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Leitfaden durch die Geschichte der deutschen Literatur Der erste Band der deutschen Literaturgeschichte gibt den Studierenden die Gelegenheit, sich in die Welt der Frühen Neuzeit einzulesen und die ersten Schritte der Literatur in die Moderne zu verfolgen. Ausgehend von exemplarischen Textanalysen, die von Erasmus, Luther und Hans Sachs über Opitz bis zu Fleming, Gryphius, Lohenstein, Hofmannswaldau und Grimmelshausen führen, werden die sozial-, kultur- und ideengeschichtlichen Rahmenbedingungen des literarischen Lebens ausgeleuchtet, die Wandlungen im Verständnis von Literatur erschlossen und die unterschiedlichen Schreibweisen frühneuzeitlicher Autoren transparent gemacht. Die Reihe der fünf Einführungen bildet einen kompetenten und zuverlässigen Leitfaden durch die Geschichte der deutschen Literatur vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Jeder Band stellt eine Großepoche vor und ist für sich allein verständlich.
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Geschichte der deutschen Literatur
Band 1. Humanismus und Barock
Band 2. Aufklärung
Band 3. Goethezeit
Band 4. Vormärz und Realismus
Band 5. Moderne
Gottfried Willems
Geschichte der deutschen Literatur
Band 1
Humanismus und Barock
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2012
Gottfried Willems ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.
© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in Germany
UTB-Band-Nr. 3653 | ISBN 978-3-8252-3653-3
Cover
Impressum
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Die Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis
1.2 Literaturgeschichte als Ort der Begegnung mit dem Fremden
2 Humanismus und Reformation Kultur- und ideengeschichtliche Voraussetzungen der literarischen Entwicklung
2.1 Humanismus und Literatur
2.1.1 Humanismus und Humanisten
2.1.2 Die Literaturreform von Martin Opitz und die Literatur des Barock
2.2 Reformation und Literatur
2.2.1 Die Spaltung der Christenheit
2.2.2 Christentum und Kunst
2.2.3 Luthers Fabeln und der Literaturbegriff der frühen Neuzeit
2.2.4 Religiöse Vorbehalte gegenüber der Literatur und Restriktionen des literarischen Lebens
2.3 Die Aufwertung von Kunst und Literatur in der frühen Neuzeit
2.3.1 Das Renaissancebild des 19. Jahrhunderts
2.3.2 Neue Möglichkeiten und alte Grenzen von Kunst und Literatur
2.3.3 Humanistisches Dichterlob: Gedichte auf Opitz
3 Literatur und Ständegesellschaft Sozialgeschichtliche Voraussetzungen der literarischen Entwicklung
3.1 Ständegesellschaft und sozialer Wandel in der frühen Neuzeit
3.1.1 Das Bild der Gesellschaft in Zesens „Adriatischer Rosemund“
3.1.2 Das Bild der Gesellschaft in Grimmelshausens „Simplicissimus“
3.1.3 Spuren des Frühkapitalismus im „Pegnesischen Schäfergedicht“ von Harsdörffer und Klaj
3.2 Literatur und höfisches Leben
3.2.1 Die Fürsten- und Hofspiegel des Humanismus und die Nähe von Literatur und Sachbuch
3.2.2 Lohensteins „Cleopatra“ als Fürsten- und Hofspiegel
3.2.3 Kritik am höfischen Leben und Schäferdichtung
4 Humanismus und Popularliteratur
4.1 Dichtung bei Hans Sachs
4.2 Dichtung bei Paul Fleming
4.3 Erasmus als Kritiker der Popularliteratur
4.4 Grimmelshausen als Kritiker der humanistischen Literatur
4.4.1 Grimmelshausen und sein Roman „Der Abentheurliche Simplicissimus“
4.4.2 Kritik am Humanismus und seiner Literatur
4.4.2.1 Schäferdichtung
4.4.2.2 Liebeslyrik
4.4.2.3 Roman
4.4.2.4 Mythos
5 Literatur als Unterhaltung und Belehrung Das Beispiel des Schwanks
5.1 Der Literaturbegriff der frühen Neuzeit
5.2 Schwank und Literatur
5.3 Probleme bei der Interpretation von Schwänken
5.4 Schwänke als Unterhaltungsliteratur
5.5 Der Schwank als Mittel der Belehrung
5.6 Unterhaltung und Belehrung in Gryphius’ „Peter Squentz“
6 Erasmus von Rotterdam und sein „Lob der Torheit“
6.1 Erasmus und die Literatur
6.2 Die „Adagien“ von Erasmus und die Bildlichkeit der frühneuzeitlichen Literatur
6.3 Unterhaltung und Belehrung im „Lob der Torheit“
6.4 Das „Lob der Torheit“ und der Tor der „Narrensatire“
6.5 Das „Lob der Torheit“ und der Weise des Neustoizismus
6.6 Vom „Lob der Torheit“ zur modernen Literatur
Anhang
Siglen
Literaturhinweise
Personenregister
Rückumschlag
Ein Leitfaden, kein Handbuch
Wer heute Literaturwissenschaft studiert, dem kann es passieren, daß er sein Fach nurmehr als einen Flickenteppich von Spezialgebieten erlebt. Die intensive Spezialisierungund methodische Diversifikation der Forschung hat dazu geführt, daß er der Literaturgeschichte sowohl in der Lehre als auch in der Fachliteratur nur noch in mehr oder weniger eng bemessenen Ausschnitten begegnet. Es bleibt dem Zufall überlassen, auf welche Weise daraus im Laufe des Studiums ein Gesamtbild der geschichtlichen Entwicklung zusammenwächst, ja ob es überhaupt dazu kommt. Hierin liegt ein Problem, das die Wissenschaft nicht sich selbst überlassen darf. Denn wer ein Fach wie Literaturwissenschaft studiert, der geht im allgemeinen auf Zusammenhang aus; der will sich einen weiteren Horizont erwerben, in dem er die Literatur und all das, wovon sie handelt und was sie und ihre Leser bewegt, verarbeiten kann – wie ja überhaupt der Beitrag der Geistes- und Kulturwissenschaften weniger im Verfügbarmachen eines praxisrelevanten Spezialwissens als vielmehr in der Erarbeitung von weiteren Horizonten des individuellen und gesellschaftlichen Handelns besteht, im Skizzieren von Landkarten, die es den Menschen erlauben, sich mit mehr Übersicht in der kulturellen Landschaft und der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zu bewegen.
Hier soll nun versucht werden, dem Studierenden in einer Reihe von fünf Einführungen – Band 1: 16. und 17. Jahrhundert (Humanismus und Barock), Band 2: 18. Jahrhundert (Aufklärung), Band 3: Vom 18. zum 19. Jahrhundert (Goethezeit, Klassik und Romantik), Band 4: 19. Jahrhundert (Vormärz und Realismus), Band 5: Vom 19. zum 20. Jahrhundert (Moderne) – einen Leitfaden an die Hand zu geben, der es ihm ermöglicht, die Geschichte der Neueren Deutschen Literatur im Zusammenhang kennenzulernen und sich ein Gesamtbild der Entwicklung zu erarbeiten. Ziel ist es, ihm all das an Kenntnissen und Fähigkeiten nahezubringen, dessen er als ein heutiger Leser bedarf, um bei einem unbekannten literarischen Text sogleich einige
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Anknüpfungspunkte zu finden, von denen aus er ihn sich erschließen kann. Die Bände sind so gestaltet, daß jeder einzelne auch für sich verständlich ist und als Einführung in die Literatur einer Großepoche dienen kann. Dabei haben sich thematische Überschneidungen nicht ganz vermeiden lassen. Es wird sich bei den Repliken aber hoffentlich um Themen handeln, die eine Wiederholung vertragen, sei es weil sie von grundsätzlicher Bedeutung sind oder weil sie über der Behandlung in je anderen historischen Kontexten an Profil gewinnen.
Die Arbeit an einem solchen Leitfaden begriff die Literaturwissenschaft lange Zeit als ihre vornehmste Aufgabe. Sie suchte ihr vor allem mit Literaturgeschichten zu entsprechen, in denen sie ihr Wissen zusammentrug. Gerade das Geschäft des Schreibens von Literaturgeschichten ist in den letzten Jahrzehnten aber ins Stocken geraten, aus nur allzu verständlichen Gründen. Die klassische Literaturgeschichte hatte den Anspruch der Vollständigkeit; es sollten in ihr alle wichtigen Epochen, literarischen Bewegungen, Autoren und Werke zur Geltung kommen. Dieser Anspruch läßt sich jedoch in Zeiten der Spezialisierung und methodischen Diversifikation kaum noch in einem überschaubaren Rahmen einlösen, jedenfalls nicht auf dem inzwischen erreichten wissenschaftlichen Niveau.
So ist man denn weithin dazu übergegangen, die Literaturgeschichte in kleine und kleinste thematische Einheiten zu zerlegen, deren Darstellung auf Spezialisten zu verteilen und die so entstehenden Beiträge in vielbändigen Sammelwerken zusammenzutragen. Dabei mußte aber gerade das, was der Leser in einer Literaturgeschichte zunächst und vor allem sucht, der rote Faden, die kontinuierliche Erschließung eines weitgespannten Entwicklungszusammenhangs, auf der Strecke bleiben. Ja die Gattung Literaturgeschichte nahm darüber einen ganz anderen Charakter an; an die Stelle eines Buchs für die zusammenhängende Lektüre trat das Nachschlagewerk, das nur noch punktuell, im Blick auf diese oder jene besondere Fragestellung konsultiert wird. An solchen Nachschlagewerken ist freilich kein Mangel; gerade in den letzten Jahrzehnten sind eine ganze Reihe von Lexika und Handbüchern entstanden, die für jede erdenkliche Nachfrage Auskunft bereithalten. Was fehlt und von den Studierenden zunehmend vermißt wird, sind Arbeiten, die sich explizit und in einem überschaubaren Rahmen am Anspinnen eines roten Fadens versuchen.
