Geschichte des Altertums, Band 1 - Eduard Meyer - E-Book

Geschichte des Altertums, Band 1 E-Book

Eduard Meyer

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Beschreibung

Dies ist Band 1 von 5, "Das Altertum." Meyer war einer der letzten Historiker, der allein versuchte, eine Universalgeschichte des Altertums zu schreiben. Er versucht die historische Entwicklung in Vorderasien, Ägypten und Griechenland bis um 366 v. Chr. in einen Gesamtrahmen zu stellen und befreit damit die griechische Geschichte von der bislang üblichen isolierten Betrachtung. "Die Geschichte des Altertums" gilt bis heute als eines der bedeutendsten Werke der Altertumswissenschaft, wenngleich das Werk freilich durch den modernen Forschungsstand in Teilen überholt ist. Meyer war ein Vertreter der Zyklentheorie, die er aufgrund von Analogien in den äußeren Formen über den Fortschritt der Menschheit setzte (weshalb er auch 1925 in einem Buch entsprechenden Titels Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes guthieß). Über die Atlantis-Geschichte von Platon urteilte er: Atlantis sei eine reine Fiktion ohne zugrunde liegende geschichtliche oder naturwissenschaftliche Kenntnisse. (aus wikipedia.de)

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Geschichte des Altertums – Erster Band

Eduard Meyer

Inhalt:

Eduard Meyer – Biografie und Bibliografie

Geschichte des Altertums – Erster Band

Erster Band. Erste Abteilung:

Einleitung. Elemente der Anthropologie.

Vorwort zur dritten Auflage

Vorwort zur zweiten Auflage

I. Die staatliche und soziale Entwicklung

II. Die geistige Entwicklung

III. Die Geschichte und die Geschichtswissenschaft

Erster Band. Zweite Abteilung:

Die ältesten Geschichtlichen Völker und Kulturen bis zum sechzehnten Jahrhundert

Vorwort

Transkription

1. Buch: Aegypten bis zum Ende der Hyksoszeit

Quellenkunde zur aegyptischen Geschichte

I. Anfänge der Kultur und Geschichte Aegyptens

II. Die ältesten Staaten Aegyptens. Die Reiche der Horusverehrer

III. Aegypten unter den Thiniten

IV. Das Alte Reich

V. Der Ausgang des Alten Reichs und die Übergangsepoche

VI. Das Mittlere Reich

VII. Der Verfall des Mittleren Reichs und die Fremdherrschaft

2. Buch: Babylonien und die Semiten bis auf die Kossaeerzeit

Quellenkunde zur babylonischen und assyrischen Geschichte

I. Die Semiten

II. Sumerer und Semiten in Sinear

III. Die ältesten sumerischen Staaten

IV. Das semitische Reich von Akkad

V. Das Reich von Sumer und Akkad

VI. Elamiten und Amoriter.

Das Reich von Babel

VII. Chetiter, Arier, Kossaeer und Assyrer

3. Buch: Die Völker des Nordens und Westens

I. Kleinasien

II. Die Welt des Aegaeischen Meers

III. Die Kulturanfänge in Europa

IV. Die Indogermanen

V. Die Stämme der Arier

VI. Rückblick auf die Anfänge der menschlichen Entwicklung

Geschichte des Altertums, Eduard Meyer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849625160

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Eduard Meyer – Biografie und Bibliografie

Deutscher Geschichtsforscher, geb. 25. Jan. 1855 in Hamburg, studierte in Bonn und Leipzig Philologie und Altertumswissenschaft, habilitierte sich, nachdem er einige Jahre in Konstantinopel gelebt hatte, 1879 für alte Geschichte in Leipzig, ward 1885 ordentlicher Professor in Breslau, 1889 in Halle und 1902 in Berlin. Er schrieb: »Geschichte des Altertums« (Bd. 1–5, Stuttg. 1884–1902); »Geschichte des alten Ägyptens« (in Onckens »Allgemeiner Geschichte in Einzeldarstellungen«, Berl. 1888); »Forschungen zur alten Geschichte« (Halle 1892–99, 2 Bde.); »Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen« (das. 1894); »Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums« (Jena 1895); »Die Entstehung des Judentums« (Halle 1896), dazu Erwiderung an Jul. Wellhausen (das. 1897); »Zur Theorie und Methodik der Geschichte« (das. 1902); »Ägyptische Chronologie« (Berl. 1904).

Geschichte des Altertums – Erster Band

Erster Band. Erste Abteilung:Einleitung. Elemente der Anthropologie.

Vorwort zur dritten Auflage

Rascher als sich erwarten ließ ist die starke Auflage der Neubearbeitung des ersten Halbbandes vergriffen worden. Zu tiefer greifenden Änderungen oder zu erneuter Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen lag nirgends ein Anlaß vor; so durfte sich die neue Auflage im wesentlichen auf eine stilistische Revision und einzelne Nachträge (vor allem in den Anmerkungen zu § 10 und 11) beschränken.

Über alles weitere gibt die Vorrede der zweiten Auflage Auskunft. Inzwischen ist 1909 der zweite Halbband erschienen; die Fortsetzung der neuen Bearbeitung hoffe ich alsbald nach meiner Rückkehr in die Heimat energisch in Angriff nehmen zu können.

