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Leitfaden durch die Geschichte der deutschen Literatur Der zweite Band der deutschen Literaturgeschichte gibt den Studierenden Gelegenheit, sich in die Welt der Aufklärung einzulesen. Sie wird als eine kulturelle Bewegung vorgestellt, die der Literatur entscheidende Schritte in die Moderne ermöglicht hat. Die kultur- und ideengeschichtlichen Rahmenbedingungen der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts werden systematisch von ihren englischen und französischen Voraussetzungen aus entwickelt, wie sie bei Pope, Boswell, Voltaire und Rousseau greifbar werden und sich in Werken wie denen von Lessing und Wieland bezeugen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem geschichtlichen Wandel des literarischen Lebens, des Literaturbegriffs und des Systems der literarischen Gattungen. Die Reihe der fünf Einführungen bildet einen kompetenten und zuverlässigen Leitfaden durch die Geschichte der deutschen Literatur vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Jeder Band stellt eine Großepoche vor und ist für sich allein verständlich.
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Geschichte der deutschen Literatur
Band 1. Humanismus und Barock
Band 2. Aufklärung
Band 3. Goethezeit
Band 4. Vormärz und Realismus
Band 5. Moderne
Gottfried Willems
Geschichte der deutschen Literatur
Band 2
Aufklärung
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2012
Gottfried Willems ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in Germany
UTB-Band-Nr. 3654 | ISBN 978-3-8252-3654-0
Cover
Impressum
1 Einleitung
1.1 Das Studium des 18. Jahrhunderts als Zugang zur Moderne
1.2 Modernisierung im 18. Jahrhundert: Aufklärung
1.3 Literatur im 18. Jahrhundert
2 Eine Reise zu Voltaire und Rousseau Kulturgeschichtliche Voraussetzungen der literarischen Entwicklung
2.1 James Boswell und seine „Grand Tour“
2.1.1 Reisebeschreibung, Tagebuch, Brief und Konversation als Quellen der Kulturgeschichte
2.1.2 James Boswell als Autor der Aufklärung
2.1.3 Literatur und Individualisierung
2.1.4 Aufklärung im Alltag
2.2 Voltaire, Rousseau und die Entwicklung der Literatur im 18. Jahrhundert
2.2.1 Voltaire und der Weg zur Autonomie der Literatur
2.2.2 Rousseau und der neue Subjektivismus der Literatur
2.2.3 Literatur im Alltag
2.3 Boswell bei Rousseau und Voltaire
2.3.1 Boswell bei Rousseau
2.3.2 Boswell bei Voltaire
2.3.3 Boswells Gespräche mit Rousseau und Voltaire
3 Zentrale Impulse der Aufklärung Ideengeschichtliche Voraussetzungen der literarischen Entwicklung
3.1 Popes „Essay on Man“ und Voltaires „Philosophische Briefe“
3.1.1 Ein Profil der frühen Aufklärung: Alexander Pope
3.1.2 Themen und Formen des Aufklärungsdiskurses
3.1.3 Die Literatur zwischen Philosophie und Dichtung
3.1.4 Selbstbescheidung der Vernunft
3.1.5 Die Auseinandersetzung mit Humanismusund Konfessionalismus
3.1.6 Skeptischer Pragmatismus
3.2 Der „Philosoph auf dem Thron“: Friedrich II. von Preußen
3.3 Natur und Gesellschaft
3.3.1 „Naturzustand“ und „bürgerliche Gesellschaft“ bei Rousseau
3.3.2 „Naturzustand“ und „Goldenes Alter“
3.3.3 Das „Goldene Alter“ bei Voltaire und bei Goethe
4 Aufklärung in der deutschen Literatur Lessings „Nathan“ und Wielands „Musarion“
4.1 Lessing und Wieland als Aufklärer
4.2 Lessings „Nathan der Weise“
4.2.1 Die Ring-Parabel
4.2.2 Sympathie, Religion, Vernunft und Dichtung
4.2.3 Die Literatur der Aufklärung – eine Tugendpredigt?
4.3 Wielands „Musarion“
4.3.1 Die Eingangsszene
4.3.2 Zur Form der „Musarion“
4.3.3 Die Antike in der Literatur der Aufklärung
4.3.4 Humanistisches Bildungsgut bei Wieland
4.3.5 Zur Handlung der „Musarion“
4.3.6 Skeptischer Pragmatismus
4.3.7 Ironie und Psychologie
4.3.8 Menschlichkeit
5 Zur Entwicklung der Literatur im 18. Jahrhundert
5.1 Wandlungen im System der literarischen Gattungen
5.2 Annäherung von Tragödie und Komödie im „bürgerlichen Trauerspiel“ und im „rührenden Lustspiel“
5.3 Jenseits der Gattungsgrenzen: die Libretti da Pontes für Mozart
5.4 Das Beispiel „Così fan tutte“
Anhang
Siglen
Literaturhinweise
Personenregister
Rückumschlag
Das 18. Jahrhundert als „Sattelzeit“
Das 18. Jahrhundert gilt als Zeit eines tiefgreifenden Wandels, als eine „Sattelzeit“, wie eine oft zitierte Wendung des Historikers Reinhart Koselleck lautet. Denn hier kam vieles von dem an sein Ende, was seit dem Mittelalter das Leben in Europa bestimmte, und zugleich nahmen die Verhältnisse Kontur an, unter denen wir heute leben. Hier wurden entscheidende Schritte in Richtung Moderne getan, hat sich das meiste von dem herangebildet, was wir mit dem Prädikat modern versehen und damit als charakteristisch für die heutige Welt kennzeichnen: die moderne Gesellschaft, der moderne Staat, die moderne Ökonomie, das moderne Leben, das moderne Denken, die moderne Öffentlichkeit, die moderne Wissenschaft und, last not least, das moderne literarisch-ästhetische Leben mit den entsprechenden Formen von Kunst und Literatur, Ästhetik, Literaturtheorie und Literaturkritik. All dies zeigt sich im 18. Jahrhundert zum ersten Mal in den uns vertrauten Formen.
So können wir hier die Moderne unter ihren Entstehungsbedingungen studieren, können wir uns hier vieles von dem, was unser heutiges Leben prägt, daraufhin ansehen, wie es ursprünglich gemeint war und wie es auf den Weg gebracht worden ist, nicht zuletzt um uns klarzumachen, was seither daraus geworden ist. In diesem Sinne kann man kaum irgendwo mehr über die moderne Welt erfahren als im Studium des 18. Jahrhunderts. Jedenfalls kann man hier mehr darüber lernen, als wenn man sich ausschließlich mit der Gegenwart beschäftigt. Denn die Gegenwart ist uns viel zu nahe, wir sind viel zu sehr in sie verstrickt, als daß wir sie auch nur annähernd überblicken und durchschauen könnten. Es fehlt uns die Distanz, die uns die Verhältnisse kenntlich werden läßt. Wir müssen eine solche Distanz erst herstellen, und dies
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können wir nur, indem wir das Gegenwärtige mit dem Vergangenen konfrontieren. Insofern können diejenigen, die sich ausschließlich mit der Literatur der Gegenwart beschäftigen, vielfach am wenigsten über sie Auskunft geben. Wer um die Geschichte einen Bogen macht, bleibt immer ein Idiot der Aktualität. Das macht zumal in der Wissenschaft wenig Sinn, denn für den Idiotismus der Aktualität hat die moderne Gesellschaft schon die Medien, den Journalismus und die Kritik; dafür braucht sie keine Wissenschaft.
Die Literatur des 18. Jahrhunderts im kulturellen Gedächtnis
Das 18. Jahrhundert als „Sattelzeit“, als die Zeit, in der sich die modernen Verhältnisse heranbilden, in der die moderne Welt Kontur annimmt. Was diese These besagt, kann man schon allein daran erkennen, daß einem heutigen Leser das Ende des 18. Jahrhunderts unendlich viel näher ist als sein Anfang. Im Prinzip gilt das natürlich für jede Epoche, aber es gilt beim 18. Jahrhundert doch in besonderem Maße. Die Literatur aus den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts hat sich sehr viel besser im kulturellen Gedächtnis erhalten als die aus seinen ersten Jahrzehnten. Die namhaften deutschen Autoren aus der ersten Jahrhunderthälfte, die zwischen 1680 und 1710 geborenen, sind fast alle vergessen, werden heute kaum mehr freiwillig, um des puren Lesevergnügens willen gelesen; die bedeutenden Autoren aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hingegen, die um 1730 geborenen, und zumal die aus der Zeit um die Wende zum 19. Jahrhundert, die nach 1750 geborenen, sind allgemein bekannt, sind im kulturellen Gedächtnis präsent.