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Hierbei ist freilich eine Gefahr zu bannen, der ein solcher Versuch nur allzu leicht erliegen kann: das Bestreben, den Umfang überschaubar zu halten, darf nicht dazu führen, daß literaturgeschichtliche Entwicklungen, Autoren und Werke jeweils nur mit einigen wenigen allgemeinen Wendungen charakterisiert werden, die so weit über den Texten schweben, daß sie sich kaum für eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen aktivieren lassen, zumal sich dabei leicht eine Tendenz zu Allgemeinplätzen durchsetzen kann, die, wo sie nicht überhaupt von nichtssagender Allgemeinheit bleiben, vielfach fragwürdig gewordene Bestände der älteren Literaturgeschichtsschreibung transportieren. Denn daß sich die Forschung in so hohem Maße spezialisiert und dabei immer wieder die großen literaturgeschichtlichen Zusammenhänge beiseite gesetzt hat, läßt den, der denn doch einmal auf sie zu sprechen kommt, nur allzu leicht auf Konstrukte der älteren Literaturgeschichtsschreibung zurückgreifen, die zu gängiger Münze geworden sind, die im Licht der neueren Forschung jedoch kaum mehr standhalten. Das letzte, was man einem Studierenden antun dürfte, der nach einer Einführung in den Entwicklungszusammenhang der deutschen Literatur fragt, wäre aber wohl, ihn in ein Beinhaus ausrangierter Allgemeinplätze zu führen.
So soll hier ein anderer Weg gewählt werden, der von einem Sich-entlang-Hangeln an Allgemeinplätzen ebensoweit entfernt wäre wie von dem Sich-Verlieren in Spezialgebieten. Die Voraussetzung dafür ist der Verzicht auf Vollständigkeit, was Namen, Werke, Gattungen und literarische Bewegungen anbelangt, die Konzentration auf einige wenige thematische Schwerpunkte und auf eine überschaubare Zahl von Autoren und Werken, und zwar vor allem auf solche, von denen aus sich die Schwerpunktthemen auf exemplarische Weise entwickeln lassen. Ihnen soll hier der Platz eingeräumt werden, dessen es bedarf, um sie auf dem heute geforderten Niveau zu behandeln und der Komplexität der Probleme und der literarisch-ästhetischen Strukturen nicht mehr als nötig schuldig zu bleiben.
Dabei soll besonders auf ein enges Ineinandergreifen von Problementwicklung und Textanalyse geachtet werden; was an Problemen von allgemeiner Bedeutung verhandelt wird, soll sich nach Möglichkeit von Textbefunden her ergeben, wie umgekehrt das, was an Thesen dargestellt wird, von den Texten her plausibel werden soll. Denn
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nur so wird der Leser wirklich eingeführt werden; nur so kann er ein tieferes Verständnis für die Texte entwickeln und die Wissensbestände, die vor ihm ausgebreitet werden, so aufnehmen, daß er sie selbständig zum Einsatz bringen kann. Die literarischen Texte und die sprachliche Wirklichkeit einer Epoche sollen so oft und so einläßlich wie möglich selbst zu Wort kommen, damit sich der Leser mit ihnen vertraut machen und ein Gespür für sie entwickeln kann. Ohnehin wird die Beschäftigung mit der Literaturgeschichte nur durch die unmittelbare Begegnung mit der Literatur selbst interessant und aufschlußreich. So soll denn diese Reihe von Einführungen weniger den Charakter eines Handbuchs oder eines Notaggregats zum Anpauken von Basiswissen als den eines Lesebuchs haben, das zum Einlesen in die Literaturgeschichte einlädt und dabei nach und nach einen weiteren Horizont des Verstehens und ein Gefühl für die Texte entstehen läßt.
Der rote Faden:der Weg der Literatur in die Moderne
Bei solchem Vorgehen ist natürlich alles daran gelegen, nach welchen Gesichtspunkten die thematischen Schwerpunkte gesetzt und die Beispiele ausgewählt werden. Es müssen Gesichtspunkte sein, von denen aus sich die literaturgeschichtlichen Entwicklungen sowohl in der Tiefe als auch in der Breite erschließen lassen. Welche Frage könnte hier aber weiter tragen als die, von der her sich die Beschäftigung mit der Geschichte überhaupt begründet, als die Frage, wie geworden ist, was heute ist; unter welchen Umständen, auf welche Weise, aus welchen Gründen und aus welchen Motiven heraus sich das herangebildet hat, was wir heute an gesellschaftlichen Verhältnissen, an kulturellem Leben und an Literatur vor uns haben. Denn der Blick in die Geschichte ist immer ein Blick von heute aus, und überdies einer, der auch wieder im Heute ankommen will, wie sehr die Vertiefung in die Vergangenheit, das antiquarische Interesse zwischenzeitlich auch zum Selbstzweck werden mag. Wie dieser Blick von den Verhältnissen der Gegenwart seinen Ausgang nimmt, durch sie motiviert und konditioniert ist, so zielt er letztlich auf ein besseres, umfassenderes und schärferes Bild von ihnen. Für die Geschichtsschreibung ist die Gegenwart nun einmal das telos der Geschichte – eine methodische Einsicht, die keineswegs mit dem Bekenntnis zu einem teleologischen Geschichtsbild verwechselt werden darf, die unbeschadet dessen gilt, wie man über Fragen der Teleologie denkt.
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So soll denn die Geschichte der Neueren Deutschen Literatur hier aufgerollt werden, indem dem Weg der Literatur in die Moderne nachgegangen wird. Und zwar soll dies so geschehen, daß überall gezielt nach den Triebkräften, Formen und Problemen der Modernisierung gefragt wird, wie sie die moderne Sozial- und Kulturgeschichte herausgearbeitet hat. Nur ein solches bewußtes Fragen, das sich nicht einfach der Vorstellung überläßt, alles, was sich in der Neuzeit an Entwicklungen zeige, werde schon irgendwie unterwegs zur Moderne sein, kann dazu führen, daß am Ende wirklich so etwas wie ein roter Faden kenntlich wird.
Triebkräfte und Formen der Modernisierung – damit sind hier vor allem die folgenden sozial- und kulturgeschichtlichen Phänomene gemeint: 1. die Verwissenschaftlichung von Welt- und Menschenbild durch die moderne Wissenschaft und die Umgestaltung der Lebensformen in ihrem Sinne, bis hin zu den verschiedenen technisch-industriellen Revolutionen, 2. die Säkularisation als fortschreitende Lösung von den Dogmen, Normen und Ritualen der Religion, 3. die Entwicklung neuer Formen von physischer, kommunikativer, weltanschaulicher und sozialer Mobilität, 4. die Individualisierung, die zunehmende Fokussierung auf das Individuum, und 5. die Entwicklung der pluralistischen Gesellschaft als einer Gesellschaft, die einem Pluralismus von Weltanschauungen und Lebensformen Raum gibt. Daß alle diese Entwicklungen von fundamentaler Bedeutung für die Literatur sind, so sehr, daß sich ohne ihre Würdigung deren Geschichte nicht schreiben läßt, liegt auf der Hand. Die Literatur ist sowohl aktiv an ihnen beteiligt, hat sowohl nach Kräften geholfen, sie mit voranzutreiben, als sie durch diese auch selbst eine Umgestaltung erfahren hat, die geradezu ihren Charakter als Literatur verändert hat. Insofern läßt sich ihre Geschichte wohl nur von jenen Entwicklungen aus begreifen.
Der Weg in die Moderne ist aber nicht nur der Weg eines einsinnig vor sich hin prozessierenden Fortschritts gewesen; er ist nicht minder durch Probleme gekennzeichnet, die allererst solcher Fortschritt in die Welt gebracht hat, und auch die Probleme der Modernisierung haben in der Geschichte der Literatur tiefe Spuren hinterlassen. Die Verwissenschaftlichung der Welt und die dadurch mögliche Mobilisierung aller natürlichen und kulturellen Ressourcen ließ mancherorts einen totalitären Machbarkeitswahn, einen Totalitarismus entstehen. In
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Verbindung mit der Säkularisation führte der Siegeszug der Wissenschaft in eine weltanschauliche Unruhe hinein, die vielfach als problematisch erlebt wurde, insofern sie die verschiedensten Formen von Materialismus, Skeptizismus und Nihilismus aus sich entließ. Die neuen Formen der Mobilität wurden von den Menschen immer wieder als eine Art „Entwurzelung“, als Herausgerissenwerden aus einem Gefüge von Lebensformen erfahren, das Sicherheit und Orientierung verbürgte. Der Pluralismus stellte sich als „Verlust der Einheit“ oder „Verlust der Mitte“ dar, und in Verbindung mit der Individualisierung als „Atomisierung“ der Gesellschaft. Und die immer stärkere Fokussierung auf das Individuum führte mancherorts zu einer Art Selbstaufhebung der Individualisierung in einer radikalen Problematisierung des Ichs, die allerlei plurale Ich-Konzeptionen auf den Weg brachte.