Harvard University, Cambridge Mass., den 30. Januar 1910

Eduard Meyer

Vorwort zur zweiten Auflage

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage des ersten Bandes dieses Werks (1884) ist fast ein Vierteljahrhundert vergangen. Es ist eine Zeit der reichsten wissenschaftlichen Arbeit gewesen, in der unsere Kenntnis des alten Orients und des ältesten Griechenlands von Jahr zu Jahr durch neue Funde in immer aufs neue jede Erwartung übertreffender Weise vermehrt und auf bisher ganz unbekannte Epochen ausgedehnt, und in der zugleich durch den rastlosen Fortschritt fruchtbringender Forschung das Verständnis des damals schon zugänglichen Materials stetig vertieft und damit auch für die geschichtliche Darstellung weit ergiebiger gemacht worden ist. Gleichzeitig hatte ich selbst nach Kräften auch auf diesem Gebiete weiter zu arbeiten und zu tieferer Auffassung zu gelangen mich bemüht; daß ich inzwischen die folgende Epoche habe darstellen können, ist auch für die älteren Zeiten nicht ohne Ergebnisse geblieben. So erklärt es sich, daß, auch als ich nach Abschluß der griechischen Geschichte die Neubearbeitung der längst vergriffenen beiden ersten Bände in Angriff nehmen konnte, noch fünf Jahre vergangen sind, ehe ich mit dem Druck habe beginnen können, und daß wenigstens in den älteren Abschnitten die gesamte Anlage geändert werden mußte und kaum ein Satz in die neue Bearbeitung übernommen worden ist. Für viele Gebiete war das Fundament erst in eingehenden Untersuchungen zu gewinnen, die über den Rahmen dieses Werkes hinausgingen; auch ergriff ich gern die Gelegenheit, um, wo es mir vergönnt war, noch einmal wieder das ganze Gebiet des alten Orients systematisch durchzuarbeiten, einzelne Probleme, die mich lange beschäftigt hatten, eingehend und, soweit es mir möglich war, abschließend zu behandeln. Auf diese Weise sind außer kleineren Arbeiten meine Abhandlungen über die aegyptische Chronologie (Abh. Berl. Ak. 1904 und 1907) und über die Sumerier und Semiten in Babylonien (Abh. Berl. Ak. 1906) und mein Buch über die Israeliten und ihre Nachbarstämme (Halle 1906) entstanden, welche für die wichtigsten Abschnitte der Geschichte des alten Orients die Vorarbeiten zusammenfassen. Einige ähnliche Untersuchungen hoffe ich im weiteren Fortgang der Arbeit noch folgen lassen zu können.

Der Erweiterung und Vertiefung der Forschung entspricht der wesentlich größere Umfang der neuen Auflage. Außerdem forderte die in den späteren Abschnitten völlig durchgeführte synchronistische Behandlung auch in den älteren gesteigerte Berücksichtigung, und daher eine Änderung der Disposition; vor allem die kretisch-mykenische Zeit läßt sich jetzt gar nicht mehr getrennt vom Orient behandeln. Aber auch den folgenden Abschnitten der griechischen Geschichte wird die Zusammenfassung mit der gleichzeitigen Geschichte des Orients zu gute kommen. Der Inhalt der beiden ersten Bände der ersten Auflage, die Geschichte des Orients und Griechenlands bis auf die Perserkriege, wird sich jetzt auf drei Bände verteilen, die, da die alte Bandzahl beibehalten werden muß, als "erster Band, zweite Hälfte" und "zweiter Band, erste und zweite Hälfte" bezeichnet werden.

Vorausgeschickt ist, als erste Hälfte des ersten Bandes, die jetzt zu einer systematischen Darstellung der Anthropologie und der Prinzipien der Geschichtswissenschaft erwachsene Einleitung. Daß ich meinem Werk eine derartige Einleitung vorangestellt habe, hat ehemals, wo das Interesse der meisten Historiker diesen Fragen völlig abgewandt war, bei manchen Beurteilern Verwunderung und Tadel erfahren; gegenwärtig, wo derartige Fragen an der Tagesordnung sind, wird eine Rechtfertigung nicht mehr erforderlich sein. Die Einleitung verdankt keineswegs nur dem eigenen Interesse an diesen Problemen ihr Dasein, dem Streben nach Gewinnung einer einheitlichen, historisch begründeten Weltanschauung, welches für mich überhaupt bei der Ergreifung meines Berufs die innerste Triebfeder gewesen ist; sondern sie ist für eine wissenschaftliche, einheitlich gedachte Geschichte des Altertums überhaupt ganz unentbehrlich. Denn hier treten diese Fragen dem Historiker auf jedem Einzelgebiete entgegen; er soll überall die geschichtlichen Anfänge der einzelnen Völker und Kulturen darstellen, und dazu ist er gar nicht imstande, wenn er diese Probleme nicht als Ganzes erfaßt und zu ihnen prinzipiell Stellung genommen hat. Überdies aber ist es allerdings dringend geboten, daß dem Überwuchern moderner Konstruktionen und phantastischer Systeme gegenüber, welche gegenwärtig unserer Zeit als gesicherte Endergebnisse der Wissenschaft ausgeboten werden, die Berechtigung der geschichtlichen Betrachtung erwiesen, und die schlichten Ergebnisse, zu denen sie führt, unverfälscht dargelegt werden. Der Vorwurf, daß ich nicht modern genug, daß ich rückständig sei und dem Fluge der fortgeschrittenen Erkenntnis unserer Zeit nicht zu folgen vermöge, wird ohne Zweifel gegen mich erhoben werden. Aber in den Jahrzehnten, die ich als Lernender und Mitarbeitender auch in ihrer Einzelgestaltung überschauen kann, habe ich so viele Theorien und Systeme kommen und gehen sehen, die alle bisherige Erkenntnis umstoßen und eine neue gesicherte Wahrheit an ihrer Stelle aufpflanzen zu können glaubten, daß mich derartige Einwände nicht mehr beirren können. Wenn irgendwo, so erweist sich hier der alte Spruch Epicharms als der sichere Leitstern der Erkenntnis, den der Forscher nie vergessen darf: nape kai memnasA apistein artra tayta tan prenon. –