Welcher Zeitgenosse hat wohl schon einmal etwas von Barthold Hinrich Brockes (1680 –1747), Johann Jakob Bodmer (1698 –1783), Johann Christoph Gottsched (1700 –1766) und dessen Frau Luise Adelgunde Victorie Gottsched (1713 –1762), der „Gottschedin“, von Friedrich von Hagedorn(1708 –1754) und Albrecht von Haller (1708 –1777) gehört? Da befinden wir uns noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und mit den Erfolgsautoren der Jahrhundertmitte, mit Christian Fürchtegott Gellert (1715 –1769), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 –1803) und Salomon Geßner (1730 –1788) wird die Sache noch kaum besser. Gotthold Ephraim Lessing (1729 –1781) hingegen, Christoph Martin Wieland (1733 –1813) und Georg Christoph Lichtenberg (1742 –1799) kennen die meisten, kennen sie zumindest vom Hörensagen, und noch mehr haben schon einmal etwas von Goethe(1749 –1832)und
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Schiller(1759 –1805), Hölderlin(1770 –1843), Novalis(1772 –1801)und Kleist (1777 –1811) gehört. Und den letzteren nähert man sich im allgemeinen schon in der Erwartung, daß man von dem, was sie schreiben, unmittelbar erreicht werden könnte, daß es uns Heutigen schon recht nahe wäre.
Literatur- und Kulturgeschichte, Kontextwissen und Literaturverständnis
So muß es in dieser Einführung in die Literatur des 18. Jahrhunderts zunächst darum gehen zu sichten, was es hier überhaupt an Literatur gibt und wie sie beschaffen ist, wer da alles geschrieben hat, für wen und warum, aus welchen Antrieben heraus, mit welchen Absichten und Zielen. Das kann freilich kaum gelingen, ohne zugleich nach dem literarischen Leben der Zeit zu fragen, als dem Raum, in dem sich der Austausch von Autoren und Lesern vollzogen hat, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, was die Basis des literarischen Lebens in der Gesellschaft war, welche Schichten und Gruppen es getragen haben, wie es in der Kultur der Zeit verankert war und in welchen Formen es sich unter diesen Voraussetzungen entfaltet hat. Daß hierbei die Autoren und Werke von besonderem Interesse sind, die die Menschen seinerzeit besonders intensiv beschäftigt haben und die von daher in den Kanon der literarischen Überlieferung, in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind, versteht sich von selbst.
Dem allem ist natürlich mit dem bloßen Sichten und Zusammentragen von Fakten noch nicht gedient. Worauf es bei einer Einführung wie dieser vor allem ankommt, das ist, dafür zu sorgen, daß die literarischen Texte des 18. Jahrhunderts dann auch wirklich zu einem heutigen Leser sprechen können; daß er die Texte verstehen kann, daß er sich erschließen kann, was sie uns Menschen von heute womöglich noch immer zu sagen haben. Denn alles Sammeln von Informationen über die Literatur des 18. Jahrhunderts macht ja nur insofern Sinn, als man mit ihr am Ende wirklich ins Gespräch kommt.
Das erfordert aber einiges an Vorarbeit. Denn natürlich ist uns diese Literatur nach den zwei-, dreihundert Jahren, die seither vergangen sind, in vielem fern gerückt, fern vielfach schon von der Sprache her, die sie spricht, und erst recht durch das, was sie an Vorstellungen kultiviert; durch das Wissen, mit dem sie arbeitet, durch die Sachen, die sie zur Sprache bringt, und durch die Begriffe und Wertvorstellungen, mit denen sie an diese Sachen herangeht. Es gilt also, sich auch in der Kultur dieser so fern gerückten Epoche umzusehen, zu fragen, wie die
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Menschen damals gelebt haben, was sie gewußt und gedacht haben, wie sie ihre Welt und sich selbst gesehen haben. Nur in dem Maße, in dem sich ein solches Wissen heranbildet, als kulturgeschichtliches Kontextwissen, das ihre Texte erschließt, nur in dem Maße, in dem es gelingt, die geschichtlichen Barrieren auszuräumen, die ihrem Verständnis im Wege stehen, wird ihre Literatur wirklich zu uns sprechen, und darauf muß es hier vor allem ankommen.
Das aber heißt, daß es im folgenden – anders als man es vielleicht von einer Einführung erwarten mag – nicht darum gehen wird, möglichst viele der Namen und Werke zu benennen, die in den Literaturgeschichten unter der Rubrik 18. Jahrhundert aufgeführt werden. Darüber kann man sich unschwer in den probaten Nachschlagewerken informieren, in Literaturgeschichten, Handbüchern, Fachlexika und Forschungsberichten. Vielmehr soll vor allem versucht werden, einen Zugang zu dem zu eröffnen, was die Literatur des 18. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“, was in ihr an Fragen aufgegriffen und an Problemen ausgetragen wird.
Was hier auf den Leser zukommt, ist mithin so etwas wie eine kulturgeschichtlich fundierte Geschichte der Literatur des 18. Jahrhunderts. Es könnte aber genausogut eine literaturgeschichtlich fundierte Geschichte der Kultur des 18. Jahrhunderts heißen. Denn wie die Beschäftigung mit der Kultur des 18. Jahrhunderts die Literatur der Zeit aufschließen soll, so die Beschäftigung mit dieser Literatur die zeitgenössische Kultur. Beides, Textkenntnis und Kontextwissen, sind die zwei Seiten einer Medaille, beides kann nur zugleich in Angriff genommen werden. Indem wir uns in der Kultur des 18. Jahrhunderts umsehen, erschließt sich seine Literatur unserem Verständnis. Und indem wir uns mit dieser Literatur auseinandersetzen, wird sie für uns zu einem Fenster in die Welt des 18. Jahrhunderts.
Literatur als Zugang zu Identität und Alterität
Literatur ist für den lesenden Menschen ja immer beides zugleich: ein Spiegel und ein Fenster; ein Spiegel, in dem er sich selbst bespiegelt, und ein Fenster, durch das er andere und anderes zu sehen bekommt; ein Spiegel, in dem er seiner selbst, seines eigenen Lebens und seiner eigenen Welt ansichtig wird, und ein Fenster, durch das er nach anderen und anderem Ausschau hält, Einblick in das Leben anderer Menschen bekommt, Einblick in fremdes Leben, in fremde Welten. Mit wissenschaftlicher Ambition gesagt: lesend sind wir stets
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auf der Spur der eigenen Identität und auf dem Weg zur Alterität, beides in einem.
Das gilt übrigens für jede Form von historischen Studien, für jedes Interesse an früheren Zeiten. Warum beschäftigt sich der Historiker mit der Vergangenheit, warum der Literarhistoriker zum Beispiel mit der Welt des 18. Jahrhunderts? Vor allem aus zwei Gründen. Zum einen weil er wissen will, wie das geworden ist, was heute ist, wie sich die Verhältnisse herangebildet haben, unter denen wir heute leben – womit sich stets die Hoffnung verbindet, das, was heute ist, genauer sehen und besser verstehen zu können. Das ist das genetische Interesse an der Geschichte, das Interesse an der Genese der heutigen Verhältnisse. Und zum anderen will er, wenn er in die Geschichte zurückblickt, Verhältnisse kennenlernen, die anders sind als heute, will er die heutigen Verhältnisse, die uns so selbstverständlich, ja vielfach nur allzu selbstverständlich sind, mit anderen Verhältnissen kontrastieren und so auf Distanz stellen, will er sich ein Bewußtsein davon geben, daß alles auch ganz anders sein könnte als heute und schon einmal anders gewesen ist. Das ist das kontrastive Interesse an der Geschichte. Das genetische Interesse zielt auf Identität, das kontrastive Interesse auf Alterität. Und auch hier gilt, daß man beide Interessen nur in einem verfolgen kann.
Das 18. Jahrhundert ist nun sowohl für das genetische als auch für das kontrastive Interesse, sowohl für Identitäts- als auch für Alteritätsfragen besonders aufschlußreich, insofern es sich bei ihm um eine „Sattelzeit“ handelt, um die Zeit, in der sich die Genese der modernen Welt vollzogen hat. Die meisten der großen und kleinen Schritte, die damals in Richtung auf die modernen Verhältnisse zu unternommen worden sind, kristallisieren sich aber um einen einzigen Begriff: um den der Aufklärung. Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Aufklärung. Von dieser Aufklärung hat man sich also zunächst und vor allem Rechenschaft zu geben, wenn man in die Literatur der Zeit eindringen will. Und so sei als erstes versucht, sich hiervon einen Begriff zu machen, einen ersten Begriff, einen Vorbegriff, der sich dann bei der Auseinandersetzung mit den Zeugnissen des 18. Jahrhunderts zu bewähren und zu bestätigen hat.
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Aufklärung als Modernisierung
Was man im Rückblick auf das 18. Jahrhundert Aufklärung genannt hat, war eine große geschichtliche Bewegung, die sich eine Reform aller menschlichen Dinge auf die Fahnen geschrieben hatte, eine Reform der gesamten Kultur von den Formen, in denen sich das menschliche Denken und Wissen organisiert, über die Strukturen, in denen der Einzelne lebt, arbeitet und sich mit anderen austauscht, bis hin zur Organisation der Gesellschaft als ganzer, und die damit in der Tat nach und nach alle Bezirke des menschlichen Lebens erreichte und durchdrang.
Vorangetrieben wurde sie von einer durchaus überschaubaren gesellschaftlichen Gruppe, die sich eben damals neu formierte und die man heute die Intellektuellen nennt. Sie selbst und ihre Zeitgenossen hatten für sie allerdings noch einen anderen Namen; sie sprachen von ihr als von den „Philosophen“. Wie ihre Vorgänger, die frühneuzeitlichen Zirkel gelehrter Humanisten, war die Gruppe der „Philosophen“ bereits bestens vernetzt, standen alle, die ihr angehörten, in einem Austausch, der so eng und intensiv war, wie ihn die Verkehrsformen der Zeit nur irgend zuließen. Anders als die Humanistenzirkel bestand sie freilich nicht nur aus der Elite der Gelehrsamkeit, aus Theologen, Philosophen, Philologen und anderen Vertretern einer gelehrten Bildung, sondern auch aus interessierten Laien, aus Literaten, Publizisten, Pädagogen, höheren Beamten und all den anderen „Standespersonen“, die sich die Bildung der Bevölkerung und die Entwicklung der Gesellschaft zur Aufgabe machten. Die Intellektuellen haben die Aufklärung gemacht, und die Aufklärung hat die Intellektuellen gemacht.