Schließlich gehören zum Weg der Literatur in die Moderne auch die vielen Ersatzreligionen hinzu, die im Zuge der Modernisierung entstanden sind, jene quasi-religiösen Weltanschauungen, die es den Menschen erlauben sollten, sich auf dem Boden einer säkularisierten Kultur mit der Modernisierung und ihren problematischen Seiten ins Benehmen zu setzen. Hier ist zunächst der Glaube an den Fortschritt selbst zu nennen, wie er sich in den Formen des Glaubens an die Geschichte (Historizismus) und des Glaubens an die Wissenschaft (Szientismus) realisiert hat, sodann der Glaube an die Natur (Pantheismus), die „Kunstreligion“ (Ästhetizismus) und die „Humanitätsreligion“, schließlich die „Nationalreligion“ und die anderen politischen Ersatzreligionen als Sonderformen des Historizismus sowie der Glaube an das Leben (Vitalismus) als eine Weiterentwicklung des Pantheismus, bei der das säkularisatorische Moment stärker zur Geltung kommt. Diese Ersatzreligionen gehören neben der Entwicklung der modernen Wissenschaften zu den wichtigsten ideengeschichtlichen Voraussetzungen der literarischen Entwicklung, sei es daß die Literatur unbewußt von ihnen beeinflußt worden ist, sich bewußt in ihren Dienst gestellt oder kritisch an ihnen abgearbeitet hat.
Damit sind bereits die wichtigsten der thematischen Schwerpunkte benannt, die das Rückgrat dieses Leitfadens durch die Geschichte der neueren deutschen Literatur bilden sollen. Was dabei an Autoren und Werken zur Sprache kommt, soll vor allem so ausgewählt werden, daß sich diese Schwerpunktthemen an ihnen exemplarisch entwickeln und
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diskutieren lassen. Allerdings soll bei ihrer Auswahl auch auf ihren Stellenwert im Kanon der Überlieferung geachtet werden; denn von einer Einführung wird zunächst und vor allem erwartet, und zu Recht erwartet, daß man sich in ihr mit dem Kanon vertraut machen kann.
Leitfragen
So soll denn in jedem der fünf Bände die Darstellung der jeweiligen Großepoche von den folgenden Leitfragen aus aufgerollt werden: 1. Welches Bild haben wir heute von ihr? Was von ihr und ihrer Literatur hat sich im kulturellen Gedächtnis erhalten, und auf welche Weise, unter welchen Vorzeichen? 2. Was sind seinerzeit die prägenden kulturgeschichtlichen Entwicklungen gewesen, und was die entscheidenden ideengeschichtlichen Bewegungen, wie sie sich in der Literatur wiederfinden? Und 3. wie haben sich von diesen Voraussetzungen her der soziokulturelle Stellenwert und die Auffassungen vonLiteratur, das literarische Leben und die Literatur selbst verändert? Wenn dabei dem kultur- und ideengeschichtlichen Wandel und dem literarischen Leben verhältnismäßig viel Platz eingeräumt wird, so wird damit auch der Entwicklung Rechnung getragen, die die literaturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahrzehnten genommen hat, dem, was man ihre kulturwissenschaftliche Wende genannt hat. Und auch hier soll versucht werden, die zeitgenössischen Quellen so oft wie möglich selbst sprechen zu lassen; der Leser soll nicht nur sozialgeschichtliche Großthesen von heute zu hören bekommen, sondern mit der Vorstellungswelt und den Realitäten der Epoche selbst Fühlung aufnehmen können.
Revision der Literaturgeschichte
Schließlich zielt dieser Versuch einer Rekonstruktion der Literaturgeschichte am Leitfaden der Geschichte der Modernisierung nicht nur darauf, den Studierenden eine erste Orientierung an die Hand zu geben, die dem heutigen Stand der Wissenschaft genügt. Es verbindet sich mit ihr auch die Hoffnung, der Wissenschaft selbst Impulse geben und Beiträge zu einer Revision der literaturgeschichtlichen Bestände leisten zu können. Wenn so weite literaturgeschichtliche Zusammenhänge ins Auge gefaßt werden wie hier, dann kann es nicht ausbleiben, daß einige der Probleme neuerlich in den Blick treten, die nur allzu gerne an den Grenzen zwischen den etablierten Spezialgebieten, insbesondere in den Übergangszonen zwischen den Epochen liegengelassen werden, und gerade ihnen soll besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.
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Spezialisierung und methodische Diversifikation bedeuten ja nicht nur einen Gewinn, sondern immer auch einen Verlust. Sie schaffen die Möglichkeit, sich bestimmten Gegenständen intensiver zuzuwenden, indem sie ausblenden, was an ihnen eigentlich nur in weiteren literarhistorischen Kontexten kenntlich werden kann. So kommt es, daß dort, wo innerhalb eines Spezialgebiets zur Profilierung des jeweiligen Gegenstands dann doch einmal auf Gegenstände anderer Spezialgebiete Bezug genommen, etwa des literarhistorischen Vorher und Nachher gedacht wird, immer wieder auf Vorstellungen zurückgegriffen wird, die in diesen anderen Spezialgebieten schon längst in Frage gestellt worden sind – die bereits erwähnten Allgemeinplätze, in denen ältere Stufen der Literaturgeschichtsschreibung konserviert sind. Und das mindert natürlich den Ertrag der Spezialforschung empfindlich, ja stellt ihn gelegentlich überhaupt in Frage.
So ist zum Beispiel dort, wo von der Literatur des Sturm und Drang, der Klassik oder der Romantik gehandelt wird, vielfach nach wie vor an zentraler Stelle von der „Überwindung der Aufklärung“ die Rede, so wie es sich in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts – aus mehr als problematischen Gründen – eingebürgert hat; dabei wird Aufklärung mit Rationalismus oder Logozentrismus gleichgesetzt. Ob es um den Sturm und Drang, die Klassik oder die Romantik geht – immerzu soll der angebliche Rationalismus der Aufklärung überwunden werden. Dabei hat die internationale Aufklärungsforschung schon vor Jahrzehnten – in Deutschland spätestens seit Cassirer, oder jedenfalls doch seit Kondylis – klargestellt, daß die Literatur der Aufklärung des 18. Jahrhunderts dem Rationalismus, wie er aus der frühen Neuzeit auf sie gekommen ist, prinzipiell kritisch gegenübersteht und statt dessen an einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ arbeitet, auf Sensualismus und Sentimentalismus setzt.
Wo der nicht auf die Aufklärung spezialisierte Sturm-und-Drang-, Klassik- oder Romantikforscher auf die Literatur der Aufklärung blickt, fällt ihm dann natürlich nur in die Augen, was sich da allenfalls noch an Restbeständen eines älteren Rationalismus findet. Freilich, wie soll er diese Bestände als Restbestände erkennen können, wenn er den Rationalismus der frühen Neuzeit, insbesondere den Neustoizismus des Humanismus nicht kennt, jenen Neustoizismus, der die Literatur bis hin zum Barock prägt und für die Aufklärung dann zu der Folie
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wird, vor der sie sich mit Neuem, Andersartigem profiliert. Und wie soll er, wo er den vernunftkritischen Grundimpuls der Aufklärung und seine Entfaltung in Sensualismus und Sentimentalismus nicht erfaßt hat, erkennen können, in welchem Maße noch die Literatur von Sturm und Drang und Klassik von ihm getragen ist. Ohne Kenntnis des Humanismus kein rechtes Verständnis des Barock, ohne Kenntnis des Barock kein rechtes Verständnis der Aufklärung, ohne Kenntnis der Aufklärung kein rechtes Verständnis des Sturm und Drang, der Klassik und Romantik – und so immer weiter bis zur Gegenwart.
Und nicht nur die Kenntnis des Vorher, auch die des Nachher ist für das Verständnis der Literatur einer Epoche unentbehrlich. Wer sich nicht von dem historischen Prozeß Rechenschaft gibt, in dem im 19. Jahrhundert die Literatur der Zeit um 1800 zum klassischen Höhepunkt der deutschen Nationalliteratur stilisiert worden ist, der wird immer durch die trübe Brille der Klassik-Doktrin mit ihren Begriffen von Nation, Politikflucht, Griechenseligkeit und klassischer Formkunst im Zeichen des Schönen auf diese Literatur blicken müssen. Erst in weiteren Zusammenhängen, wie sie hier in den Blick genommen werden, wird eine Auseinandersetzung möglich, die aus dem Bann der ebenso schiefen wie abgedroschenen Vorstellung heraustritt, die Literatur um 1800 habe die Aufklärung überwinden wollen, um eine nationale deutsche Klassik zu schaffen.
Dabei kann gerade der Zugriff über die Sozial- und Kulturgeschichte der Modernisierung gute Dienste tun, wird es von ihm aus doch möglich, wesentlich Züge der Literatur der „Goethezeit“ als moderne Züge zu fassen, nämlich zu zeigen, daß sie sich weniger an einem zeitlos-klassischen Ideal der Schönheit als vielmehr an dem abgearbeitet hat, was hier an Problemen der Modernisierung benannt worden ist – wohlgemerkt: an den Problemen der Modernisierung, nicht an denen der Aufklärung! – also an den problematischen Zügen der Verwissenschaftlichung der Welt, der Säkularisation, des Materialismus, Skeptizismus und Nihilismus, der neuen Mobilität, des neuen Pluralismus und Individualismus, auch und gerade dort, wo sie die aktuelle Politik flieht und nach Griechenland schaut. Überhaupt wird es von ihm aus möglich, der primitiven Opposition klassische Formkunst – politisches Engagement zu entkommen, wie sie seit jeher nicht nur den Blick auf die Klassik, sondern auch den auf
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den Vormärz und auf spätere Epochen verstellt hat. In diesem Sinne soll die vorliegende Reihe von Einführungen nicht nur der Rekonstruktion, sondern auch der Revision der Literaturgeschichte dienen, einer kritischen Überprüfung der Begriffe, mit denen die Wissenschaft Literatur kennzeichnet, wo sie diese historisch verortet und in einen Epochenzusammenhang rückt.
