohl noch den großen Vorteil der Puppenstuben. Sie verblieb als ewig hübsch zufriedenes Geschöpf vollumfänglich in der Verfügungs- und Gestaltungsmacht ihrer Besitzerin, deren Geschmack dabei überraschend lernfähig wurde.

Eine gute Nachricht zum Schluss. Alles Vorausgegangene hätte so klingen können, als ob Barbie ihrerseits museal geworden wäre. Das Gegenteil trifft zu. Barbie und ihr Milieu haben die Zeitenbrüche schadlos überdauert. Die Langbeinblondine, die auch als Brünette zu haben war und ist, lebt fort – als charmantes Zeugnis jener Verdinglichung, von der die Antikapitalisten seit jeher warnten, die jedoch heute und mit Barbie so vollendet naiv den Zauber der Greifbarkeit gegen die blitzschnell sich verändernden Flüchtigkeiten der digitalen Tricksereien behält.

JFK

Am 22. November 1963 wurde in Dallas der damalige amerikanische Präsident ermordet, als er sich auf Wahlkampfreise befand und dort in der Innenstadt zuwinken ließ. Kennedy war wie jeder, der es bis zum Präsidenten der Supermacht geschafft hat, ein recht durchtriebener Bursche. Anderseits hatte das, wenn man über den Charakter und die Umstände nicht allzu Genaues erfuhr, durchaus einen Spritzer sex appeal. Überdies war Kennedy jung, sah gut aus, sprach gut und klar und war mit Jackie verehelicht, die nicht nur im Vergleich mit Mrs. Eisenhower eine heiß-elegante Dame mit zwei gelungenen Kindern und einer exquisiten Mode war. Das alles war damals auch deshalb notierenswert und für Spekulationen geeignet, weil die Allgemeinheit niemals näher oder gar mit der Lupe wissen konnte, was rund um die Kennedys oder auch um andere Prominente lief. Es verblieben zum allgemeinen Vorteil Riegel zur Wahrung von Intimität.

Jetzt war Kennedy tot. Man sagt bis heute, dass viele von denen, die zum Zeitpunkt des Fanals auf der Welt waren, immer noch wüssten, wo sie sich befunden hätten, als die Nachricht bekannt wurde. Ich erinnere mich, dass etwas zeitversetzt auf dem Zürcher Paradeplatz eine Extraausgabe der »Neuen Zürcher Zeitung« ausgerufen wurde, worauf – wie es Canetti in seiner Theorie eindringlich beschreibt – aus dem Nichts Menschen zusammenströmten und sehr schnell eine Masse bildeten, deren dunkle Wintermäntel bedrohliche Kompaktheit gewannen. Als zwölfjähriger Schüler verstand ich von dem Vorgang wenig. Es war nicht richtig, dass jemand so sterben musste. Es war schlimm, dass das Opfer der amerikanische Präsident war. Es wäre noch schlimmer geworden, wenn die Russen daran schuld wären.

Am Abendtisch war der Vater tief betroffen. Er sprach davon, dass es ihm vorkomme, als sei ein Bruder gestorben. Auch das verstand ich kaum, hatte aber das Gefühl, dass es schön klinge. Kennedy wäre gewissermaßen mein toter Onkel. Nicht schlecht; anderseits vollkommen unwirklich. Viel später ging mir durch den Kopf, dass ich die Sache mit der Bruderschaft auch anderswo so oder ähnlich gehört hatte. Anders gesagt, vielleicht hatte sich mein Vater bei durchaus echten Gefühlen des Schocks einer Formel bedient, die es ohnehin gab und die nun also auch für Kennedy verwendet wurde. Also ein Fall von Schmerzabfuhr durch dessen Verwandlung in ein Sprachspiel. Vergleicht man freilich mit dem Newspeak von heute und morgen, so sind Erfahrungen der Leere und der anfänglichen Verständnislosigkeit, wie sie die Stunden von Dallas im Nachhinein zuerst provozierten, kaum mehr vorstellbar.

Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass die mediale Hermeneutik, die ja schon länger auch intensiv von jedermann via Facebook, Twitter und andere Boten betrieben werden kann, keinen Zeitverzug mehr duldet. Im Augenblick des Geschehenden muss über dieses bereits berichtet und befunden werden. Selbst die Sekunde eines schweigenden Nichts wird abgetrieben. Alles ist immer Jetzt. Damit verändert sich geschichtlich aufgeladene Erfahrung. Sie büßt das Element der Geduld ein, die nicht nur dafür von Nutzen ist, die Lage der Dinge in Raum und Zeit zu sortieren und zu ergründen, sondern auch unserem emotionalen Fahrplan die nötige Zwischen- und Bremsluft lässt. Wer das besser verstehen will, denke für dramatische Ereignisse an die Stücke von Shakespeare. Eines fügt sich mal langsamer, mal schneller zum anderen, doch immer ist ein Gefälle vorhanden, das als Fläche der Dramaturgie zu bezeichnen ist.

Dieses Gefälle faszinierte uns auch bei Kennedys Ermordung, die bis heute geheimnisumwittert bleibt. Der mutmaßliche Mörder Lee Harvey Oswald konnte recht seelenruhig aus einem oberen Stockwerk des Schulbuchlagers aus dem mit einem Zielfernrohr ausgerüsteten Gewehr schießen. Niemand schaute hin. Noch Sekunden nachdem die Detonationen geknallt hatten, schien die Szenerie wie eingefroren. Dann heulten die Motoren des Lincoln Continental auf. Der ganze Pulk beschleunigte rasant. Menschen begannen zu schreien. Ein Zaungast bannte weniger als eine Minute mehr schlecht als recht auf Zelluloid. Nach und nach wurden Einzelheiten ruchbar. Auch erhielt »the big picture« Konturen. Schließlich ging es um ein kapitales Stück Weltpolitik.

28 Jahre später drehte Oliver Stone den Film »JFK«. Er war der gespielte Versuch, dem Rätsel dieser Ermordung näherzukommen. Das hastige Ineinander Hunderter von Sequenzen erzeugte jedoch absichtlich völlige Ratlosigkeit. Vor allem war der Film der genaue Ausdruck seiner Zeit, einer beschleunigten Wahrnehmung von Gegenwart, die auch auf die jüngere Vergangenheit angewandt wurde. Damals war es schon nicht mehr möglich, einen toten Präsidenten als Bruder anzusprechen. Man wusste über alle und alles einfach viel zu viel. Aber in der Erinnerung der Zeitzeugen bleibt der Tag von Dallas jedenfalls für seine Präsentation vor der globalen Öffentlichkeit auch ein Tag der Unschuld, so seltsam es klingen mag: einer heilsamen Ignoranz zum Zwecke der Verwandtschaftsbildung.

Nordwand

Über blühenden Wiesen und romantischen Stegen erhebt sich ohne irgendwelchen Abstand die große Wand. Sie ist gegen Norden gerichtet und daher fast immer düster. Vom Fuß bis zum Gipfel des Eigers messen wir wohl gegen 1800 Meter, und was die Neigung betrifft, so geht es sehr steil und auch einmal überhängend nach oben oder rasend nach unten – je nachdem. Im europäischen Vergleich ist diese Wand weiterhin schwierig und gefährlich, auch deshalb, weil sie durch Schnee und Eis führt und allen Stürmen des Wetters ausgesetzt ist. Manchmal staut sich ein Tief während Tagen vor der Nordwand.

Man muss kein Mystiker der Natur sein, um hier etwas Unheimliches, gar Verstörendes zu fühlen. Dass viele Versuche, die Wand zu durchsteigen, böse scheiterten und eine lange Reihe von Opfern hinterließen, zählt ebenfalls zur Aura. Erst 1938 gelang es einer Viererseilschaft, dieses für Bergsteiger, wie sie sagten, letzte Problem der Alpen zu lösen. Auch danach gab es immer wieder Tote – abgestürzt oder verhungert und verdurstet, erfroren oder einfach verschollen. Das vertikale Gelände ist weitläufig und lädt zu Verirrungen ein. Glaubten wir zu wissen.