Diese „Philosophen“ haben nun eben nach und nach den Begriff der Moderne entwickelt, von dem aus sich unsere heutige Gesellschaft als moderne Gesellschaft definiert. Was aber heißt modern? Von Modernität sprechen wir immer dann, wenn etwas Altes, Herkömmliches, Überliefertes, Traditionelles, Altgewohntes durch etwas Neues ersetzt worden ist, wenn an ihm ein Akt der Modernisierung vorgenommen worden ist, in dem Bestreben, mit dem Anspruch, die Sache besser zu machen als vorher, einen Fortschritt zu erzielen. Das setzt natürlich voraus, daß man zuvor einen kritischen Blick auf das Alte, Herkömmliche, Überlieferte, Traditionelle, Altgewohnte geworfen
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hat, einen Blick, dem es sich eben als veraltet, überholt und überholungsbedürftig, als verbesserungsbedürftig darstellt. Nichts kann eine Gesellschaft wie die unsere deutlicher als eine moderne Gesellschaft kennzeichnen, als daß sie alles Alte immer schon unter den Generalverdacht stellt, veraltet zu sein und der Modernisierung zu bedürfen.
Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung
So weit, so modernisierungsfreudig, so fortgeschritten und fortschrittsversessen waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts freilich noch nicht. Aber sie haben nach und nach ein Klima geschaffen, in dem es zunächst überhaupt möglich und dann auch üblich wurde, sich kritisch mit Überlieferung und Tradition zu beschäftigen, und in dem so der Weg hin zu Neuem freigemacht wurde, in dem der Begriff modern insofern einen positiven Klang bekam. Aufklärung bedeutet im 18. Jahrhundert zunächst und vor allem: Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, Emanzipation von der Autorität der Tradition. Das kann man schon äußerlich daran erkennen, daß das Wort „kritisch“ ein Lieblingswort aller Aufklärer gewesen ist.
Eines der wichtigsten Dokumente der frühen Aufklärung ist der „Dictionnaire historique et critique“ (1697), das Historisch-kritische Lexikon des Franzosen Pierre Bayle (1647 –1706), ein Werk, das im 18. Jahrhundert mehrfach ins Deutsche übersetzt worden ist – unter anderem von Gottsched, unter Beteiligung seiner Frau und des jungen Gellert – und das überall in Europa, oder jedenfalls doch in allen Ländern, die von der Aufklärung erreicht worden sind, zu einem Grundbuch der Bildung geworden ist, ein Werk, das sich im Bücherschrank eines jeden fand, der an der Aufklärungsbewegung teilhatte, bis hin zum Vater von Goethe. Da werden mit der Systematik eines Lexikons die Bestände der kulturgeschichtlichen Überlieferung zunächst historisch gesichtet und sodann kritisch auseinandergenommen: historisch-kritisches Lexikon. Solche Kritik will aufdecken, was an der Tradition bloß schlechte Gewohnheit, bloß Meinung, Aberglauben und Vorurteil ist. Der Aufklärer streitet mit seiner Kritik gegen das, was er Meinung, Aberglauben und Vorurteil nennt.
Es wurden damals übrigens auch Lehrbücher der Poesie geschrieben, denen der Name einer Critischen Dichtkunst gegeben wurde, unter anderem von Gottsched(1730) und Johann Jakob Breitinger (1740). Unter diesem Titel versuchten die Autoren eben mit all dem aufzuräumen, was für sie bloße Meinungen und Vorurteile in Sachen
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Literatur waren. Und dieser Kritizismus kulminierte in den großen Kritiken des Philosophen Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Da wird die Kritik ins Prinzipielle gewendet, nämlich auf die kritisierende Vernunft selbst bezogen, als Selbstkritik der kritisierenden Vernunft.
Glaubst du denn: von Mund zu Ohr
Sei ein redlicher Gewinst?
Überliefrung, o du Tor,
Ist auch wohl ein Hirngespinst!
Nun geht erst das Urteil an.
Dich vermag aus Glaubensketten
Der Verstand allein zu retten,
Dem du schon Verzicht getan. (HA 2, 48 –49)
So klingt das alles bei Goethe. Goethe ist ein in der Wolle gefärbter Aufklärer gewesen, und er ist es geblieben bis ins hohe Alter, und das heißt: bis weit ins 19. Jahrhundert hinein; es handelt sich bei den zitierten Versen nämlich um ein Gedicht aus einem seiner Alterswerke, dem lyrischen Zyklus „West-östlicher Divan“ von 1819. Überlieferung, so wird da gesagt, ist immer eine problematische Sache; worauf es ankommt, ist, nicht fraglos auf dem Weg der Anpassung in die Überlieferung einzurücken, sondern das eigene kritische Urteil zu bemühen, das Wagnis und die Arbeit des Selbst-Urteilens auf sich zu nehmen. sapere aude, wage zu wissen, lautet demgemäß ein immer wieder beschworenes Motto der Aufklärung; an seiner Stelle und in ähnlicher Funktion trifft man auch häufig auf ein Diktum von Horaz: nil admirari, nichts (unbesehen) bewundern.
Säkularisation und „Querelle des Anciens et des Modernes“
Aufklärung als Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, als Emanzipation von der Autorität der Tradition. Wenn wir verstehen wollen, was das im 18. Jahrhundert konkret bedeutet hat, dann müssen wir uns vergegenwärtigen, was seinerzeit die wichtigsten Mächte der Tradition waren, die gegenüber den Menschen ihre Autorität zur Geltung brachten, autoritativ in das Leben der Menschen hineinwirkten, und auf welche Weise, mit welchen Mitteln sie das
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taten. Es handelt sich dabei vor allem um zwei große Überlieferungskomplexe: das Erbe des Christentums, wie es die Basis für die Autorität der verschiedenen Kirchen und Theologien war, und das Erbe der Antike, wie es vom frühneuzeitlichen Humanismus in allen Belangen des kulturellen Lebens autoritativ zur Geltung gebracht worden war.
Die frühe Neuzeit, das 16. und 17. Jahrhundert, hatten ja die Reformation und die Renaissance gesehen, und das heißt: sie hatten zum einen im Streit der Konfessionen einen neuen Schub an Religiosität erlebt, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdrang; und zum andern hatten sie erlebt, daß der Humanismus die Quellen des antiken Erbes neu erschlossen und die Kultur der Antike, die Philosophie und Wissenschaft, Kunst und Literatur der alten Griechen und Römer zur Basis aller Bildung und Kultur, zum Maß aller Dinge gemacht hatte. Beides wurde nun im Zuge der Aufklärung zum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung. So ist das 18. Jahrhundert, was die Religion anbelangt, zur Zeit einer fortschreitenden Säkularisation geworden und, was das Erbe der Antike anbelangt, zur Zeit eines Streits um die Vorbildlichkeit der antiken Kultur, der „Querelle des Anciens et des Modernes“, eines Dauerdisputs zwischen denen, die die antiken Vorbilder für unübertrefflich hielten, und denen, die demgegenüber das Eigenrecht und die besonderen Qualitäten des Modernen zur Geltung zu bringen suchten.1
Undogmatische Religiosität, freier Umgang mit dem Erbe der Antike
Säkularisation, „Querelle des Anciens et des Modernes“ – das heißt allerdings nicht, daß die Aufklärer nun gar nichts mehr mit Religion und Antike zu tun haben wollten. Das Gegenteil ist richtig. Was die Religion anbelangt, so verstanden sich die meisten Aufklärer durchaus noch als religiöse Menschen, glaubten sie noch an einen Gott oder an etwas Göttliches, schon allein deshalb, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß man Moral, Ethik, ja das Soziale überhaupt, das schiedlich-friedliche Zusammenleben der Menschen, anders als religiös begründen könnte. Allerdings taten sie das vielfach dann nicht
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mehr in den überkommenen kirchlichen, theologisch-dogmatischen Formen; sie machten sich ihre eigenen undogmatischen Gottesbegriffe, ihre eigenen undogmatischen Vorstellungen von einem Leben in Gott und einem ethisch begründeten sozialen Leben, sei es als Deisten, Theisten, Pantheisten oder Panentheisten. Nur wenige gingen auch darüber noch hinaus und versuchten es mit dem Atheismus, etwa mit materialistischen Positionen; immerhin hat das 18. Jahrhundert auch den Frühmaterialismus gesehen.