Hauptlinien der Entwicklung
So verbindet sich mit diesem Versuch, die Geschichte der neueren deutschen Literatur am Leitfaden der Geschichte der Modernisierung zu erkunden, die Hoffnung, einige weitgespannte Entwicklungslinien aufzeigen zu können, von denen aus sich auch die historisch fernsten Epochen den Fragen, Interessen und Verstehensmöglichkeiten der Gegenwart erschließen und sich die Literaturen der berührten Epochen, der früheren und der späteren, immer wieder wechselseitig kommentieren und erhellen.
Eine erste dieser Entwicklungslinien wird, wie angedeutet, die Geschichte der Verwissenschaftlichung der Welt sein, wie sie bis heute dank der Akademisierung des Wissens und der Bildung, dank Arbeitsteilung und moderner Technik alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens erfaßt und durchdrungen hat. Schon der Humanismus geht auf eine solche Verwissenschaftlichung aus, aber auf der Basis eines anderen als des modernen Wissenschaftsbegriffs – den hat er selbst erst allmählich aus sich hervorgebracht – so daß „Kunst und Wissenschaft“ hier noch eine fraglose Einheit bilden können. Als die moderne Wissenschaft dann in der Zeit der Aufklärung Gestalt annimmt, zerbricht diese Einheit, und die Kunst sucht die Autonomie gegenüber der Wissenschaft. Seither ist das Verhältnis der Literatur zur Wissenschaft ein ambivalentes; bald sucht sie den Anschluß an sie wie noch in der frühen Aufklärung oder dann im Naturalismus und gelegentlich in der Neuen Sachlichkeit, bald geht sie zu ihr auf Distanz und setzt sich kritisch mit ihren Folgen auseinander wie im Symbolismus, und bald betreibt sie beides zugleich wie in bestimmten Phasen von Klassik, Romantik, Realismus und Moderne.
Als eine zweite Entwicklungslinie soll die Geschichte der Säkularisation und der mit ihr verbundenen zunehmenden weltanschaulichen Unruhe verfolgt werden. Wenn sich die Literatur bis zum Barock mit der größten Selbstverständlichkeit auf den Boden der christlichen Religion stellte, wobei freilich stets die Frage war, im Sinne welcher Konfession,
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so ist sie seit der Aufklärung auch hier auf Autonomie ausgegangen, um sich in verschiedenen Ersatzreligionen eine andere Grundlage zu schaffen. In Aufklärung und Klassik sind das vor allem der Pantheismus und die „Humanitätsreligion“, in der Romantik zunächst die „Kunstreligion“ und dann die „Nationalreligion“, im Vormärz darüber hinaus auch der Historizismus. Im Realismus hat es die Literatur dann mit allen diesen Ersatzreligionen gleichzeitig und in wechselnden Mischungen probiert, im Naturalismus vor allem mit dem Szientismus und im Symbolismus wieder mehr mit der „Kunstreligion“, dem Ästhetizismus. Erst in der Moderne des 20. Jahrhunderts haben sich verstärkt areligiöse, atheistische oder agnostische Positionen zu Wort gemeldet, wobei diese vielfach dem Vitalismus verpflichtet blieben.
Als eine dritte Entwicklungslinie soll die zunehmende Mobilität von Menschen und Meinungen, Informationen und Dingen ins Auge gefaßt werden; dabei soll insbesondere auf die Phänomene der sozialen Mobilität eingegangen werden. Wenn sich der Mensch in der frühen Neuzeit weithin noch an einen bestimmten Ort in der Ständegesellschaft, an eine bestimmte Region und Religion und an die von ihnen her gegebenen Traditionen und Konventionen gebunden sah, so lockerten sich seit dem 18. Jahrhundert alle diese Bindungen, um im 19. Jahrhundert, in der Zeit der industriellen Revolution, der Landflucht und der großen Auswanderungen auf eine Weise in Bewegung zu geraten, die zugleich jede erdenkliche Form von Karriere und von sozialem Absturz möglich werden ließ.
Die Literatur hat diesen Prozeß mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt, nicht nur weil ihr von ihm aus immer wieder neuer Erzählstoff zuwuchs. Sie erblickte in ihm ebensowohl einen Prozeß der Befreiung, der der Individualisierung die nötigen Spielräume verschaffte, wie einen Prozeß der „Entwurzelung“, der die Menschen in äußere Unsicherheit und innere Haltlosigkeit stieß, so daß sie nun verstärkt nach den Wurzeln des Menschen fragte, etwa nach Geschichte, Nation und Heimat. Wenn sie hier im Namen der Selbstverwirklichung des Individuums an der weiteren Verflüssigung von Traditionen und Konventionen arbeitete, so vertiefte sie sich dort in die Problematik des „flexiblen Menschen“ (R. Sennett) und suchte in dem unausgesetzten Vorsichhinprozessieren der Modernisierung Räume der „Entwicklungsfremdheit“ (G. Benn) zu eröffnen.
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Eine vierte Entwicklungslinie, die hier verfolgt werden soll und die für die Literatur von besonders großer Bedeutung ist, ist die Geschichte der Individualisierung. Sie beginnt mit der Individualisierung des Gottesbezugs in den Kirchen der Reformation und insbesondere in den neuen Sekten, etwa im Pietismus, um in Zeiten der Aufklärung zum ureigensten Anliegen der Literatur zu werden. Wenn die Literatur zuvor in allen Belangen auf das Typische ausgegangen war, so vertiefte sie sich nun mehr und mehr in das Originelle, Singuläre und in die Selbstverhältnisse des Individuums. Dabei gewann die Dimension des Unbewußten immer größere Bedeutung für ihr Menschenbild, im 18. Jahrhundert zunächst vor allem in Gestalt der Kräfte des „Es“, der naturgegebenen Instinkte, im 19. Jahrhundert dann zunehmend auch in Form der Kräfte des „Man“, der verinnerlichten Normen einer Gesellschaft.
Die zunehmende Aufmerksamkeit auf das Unbewußte führte an der Schwelle zur Moderne des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit dem Einfluß, den die moderne wissenschaftliche Psychologie in dem szientistisch gestimmten Raum des Naturalismus entfaltete, schließlich zu einer Krise der Ichbegriffe, zur Vorstellung vom „unrettbaren Ich“ (H. Bahr), mit unabsehbaren Folgen für die Literatur. Seither dominieren plurale Ich-Konzepte, die das Bewußtsein unter dem Einfluß des „Es“ und des „Man“ wissen, die Darstellung des Menschen. Das gilt jedenfalls für die Kunstliteratur; die Unterhaltungsliteratur arbeitet weiter mit der überkommenen Charakterpsychologie und wird wohl bis ans Ende aller Tage dabei bleiben.
Eine letzte, fünfte Entwicklungslinie, von der aus die Geschichte der neueren Literatur erschlossen werden soll, ist der Weg zur pluralistischen Gesellschaft. Er beginnt mit der Reformation, mit der Konfessionalisierung von Kultur und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Idee der Einheit der Christenheit wird er zunächst freilich immer nur als ein Mißstand begriffen, als eben der Mißstand, als die stete Quelle von Konflikten, die er für die frühmoderne Gesellschaft in der Tat auch ist. Erst der Natur- und Toleranzdiskurs der Aufklärung eröffnet die Möglichkeit, in einem Pluralismus der Religionen, Weltanschauungen und Lebensstile eine Bereicherung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens zu erblicken, wenn nicht gar die Grundform einer wahrhaft modernen Gesellschaft.
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Aus der Wendung der Romantik zum Nationalismus entspringt dann allerdings ein kultur- und zivilisationskritischer Diskurs, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland immer mehr die Oberhand gewinnt und für den solcher Pluralismus vor allem den „Verlust der Einheit“ oder „Verlust der Mitte“ bedeutet. Hier erscheint er als die innerste Quelle einer Entwicklung, über der sich die Gesellschaft von einer organischen Menschengemeinschaft in ein Gefüge von Institutionen, eine bürokratische Maschine verwandelt und das Individuum jeder Möglichkeit beraubt wird, sich innerlich zu ihr und zu den anderen Individuen ins Verhältnis zu setzen. Von diesem Nicht-fertig-Werden mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaft bezieht die Literatur seit der Jahrhundertwende wesentlich die Energien, die sie mit der Überlieferung brechen, die überkommenen Formen sprengen und nach neuen, andersartigen Möglichkeiten der Darstellung Ausschau halten lassen; es begründet jenen „modernen Antimodernismus“, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht. Ob die zweite Jahrhunderthälfte hier mit dem Schritt in eine Postmoderne einen Wandel hat bringen können, wird sich wohl erst in Zukunft klären.