I. Die staatliche und soziale Entwicklung

Die Entwicklungsgeschichte des Menschen

1. Die Anthropologie, d.h. die Lehre von den allgemeinen Formen menschlichen Lebens und menschlicher Entwicklung (oft auch mißbräuchlich Geschichtsphilosophie genannt), hat durch die Forschungen der neueren Zeit eine festere Gestaltung erhalten und ist aus dem Bereiche logischer Deduktionen hinweg auf den Boden gesicherter Tatsachen gestellt worden. Die Sprachwissenschaft führt uns nicht nur in Zeiten hinauf, in denen die ethnographischen Verhältnisse in ganz anderer Weise gestaltet waren als in den ältesten historischen Epochen, und läßt gelegentliche Schlaglichter fallen auf Völkerbewegungen und Kulturverhältnisse weit früherer Zeiten, sondern sie ermöglicht uns zugleich, zwar nicht bis zum Ursprung der Sprache vorzudringen – denn dies ist ein rein psychologisches, keiner historischen Forschung zugängliches Problem –, aber doch zu erkennen, wie mit und in der Sprache zugleich die menschliche Vernunft wächst und sich bewegt, immer freier sich ausbildet und für jede neue Wahrnehmung und für jeden neuen Gedanken sich neue Formen schafft. Die prähistorischen Funde gewähren uns einen Einblick in die langsam fortschreitende Geschichte der Werkzeuge und Waffen, der Wohnungen, der Lebensmittel, des Verkehrs, der Bestattungsgebräuche. Die vergleichende Ethnologie sucht die Zustände und die Organisation der Gruppen, in denen das menschliche Leben sich abspielt, ihre Anschauungen und Sitten bis in die primitivsten Formen zurückzuverfolgen und, von hier aus hinabsteigend, die Bedingungen zu ermitteln, unter denen ihre fortschreitende Entwicklung sich vollzogen hat, und so die überall wiederkehrenden Grundformen dieser Entwicklung aufzuzeigen. Die allgemeine Entwicklungstheorie endlich, gibt uns zwar über die geistigen Anfänge des Menschen keinen Aufschluß – denn indem sie denselben aus den nächstverwandten organischen Wesen sich herausbilden läßt, postuliert sie ein Geschöpf, dessen inneres Leben, auf das es der historischen Erkenntnis allein ankommt, uns niemals erschlossen werden kann; aber indem sie den Menschen in den großen Zusammenhang der organischen Wesen einordnet, läßt sie auch in seiner Entwicklung dieselben Bedingungen erkennen, welche diese beherrschen: eine fortwährende Differenzierung und eine fortwährende Anpassung.

 Die in den Anfängen der modernen Sprachwissenschaft sehr wirksame Vorstellung, durch die Erforschung der geschichtlichen Entwicklung eines Sprachstamms könne man zu einem historischen Einblick in den Ursprung und die Anfangsstadien der Sprache überhaupt gelangen, hat sich  längst als Illusion erwiesen. Jede Sprache, die wir rekonstruieren können, ist ein in sich eben so abgeschlossener Organismus wie die geschichtlich überlieferten und die gegenwärtig lebenden, zugleich aber ebenso wie diese in ständigem Fluß und immer in zahllose dialektische und individuelle Variationen gespalten. Die Sprache an sich, d.h. die unlösbare Verbindung einer Lautgruppe mit einer bestimmten Bedeutung, ist für die Sprachwissenschaft etwas schlechthin Gegebenes, dessen Entstehung sie mit ihren Mitteln nicht zu erklären vermag. Jedes dieser beiden Elemente geht seinen eigenen Weg; sowohl die Laute wie die Bedeutung ändern sich fortwährend; aber die Verbindung zwischen beiden bleibt unabänderlich bestehen und kann niemals unterbrochen werden. Daher besteht jede Sprache, auch die älteste rekonstruierbare, immer aus Worten; die "Wurzeln", welche die Sprachwissenschaft aufstellt, sind lediglich abstrakte Hilfskonstruktionen, die niemals Realität gehabt haben, und eine "Wurzelsprache", wie sie früher für die Urzeit des Indogermanischen und des Semitischen so vielfach postuliert wurde, ist ein Unding. Auch den Ursprung der Bildungselemente in Flexion und Wortbildung (Präfixe und Suffixe) kann die Sprachwissenschaft nur zum Teil erklären; die früher darüber vielfach aufgestellten Hypothesen haben sich großenteils als unhaltbar erwiesen. Wohl aber zeigt die Sprachforschung, wo sie die Entwicklung einer Sprachgruppe durch Jahrtausende verfolgen kann, wie solche Elemente immer neu entstehen und sich verwandeln, und deutet damit den Weg an, auf dem die ältesten uns erkennbaren Sprachelemente dieser Art entstanden sein werden; aber vor ihnen haben immer wieder noch ältere gelegen. Gewiß erfordert das Bedürfnis, die Entwicklung der organischen Wesen als Einheit zu erfassen, auch das Postulat, daß die Sprache einmal entstanden ist, so gut wie der physische Mensch selbst; und die Tatsachen der  Paläontologie beweisen, daß der Mensch in der Tat ein sehr spätes Produkt der Erdgeschichte ist (vgl. § 596. 600). Aber zu diesen Problemen führt keine historische Forschung hinauf; für sie ist, wie die Existenz des leiblichen Menschen, so auch die des denkenden und redenden Menschen die gegebene Voraussetzung (und ebenso die der sozialen und staatlichen Gemeinschaft, der Religion, der Sitte), die sie eben darum nicht weiter aufklären kann. – Die ehemals von SCHLEICHER, MAX MÜLLER u.a. eifrig verfochtene Behauptung, die Sprachwissenschaft sei eine Naturwissenschaft, beruhte einmal auf einer naiven Überschätzung der Naturwissenschaften und ihrer Methode, andrerseits auf einer ganz einseitigen Betonung des mechanischen Lautwandels, der sich allerdings, rein äußerlich betrachtet, zu vollziehen schien wie ein chemischer Prozeß. Ein tieferes Eindringen hat gezeigt, daß auch hier die mechanischen Vorgänge überall durchkreuzt werden durch psychische Faktoren (Analogie, Assoziation, Nachahmung), und daneben durch die ganz individuellen Wirkungen der redenden Einzelpersönlichkeit und ihre psychische und physische Veranlagung. Auch auf rein lautlichem Gebiet besteht also, wie in allen historischen Prozessen, die fortwährende Kreuzung der allgemeinen Momente, die sich als Gesetze formulieren lassen, mit rein individuellen, deren Wesen eben darin besteht, daß sie nicht gesetzmäßig sind. – Auf der rein mechanischen Betrachtung des Lautwandels beruhte auch die seltsame Behauptung SCHLEICHERS, daß Sprachbildung und Geschichte sich ablösende Tätigkeiten des menschlichen Geistes seien, und daß die Sprache in geschichtlichen Zeiten verfalle. In Wirklichkeit vollzieht sich die größte Schöpfung der Sprachgeschichte, die Ausbildung des logisch gegliederten Satzbaus (der Periode), durch die die Sprache erst zum vollendeten Werkzeug des menschlichen Denkens wird, überall im hellsten Licht  des geschichtlichen Lebens. – Einen Teil der in den folgenden Paragraphen gegebenen Ausführungen habe ich unter dem Titel: Die Anfänge des Staats und sein Verhältnis zu den Geschlechtsverbänden und zum Volkstum bereits Ber. Berl. Ak. 1907 veröffentlicht. Bei der Anführung von Beispielen habe ich mich im wesentlichen auf Völker beschränkt, die dem Bereich der Geschichte und Ethnographie des Altertums angehören.