Und was das Erbe der Antike anbelangt, so sind die Aufklärer allesamt zunächst einmal klassische Humanisten gewesen, mehr oder weniger gelehrte Kenner der Antike. Es gibt kaum einen Autor im 18. Jahrhundert, der nicht die Dichter der alten Griechen und Römer von Homer bis Vergil, von Sophokles bis Seneca und von Pindar bis Horaz gründlich kannte und dem deren Werke bei der Arbeit nicht ständig als Vorbilder oder Gegenbilder vor Augen standen. So ist es ja noch am Ende des Jahrhunderts, bei Goethe und Schiller, oder bei Hölderlin. Aber man begriff diese Vorbilder, diese Muster immer weniger als verbindliche Autoritäten. Auch wenn man vieles an ihren Werken immer noch bewunderte, ging man doch immer freier mit ihnen um, benutzte man sie mehr und mehr als Gegenbilder, denen man etwas anderes, etwas spezifisch Modernes gegenüberstellen wollte, und mancherorts hat man sich auch vollständig von ihnen zu lösen versucht.
Also eine fortschreitende Säkularisation, eine permanente „Querelle des Anciens et des Modernes“, aber keineswegs so, daß man das christliche und das antike Erbe gänzlich aus dem Blick hätte entfernen wollen. Man wollte sich nicht von diesen Überlieferungen, sondern nur von ihrer Autorität lösen, von den autoritativen, bindenden Ansprüchen, die damit in der frühen Neuzeit verknüpft waren. Zu einer programmatischen Absage nicht nur an die autoritativen Ansprüche von Tradition, sondern an die Tradition selbst und an das Tradierte überhaupt kommt es erst am Ende des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle zur Moderne im engeren Sinne, bei den ersten programmatischen Avantgardisten; derlei findet sich im 18. Jahrhundert noch kaum.
Kritik an der „Schrift“
Was die Aufklärer dementsprechend vor allem kritisieren, ist die Form, in der das christliche Erbe und das antike Erbe ihre Autorität zur Geltung bringen, sind Buchgelehrsamkeit und Schriftgläubigkeit.
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Die christliche Religion fußt ja auf einem Buch, auf der Bibel, der „Heiligen Schrift“; diese soll alles Wesentliche und Wahre enthalten, so daß hier eine Schriftkenntnis und Schriftgläubigkeit, die von Schriftgelehrten verwaltet wird, zur Basis des religiösen Lebens geworden ist. Hinzu treten in der christlichen Tradition weitere altehrwürdige Bücher, vor allem die Schriften der Kirchenväter, die „Patristik“. In eben dieser Haltung haben sich die frühmodernen Humanisten, die ja zunächst einmal Christen und insofern Kinder einer schriftgläubigen Kultur waren, dann auch dem Erbe der Antike genähert. Der Antike wollten sie vor allem in den Schriften begegnen, die sich von ihr erhalten hatten, und diese Schriften hatten für sie einen ähnlichen Stellenwert, eine ähnliche Autorität wie die Bibel und die Kirchenväter, so daß sie die Kultur der Antike, die Wissenschaft und die Kunst, um nicht zu sagen: den Geist der Antike als Buchgelehrte, als Schriftgelehrte, als Philologen in den Formen der Schriftkenntnis und der Schriftgläubigkeit meinten haben zu können.
Dagegen machen die Aufklärer Front, so sehr sie selbst als Intellektuelle auch mit Büchern leben, selbst immerzu mit Lesen und Schreiben beschäftigt sind. Was die Aufklärer des 18. Jahrhunderts von den christlichen Theologen und den Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts vor allem trennt, ist ihre Absage an Buchgelehrsamkeit und Schriftgläubigkeit. Bücher sind für sie nur Hilfsmittel; worauf es ihnen vor allem ankommt, ist das, was im wirklichen Leben geschieht, oder, wie sie selbst lieber sagen, was in der „lebendigen Natur“ vor sich geht, was „natürlich“ ist. In dem berühmtesten Werk von Lessing, dem „dramatischen Gedicht“ „Nathan der Weise“, von dem hier noch ausführlich die Rede sein soll, heißt es einmal von Nathan, daß er „die kalte Buchgelehrsamkeit“ nicht liebe, „die sich mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt“ (LN V, 382 –385); das ist typisch. Demgemäß suchen die Aufklärer Gott weniger in der Bibel als in der „lebendigen Natur“ und suchen sie Wissenschaft und Kunst weniger in den Schriften der Alten als in eben dieser Natur.
Die Kritik an der Buchgelehrsamkeit und am Buchgelehrten ist gerade für die Literatur ein dankbares Feld gewesen. Es gibt kaum ein Werk von Bedeutung im 18. Jahrhundert, das nicht an irgendeiner Stelle zur Gelehrtensatire wird und sich über die Verstiegenheit
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und Weltfremdheit des bloßen Buchgelehrten lustig macht.2 Damit setzt man sich von der Literatur der frühen Neuzeit ab, die, jedenfalls soweit sie vom Humanismus geprägt war, eine gelehrte Dichtung, eine Gelehrtendichtung war, ja deren literarische Texte oftmals mit Fußnoten und Quellenbelegen versehen sind wie eine wissenschaftliche Abhandlung. Auch wenn die Aufklärer von ihrem Bildungsgang her gelehrte Humanisten sind, wollen sie doch keine Gelehrtendichtung mehr fabrizieren, wollen sie anders schreiben, „natürlicher“ schreiben, und das machen sie eben mit den Mitteln der Gelehrtensatire deutlich. Wie die Humanisten einen Kampf gegen die Unbildung geführt haben, so kämpfen die Aufklärer nun gegen dieÜberbildung.
Abkehr vom Rationalismus,„Naturalismus“
Damit ist ein weiteres wichtiges Stichwort gefallen: Natur. Keinen Begriff haben die Aufklärer häufiger im Mund geführt als den der Natur. Er ist für sie wichtiger als der Begriff, der von den Nachgeborenen bis heute vor allem mit ihren Bestrebungen verknüpft wird, als der Begriff der Vernunft. Von den ersten Kritikern der Aufklärung bis in die heutige Wissenschaft hinein, bis hin zur modernen Literaturgeschichtsschreibung hat sich ja die Vorstellung festgesetzt, die Aufklärung habe eine Art Kult der Vernunft, der „ratio“ veranstaltet, sie habe einem selbstherrlichen Rationalismus, einem „Logozentrismus“ gehuldigt, sie habe sich der Vernunft geradezu im Sinne einer „Totalitätsobsession“ verschrieben gehabt. Die Aufklärer hätten geglaubt, daß die menschliche ratio alles erklären und alles regeln, alles in den Griff bekommen könne, von der Natur über die Gesellschaft bis hin zum Leben des Einzelnen.
Unterwerfung der Natur, Unterwerfung der natürlichen Triebe des Menschen unter die ratio, ein rational kontrolliertes Leben, ein rational veranstalteter Fortschritt, und in diesem Sinne Vervollkommnung des Einzelnen wie der Gesellschaft, „Perfektibilität“, Fortschritts- und Geschichtsoptimismus – das sind bis heute beliebte Stichworte, wo es um die Aufklärung geht.3 Von der ratio her habe man am Glück der Menschheit arbeiten wollen, an allen Abgründen des Menschen
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und allen Abgründen der Geschichte vorbei. So kann man es etwa in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lesen, und bei ihnen hat sich gerade die Germanistik in den letzten Jahrzehnten immer wieder über das 18. Jahrhundert belehren wollen.
Aber Adorno und Horkheimer haben nur wenig vom 18. Jahrhundert verstanden; sie sprechen, wo sie die Aufklärung in den Blick nehmen, im Grunde von der positivistischen Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts waren weniger Rationalisten als vielmehr „Naturalisten“. Wenn sie denn überhaupt einen Kult betrieben haben, dann war das ein Kult der Natur und kein Kult der Vernunft. Wo immer sie zur Sache kommen, wo immer sie auf das zu sprechen kommen, was für sie das Wesentliche ist, da erscheint in ihren Texten an zentraler Stelle der Begriff der Natur, und auch wo es nicht um Wesentliches geht, bei allem und jedem heißt es bei ihnen: Natur, Natur, Natur!4 So haben sie sich zum Beispiel in der Theologie um natürliche Gottesbegriffe bemüht, in der Philosophie um die allgemeine Menschennatur und um eine natürliche Ethik, in der Wissenschaft um die Naturerkenntnis, im staatlichen Leben um die Geltung des Naturrechts, und in der Kunst und Literatur um das Prinzip der Naturnachahmung, der imitatio naturae, der mimesis. Die Dichtung sollte nun weniger Kunst sein – Kunst im Sinne von Künstlichkeit – als vielmehr etwas Natürliches, sie sollte irgendwie „Naturpoesie“ sein.
Und die Natur steht für die Aufklärer eben über der menschlichen Vernunft, sie übersteigt für sie immer schon die Möglichkeiten der Vernunft. In diesem Sinne haben sie durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch an einer Kritik der Vernunft gearbeitet, wie sie Kant dann gegen Ende des Jahrhunderts in seinen großen Kritiken zusammenfaßt, haben sie sich überall darum bemüht, der Vernunft ihre Grenzen aufzuzeigen, zumal dort, wo sie sich zu großen „Systemen“ versteigt, die das Ganze der Welt erklären wollen.5 „The most ingenious way of
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becoming foolish, is by a system“, heißt es schon bei dem frühen Aufklärer Shaftesbury,6 und noch Goethewarnt davor, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur „zu einer systematischen Form“ zu treiben (HA 13, 20). Die Natur soll der Vernunft zwar zugänglich sein, insofern sie nach Gesetzen funktioniert, die der Verstand einsehen kann, aber sie soll zugleich über alles hinausreichen, was die Vernunft sich jemals wird denken können. So daß für den Menschen der richtige Weg nur sein kann, der Natur zu folgen, auf sie zu hören, sich an sie anzuschließen, sich mit seinem Leben und Denken in sie einzupassen: vivere secundum naturam; in Worten eines anderen frühen Aufklärers, Alexander Pope: „Take Nature’s path, and mad Opinion’s leave“ (PE IV, 29), in Worten des deutschen Autors Wieland: „Laßt uns (…) der Natur folgen; einer Führerin, die uns unmöglich irre führen kann“.7 Wer sich die Natur allen Ernstes würde unterwerfen, sie theoretisch und praktisch würde beherrschen wollen, der würde unweigerlich bei Krampf und Gewalt enden. Das ist Aufklärung.