Komparatistischer Zugriff
Daß am Leitfaden dieser Entwicklungslinien in die Geschichte der neueren deutschen Literatur eingeführt werden soll, hat zur Folge, daß hier nicht nur die deutschen Verhältnisse und deutsche Quellen in den Blick genommen werden können. Der Weg in die Moderne ist ja ein Weg, den die Deutschen und ihre Kultur mit anderen europäischen Nationen teilen, den sie mit ihnen gemeinsam und in ständigem Austausch mit ihnen gegangen sind, so daß er kaum verständlich werden könnte, wenn man sich auf Deutsches beschränken wollte. So soll zumindest an einigen neuralgischen Punkten der Entwicklung komparatistisch verfahren und der Einwirkung der Kultur und Literatur dieser anderen Nationen Rechnung getragen werden. Das betrifft zunächst den Humanismus, der ein gemeineuropäisches Phänomen war, wie er sich ja auch vor allem des Neulateinischen als gemeineuropäischer lingua franca bediente. Die wesentlichen Impulse der Aufklärung kommen aus England bzw. Schottland und aus Frankreich nach Deutschland. Die Französische Revolution und ihre Folgen lassen die deutsche Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder nach Paris schauen. Und auch die ersten Impulse eines Modernismus im engeren Sinne hat die
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deutsche Literatur mit Symbolismus und Naturalismus aus Frankreich empfangen, um von ihnen aus in den Raum einer internationalen Moderne einzutreten. Dem ist die gebührende Beachtung zu schenken.
Belegpraxis
Zum Schluß noch ein Wort zur Belegpraxis. Jedem, der mit der Forschungslandschaft vertraut ist, ist klar, daß bei einer Arbeit wie dieser, den Üblichkeiten der Wissenschaft gemäß, eigentlich bei jedem Absatz, ja fast bei jedem Satz eine seitenlange Diskussion zu führen wäre, in der die vorgetragenen Thesen mit der Forschungslage abgeglichen würden. Das kann aber natürlich nicht geschehen; es hätte den Erstickungstod des Unternehmens zur Folge. So sollen hier in den Anmerkungen vor allem die Zitate nachgewiesen werden; dabei soll auf möglichst leicht erreichbare Ausgaben zurückgegriffen werden. Darüber hinaus sollen lediglich einige besonders ergiebige, rasch weiterführende Anschlüsse an die Forschungsdiskussion benannt werden. Was sich in Handbüchern und Lexika nachschlagen läßt, bleibt ohne Nachweis.
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Neuere Deutsche Literatur
Wer sich für ein Studium der Germanistik und hier wiederum für den Schwerpunkt Neuere Deutsche Literatur entscheidet, der wird dabei kaum schon an die Literatur der frühen Neuzeit denken. Sein Interesse wird durch die Begegnung mit der Literatur anderer Epochen geweckt worden sein, mit Werken vor allem der Gegenwartsliteratur und der Klassischen Moderne, vielleicht auch des 19. Jahrhunderts, der Klassik oder der Romantik, allenfalls noch des 18. Jahrhunderts. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis er bemerkt, daß die Wissenschaft die Geschichte der Neueren Literatur bereits um 1500 beginnen läßt und daß dies gute Gründe hat; daß sein Bild von der Neueren Literatur historisch unterbelichtet und sein Zugriff auf die Werke späterer Epochen in manchem unsicher bleiben würde, wenn er sich nicht auch mit der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts vertraut machen wollte, wie sie ihm unter Epochenbegriffen wie Renaissance und Humanismus, Reformation, Gegenreformation und Barock entgegentritt.
Eckpfeiler des kulturellen Gedächtnisses
Freilich wird er zunächst noch kaum eine Vorstellung davon haben, was er von der Beschäftigung mit ihr für sich und seine literarischen Interessen zu erwarten hat. Denn nur wenig hat sich von ihr im kulturellen Gedächtnis erhalten, ist im literarischen Leben der Gegenwart präsent. Der eine oder andere hat vielleicht schon einmal gehört, daß Martin Luther in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit eine deutsche Hoch- und Literatursprache auf den Weg gebracht habe, oder daß Martin Opitz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Literaturreform durchgeführt habe, die eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung zur Klassik, zu Lessing, Goethe und Schiller, Hölderlin und Kleist gewesen sei, doch wo trifft man schon einmal auf einen Text von Luther und
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Opitz selbst? Kirchgänger haben wohl noch immer einige geistliche Lieder von Luther im Ohr – „Ein feste Burg ist unser Gott“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – oder auch Lieder von Paul Gerhard und einigen anderen ansonsten wenig bekannten Dichtern des Barock – „O Haupt, voll Blut und Wunden“, „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ – doch wer besucht noch regelmäßig einen Gottesdienst?
Wer sich für die deutsche Geschichte interessiert oder wer gerne in die Oper geht, mag schon einmal auf Hans Sachs und die Meistersänger von Nürnberg gestoßen sein; das bedeutet freilich im allgemeinen nicht, daß er auch einem ihrer Meisterlieder begegnet wäre. Immerhin hat sich mancherorts die Erinnerung an einige der sogenannten „Volksbücher“ erhalten, insbesondere an „Schwankromane“ wie die von Till Eulenspiegel und von den Schildbürgern; man kennt deren Geschichten allerdings eher durch moderne Bearbeitungen als durch die Lektüre der Originaltexte. Und natürlich ist „Barocklyrik“, sind Gedichte von Paul Fleming, Andreas Gryphius oder Christian Hofmann von Hofmannswaldau noch immer ein Gegenstand des Deutschunterrichts; man darf aber wohl bezweifeln, daß sie bei einer größeren Zahl von Schülern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, daß sie für sie mehr sind als einer unter vielen befremdlichen Schulstoffen. Einzig Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und sein Roman „Der Abentheuerliche Simplicissimus“ scheinen besser in Erinnerung geblieben zu sein, und überdies unter Vorzeichen, die auch einen Leser von heute eine interessante Lektüre erwarten lassen: da soll man Einblick in die Welt des Dreißigjährigen Kriegs erhalten, und zwar auf eine durchaus spannende, unterhaltsame Weise, ja es soll noch nicht einmal an deftigen Szenen fehlen! Der Rest ist vergessen, scheint allenfalls noch für eine hochspezialisierte Literaturwissenschaft von Interesse zu sein.
Die frühe Neuzeit als Zeit des Übergangs
Daß sich nur so wenig von der Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis erhalten hat, ist auch ein Werk der Germanistik – ausgerechnet der Germanistik, von der man doch anderes erwarten möchte. Aber sie hat nicht nur ihr Teil zu der altehrwürdigen Tradition der Vernachlässigung der frühen Neuzeit beigetragen, sondern sich eine zeitlang auch noch alle Mühe gegeben, diese auf den Boden einer wohlbegründeten Theorie zu stellen. Wenn man eine der Literaturgeschichten zur Hand nimmt, mit denen sie sich im
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19. Jahrhundert ihren Platz unter den akademischen Wissenschaften erobert hat und in den kulturellen Hausrat der Deutschen eingegangen ist, etwa die „Geschichte der deutschen Litteratur“ (1883) von Wilhelm Scherer, dann sieht man auf den ersten Blick, daß sich ihr Interesse zunächst auf zwei Epochen konzentriert hat: auf die „Deutsche Klassik“ der Zeit um 1800, also auf die Entwicklung von Lessing bis zu Goethe und Schiller, und auf die „mittelhochdeutsche Klassik“, auf die Jahre um 1200, die Zeit von Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg. In diesen beiden Epochen sollte die deutsche Literatur nach ihrer Vorstellung ihr Bestes gegeben haben; sie galten ihr als die „Blütezeiten“ dessen, was sie die „deutsche Nationalliteratur“ nannte.
Demgemäß wollte sie in den Jahrhunderten zwischen den beiden „Klassiken“, dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, nicht mehr als eine Übergangszeit erblicken. Das Spätmittelalter war für sie die Zeit des Abstiegs vom Gipfel der ersten Blüte, eine Periode unaufhörlichen Niedergangs und Verfalls, und die frühe Neuzeit die Phase des allmählichen Wiederaufstiegs zu neuerlichen Höhen, Jahre heftiger Kämpfe und immer neuer Anläufe zu einer Dichtung von Rang. Was dabei an Literatur entstand, galt ihr insgesamt als wenig bedeutend, als gedanklich unreif und ästhetisch unvollkommen; es interessierte sie im Grunde nur aus historischen Gründen, nämlich um an ihm den Prozeß von Niedergang und Wiederaufstieg zu demonstrieren.
Dieses Bild vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur verdankt sich wesentlich den Interessen und Wertungen der Bewegung, die an der Wiege der Germanistik stand: der Romantik; genauer: der politischen Romantik, der Nationalromantik, wie sie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus der Verbindung der frühromantischen Hochschätzung der schöpferischen Phantasie mit dem nationalen Gedanken, mit der Forderung nach „deutscher Eigenart“ in allen Belangen der Kultur erwuchs. Denn es war sie, die zuerst die Zeit seit dem ersten Auftreten Goethes zur „Morgenröte“ einer „klassischen deutschen Nationalliteratur“ ausrief und die zugleich die Aufmerksamkeit auf die Literatur des Mittelalters lenkte, in der sie den Inbegriff und das Vorbild aller wahrhaft romantischen Poesie erblickte. Hier wie dort sollte es sich um Werke handeln, in denen sowohl die Potentiale der schöpferischen Phantasie in jeder Richtung ausgespielt würden,
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als sie auch mit jeder Faser „deutsche Eigenart“ bezeugen würden und die insofern eben als „klassischer“ Ausdruck der Möglichkeiten einer deutschen Dichtung zu gelten hätten.