Die sozialen Verbände und die Anfänge des Staats

2. Sowohl nach seiner Körperbeschaffenheit wie nach seiner geistigen Veranlagung kann der Mensch nicht als Einzelwesen existieren, etwa mit zeitweiliger geschlechtlicher Paarung: der isolierte Mensch, den das Naturrecht und die Lehre vom contrat social an den Anfang der menschlichen Entwicklung stellte, ist eine Konstruktion ohne jede Realität und daher für die theoretische Analyse der menschlichen Lebensformen eben so irreführend wie für die geschichtliche Erkenntnis. Vielmehr gehört der Mensch zu den Herdentieren, das heißt zu denjenigen Tiergattungen, deren einzelne Individuen dauernd in festen Verbänden leben. Solche Verbände können wir, eben weil sie eine Anzahl gleichartiger Einzelwesen zu einer Genossenschaft vereinigen, als soziale Verbände bezeichnen. Jeder solche Verband (Rudel, Schwarm, Herde u.ä.) – mögen wir ihn uns rein instinktiv durch einen angeborenen Naturtrieb entstehend oder bereits mit einem, wenn auch noch nicht begrifflich formulierten und daher in unserem Denken nicht reproduzierbaren Bewußtsein gebildet vorstellen – dient der Verwirklichung eines bestimmten Zwecks, nämlich der Ermöglichung und Sicherung der Existenz seiner Glieder, und ist daher beherrscht von einer bestimmten Ordnung. Indem er eine Anzahl von Einzelwesen zu einer sozialen Einheit zusammenfaßt, sondert er sie zugleich von allen anderen gleichartigen Gruppen derselben Gattung ab und ordnet sie einem Gesamtwillen unter. Nur innerhalb der von diesem gesetzten Grenzen hat, in scharfem Unterschied z.B. vom Raubtier, das Einzelwesen Bewegungsfreiheit; sollte es sich dem Gesamtwillen entziehen wollen, so wird es von diesem unter seine Gebote gezwungen, oder ausgestoßen und vernichtet. Dadurch ist ein rein geistiges Moment gegeben, das zwar aus konkreten Bedürfnissen erwachsen, aber nicht sinnlich wahrnehmbar ist; trotzdem hat es volle Realität und wirkt als solche ununterbrochen, aber nur durch psychische (unbewußte oder bewußte) Vorgänge, durch die Einwirkung der Idee des Verbandes auf das Handeln des Einzelnen. Das gilt von allen Tierverbänden: das Einzelindividuum, z.B. die Biene oder die Ameise, ist nur als Glied eines größeren Ganzen begreifbar, dessen Zwecken seine Handlungen dienen, oft genug bis zur Aufopferung seiner eigenen Existenz.

 Wie weit die Ausbildung organischer Gruppen bei Tieren gehen kann, habe ich vor 30 Jahren oft in Constantinopel an den Straßenhunden beobachtet: sie haben sich in scharf gegen einander abgegrenzten Quartieren organisiert, in die sie keinen fremden Hund hineinlassen, und jeden Abend halten sämtliche Hunde eines jeden Quartiers auf einem öden Platz eine etwa eine halbe Stunde dauernde Versammlung ab, mit lebhaftem Gebell. Hier kann man also geradezu von räumlich umgrenzten Hundestaaten reden.