Aufklärung als Verbindung von „Kritizismus“ und „Naturalismus“
Wir haben also nun ein zweites Lieblingswort der Aufklärer neben dem Wörtchen „kritisch“, das Prädikat „natürlich“, und eine zweite Maxime neben der, die in den Dikta „sapere aude“ und „nil admirari“ zum Ausdruck kommt, die Maxime „vivere secundum naturam“. Es ist ein sicheres Indiz dafür, daß man einen Text der Aufklärung vor sich hat, wenn man auf die Kombination der beiden Prädikate „kritisch“ und „natürlich“ trifft, nicht weniger sicher, als wenn man auf Begriffsoppositionen wie Natur versus Meinung, Natur versus Vorurteil oder Natur versus Aberglauben trifft.
Die Aufklärer sind zunächst einmal kritische Menschen; sie nehmen das, was ihnen überliefert ist, nicht einfach unkritisch hin, wollen die Überlieferung kritisch durchleuchten. Die Basis ihrer Kritik, das Fundament, von dem aus sie das Überlieferte ins Auge fassen, um es gegebenenfalls als schlechte Gewohnheit, als bloße Meinung, als Vorurteil und Aberglauben abzuqualifizieren, ist vor allem das, was sie Natur
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nennen; sie stellen sich auf den Boden der Natur. Was aber heißt: auf dem Boden der Natur? Es heißt: auf dem Boden der Erfahrung. Natur ist, was man erfahren kann, was man sinnlich wahrnehmen, sehen, hören, riechen, schmecken, ertasten, erfühlen, erleben kann, und dann mit seinem Verstand verarbeiten und mit seinem Gedächtnis festhalten; Erfahrung ist, was man sich in der Auseinandersetzung mit der Natur erwirbt. Kritik an der Überlieferung heißt hier mithin, das Überlieferte auf den Prüfstand der Erfahrung stellen, und das wiederum heißt: auf den Prüfstand der Natur; und dabei kann es sich dann eben als wahr oder falsch erweisen. Die erste, wichtigste Quelle des Wissens ist für die Aufklärer anders als für die Humanisten nicht mehr das, was in altehrwürdigen Büchern steht, sondern die Erfahrung.
Individualisierung und Geniekult
Mit diesen Begriffen von Natur und Erfahrung ist ein weiterer Begriff eng verknüpft, der der Emanzipation. Mit Emanzipation ist hier der Weg des einzelnen Menschen, des Individuums weg von der Bindung an Autoritäten, Traditionen und Konventionen hin zu einem offenen Raum gemeint, in dem er ein Leben nach eigener Wahl, ein selbständiges, selbstbestimmtes Leben führen kann. Zu einer Erfahrung gehört ja immer ein Mensch, der sie macht, ein Individuum als Subjekt dieser Erfahrung, ein Ich, dem die betreffende Erfahrung zuteil wird. Da muß ein Subjekt sein, das wahrnimmt, sieht, hört, fühlt, erlebt, das sich etwas dabei denkt, das das Wahrgenommene und Bedachte als richtig und wichtig, wahr und sinnvoll bewertet, das es in seinem Gedächtnis abspeichert und gegenüber anderen für es eintritt – ohne Subjekt keine Erfahrung. In dem Maße nun, in dem die Erfahrung wichtiger wird als die Überlieferung, wenn nicht gar zum Maß aller Dinge, vollzieht sich zugleich eine Aufwertung des Individuums als des unentbehrlichen Trägers des Erfahrungmachens, und damit eine Aufwertung alles Individuellen. Mit der Abkehr von der Autorität der Überlieferung im Setzen auf die Natur und die Erfahrung geht die Emanzipation des Individuums Hand in Hand. So ist das 18. Jahrhundert auch das Jahrhundert gewesen, in dem der moderne Individualismus erstmals sein Haupt erhoben hat. In Worten Wielands: die „Natur (…) will, daß ein jeder Mensch seine eigene Person spiele“.8
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Ein zentraler Schauplatz für die Erkundung der neuen Bedeutung des Individuums ist das Nachdenken über das Genie gewesen. Durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch hat man sich immer wieder mit dem Begriff des „Originalgenies“ auseinandergesetzt, so sehr, daß eine bestimmte Phase der literarischen Entwicklung in Deutschland, die Phase des „Sturm und Drang“, auch „Geniezeit“ genannt werden konnte.9 Aber der Begriff des Genies ist hier nicht nur ein Thema der Kunst; letztlich bezeichnet er einen entscheidenden Zugang zu dem neuen Bild vom Menschen, das die Aufklärung entworfen hat, zu ihrer Anthropologie. Das Genie ist das große Paradigma des neuen Individualismus. An ihm wird studiert, welche Dimensionen die Eigenart und die Bedeutung des Individuums annehmen kann; das zeigt eben der Bestandteil Original im Begriff des Originalgenies. Die Taten des Genies lassen erkennen, in welchem Maße sich die Erfahrungen, in denen dem Menschen seine Welt aufgeht, der Individualität und Subjektivität dessen verdanken, der da Erfahrungen macht und von ihnen Zeugnis ablegt.
Naturrecht vs. Ständegesellschaft
Die Emanzipation des Individuums hat natürlich immer auch eine politisch-gesellschaftliche Seite. Das macht uns darauf aufmerksam, daß sich die Aufklärung bei ihrer kritischen Prüfung der Tradition im Rückgang auf Erfahrung und Natur noch mit einer dritten großen Macht der Überlieferung neben dem Erbe des Christentums und dem Erbe der Antike beschäftigt hat: mit der Gesellschaftsordnung, und das heißt seinerzeit: mit einer feudal-ständischen Ordnung. Denn die Gesellschaft war im 18. Jahrhundert noch immer eine Ständegesellschaft, wie sie letztlich auf das mittelalterliche Feudalwesen zurückgeht, eine Gesellschaft mit einem Fürsten, einem Monarchen an der Spitze und mit den Ständen des hohen und niederen Adels, des hohen und niederen Klerus, des patrizischen Stadtbürgertums, der Handwerker und der Bauern darunter, mit Ständen, die jeweils besondere Rechte, besondere Privilegien genossen, deren Mitglieder also nicht gleich waren vor dem Gesetz und demgemäß im staatlich-politischen Leben unterschiedliche Rollen zu spielen, unterschiedliche Funktionen wahrzunehmen hatten. Diese Ordnung und diese Privilegien rechtfertigten sich ebenfalls mit
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der Autorität der Überlieferung. Die Ordnung sollte legitim sein, weil sie eine altehrwürdige und alterprobte Ordnung war, die Privilegien sollten legitim sein, weil sie ererbte Rechte waren.
Auch hier stellten die Aufklärer die kritische Frage: ist diese traditionelle Ordnung, sind diese überkommenen Privilegien, so alt sie auch immer sein mögen, natürlich? Will sagen: entsprechen sie der Natur des Menschen? Also auch hier haben die Aufklärer nach der Natur gefragt, nämlich nach den natürlichen Rechten des Menschen, nach dem „Naturrecht“, den „Menschenrechten“, danach, wie Gesellschaft wohl von Natur aus gemeint sei, nach dem, was sie den „Naturzustand“ nannten. Sind die Menschen nicht von Natur aus frei und gleich? Und wie müßte eine Gesellschaft aussehen, die solcher Freiheit und Gleichheit gerecht würde? Derartige Überlegungen haben dann die Entwicklungen in Gang gebracht, die am Ende des Jahrhunderts zur Französischen Revolution geführt haben, und damit zu unserer modernen Staats- und Gesellschaftsordnung.
Kritik an der Ständeordnung kam übrigens nicht nur aus jenen bürgerlichen Kreisen, die sich als unterprivilegiert verstehen konnten, wie die Aufklärung überhaupt nicht bloß eine Sache des Bürgertums oder überhaupt eine bürgerliche Sache gewesen ist. Das ist leider noch immer in den meisten Literaturgeschichten zu lesen, wo es um das 18. Jahrhundert geht. Aber es ist nicht richtig. Die Aufklärung war eine Sache, zu der sich Zirkel gebildeter Adliger und Bürger zusammenfanden.10 Da wurde keineswegs in erster Linie das Selbstbewußtsein eines Standes, das Selbstbewußtsein des Bürgertums, kultiviert, sondern es ging um ein Zusammenfinden jenseits der Standesgrenzen. Die Aufklärung läßt sich noch nicht einmal auf jene Schicht festlegen, die Lessing den „Mittelstand“ nennt,11 also den niederen Adel und das gehobene Bürgertum. Könige wie Friedrich II. von Preußen und Lords wie Shaftesbury haben daran ebenso ihren Anteil gehabt wie Handwerkersöhne vom Schlage Rousseaus. Davon wird noch zu reden sein.