Ein Ausflug Mitte der sechziger Jahre dorthin sollte uns Kinder wohl ein wenig das Gruseln lehren. Damals wuchs die erste Generation heran, von welcher ihre Eltern sagten, sie verliere langsam, aber sicher den Respekt. Womöglich traf dies zu. Von der Kleinen Scheidegg wanderten wir Richtung Grindelwald, die Wand befand sich zu unserer Rechten, und wann immer wir hochblickten, sahen wir nur finster aufeinandergetürmte Felsbänder, dazu die von den Postkarten her vertrauten weißen Flecken, hie und da ein stürzendes Wasser durch schmale Rinnen. Unheimlich waren die Geräusche. Es knirschte und knackte über uns, manchmal rollte ein Felsstück in die Tiefe und zersplitterte auf dem Schuttkegel. Manchmal schien der Wind durch die Löcher und Schründe zu pfeifen, als bliese er zum Hexenritt.

Zur Pädagogik des damaligen Bürgertums gehörte der bewährte Trick, den Nachwuchs einerseits behutsam in die Realitäten einzuweisen, ihn anderseits durch Furcht und Schutz im Idealfall für immer an die Eltern zu binden. Die Nordwand war keine Realität. Sie war jedoch eine perfekte Kulisse für die Phantasie des Grauens. Bald kamen wir an einem kleinen Zelt vorbei, aus dem ein Japaner hervorlugte. Meine Mutter verhielt sich unschweizerisch, indem sie auf ihn zuging und ihn ansprach. Es begann ein englischsprachiges Radebrechen. Bald erschien ein zweiter Japaner vor dem Zelt, der zugleich stolz und enttäuscht auf seinen Verband an der rechten Hand zeigte. Alles ebenso einfach wie frustrierend. Dem Kollegen war ein scharf fallender Stein zum Verhängnis geworden. Mit der Wand war es vorbei. Abreise nach Tokio am nächsten Tag. Aus unerfindlichem Grund schrieb sein Gefährte für meine Mutter seine Adresse auf. Man wisse ja nie.

Immerhin war das Risiko allzu früh beendeter Lebenszeit unter der Hand auf null gefahren. Uns Angsthasen leuchtete dieser Vorteil recht strahlend vor dem grauschwarzen Kalk des Eiger. – Für die Kletterer von damals war der Aspekt auch von Bedeutung. Denn Rettungen aus dieser Wand blieben noch lange schwierig, sei es später mit dem Helikopter, sei es durch einsteigende Helfer, sei es durch Seilwinden vom Gipfel her oder sogar durch ein Stollenloch, das vom Tunnel der Jungfraubahn direkt in den unteren Teil der Wand mündet. Mit anderen Worten, die erwähnte Lebenszeit bekam mit dem Gang durch die Nordwand nicht selten ein Alles oder Nichts. Entweder unentwegt und mit Biwaks zur Spitze oder im schlimmsten Falle finis commediae.

Das änderte sich erst, als auch die Ausrüstungstechnik weitere Fortschritte machte. Zudem wurden an exponierten Stellen immer mehr Haken und Fixseile installiert. Einen Höhepunkt erzwang die amerikanische Equipe unter Führung des ehemaligen Militärpiloten John Harlin 1966 mit dem Versuch der Winterdurchsteigung auf einer Direktroute oder Direttissima. Die Männer bauten sich sozusagen per Lineal durch die Wand und halfen sich mit Seilzügen, richteten Rastplätze ein und sorgten sogar für Komfort. Daseinsanalytisch betrachtet, hatten sie ihre Lebenszeit als Durchstiegszeit in einzelne Segmente zerlegt und vorratmäßig abgepackt. Wenn es oben ungemütlich wurde, fuhren sie im Seil nach unten. Es war daher grausame Ironie, dass die Wand dem Leiter der Expedition kurz vor Torschluss einen Strich durch die Rechnung zog, indem vierhundert Meter unterhalb des Gipfels dessen Seil riss – Harlin sauste über 1400 Meter in den Abgrund und wurde zerschmettert.