3. Von dem Leben des Menschen gilt das gleiche von Anfang an. Denn wenn wir entwicklungsgeschichtlich annehmen, daß der Mensch sich aus einem höheren Tier herausgebildet hat, und erwarten dürfen, daß die wenigen Spuren eines solchen Anthropoiden, die bisher entdeckt sind, sich durch weitere Funde vermehren werden (s. § 600), so kann es nicht zweifelhaft sein, daß ein Wesen von der physischen Beschaffenheit des Menschen überhaupt nur entstehen und sich erhalten konnte, wenn mit der körperlichen die geistige Entwicklung in fortwährender Wechselwirkung zusammenging. Diese geistige Entwicklung – physiologisch kann man sagen die Ausbildung der Großhirnrinde – bildet die unentbehrliche Ergänzung der körperlichen Gestaltung und den Ersatz für die großen Mängel, die dieser anhaften; vielleicht an erster Stelle kommt hier die sehr langsame Entwicklung des Kindes in Betracht, welche die Erhaltung der Gattung außerordentlich erschwert. Die gesamte geistige Entwicklung des Menschen hat nun aber das Bestehen abgegrenzter Gruppenverbände zur Voraussetzung. Vor allem ist das wichtigste Werkzeug des Menschen, die Sprache, die ihn erst zum Menschen macht und die erst die Ausbildung unseres formulierten Denkens ermöglicht hat, nicht etwa im Einzelmenschen oder im Verhältnis der Eltern zu den Kindern geschaffen, sondern sie erwächst aus dem Mitteilungsbedürfnis Gleichstehender, durch gemeinsame Interessen und geregelten Verkehr Verbundener. Aber auch die Erfindung der Werkzeuge, die Gewinnung des Feuers, die Züchtung der Haustiere, die Ansiedlung in Wohnstätten u.s.w. sind nur innerhalb einer Gruppe möglich oder haben wenigstens Bedeutung nur dadurch gewonnen, daß, was einem Einzelnen zunächst geglückt sein mag, Eigentum des ganzen Verbandes wird. Daß vollends Sitte, Recht, Religion und aller sonstige geistige Besitz nur in solchen Verbänden entstanden sein können, bedarf keiner Ausführung. Somit ist die Organisation in solchen Verbänden (Horden, Stämmen), welche wir empirisch überall antreffen, wo wir Menschen kennen lernen, nicht nur eben so alt, sondern weit älter als der Mensch: sie ist die Voraussetzung der Entstehung des Menschengeschlechts überhaupt. Aus dieser Betrachtung erhellt zugleich der innere Widerspruch, den die aus mythischen Vorstellungen entstandene Ableitung des Menschengeschlechts als Ganzen oder gar die eines einzelnen Volks von einem einzelnen Paare enthält.

4. Ob unter den Verbänden, in denen sich das Menschengeschlecht entwickelt hat, von Anfang an physische und psychische Rassenunterschiede bestanden haben, oder ob sie einmal alle so gleichartig gewesen sind, wie mehrere Herden derselben Tierspezies, wissen wir nicht (vgl. § 36). Zweifellos hat dagegen die weitere Entwicklung eine solche Differenzierung wenn nicht geschaffen, so doch ständig gesteigert. Jeder Verband gewinnt einen ererbten, von Generation zu Generation überlieferten und gemehrten Besitz sowohl von körperlichen wie vor allem von geistigen Eigenschaften, materiellen Erwerbungen, Vorstellungen, Sitten und Ordnungen, die wir unter dem Namen Kultur zusammenfassen. Trotz der Übereinstimmung in den Grundzügen ist dieser Besitz im einzelnen von dem jedes anderen spezifisch verschieden. Damit tritt zu der äußeren Scheidung der Verbände ein innerer Unterschied hinzu: anders als bei den Tieren, z.B. bei einem Rudel Hirsche oder einem Bienenschwarm, besitzt jeder menschliche Verband eine Eigenart, eine bestimmte Individualität. Diese Entwicklung findet ein Gegengewicht in dem ständigen physischen und geistigen Austausch, der sich zwischen den einzelnen Verbänden vollzieht und sie wieder zu größeren, in den wichtigsten Zügen homogenen Gruppen vereinigt (§ 35ff.). Dieselben entgegengesetzten Tendenzen machen sich aber auch innerhalb jedes einzelnen Verbandes geltend; die sich entwickelnde Kultur schafft Unterschiede sowohl in der Lebensstellung der einzelnen ihm angehörigen Individuen, wie in der Fähigkeit, das ererbte Gut sich anzueignen und zu mehren: sie erzeugt zugleich eine immer größere Mannigfaltigkeit der Lebensbedingungen. Dadurch erhalten die individuellen körperlichen und geistigen Anlagen des Einzelnen immer größeren Spielraum der Betätigung, der in sehr verschiedener Weise erkannt und ausgenutzt wird; und so gewinnt der Charakter des einzelnen Menschen nicht nur selbständige Bedeutung für sein eigenes Leben, sondern wirkt zugleich auf die Gestaltung der Gesamtheit zurück. Innerhalb der homogenen Gruppe bilden sich Gegensätze der Leistungsfähigkeit, des Willens und der Ziele, die zu Konflikten führen, die Ordnung des Verbandes umgestalten, ja seine Einheit sprengen können. Gerade alsdann aber tritt die zwingende Gewalt der universellen Faktoren, aus denen die Organisation in sozialen Verbänden erwachsen ist, nur um so stärker zu Tage. Wohl mag ein Einzelner sich unter besonderen Verhältnissen einmal eine Zeitlang selbständig behaupten und ein Sonderleben, etwa als Räuber oder als einsamer Siedler, führen; schließlich erliegt er immer wieder den organisierten Verbänden, wenn es ihm nicht gelingt, selbst eine neue Gruppe um sich zu sammeln und so der Gründer eines neuen Verbandes zu werden. Auch für die Trümmer eines zersprengten Verbandes bleibt nur dann eine Existenzmöglichkeit, wenn sie sich zu einer neuen Bildung vereinigen oder an schon bestehende anschließen können.