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Aufklärung und Öffentlichkeit
Ein letzter Punkt. Wenn wir fragen: was ist der Ort, an dem die Aufklärer, die „Philosophen“ dieses ihr kritisches Geschäft betreiben? dann treffen wir auf eine neue Einrichtung, mit der sich recht eigentlich die moderne Öffentlichkeit etabliert hat, nämlich auf ein Zeitschriftenwesen, das es vorher so noch nicht gab. Wichtig sind natürlich weiterhin die Kommunikationsräume, die sich der frühmoderne Humanismus geschaffen hat, etwa die gebildeten Freundeszirkel in den Städten, an den Fürstenhöfen und an den Universitäten. Und da hat es natürlich auch schon so etwas wie eine Öffentlichkeit gegeben, die offenen Räume des Markts und der Kirche, des Hofs, der Aula, des Theaters. Aber hier hat Öffentlichkeit immer nur die umfassen können, die körperlich anwesend waren; das, was man ein „Präsenzpublikum“ nennt. Weiter, hin zu einem über Raum und Zeit zerstreuten „dispersen Massenpublikum“ hat hier allenfalls schon das Buchwesen gereicht, aber das ist natürlich, was die Umschlagsgeschwindigkeit von Informationen anbelangt, vergleichweise schwerfällig.
Im 18. Jahrhundert nun entsteht, vor allem dank der Aktivitäten der Aufklärer und ausdrücklich zum Zweck der Ausbreitung aufklärerischer Gedanken, ein neuartiges Zeitschriftenwesen. Das beginnt mit den sogenannten „Moralischen Wochenschriften“ in England, dem Land, wo die Aufklärung zunächst Fahrt aufgenommen hat. Das berühmteste Beispiel ist der „Spectator“ (1711 –1712, 1714) von Joseph Addison und Richard Steele. Dieses Vorbild wird dann bald auf dem Kontinent nachgeahmt, auch im deutschen Sprachraum, so von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger in Zürich, wo sie ihre „Discourse der Mahlern“ (1721 –1723) herausgeben, und dann in Hamburg, in Leipzig und anderswo.12 Gegen die Mitte des Jahrhunderts gibt es sogar schon eine ganze Reihe von Zeitschriften – allerdings keine Wochenschriften – die sich bevorzugt mit Kunst und Literatur befassen, freilich immer im Rahmen der breiten Themenpalette der Aufklärung. Sie heißen etwa „Briefe, die neueste Literatur betreffend“, oder „Allgemeine Bibliothek der schönen Wissenschaften und Künste“. Lessing hat eine zeitlang als Redakteur solcher Zeitschriften gearbeitet.
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Wieland gab nach dem Vorbild der führenden französischen Zeitschrift, des „Mercure de France“, eine eigene Zeitschrift heraus, die zu einer Art Zentralorgan der deutschen Spätaufklärung wurde und eine zeitlang fast alle Gebildeten in Deutschland erreichte, den „Teutschen Merkur“ (1773 –1810). Zeitschriften wie diese bilden neben dem Buchwesen die wichtigste Plattform der Aufklärung. In ihnen wird über alles diskutiert, was ein aufgeklärtes Publikum interessiert, unter reger Anteilnahme dieses Publikums. Nicht zuletzt wird hier auch über Fragen der Pressefreiheit gestritten, denn es gibt seinerzeit natürlich weithin noch immer eine Zensur, die der Diskussionsfreude bald engere und bald weitere Grenzen setzt.
Fließende Grenzen zwischen Belletristik und Sachbuch
Eine Einführung in die Literatur des 18. Jahrhunderts fragt natürlich in erster Linie nach literarischen Texten. Aber was heißt im 18. Jahrhundert überhaupt Literatur? Der heutige Leser muß sich darauf einstellen, daß die Grenzen zwischen dem, was er aus heutiger Sicht als Literatur bezeichnen mag, und anderen Bereichen der Kultur wie Philosophie, Wissenschaft, Historie und politische Publizistik seinerzeit noch nicht so scharf ausgeprägt waren wie heute. Da wirkt lange Zeit noch die alte Einheit von Wissenschaft und Kunst, von akademischer Gelehrsamkeit und künstlerischer Kreativität, rhetorischem und literarischem Schreiben nach, wie sie der frühmoderne Humanismus pflegte. Die scharfe Grenzziehung zwischen Belletristik und Sachbuch, ästhetischem und non-ästhetischem Schrifttum, fiktionaler und non-fiktionaler Literatur, wie sie bei uns heute üblich ist, ist ein Werk erst des späten 18. Jahrhunderts selbst gewesen, ist hier erst allmählich entwickelt, begründet und durchgesetzt worden.
Daß literarische und non-literarische Formen im 18. Jahrhundert noch sehr viel näher beieinander sind, sieht man schon äußerlich an dem Gesamtwerk vieler Autoren; es gibt noch nicht jene rigide Arbeitsteilung zwischen Theoretikern und Praktikern, jene hohe Spezialisierung der Autoren für bestimmte Fächer, Gattungen und Schreibpraktiken, die für uns heute selbstverständlich ist. So hat zum Beispiel der Franzose Voltaire, eines der Leitfossile der europäischen
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Aufklärung, nicht nur Tragödien, Versepen, Romane, Erzählungen und Oden geschrieben; er war zugleich auch einer der einflußreichsten Philosophen, Historiker, Kritiker und wissenschaftlichen und politischen Publizisten seiner Zeit. Und das sieht man seinen Werken auch an. Die Unterschiede zwischen dem dichterischen, philosophischen, wissenschaftlichen und journalistischen Schreiben sind bei ihm nur graduelle und keine kategorischen.
Und so ist es auch bei den meisten deutschen Aufklärern gewesen, und mit Abstrichen selbst noch bei Goethe und Schiller. Schiller hat ja außer literarischen auch philosophische und historische Werke geschaffen, und Goethe hat auch als Naturphilosoph und Naturwissenschaftler gearbeitet. Diese Praxis des Schreibens kommt erst in der nächsten Generation von Autoren an ihr Ende, der Generation von Hölderlin und Kleist; wenn sie denn Dichter sind, dann sind sie vielfach nichts als Dichter. Aber da befinden wir uns schon an der Grenze zum 19. Jahrhundert. Heute ist ein Autor im Normalfall ausschließlich Verfasser von Literatur oder Kritiker oder Wissenschaftler oder politischer Journalist und hat allenfalls ausnahmsweise einmal einen Gastauftritt in der Domäne des anderen. Auch das Schreiben und Publizieren unterliegt inzwischen weithin jener Arbeitsteilung, jener Spezialisierung, die ein wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft ist.
Es gibt im 18. Jahrhundert noch ganze Gattungen, die diese Situation der fließenden Grenzen bezeugen, so z. B. das Lehrgedicht. Im Lehrgedicht werden Resultate der theoretischen Arbeit, etwa der Philosophie und der Wissenschaft, in dichterischer Form, in einer poetischen Sprache und in Versform niedergelegt. Hinzu kommt, daß die Gattungstrias Epik – Lyrik – Drama als Inbegriff des Kernbereichs der Belletristik seinerzeit noch nicht so ausgeprägt war wie heute; auch die Etablierung dieser Trias ist ein Werk erst des 18. Jahrhunderts gewesen, und zwar des späten 18. Jahrhunderts.13 Und schließlich sind die Übergänge zu pragmatischen Textsorten wie Brief, Tagebuch, Autobi-
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ographie, Reisebericht noch durchaus fließend. So ist z. B. der Autor der berühmtesten und einflußreichsten Romane der Jahrhundertmitte, der Engländer Samuel Richardson (1689 –1761), über das Anlegen eines „Briefstellers“, einer Anleitung zum Schreiben von Briefen mit Hilfe einer Kollektion von Musterbriefen, zum Schriftsteller geworden, und seine Romane sind dann eben Briefromane geworden. Und daß so viele Romane der Epoche Reiseromane sind, ihre Helden auf der Reise zeigen, hängt auch mit der zeitgenössischen Kultur des Reisens und des Reiseberichts zusammen. Man muß also mit einem sehr weiten und offenen Literaturbegriff an das 18. Jahrhundert herangehen, wenn man die Verhältnisse nicht verfälschen will.
Fließende Grenzen zwischen den Sprachräumen
Und auch eine andere Grenze ist bei der Literatur des 18. Jahrhunderts nicht so scharf ausgeprägt wie in anderen Epochen, die Grenze zwischen den Sprachräumen. Die Aufklärung ist keine rein deutsche Angelegenheit gewesen, sondern eine Bewegung, die weite Teile Europas erfaßte. Entfaltet hat sie sich zunächst vor allem in England und Schottland, sodann in Frankreich, und von England und Frankreich her kam sie schließlich auch nach Deutschland. Der Aufklärungsdiskurs ist ein Phänomen, das sich über die Grenzen der verschiedenen Sprachräume hinweg im Austausch unterschiedlicher Kulturräume entwickelt hat. Wenn man dem gerecht werden will, muß man komparatistisch arbeiten, darf man sich nicht nur mit deutscher Literatur beschäftigen, muß man über diese deutsche Literatur hinaus zumindest auch die englische und die französische Literatur mit in den Blick nehmen.