Von solchen Vorstellungen aus konnte man aber der Literatur der frühen Neuzeit nur wenig abgewinnen. Diese hatte sich nämlich ganz im Bann der beiden Bewegungen entwickelt, die im 16. Jahrhundert nach und nach dem gesamten kulturellen Leben ihren Stempel aufdrückten: der Renaissance, der Wiederentdeckung und Neuerschließung der Kultur der alten Griechen und Römer durch den Humanismus, und der Reformation und Gegenreformation, des Versuchs einer neuerlichen, besonders intensiven und konsequenten Durchdringung aller Bereiche des Lebens mit den Dogmen und Normen der christlichen Religion. Und das hatte für die Literatur bedeutet, daß sie sich zugleich auf den Weg der „imitatio veterum“, der „Nachahmung der Alten“ begeben und in den Dienst des religiösen Lebens gestellt hatte. Mit anderen Worten: die schöpferische Phantasie hatte sich an das antike und das christliche Erbe gebunden, sie hatte sich selbst dogmatisch-normative Ketten angelegt. Und überdies hatte sie sich dabei von den deutschen Lebensverhältnissen, von „deutscher Art und Kunst“ entfernt, und damit von den Wurzeln, die ihr allein originäre Kraft und Authentizität hätten verleihen können; sie hatte die Kultur der Griechen und Römer gesucht und darüber ihre angestammte Basis aufgegeben. So stellte es sich jedenfalls der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dar.
Neue Ansätze der Forschung
Natürlich hat sich die Germanistik inzwischen längst vom Standpunkt der Nationalromantik gelöst. Die Frage nach der „deutschen Eigenart“ ist, nachdem sie kritisch auf ihre problematischen ideologischen Grundlagen hin durchleuchtet worden ist, weithin durch andere Erkenntnisinteressen ersetzt worden. Und auch die Begriffe von Kreativität haben sich gewandelt, auf eine Weise, die der modernen Wissenschaft sehr viel differenziertere Blicke auf das Verhältnis von schöpferischer Phantasie und kulturellem Erbe erlauben als der alten Literaturgeschichtsschreibung. Und so hat sich die Germanistik inzwischen denn auch an einer Wiedergutmachung gegenüber der Literatur der frühen Neuzeit versucht. Das gilt vor allem für die Literatur des 17. Jahrhunderts, die Literatur des Barock. In zwei großen Anläufen – einem ersten in den zwanziger Jahren, einem zweiten in den
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sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – entstand eine Barockforschung, die alles Erdenkliche unternahm, um den spezifischen Qualitäten der Barockliteratur auf die Spur zu kommen. Dabei spielte gerade die Frage nach dem Verhältnis von „Nachahmung und Schöpfung im Barock“ (G. Weydt)1 eine zentrale Rolle.
So groß die Erfolge dieser Barockforschung aber auch waren und so wichtig sie für die Entwicklung der Neugermanistik wurden – denn um der Literatur der frühen Neuzeit nahekommen zu können, mußte das methodische Instrumentarium der Literaturwissenschaft energisch erweitert werden, mußte eine kulturwissenschaftliche Wende vollzogen und der Blick über die Literatur hinaus auf den gesamten kulturgeschichtlichen Kontext ausgeweitet werden – sie konnte den einmal angerichteten Schaden nicht wieder beheben. Von ihren Entdeckungen ist kaum etwas in das Bewußtsein des breiten Lesepublikums eingedrungen; die deutsche Literatur der frühen Neuzeit ist weiterhin ein blinder Fleck im kulturellen Gedächtnis geblieben.
Moderne und frühneuzeitliche Literatur
Man kann dies auch daraus ersehen, daß sie nur selten von der Literatur des 20. Jahrhunderts rezipiert worden ist, die doch ansonsten einen regen Dialog mit allen möglichen Epochen unterhalten hat, und daß den Werken, die so entstanden, noch seltener ein Erfolg beschieden war. Recht eigentlich bekannt geworden ist im Grunde nur die „Mutter Courage“ (1941) von Bertolt Brecht, die Bearbeitung eines Romans von Grimmelshausen für das Theater. Schon „Das Treffen in Telgte“ (1979) von Günter Grass, ein Erzählung, in der eine Zusammenkunft der wichtigsten Dichter des Barock imaginiert wird, gehört zu den weniger erfolgreichen Werken des Autors. Und in der Gegenwartsliteratur findet man allenfalls noch bei dem einen oder anderen Lyriker Spuren frühneuzeitlicher deutscher Dichtung, etwa bei Sarah Kirsch oder bei Durs Grünbein.2 Bezeichnend ist auch, daß sich viele von denen, die ein Studium der Germanistik hinter sich gebracht haben, im hohen Mittelalter besser auskennen als in der frühen Neuzeit, deren Literatur ihnen doch eigentlich aufgrund der
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größeren zeitlichen Nähe leichter zugänglich sein sollte. Offenbar haben selbst hier die Präferenzen der nationalromantischen Literaturgeschichtsschreibung ihre prägende Kraft behalten.
Probleme für den modernen Leser
Wo aber von der Literatur einer Epoche so wenig im kulturellen Leben der Gegenwart präsent ist, da liegt der Verdacht nahe, daß man nichts Wesentliches verpassen würde, wenn man um sie einen Bogen machte. Diesem Verdacht wird man um so lieber Nahrung geben, als man bei der ersten Annäherung an die Textwelt der frühen Neuzeit feststellen muß, daß sie es einem modernen Leser nicht gerade leicht macht, ja daß sie ihm ein besonderes Maß an Leserfleiß, an Neugier, Konzentration und Ausdauer abverlangt. Die Probleme beginnen bereits mit der Sprache, in der sie auf den Leser zukommt, einem deutlich veralteten, in manchem fast unverständlich gewordenen Deutsch irgendwo zwischen Mittel- und Neuhochdeutsch, dem sogenannten Frühneuhochdeutsch. Nur von sehr wenigen Texten gibt es eine modernisierte, an unser Neuhochdeutsch angeglichene Fassung, etwa vom „Till Eulenspiegel“, von den „Schildbürgern“ und vom „Simplicissimus“; bei allem anderen ist man auf das frühneuhochdeutsche Original angewiesen – ein sicheres Indiz dafür, daß es vom heutigen Lesepublikum nicht mehr angerührt wird. Da bekommt man es dann mit befremdlichen Formen der Orthographie und Interpunktion zu tun, mit einer komplizierten, am Lateinischen geschulten Syntax und mit Wörtern, deren Semantik man sich immer wieder mit Hilfe des Grimmschen Wörterbuchs 3 erschließen muß.
Die Probleme mit der Sprache gehen aber noch weiter. Wer tiefer in die Welt der frühneuzeitlichen Literatur eindringen will, sieht sich früher oder später genötigt, es auch mit der neulateinischen Literatur aufzunehmen; so nennt man die lateinische Literatur seit dem 15. Jahrhundert. Denn die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur wird vielfach nur vor dem Hintergrund dessen verständlich, was seinerzeit im Raum dieser neulateinischen Literatur geschah. Die Elite der Gebildeten – Theologen und humanistische Gelehrte – verständigte sich und schrieb in lateinischer Sprache, und die deutschsprachige
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Literatur zehrte von dem, was hier an Texten entstand, was etwa die Humanisten bei ihrem Studium der antiken Kultur der Literatur an neuen Möglichkeiten erschlossen. So muß jede vertiefte Untersuchung eines Stoffs oder Motivs, einer Gattung, einer Stilfigur oder eines anderen Aspekts der Form, ja der Konzepte von Kunst und Literatur überhaupt irgendwann auch die Schwelle zum Lateinischen überschreiten; denn von den neulateinischen Texten ist noch weniger in unser modernes Deutsch übertragen worden als von den frühneuhochdeutschen.
Und weitere Hürden sind bei der Annäherung an die Literatur der frühen Neuzeit zu meistern. Die Autoren schrieben für ein Publikum, dessen Welt- und Menschenbild wesentlich durch die christliche Religion und das Erbe der Antike geprägt war und das insofern in einem Maße mit den Geschichten, Lehren, Bildern und sprachlichen Wendungen der Bibel, mit den Viten der Heiligen und den Dogmen und Normen der christlichen Theologie sowie mit den Mythen, den Götter- und Heldengeschichten der Griechen und Römer, mit deren Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Literatur vertraut war, das einem Leser von heute in der Regel nicht mehr gegeben ist. Will er dem Gerechtigkeit widerfahren lassen, was die Texte davon in sich aufgenommen haben, und will er sich keine der Anspielungen, der direkten und indirekten Verweise entgehen lassen, die in dieser untergegangenen Bildungswelt gründen, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in deren Wissensbestände einzuarbeiten.
Hinzu kommt, daß sich die Literatur der frühen Neuzeit auf Lebensformen bezieht und von Lebensformen spricht, die sich deutlich von dem unterscheiden, was ein heutiger Leser gewohnt ist. Denn natürlich sah der Alltag der Menschen in einer Welt, die noch nichts vom Fortschritt, von moderner Wissenschaft, technisch-industrieller Produktionsweise, demokratischer Bürgergesellschaft und bürokratischem Rechts- und Sozialstaat wußte, die in allem auf Tradition und Religion setzte, in ständische Hierarchien gegliedert war und von Landwirtschaft und Handwerk lebte, in vielem anders aus als heute. Auch damit muß sich der Leser erst vertraut machen.
Eine Literatur ohne bleibende Bedeutung?