5. Wo immer wir von menschlichen Zuständen Kunde haben, treffen wir nicht, wie bei den Herdentieren, einen einzigen, sondern eine größere Zahl sozialer Verbände, die in einander liegen, auch wohl sich kreuzen. Kleinere Stämme, Horden, Ansiedlungen sind miteinander verbündet oder direkt zu einem umfassenden Staat vereinigt, oder sie fühlen sich wenigstens als Teile eines größeren Volksganzen. Innerhalb der Stämme bestehen Blutsbrüderschaften (Phratrien), Clans, Geschlechter, die sich wieder durch mehrere Stämme oder Unterstämme hindurch verbreiten mögen und so zwischen Angehörigen verschiedener Stämme ein gemeinsames Band schaffen, ferner politische und militärische Abteilungen, Kultgenossenschaften, Berufsverbände, die Einflüsse des Wohnsitzes machen sich in Gauverbänden und Dorfgenossenschaften geltend u.s.w. Diese Verbände unterscheiden sich sowohl durch die Zwecke, denen sie dienen, wie durch den Grad der Intensität, mit der die zu ihnen gehörigen Menschen ihnen eingeordnet sind. Zu welchen Verbänden jeder einzelne Mensch gehört, ist niemals zweifelhaft, ebensowenig, welche Ansprüche jeder Verband an ihn zu stellen berechtigt ist; wohl aber geraten diese Ansprüche und die auf ihnen beruhenden Verpflichtungen des Individuums oft in scharfen Konflikt, und dann ist es sehr fraglich, welcher Anspruch sich als der stärkere erweist. Sehr oft sind es die kleineren und darum individuelleren und fester gefügten Verbände, die sich siegreich behaupten und alsdann die größere Gruppe sprengen und vielleicht selbst an ihre Stelle treten können; oft setzt umgekehrt diese ihren Willen durch. – Aber unter all diesen Verbänden ist einer der Idee nach der dominierende: derjenige, der alle kleineren Verbände als untergeordnete Teile, als Gruppierungen innerhalb einer Einheit betrachtet, und daher von allen seinem Machtbereich zugehörigen Gruppen und Individuen Unterordnung unter seinen Willen und seine Zwecke fordert und nötigenfalls erzwingt, mögen dieselben sonst mit ihren eigenen Bestrebungen und Zielen noch so weit auseinander gehen. Als Ganzes kann er selbst wohl zu anderen gleichartigen Verbänden vorübergehend oder dauernd in ein festes Verhältnis treten oder gezwungen werden, seinen Willen einem fremden, stärkeren unterzuordnen (z.B. als Vasallenstaat); für seine Glieder dagegen erkennt er im Falle eines Konfliktes Verpflichtungen gegen einen fremden Verband nicht an, sondert sie vielmehr von allen anderen Menschen scharf ab. Diese dominierende Form des sozialen Verbandes, in deren Wesen das Bewußtsein einer vollständigen, auf sich selbst ruhenden Einheit enthalten ist, nennen wir den Staat. Wir müssen daher den staatlichen Verband nicht nur begrifflich, sondern auch geschichtlich als die primäre Form der menschlichen Gemeinschaft betrachten, eben als denjenigen sozialen Verband, welcher der tierischen Herde entspricht und seinem Ursprung nach älter ist als das Menschengeschlecht überhaupt, dessen Entwicklung erst in ihm und durch ihn möglich geworden ist.

 Diese Auffassung des Staats ist im Grunde identisch mit der berühmten Definition des Aristoteles, daß der Mensch ein von Natur staatenbildendes Wesen und der Staat der alle anderen umfassende und an Leistungsfähigkeit überragende soziale Verband (koinonia) ist, der anders als die übrigen durch sich selbst bestehen kann (pashs exoysa peras ths aytarkeias); er "entsteht um des Lebens willen, besteht aber tatsächlich zum Zweck eines gut eingerichteten Lebens" (ginomenh men toy zhn eneken, oysa de toy ey zhn). Unberechtigt sind die Einwände mancher neuerer Theoretiker, die darauf beruhen, daß der Staat sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung ebensosehr zu immer komplizierteren Gestaltungen umgebildet hat, wie der Mensch und das menschliche Leben überhaupt, und man sich daher sträubt, den Namen auf primitive Gebilde anzuwenden. So hat RATZEL für den Staatsbegriff das territoriale Moment in den Vordergrund gestellt und verlangt, daß man von einem Staat nur reden dürfe, wo ein geschlossenes, einheitlich organisiertes Gebiet vorhanden ist. Nun fehlen   Beziehungen zum Boden beim Menschen niemals, und auch Stämme, die noch nicht seßhaft geworden sind, ja die mit ihrem Vieh je nach der Jahreszeit in ganz verschiedenen Gebieten hausen oder sie lediglich als Jäger ausbeuten, betrachten doch dieses Gebiet mit seinen Weiden, Jagdgründen und Quellen als ihr Eigentum, von dem sie jeden fremden Stamm fernzuhalten suchen; aber fest verwachsen mit dem Boden sind sie allerdings nicht. Indessen der Besitz eines festumgrenzten Gebiets bildet auch keineswegs einen integrierenden Bestandteil des Staatsbegriffs; vielmehr können wir uns sehr wohl auch einen entwickelten Staat denken, der sich, ohne seine Eigenart aufzugeben, ganz von dem Boden loslöst, wie es die Athener im Jahre 480 getan und die Spartaner im Jahre 366 und die Holländer 1672 erwogen haben. Umgekehrt dagegen sind alle wirklich für den Staatsbegriff maßgebenden Momente, Einheit des Willens, Durchführung der Rechtsordnung, militärische und politische Organisation, und vor allem das Bewußtsein der Ewigkeit des Verbandes, dessen Bestand von dem Willen der zu ihm gehörigen Unterabteilungen und Individuen unabhängig ist, wohl aber diese unter seinen Willen zwingt, auch bei den nomadischen und Jägerstämmen vorhanden, oft sogar in sehr entwickelten Formen: es fehlt mithin jeder Grund, hier den Ausdruck Staat oder staatlicher Verband zu vermeiden. – Jeder Versuch, in der Entwicklung des Rechts einen Punkt zu bestimmen, von dem an man das Vorhandensein des Staats konstatieren könnte, ist willkürlich und praktisch unausführbar. Daß von schriftlich fixiertem Recht hier nicht die Rede sein kann, ist evident; ohne eine Rechtsordnung aber, d.h. eine allgemein anerkannte und als unverbrüchlich geltende Regelung seiner äußeren Gestaltung, seiner Befugnisse und seiner Stellung zu den Einzelnen, ist auch der primitivste Stammverband nicht denkbar, denn ohne solche wäre er eben nur eine ephemere  Vereinigung selbständiger Individuen. So liegt denn auch diese staatliche Rechtsordnung jeder, auch der primitivsten, Regelung des Geschlechtslebens zu Grunde (s. § 13). Die einzelnen Rechtssätze mögen oft nur latent im Bewußtsein des Verbandes leben; zu klarem Bewußtsein und fester Formulierung gelangen sie, sobald sie durch den Widerspruch eines Einzelnen oder durch äußere Eingriffe angefochten werden. – Vollends unmöglich ist eine Definition des Staats nach der Zahl der zu ihm gehörigen Individuen. Denn auch der kleinste selbständige Verband, z.B. eine Stadt von wenigen hundert Einwohnern, die eine unabhängige bildet, ist ein Staat, während es viele sehr umfangreiche Verbände gibt, die doch nicht Staaten, sondern nur Unterabteilungen von solchen sind.