So blieb die Nordwand noch eine Zeitlang die geeignete Bühne für eine Allegorie des Lebens in der Ausgesetztheit durch Raum und Zeit ohne Abbruch und Neubeginn. Doch auch damit ist mittlerweile Schluss. Gewiss kann immer noch etwas passieren. Die virtuosesten Kletterer sind freilich so gut geworden, dass sie die Wand mit dem bisherigen Rekord unter zweieinhalb Stunden durchstürmen und damit auch mögliche Bedrohlichkeiten auf ein Minimum komprimieren. Man müsste sich das vorstellen können. Die Erstbesteiger waren, auch mit viel Glück, sage und schreibe vier Tage und drei Nächte unterwegs gewesen. Epos contra Quickie.

Grammophon

Ende der vierziger Jahre wurde die musikalische Welt von der Langspielplatte beglückt. Diese, aus nahezu unzerbrechlichem Vinyl gefertigt und leicht wie ein Schmetterling, löste die Schellackplatte ab, die viel schwerer wog, beim Fall zersplitterte und als Wurfgeschoss bei Familienstreitigkeiten beliebt gewesen war. Abermals kam die Erfindung aus den Vereinigten Staaten. Eine LP, Durchmesser dreißig Zentimeter, konnte nahezu eine Stunde Musik speichern. Das wurde damals als beachtlich empfunden. Niemand musste mehr alle paar Minuten aufspringen und die Scheibe wechseln, wenn Arturo Toscanini die Fünfte von Beethoven exekutierte. Das Gerät zur Wiedergabe wurde ebenfalls modern. Es setzte die Nadel mit sanftem Druck auf die Platte und hob sie am Schluss wieder empor. Auf der Oberseite des Grammophons waren drei Knöpfe angebracht, die für die verschiedenen Formate der Platten die richtige Stellung besorgten. Drückte man für eine Fünfzehn-Zentimeter-Platte aus Versehen den Knopf für das Großformat, so landete die Nadel auf dem Gummi des Plattentellers. Das war nicht gut.

Die Musik gluckste aus einem älteren Aga-Radio, also noch länger nicht Stereo. Eine grün beleuchtete Tafel zeigte die Sendestationen an, von Beromünster bis Helsinki. Bis in unser Wohnzimmer drang freilich nur Beromünster durch, mit den Nachrichten, mit dem Wunschkonzert, mit Hörspielen oder Fußballspielen, die dem Vater gratis und franko dazu verhalfen, seine Vorstellungskraft zu trainieren. Es war ein Unterschied, ob man später im Sessel vor der Scheibe döste und sich per Kamera jeden Doppelpass frei Haus servieren ließ oder ob man, nur an die Akustik angenabelt, mit dem ganzen Körper zuckte und mitwippte, weil man sich dauernd presto auszudenken hatte, was auf dem Feld los war. – Wir aber hörten viel lieber Platten.

Die erste Platte, an die ich mich erinnere, hatte ein dunkelblaues Etikett. Die Musik schmetterte mit enormem Rhythmus durch das Stoffverdeck des Lautsprechers. Alles schien Feuer, Leben, Fest. Man sagte mir, dass »Carmen« von Bizet spielte. Ein Jahr später fand sich Wilhelm Backhaus mit Beethovens fünftem Klavierkonzert bei uns ein. Damit kam es auch zu einer sonderbaren Begebenheit. Meine Eltern hörten das Konzert wieder einmal nach dem Nachtessen, während ich in meinem Zimmer bereits im Bett lag und durch die Mauern undeutlich mithörte. Mag sein, dass ich krank war und damit besonders anfällig für Gefühlslagen. Plötzlich packte und schüttelte es mich. Ich riss die Decke weg, stürzte durch das dunkle Zimmer, fand endlich die Tür, lief in den Korridor, öffnete die Tür zum Wohnzimmer, warf mich in die Arme meiner erschrockenen Mutter und begann wie verrückt zu heulen. Als ich endlich zur Sprache fand, brach es mir unter Stammeln hervor: »Mama, warum musste Beethoven sterben?«