Wo aber bereits im Vorfeld der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text so viel an Vor- und Nebenarbeiten zu leisten ist, da kann die Frage nicht ausbleiben, ob sich der Einsatz wirklich lohne,
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und sie wird sich hier um so energischer zu Wort melden, als das kulturelle Gedächtnis nur so wenig von lohnenden Gegenständen weiß. Vielleicht hat die nationalromantische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ja doch nicht ganz Unrecht gehabt, wenn sie die frühe Neuzeit als eine bloße Übergangszeit behandelte. Vielleicht war ja etwas an der Kultur dieser Epoche – die Prädominanz der Theologie, die Fixierung auf das Erbe der Antike – das keine bleibenden Leistungen zuließ, das das Entstehen einer Kunst verhinderte, die einen Menschen von heute noch immer unmittelbar ansprechen und nachhaltig beschäftigen könnte. Das wäre doch immerhin möglich.4
Die Kunst der Renaissance
Der böse Verdacht verfliegt jedoch mit einem Schlag, sobald man über den Tellerrand der deutschen Literatur hinaussieht und die Literatur anderer europäischer Nationen mit ins Auge faßt, und er löst sich vollends in nichts auf, wenn man auch an andere Künste denkt, etwa an die Bildende Kunst. Von allem, was aus fernen Zeiten auf die heutige Menschheit gekommen ist, ist wohl nur wenig in der Kultur der Gegenwart so präsent wie die Kunst der Renaissance; das gilt selbst für die populäre Kultur. Von den italienischen Künstlern Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael und von dem deutschen Albrecht Dürer hat jeder halbwegs gebildete Zeitgenosse schon einmal etwas gehört. Werke wie die „Mona Lisa“ und das „Abendmahl“ von Leonardo, der „David“ und die Fresken der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, die „Sixtinische Madonna“ von Raffael, die „Betenden Hände“, der „Hase“ und die „Apokalyptischen Reiter“ von Dürer haben einen so hohen Wiedererkennungswert, daß sogar die Werbung von ihnen Gebrauch macht. Kaum weniger bekannt sind einige Künstler des Barock wie die Niederländer Rembrandt und Rubens.
Bedeutende Bauwerke der Renaissance wie der Petersdom in Rom und solche des Barock wie das Königsschloß in Versailles sind beliebte Touristenziele und werden jedes Jahr von Hunderttausenden besucht. Wenn ein Museum eine Ausstellung der Werke von Mantegna oder Giorgione, Tizian oder Caravaggio zustande bringt, wird es von einem begeisterten Publikum überlaufen. Niemand, der Kunstgeschichte
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studiert oder sich überhaupt für Kunst interessiert, kommt an der frühen Neuzeit vorbei; die Vertrautheit mit ihrer Kunst ist die Basis für alles andere. An der Kultur der frühen Neuzeit, an dem, was sie den Menschen an geistigem Rüstzeug mitgab und an kreativen Möglichkeiten eröffnete, kann es also nicht liegen, wenn die deutsche Literatur jener Jahre im kulturellen Gedächtnis nur noch ein Schattendasein fristet.
Die frühneuzeitliche Literatur anderer Nationen
Dieser Befund bestätigt sich bei einem Blick auf die Literatur anderer europäischer Nationen, etwa auf die der Italiener, Spanier und Franzosen, der Engländer und Niederländer. Was hier jeweils für die klassische Phase der Literaturgeschichte, für die „Blütezeit“, das „Goldene Zeitalter“ der Nationalliteratur gehalten wird, ist nämlich durch die Bank bereits in der frühen Neuzeit angesiedelt, und man kann nicht erkennen, daß das dem literarische Leben zum Nachteil gereicht hätte – im Gegenteil: für jede dieser Literaturen ist das Gespräch mit den großen Autoren der frühen Neuzeit bis heute eine Quelle ihres spezifischen Reichtums.
Bei den Italienern läßt man die „Blütezeit“ mit Dante (1265 –1321), Petrarca (1304 –1374) und Boccaccio (1313 –1375) sogar schon im Spätmittelalter beginnen, um sie in der frühen Neuzeit mit Ariost (1474 –1533) und Tasso (1544 –1595) lediglich ausklingen zu lassen. Die Spanier erblicken ihr „Siglo d’oro“ in der Zeit von Cervantes (1547 –1616), Lope de Vega (1562 –1635) und Calderón (1600 –1681), die Engländer ihr „Golden Age“ im Umkreis von Shakespeare (1564 –1616), die Franzosen haben ihr „Grand Siècle“ in der Zeit von Corneille (1606 –1684), Molière (1622 –1673) und Racine (1639 –1699), und die Niederländer ihr „Golden Eeuw“ in der ihres Joost van den Vondel (1587 –1679). Es versteht sich von selbst, daß die solchermaßen zu Klassikern ausgerufenen Autoren im kulturellen Gedächtnis dieser Nationen eine prominente Rolle spielen und daß ihre Werke bis auf den heutigen Tag bei ihnen ein zentraler Gegenstand des Interesses sind.
Frühneuzeitliche Klassiker der Weltliteratur
Sie alle sind übrigens früher oder später auch in Deutschland gelesen worden, und sie sind hier vielfach so intensiv rezipiert worden, daß sie in der deutschsprachigen Literatur tiefe Spuren hinterlassen haben. Ja einige von ihnen haben stärker auf spätere Generationen gewirkt und sind im literarischen Leben der Gegenwart präsenter als die meisten deutschen Autoren der frühen Neuzeit. Das gilt vor allem
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für William Shakespeare, einen Engländer, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – noch nicht im 17. Jahrhundert, erst in der Zeit von Aufklärung und Romantik – geradezu eine postume Adoption durch die Deutschen über sich ergehen lassen mußte und der seither zu einem nicht wegzudenkenden Bezugspunkt der deutschen Literatur geworden ist.5 Aber nicht nur in Deutschland ist Shakespeare bis heute einer der meistgelesenen und meistaufgeführten Theaterautoren – er ist es weltweit. Wo immer man sich für Theater interessiert, da hat man auch schon einmal etwas von „Romeo und Julia“ und „Hamlet“ gehört, von „Macbeth“ und „Othello“, „Julius Caesar“, „Richard III.“ und „Heinrich V.“, dem „Kaufmann von Venedig“, „Der Widerspenstigen Zähmung“ und dem „Sommernachtstraum“.
Wie präsent das Oeuvre Shakespeares im kulturellen Leben der Gegenwart ist, ist nicht zuletzt daraus zu ersehen, daß es öfter verfilmt worden ist als das jedes anderen Autors der Weltliteratur. Fast jedes Jahr bringt mehrere neue Verfilmungen, und sie finden vielfach selbst dann ihr Publikum, wenn sie – wie „Heinrich V.“ von Kenneth Branagh – im Kostüm der Shakespeare-Zeit daherkommen und sich an die hochpoetischen, mit humanistischem Bildungsgut vollgepfropften Originaldialoge halten. Und natürlich ist auch das produktive Gespräch der Literatur mit Shakespeare bis heute nicht abgerissen, auch und gerade dort nicht, wo sie sich entschieden modernen Konzepten verschrieben hat. Hier sei nur an die „Hamletmaschine“ (1978) von Heiner Müller sowie an den „Park“ (1983) von Botho Strauß erinnert, wo noch einmal die Elfenwelt des „Sommernachtstraums“ beschworen wird.
Shakespeare ist wohl das beste Beispiel dafür, daß auch die frühe Neuzeit zu literarischen Werken fähig war, die das Publikum bis heute in ihren Bann zu ziehen vermögen, daß auch ihre Kultur über gedankliche und ästhetische Ressourcen verfügte, die eine Literatur entstehen ließen, die den Menschen bis heute etwas zu sagen hat. Shakespeare ist freilich eine einzigartige Erscheinung, und so lassen sich ihm nur
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wenige Autoren an die Seite stellen, die auf ähnlich eindrucksvolle Weise für die Bildungswelt der frühen Neuzeit zeugen. Doch es gibt sie, und es gibt genug von ihnen, um den Befund zu verallgemeinern. Da ist zunächst an Cervantes – mit vollständigem Namen: Miguel de Cervantes Saavedra – und seinen Roman „Don Quijote“ (1605 –1616) zu denken, und sodann an Molière – mit bürgerlichem Namen Jean-Baptiste Poquelin – und dessen Theater, an Komödien wie „Der Arzt wider Willen“ (1667), „Der Misanthrop“ (1667), „Tartuffe“ (1669), „Der Bürger als Edelmann“ (1672), „Der eingebildete Kranke“ (1673) und „Der Geizige“ (1682). Wie die Werke von Shakespeare finden auch sie bis heute auf direktem Wege zu einem breiten Publikum.
Und ein weiterer Autor kann hier noch genannt werden, der zwar nicht ganz so bekannt ist, weil sein Werk nicht der Kernzone der Literatur angehört, der jedoch gerade von der modernen Literatur als Gesprächspartner besonders ernst genommen worden ist: Michel de Montaigne (1533 –1592). Seine „Essais“ (1580 –1595), kurze Aufsätze über die verschiedensten Gegenstände des Interesses, gelten als erstes Beispiel der Gattung „Essay“ und Muster der essayistischen Schreibweise, also eines literarischen Phänomens, das gerne für typisch modern gehalten wird. In ihnen will man erstmals die Stimme des modernen Individuums vernehmen, wie es sich als Selbstdenker durch die Welt bewegt, selbst den ehrwürdigsten Traditionen und der Wissenschaft mit Skepsis begegnet und in allem auf die eigene Erfahrung und die eigene Einsicht setzt.
Moderne Züge?