Der Staat und die Geschlechtsverbände

6. Mit dieser Auffassung des Staats scheint es im Widerspruch zu stehen, daß wir bei vielen Völkern, und zwar gerade bei solchen, die zu großer geschichtlicher Bedeutung gelangt sind, z.B. bei den Israeliten, den Griechen, den Deutschen, in der Zeit, wo wir sie zuerst geschichtlich genauer kennen lernen, die staatlichen Institutionen nur schwach entwickelt finden, während andere, kleinere Verbände ein sehr kräftiges Leben haben und als die eigentlichen Grundelemente der sozialen Organisation erscheinen. Vorwiegend sind es Verbände, die auf der Idee der Blutsverwandtschaft und der gemeinsamen Abstammung beruhen, wie die Phylen, Phratrien, Clans, Geschlechter; und diese können sich, wie die Geschlechter (Clans, Sippen) der Indianer mit ihren Totems oder die Heiratsklassen der Australier, über verschiedene Stämme oder Staaten erstrecken, wie z.B. die vier ionischen und die drei dorischen Phylen jedenfalls in einem großen Teil der ionischen und der dorischen Staaten und ursprünglich wahrscheinlich in allen vorkommen. Daneben finden wir ein völlig selbständiges Leben in den kleinsten lokalen Gruppen, Gaugemeinden und Dörfern, während die Autorität des Staats, dem sie angehören, nur sehr gering ist. In manchen Fällen, z.B. bei den Boeotern, Phokern, Eliern, Aetolern, kann man schwanken, ob man von einem Einheitsstaat mit sehr selbständigen Einzelgemeinden reden muß oder ob man vielmehr diese als die Staaten und die Gesamtheit als eine Föderation ansehen soll. Ganz gleichartig sind die Zustände der arabischen Stämme und die der Israeliten in der sogenannten Richterzeit, wo sich innerhalb des Volks selbständige größere Einheiten auf lokaler Grundlage, die sogenannten zwölf Stämme, gebildet haben, vielfach aber die kleinsten Gruppen, die Geschlechter (mišpachôt), ganz selbständig handeln, bis dann die Not der Zeit zur Bildung eines neuen kräftigen Einheitsstaats führt. Hier, und ähnlich in der Geschichte des Mittelalters, sehen wir also den einheitlichen Staat und seine durchgebildete Organisation erst ganz allmählich im Verlauf des geschichtlichen Prozesses aus sehr bescheidenen Ansätzen erwachsen. Da liegt der Gedanke sehr nahe, diesen Prozeß nach oben in die Zeiten, von denen wir keine oder doch keine genauere Kunde haben, weiter fortzusetzen und anzunehmen, daß der Staat ursprünglich überhaupt nicht existiert habe, sondern die kleineren und kleinsten Gruppen die ursprünglichsten, vorstaatlichen Formen sozialer Organisation gewesen seien, die Atome, aus deren Zusammenschluß der Staat erst in einer verhältnismäßig späten Epoche menschlicher Entwicklung entstanden sei. Man hat denn auch z.B. angenommen, daß die griechischen Phylen oder die römischen Stammtribus ursprünglich selbständige Stämme gewesen seien, man hat den römischen Staat aus einem Vertrage der ursprünglich souveränen Gentes unter Führung ihrer Familienhäupter abgeleitet. Daß diese Konstruktionen verkehrt waren, ist gegenwärtig wohl allgemein zugegeben. Die Phylen und Phratrien, die Tribus und Curien, die Geschlechter sind niemals Staaten, sondern immer nur Unterabteilungen eines Staats oder eines Stammes gewesen; und wenn sich in geschichtlicher Zeit dieselben Phylen über mehrere Stadtstaaten, dieselben Totemgeschlechter über mehrere Stämme verbreitet finden, so ist das nur ein Beweis, daß diese früher einmal eine staatliche Einheit gebildet haben, die sich in mehrere selbständige staatliche Verbände aufgelöst hat. Diese Einheit hat denn auch überall in den Stammnamen und in zahlreichen gemeinsamen Sitten und Anschauungen greifbare Spuren hinterlassen. Ebensowenig ist die Selbständigkeit der einzelnen Gaue und Städte, der lokalen Atome das Ursprüngliche. Auch hier zeigen, bei den Griechen wie bei den Germanen, die Stammnamen deutlich die älteren, größeren Einheiten, die sich aufgelöst, die sich gelegentlich aber auch zu größeren Einheiten zusammengeschlossen haben. Diesen Prozeß können wir im Stammleben überall verfolgen, am anschaulichsten vielleicht bei den Arabern. Überdies ist es bekannt, daß bei den Germanen wie bei den Griechen größere staatliche Bildungen, zum Teil von sehr bedeutender Leistungsfähigkeit, der Zersplitterung vorangegangen sind. Die volle Atomisierung ist in den mittelalterlichen Zeiten der Israeliten, der Griechen, der Stämme Italiens, der christlichen Völker das Produkt eines bestimmten, und zwar eines bereits recht fortgeschrittenen Kulturzustandes, des Übergangs zu voller Seßhaftigkeit, bei der die älteren, auf dem Stammverband beruhenden staatlichen Ordnungen nicht mehr funktionieren können. Daher zieht sich alsdann die Staatsidee auf die kleinsten, eng geschlossenen Elemente zurück, um hier neue Kräfte zu sammeln und dann von hier aus aufs neue expansiv vorzudringen.