Denn es gibt keinen deutschen Vertreter einer aufgeklärt-aufklärerischen Literatur, der sich nicht zumindest mit englischer und französischer Literatur beschäftigt hätte, mit Locke, Shaftesbury, Pope und Hume, mit Bayle, Voltaire, Montesquieu, Diderot und Rousseau, keinen, dessen Werk man demzufolge sachgerecht analysieren könnte, ohne die englischen und französischen Einflüsse mit zu bedenken. Bis heute ist es ein Krebsschaden der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, daß sie den Einfluß des Auslands im 19. Jahrhundert zunächst im Sinne des Gedankens der Nationalliteratur nach Kräften wegdisputiert hat und sich dann nicht konsequent genug um die Korrektur des einmal gezeichneten Bildes vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur bemüht hat, nicht wirklich aus den einmal gelegten Geleisen der
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Literaturgeschichtsschreibung herausgefunden hat. Hier soll mit dem germanistischen Idiotismus der deutschen Nabelschau nach Kräften Schluß gemacht werden. Demgemäß wird im folgenden auch immer wieder von englischen und französischen Autoren gehandelt werden, eben von all dem, was man braucht, um die Aufklärung als ganzes in den Blick zu bekommen und die deutschen Entwicklungen auf angemessene Weise nachzuzeichnen.
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1 Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes. In: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes (…). München 1964, S. 8 –64. – Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981.
2 Beispiele bei Alexander Kosenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003.
3 Diese Vorstellungen bestimmen z. B. noch die Darstellung der Epoche in Hansers Sozialgeschichte der Literatur und bei Gerhard Kaiser (s. Literaturhinweise).
4 Zur „zentralen Rolle des Naturbegriffs“ s. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 342 –356.
5 Roy Porter: Kleine Geschichte der Aufklärung. Berlin 1991, S. 9 –11. – Kondylis: Aufklärung (Anm. 4), S. 298 –309.
6 Shaftesbury: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 1. London 1735, S. 290.
7 Wieland: Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Erster Theil. In: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 6. Leipzig 1794. ND Hamburg 1984, S. 72.
8 Ebenda, S. 142.
9 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens 1750 –1945. 2 Bde. Darmstadt 1985.
10 Porter: Aufklärung (Anm. 5), S. 56 –66.
11 Lessing: Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele. In: ders., Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 4. München 1973, S. 12 –58, hier S. 13.
12 Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971.
13 Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 18. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001, S. 198 –269.
Nachdem wir uns erste Begriffe von der Aufklärung und ihrer Literatur erarbeitet haben, können wir es wohl wagen, uns mit einem großen Sprung mitten in die Welt des 18. Jahrhunderts hineinzuversetzen, mitten unter die, die die Aufklärung gemacht haben und denen sich das verdankt, was an Literatur aus jenen Jahren auf uns gekommen ist, mitten unter die Intellektuellen der Zeit, die „Philosophen“. Wir gehen in das Jahr 1764 zurück, in die Blütezeit der Aufklärung in Europa, und heften uns an die Sohlen eines jungen Mannes, eines Schotten mit Namen James Boswell, der seinerseits gerade dabei ist, diese Welt für sich zu entdecken, der nämlich eine der großen Bildungsreisen absolviert, wie sie damals in seinen gesellschaftlichen Kreisen üblich waren, eine sogenannte „Grand Tour“. Es handelt sich um einen jungen Mann mit den typischen Interessen derer, die an der Aufklärungsbewegung teilhaben – er selbst sagt von sich und seiner Reise, er sei „als Philosoph unterwegs“,14 und das heißt nichts anderes, als daß er als aufgeklärter Mensch in die Welt blickt – um einen Menschen überdies, der mit Vorliebe literarische Interessen verfolgt, so daß ihn seine Reise nacheinander zu den beiden berühmtesten Autoren der Zeit gebracht hat, zu Voltaire und Rousseau. Wir machen uns seine „Grand Tour“ also für unsere eigene Entdeckungsreise in die Welt des 18. Jahrhunderts zunutze.
Das können wir, weil James Boswell ein großer Schreiber von Tagebüchern und Briefen gewesen ist, wie so viele in seiner Zeit und in der
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Schicht von Gebildeten, der er angehörte, einer, der alles, was ihm auf seiner Reise widerfuhr, mit großer Genauigkeit festgehalten hat, vor allem seine Begegnungen mit Menschen, bis hin zu den Gesprächen, die er mit ihnen geführt hat – so daß sich seine Beobachtungen und Erlebnisse gut nachvollziehen lassen, einschließlich seiner Begegnungen mit Voltaire und Rousseau.
Damit sind nun einige Aspekte der Alltagskultur berührt, denen bei der Beschäftigung mit der Literatur des 18. Jahrhunderts und insbesondere bei der Frage nach deren kulturgeschichtlichen Voraussetzungen seit jeher große Bedeutung beigemessen worden ist und die deshalb sogleich etwas genauer unter die Lupe genommen werden sollen: das Reisen, das Schreiben von Briefen und Tagebüchern und die Praktiken der Konversation. Aus dem Jahrhundert der Aufklärung hat sich – anders als aus früherer Zeit – eine große Zahl von Reiseberichten, Briefwechseln, Tagebüchern und Gesprächsnotizen erhalten. In ihnen lassen sich die Formen des kulturellen Lebens, aus denen die Literatur erwachsen ist, besonders gut greifen. So bezeichnen sie für uns nicht nur eine Quelle der Kulturgeschichte unter anderen, sondern geradezu den soziokulturellen Humus – oder jedenfalls doch ein Gutteil davon – aus dem seinerzeit die Pflanze der Literatur erwachsen ist, eben den Bereich der soziokulturellen Aktivität, der Einblick in die Art und Weise gewährt, wie die Alltagskultur und das literarische Leben zusammenhängen.
Erneuerung und Aufstieg des Romans im 18. Jahrhundert
Eine der wichtigsten literaturgeschichtlichen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts ist der Aufstieg des Romans, beginnend mit seiner Erneuerung in der Mitte des Jahrhunderts und endend mit seiner Apotheose als eigentliche und wahre Form der modernen Poesie durch die Literaturtheorie der Jenaer Frühromantik, durch die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg, der sich als Autor den Namen Novalis gab. Der Roman wird in dieser Zeit von einer zwar populären, aber weithin als problematisch bewerteten Erscheinung am Rande dessen, was als Dichtung gilt, zu eben der Gattung, in der sich die Essenz der Poesie verkörpern soll. Noch
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Schiller hat den „Romanschreiber“ einen bloßen „Halbbruder“ des Dichters genannt;15 das entspricht einer langen Tradition, in der der Roman als moralisch und ästhetisch problematisch angesehen worden ist. Die Brüder Schlegel und Novalis hingegen wollen in den neunziger Jahren im Roman die Form aller Formen erblicken, den Inbegriff einer modernen, „romantischen“ Poesie.
Die Erneuerung des Romans seit der Jahrhundertmitte hat sich aber vor allem in den Formen des Reiseromans, Briefromans, Tagebuchromans und Gesprächsromans vollzogen. Um sogleich einige Beispiele zu nennen, sei für den Reiseroman auf „Candide“ (1759) von Voltaire, „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“ (1769 –1773) von Johann Timotheus Hermes und „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich“ (1791 –1805) von Moritz August von Thümmel verwiesen, für den Briefroman auf „Pamela“ (1740) und „Clarissa“ (1747 –1748) von Samuel Richardson sowie „Julie ou La Nouvelle Héloïse“ (1761) von Jean-Jacques Rousseau, für den Tagebuchroman auf Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) – was äußerlich zwar ein Briefroman ist, sich bei näherem Zusehen aber als ein verkappter Tagebuchroman entpuppt, da überwiegend nur einer, Werther, Briefe schreibt – und für den Gesprächsroman auf zwei romanartige Gebilde von Denis Diderot, die von Schiller und Goethe ins Deutsche übersetzt worden sind: „Jacques le fataliste“ (entstanden 1773 –1775, dt. Teilübers. 1785) und „Le neveu de Rameau“ (entstanden 1762 –1774, dt. Übers. 1805).
Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vom Ende des Jahrhunderts läßt sich formal als Vereinigung all dieser neuen Möglichkeiten des Romans begreifen. Als Basis der Handlung haben wir hier die Struktur der Reise – Wilhelm ist fast während des ganzen Romans auf Reisen – es gibt ausgedehnte Brief- und Tagebuch-Passagen und darüber hinaus auch viele lange Gespräche. Überdies sind eine ganze Reihe von lyrischen Gedichten in ihn eingelegt. So ist es kein Wunder, daß gerade Goethes „Wilhelm Meister“ für die Frühromantiker das große Beispiel für ihre Vorstellung vom Roman als Inbegriff einer
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modernen, „romantischen Poesie“ geworden ist, die Verkörperung dessen, was Friedrich Schlegel eine „progressive Universalpoesie“ nennt, die „alle getrennte Gattungen der Poesie wieder (…) vereinig(t)“.16
Kulturgeschichtliche Voraussetzungen
Hinter den neuen formalen Möglichkeiten des Romans als Reise-, Brief-, Tagebuch- und Gesprächsroman steht nun eben als reale kulturgeschichtliche Folie eine rege Kultur des Reisens, des Brief- und Tagebuchschreibens und des Konversierens, die ihrerseits auch schon in gewissem Maße literarische Züge annimmt, die nämlich die pragmatischen, vor- oder halbliterarischen, jedenfalls non-fiktionalen Formen der Reisebeschreibung, des in Buchform präsentierten Briefwechsels und Tagebuchs sowie der philosophisch-ästhetischen Gesprächsliteratur zeitigt. Die berühmteste Reisebeschreibung17der Zeit stammt aus der Feder des Engländers Lawrence Sterne (1713 –1768) und trägt den Titel „A Sentimental Journey through France and Italy“ (1768); sie hat einer ganzen Unterströmung innerhalb Aufklärungsbewegung ihren Namen gegeben, dem Sentimentalismus; zu deutsch: Empfindsamkeit. Für den Brief18 seien hier nur die „Freundschaftlichen Briefe“ (1746) des vor allem als Lyriker bekannt gewordenen Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 –1803) genannt. Das meistbeachtete Tagebuch 19 in deutscher Sprache ist das „Geheime Tagebuch“ (1772/1773) des Goethe-Freunds Johann Kaspar Lavater (1741 –1801). Und was die Gesprächsliteratur 20anbelangt, so haben etwa viele Beiträge in den Zeitschriften des
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18. Jahrhunderts die Form eines Gesprächs. Die Theorie zu dieser Form findet sich früh im Jahrhundert bereits bei Shaftesbury, in dessen „philosophischer Rhapsodie“ „Die Moralisten“, mit dem Untertitel „Eine Wiedergabe gewisser Unterhaltungen über Natur und Moral“ (1709).
Neue Formen fiktionaler Literatur erwachsen bekanntlich gar nicht so selten aus pragmatischen, non-fiktionalen Textsorten; so auch hier. Der Reiseroman läßt sich als fiktive Reisebeschreibung begreifen, der Briefroman als fiktiver Briefwechsel, usw. In diesem Sinne sind die Kultur des Reisens, des Briefeschreibens und Tagebuchführens sowie die zeitgenössische Konversationskultur in der Tat als kulturgeschichtlicher Humus der Literatur einzustufen. Hierzu gehört übrigens auch die damals neue Form der Autobiographie,21 die vor allem für den Entwicklungs- und Bildungsroman als fiktive Biographie Bedeutung erlangt. Insgesamt haben wir hier also drei Ebenen zu unterscheiden: erstens die soziokulturelle Praxis des Reisens, Brief- und Tagebuchschreibens und der Konversation, zweitens deren Literarisierung in den non-fiktionalen Formen der Reisebeschreibung, des Tagebuchs und Briefwechsels in Buchform und der Konversations-Schule, und drittens deren Fiktionalisierung in Reiseroman, Briefroman, Tagebuchroman und dialogischer Literatur.
Unser Reisender nun lebt und webt mit seinem ganzen Herzblut in dieser Welt vor- und halbliterarischer Formen, als passionierter Reiseberichterstatter, als Brief- und Tagebuchschreiber, als Protokollant von Gesprächen und als Biograph. Es ist ein junger Schotte, der in Deutschland nie besonders bekannt geworden ist, den aber in Großbritannien jeder Gebildete als Verfasser einer Biographie kennt, die in keinem gut sortierten Bücherschrank fehlen darf, der Biographie des Aufklärers Dr. Samuel Johnson.
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James Boswell
Der Name unseres Reisenden ist James Boswell.22 Er ist 1740 geboren, bei Antritt der Reise 1764 also 24 Jahre alt. Er stammt aus altem schottischem Adel, ist der älteste Sohn und Erbe des Laird of Auchinleck, eines Clan-Chefs, Gutsbesitzers und Landrichters. Und das sei sogleich festgehalten: er ist ein Mann von altem Adel; daran wird zu erinnern sein, wo von seinem Umgang mit bürgerlichen Literaten wie Voltaire und solchen kleinbürgerlicher Abkunft wie Rousseau die Rede ist. Der Vater hat Boswell zur Juristerei bestimmt, aber es zieht ihn zur Literatur, und das heißt: nach London, in das Zentrum der englischen Literatur. Und so liegt er eine Weile mit seinem Vater im Clinch. Dabei ist dann als Kompromiß herausgekommen, daß er seinem alten Herrn um den Preis der Fortsetzung seiner juristischen Studien die Finanzierung einer „Grand Tour“ abgehandelt hat, eben die große Bildungsreise, auf die wir ihn ein Stück des Wegs begleiten wollen.
Boswells „Grand Tour“
Boswells Reise ist wie jede „Grand Tour“ eine Reise nach Italien – warum gerade Italien? Dahinter steht noch der alte humanistische Bildungsgedanke. Sich bilden heißt, die Antike studieren. Wo aber könnte man die Antike besser studieren als in Italien, als auf dem „klassischen Boden“ Italiens, von dem Goethe in seinen „Römischen Elegien“ (1795) spricht, der selbst in den Jahren 1786 –1788 auch eine Italienische Reise absolviert hat, wenngleich anders, als es der Tradition entsprach, erst in vorgerücktem Alter. Denn die „Grand Tour“ machte man eigentlich mit Anfang der zwanziger Jahre, nach dem Studium, und nicht erst mit 37 Jahren wie Goethe. In Italien, etwa in Rom, konnte und kann man der Hinterlassenschaft der Antike unmittelbar begegnen.23 Die „Grand Tour“ von Boswell dauerte fast drei Jahre, von 1764 bis 1766, und sie führte ihn von den Niederlanden aus zunächst durch Deutschland und die Schweiz, sodann eben nach Italien, und von da über Korsika und Frankreich zurück nach England. Das war das Übliche, sowohl was die Route als auch was die
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Dauer der Reise anbelangt. Auch in Deutschland hat es sich Boswell übrigens nicht nehmen lassen, die seinerzeit berühmtesten Autoren aufzusuchen; so hat er in Leipzig sowohl bei Gottsched als auch bei Gellert vorgesprochen.24
Boswells Weg zur Literatur
Boswell hat dann nach seiner Rückkehr eine zeitlang in Schottland als Rechtsanwalt und Landrichter gearbeitet und sich auch als Politiker versucht. Wohlgemerkt: er hat als Rechtsanwalt gearbeitet; als Abkömmling eines altadligen Geschlechts hat er diesen Beruf ausgeübt, der doch als ein typisch bürgerlicher Beruf gilt. Das ist seinerzeit in England durchaus nichts Ungewöhnliches mehr gewesen. Also so, wie man sich das mancherorts vorstellt mit dem Gegensatz von Adel und Bürgertum, ist es offenbar im 18. Jahrhundert schon lange nicht mehr, jedenfalls nicht überall. Schließlich ist Boswell aber doch zur Literatur zurückgekehrt und hat bis zu seinem Tod 1795 in London ein der Kunst und Wissenschaft gewidmetes Leben geführt.
Literarischen Ruhm hat sich Boswell vor allem mit drei Büchern erworben, mit Büchern, die keine Literatur im engeren Sinne sind, keine Belletristik, sondern das, was wir heute ein Sachbuch nennen würden, Bücher freilich mit großen literarischen Qualitäten. Sie seien hier kurz vorgestellt, auch wenn sich damit der Zeitpunkt, an dem wir neben Boswell in seiner Reisekutsche Platz nehmen, noch ein wenig hinauszögert. Aber wir erhalten hier Gelegenheit, den Horizont eines aufgeklärten Literaten in der Jahrhundertmitte, in der Hochblüte der Aufklärung kennenzulernen, und zwar den Horizont eines Mannes, der keiner der großen Heroen der Aufklärung ist wie Voltaire und Rousseau, sondern nur einer ihrer kleinen Soldaten. Auch so, ja gerade so kann man sich mit den zentralen Anliegen der Aufklärung vertraut machen.
„Ein Bericht über Korsika“
Das erste Buch von Boswell ist ein unmittelbarer Ertrag seiner Grand Tour, basierend auf seinem Tagebuch, das Journal einer Reise durch Korsika, „An Account of Corsica“, 1769 erschienen. Warum Korsika ? In jenen Jahren gab es ein großes Interesse der aufgeklärten Welt an der kleinen Insel im Mittelmeer, denn die Korsen waren in einen Kampf um ihre Unabhängigkeit begriffen, damals schon, und dieser
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Kampf war seinerzeit europaweit von großem publizistischem Interesse. Korsika war Jahrhunderte lang eine Kolonie der Republik Genua gewesen und versuchte nun unter der Führung von Pasquale Paoli, die Herrschaft Genuas abzuschütteln. Paoli hat übrigens Rousseau gebeten, eine Verfassung für Korsika auszuarbeiten, der er mit seinem „Entwurf einer Verfassung für Korsika“ (1765) auch nachkam. Das alles endete damit, daß Genua Korsika an Frankreich verkaufte und Frankreich die Insel in Besitz nahm. Einen gewissen Rückhalt fanden die Korsen mit ihrem Streben nach Unabhängigkeit in England, wegen der See-Interessen Englands im Mittelmeer, und in diesem Zusammenhang ist wohl der Erfolg von Boswells Buch in England zu sehen.
Korsika ist ein erstes großes Beispiel, sozusagen das Modell dafür, daß der