Shakespeare, Cervantes, Molière, Montaigne – diesen Namen läßt sich aus deutscher Sicht allenfalls der von Grimmelshausen an die Seite stellen. Denn er ist der einzige, der eine vergleichbare Präsenz im literarischen Leben der Gegenwart hat, und auch das nur mit Abstrichen. Literarhistoriker neigen dazu, an den Werken der genannten Autoren um solcher Präsenz willen bereits moderne Züge zu entdecken, so als hätten diese etwas von den Lebensverhältnissen, den Interessen und Vorstellungen des modernen Menschen vorausgeahnt; und manche berufen sich dabei immer noch auf das, was eine Genieästhetik, die freilich inzwischen in die Jahre gekommen ist und weniger der Wissenschaft als der wundersamen Welt des populären Künstlerkitschs angehört, „die antizipatorische Kraft der Kunst“ nennt.
Doch niemand kann in die Zukunft schauen, auch kein Dichter. Ein Shakespeare war genauso ein Kind seiner Zeit wie jeder andere
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unter seinen schreibenden Zeitgenossen, war ebenso in die Lebens- und Vorstellungswelt seiner Epoche eingeschlossen wie sie und verfügte nicht über besondere, vom Himmel der Inspiration gefallene seherische Gaben – wie sollte er auch! Bei dem, was sein Werk vor anderen auszeichnet und was es die große historische Distanz bis heute scheinbar mühelos hat überwinden lassen, kann es sich nur um besondere gedankliche und ästhetische Qualitäten handeln, um Qualitäten, wie sie aus der Fähigkeit eines Autors erwachsen, schärfer und rücksichtsloser als andere in die Welt und auf die Mitmenschen zu blicken und die Möglichkeiten seiner Zeit energischer zu ergreifen und konsequenter und einfallsreicher zu nutzen als sie.
Zwei weitere Momente kommen hinzu, die dem modernen Leser die Annäherung an die genannten Autoren erleichtern. Zum einen sind sie in Fragen der Religion zurückhaltender als viele ihrer Zeitgenossen, sind sie nicht so penetrant fromm und so ängstlich um theologische Korrektheit bemüht wie diese, was heute vom Leser im allgemeinen mit dem Gefühl der Monotonie quittiert wird: was auch an Geschichten, Gefühlen und Gedanken vor ihm ausgebreitet werden mag – am Ende steht der immer gleiche Sturz in den immer gleichen Abgrund des Glaubens. Von solcher Diskretion kann bei Grimmelshausen allerdings nicht die Rede sein; bei ihm sind religiöse Fragen allgegenwärtig. Dafür kommt sein Werk dem modernen Leser an anderer Stelle entgegen: es verlangt ihm nicht so viel an humanistischer Bildung ab wie das anderer frühneuzeitlicher Autoren, ist nicht in gleichem Maße mit dem gelehrten Wissen der Zeit durchdrungen; davon wird noch zu reden sein.
Und zum andern sind die Werke dieser Autoren dank ihrer ununterbrochenen Präsenz über die Jahrhunderte hin dem modernen Leser am besten erschlossen. Jede Generation hat sie im Licht der jeweils neu aufkommenden Interessen gedeutet und damit ihr Teil dazu beigetragen, daß sie an den Horizont der Gegenwart herangeführt wurden. Wer heute Shakespeare liest, der kann dabei von dem Bild profitieren, das sich Aufklärung, Klassik und Romantik, Vormärz und Realismus von ihm gemacht haben; denn durch sie sind seine Texte nach und nach mit den meisten der Fragen und Gesichtspunkte in Berührung gebracht worden, die einen Menschen von heute bei der Lektüre leiten mögen.
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Die Macht des kulturellen Gedächtnisses
Es gibt in der frühen Neuzeit also doch eine ganze Reihe von Autoren und Werken, die bestens in Erinnerung geblieben sind, die unter dem Vorzeichen großer historischer und ästhetischer Bedeutung auf uns gekommen sind, und überdies auf eine Weise, durch die uns der Zugang zu ihnen leicht gemacht wird. Die Stellung im Haushalt des kulturellen Gedächtnisses und die Zugänglichkeit für den heutigen Leser sind freilich nicht alles. Das kulturelle Gedächtnis ist kein Gottesgericht, und was dem Leser im ersten Zugriff Mühe bereitet, muß deshalb nicht immer schon irrelevant und uninteressant sein; ja ist es nicht vielfach gerade das wenig Beachtete und halb schon Vergessene, das Sperrige, Beschwerliche und Befremdliche, was uns am ehesten dazu verhilft, neue Erfahrungen zu machen und neue Einsichten zu gewinnen?
Hier hatte allerdings zunächst die Frage nach dem kulturellen Gedächtnis 6 und den Problemen des Zugangs zur Literatur im Vordergrund zu stehen, denn mit ihr beginnt die Arbeit der Literaturgeschichtsschreibung. Was immer sie anpackt, kommt als ein Gegenstand auf sie zu, dem das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft bereits seinen Stempel aufgedrückt hat, den es mit bestimmten Erwartungen, bestimmten Vorstellungen und Wertungen versehen, ja geradezu imprägniert hat. Es ist überall mit am Werk, wo sich Menschen der Literatur zuwenden, in den Räumen ihrer kulturellen Sozialisation – im Elternhaus, in der Schule, im Freundeskreis – genauso wie in denen des öffentlichen Lebens und der medialen Kommunikation, die Wissenschaft nicht ausgenommen. So bekommt in Deutschland jedes Kind früher oder später mit, daß es einen Goethe und einen Schiller gegeben hat und daß diese etwas geschaffen haben, das heute noch von vielen für bedeutsam gehalten wird, wenn es vielleicht auch schon etwas angestaubt sein mag, und das wird in dieser oder jener Form einen Einfluß auf seinen Umgang mit Literatur haben. Und wenn man von einer bestimmten kulturgeschichtlichen Erscheinung nur wenig oder gar nichts zu hören bekommt, so wie von weiten Teilen der frühneuzeitlichen Literatur, dann begründet auch dies eine
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Erwartung, nämlich eine Art „Null-Erwartung“, und auch solche „Null-Erwartung“ hat Folgen.
Literaturwissenschaft und kulturelles Gedächtnis
Das kulturelle Gedächtnis bezeichnet den Wissens-Fond, um nicht zu sagen: den Bodensatz des literarischen Lebens, und so hat es die Literaturwissenschaft zunächst mit ihm aufzunehmen. Seine Kenntnis allein erlaubt es ihr, sich gezielt auf die Problemfelder einzustellen, um deren Bearbeitung willen sie von der Gesellschaft unterhalten wird: auf die Aufgabe, das literarische Leben zu fördern, indem sie ihm ein Mehr an Wissen zuführt und damit seinen Horizont und seinen Aktionsradius erweitert – ein Unternehmen, mit dem sich letztlich die Hoffnung verbindet, daß die Horizonte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens so überhaupt erweitert werden könnten, daß sich neue Optionen des Denkens und Handelns eröffnen oder vergessene Optionen neuerlich bewußt werden würden.
Das erste, was die Literarwissenschaft bei der Annäherung an eine Epoche zu tun hat, ist also, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses zu sichten und sich von ihrem Einfluß Rechenschaft zu geben, so wie hier geschehen. Sie kann sich weder damit begnügen, diese Bestände einfach zu übernehmen, noch sie pauschal in Frage zu stellen; vielmehr muß sie versuchen, sie kritisch auf die Vorstellungen und Wertungen hin zu durchleuchten, die ihnen zugrunde liegen, die Voraussetzungen aufzuzeigen, unter denen sie sich gebildet, und die Folgen, die sie gezeitigt haben. Nur so kann ja jenes Mehr an Wissen entstehen, um dessen Gewinnung es zu tun ist.
Dabei rückt eben das, was der kollektiven Erinnerung entfallen ist, was sie als etwas Beschwerliches und Befremdliches beiseite gesetzt und für überholt erklärt, ja um seiner Unbehaglichkeit willen womöglich verdrängt hat, in den Mittelpunkt des Interesses. Es geht nun gerade um das Vergessene, Verdrängte und Befremdliche, und es geht selbst dort darum, wo man sich die Lieblingskinder des kulturellen Gedächtnisses, die Klassiker vornimmt. Denn anders als die Protagonisten des literarischen Lebens kann es sich ein Literarhistoriker, der die Aufgabe seines Fachs ernst nimmt, nicht mit einem aufklärerischen Cervantes, einem romantischen Shakespeare oder einem realistischen Grimmelshausen bequem machen, muß er es auch und gerade bei solchen kanonischen Autoren mit dem aufnehmen, was von einem heutigen Leser an
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ihren Werken im ersten Anlauf als irritierend und beschwerlich empfunden werden mag.
Das Spannungsfeld von Identität und Alterität
Dem Leser kann dies letztlich nur recht sein. Die Literarhistorie kommt damit nämlich einem Verlangen entgegen, das in jeder Lektüre mit am Werk ist, ja das geradezu einen Grundimpuls des Lesens bezeichnet. Denn warum greifen wir zu einem Buch? Doch weil wir einmal etwas anderes hören wollen; weil wir über die Lebens- und Vorstellungswelt, an die wir gewöhnt sind, hinausgehen und uns mit Möglichkeiten des menschlichen Daseins konfrontieren wollen, die nicht die unseren sind, die uns insofern zunächst fremd sind und vielleicht sogar auf Dauer fremd bleiben. Freilich verbindet sich damit die Hoffnung, über solcher Lektüre auch etwas für die eigene Lebens- und Vorstellungswelt zu gewinnen, zu erleben, daß die eigenen Selbstverhältnisse zugleich sicherer und offener werden und das eigene Leben und Denken sowohl eine Bereicherung erfahren als auch klarere Konturen annehmen.