 Das hier besprochene Problem kehrt in vielen hochentwickelten modernen Staaten wieder, die auf föderativer Grundlage erwachsen sind, so bei der Republik der vereinigten Niederlande (und da nochmals bei den einzelnen Provinzen in ihrem Verhältnis zu den Städten), bei der Schweiz, beim Deutschen Reich, bei den Vereinigten Staaten von Nordamerika.

7. Aber der Gedanke, das Wesen des Staats dadurch zu erfassen, daß man ihn in seine Elemente zerlegt und dann aus diesen geschichtlich aufbaut, liegt allerdings nahe genug. Auch Aristoteles ist der Verlockung erlegen, wenn er den vollendeten Staat, der ihm die polis, die Stadtgemeinde ist, zwar als aus der menschlichen Natur erwachsen definiert, aber trotzdem geschichtlich aus der Vereinigung von Dörfern, und diese wieder aus der Familie entstehen läßt. Die moderne Ethnologie und die auf ihr fußenden anthropologischen und kulturhistorischen Darstellungen haben dann diese Betrachtungsweise ganz in den Vordergrund gestellt. Sie stehen bewußt und unbewußt in vielfachem Gegensatz gegen die Historiker, für die der Staat und seine Entwicklung und Schicksale den Mittelpunkt des Denkens und Forschens bildet; sie richten ihr Augenmerk vorwiegend auf diejenigen Institutionen und Schöpfungen der Menschen, bei denen der Staat nicht oder wenigstens nicht unmittelbar und sinnlich greifbar in Wirksamkeit tritt. Hier hat die vergleichende Ethnologie ein außerordentlich reiches Material erschlossen und uns die große Mannigfaltigkeit der sozialen Institutionen, der Formen des Geschlechtslebens und der Blutsverbände kennen gelehrt. Es ist um so begreiflicher, daß sie auf diese Momente das entscheidende Gewicht legt, da sie durchaus empirisch vorgehen und voraussetzungslos das Material methodisch sammeln und ordnen, sich von ihm belehren lassen will. Tatsächlich freilich kann sie dabei Hypothesen und Schlußfolgerungen so wenig entbehren, wie irgend eine andere Wissenschaft, operiert vielmehr oft genug mit den kühnsten Voraussetzungen, die in dem ethnographischen Material nur scheinbar eine Stütze haben, weil es eben schon nach diesen Voraussetzungen gesammelt und geordnet ist. So gehen denn auch die Theorien der einzelnen Forscher auf diesem Gebiet vielfach aufs stärkste auseinander, und Behauptungen, die eine Zeitlang als festbegründet und unwiderlegbar galten, haben sich oft genug bei tiefer dringender Untersuchung als völlig unhaltbar erwiesen. – Dieser Betrachtungsweise ist dann eine in der politischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts wurzelnde Tendenz entgegengekommen. Der moderne Liberalismus ist von dem Streben beherrscht, wie in der Praxis die Macht, so in der Theorie die Bedeutung des Staats herabzudrücken und demgegenüber einerseits die Rechte des Individuums auf freie Bewegung, andrerseits die Bedeutung der teils in Wirklichkeit, teils wenigstens scheinbar nicht vom Staate gebildeten und abhängigen Verbände und Genossenschaften zu betonen. Er verwirft die Auffassung der Historiker von der zentralen Bedeutung des Staats für das menschliche Leben und stellt statt dessen den Begriff der menschlichen Gesellschaft und ihrer Wandlungen in den Vordergrund: die Anthropologie tritt daher vielfach unter dem Namen der Soziologie auf. Die starke Bedeutung des wirtschaftlichen Lebens, das sich dem äußeren Anschein nach im wesentlichen selbständig, unbekümmert um staatliche Regelung, entwickelt, ja den Staat, wenn er den Versuch macht, einzugreifen, vielmehr umgekehrt in seine Bahnen zu zwingen scheint, hat diese Auffassung mächtig gefördert. In mannigfachen Variationen, bei denen oft der tatsächliche Zusammenhang mit den dennoch ihren Ausgangspunkt bildenden liberalen Prinzipien ganz in den Hintergrund tritt, hat sie die Theorien der Gegenwart gestaltet. Die Ergebnisse der vergleichenden Ethnologie schienen damit aufs beste übereinzustimmen. So gilt es in weiten Kreisen als ein erwiesener und unbestreitbarer Lehrsatz, daß der Staat eine junge Bildung der menschlichen Entwicklung ist, und daß ihm eine Zeit vorhergegangen ist, in der die aus der physischen Blutsverwandtschaft und dem Verkehr der Geschlechter mit einander entstandenen sozialen Verbände die maßgebende Gestaltung der menschlichen Gesellschaft bildeten und das Leben der einzelnen Individuen bestimmten. Diese Theorie sucht die Wurzel, den Keim aller sozialen Organisation in der Organisation des Geschlechtslebens, in dem Verhältnis zwischen Mann und Weib – sei es, daß man mit Aristoteles von der geschlossenen patriarchalischen Familie ausgeht, sei es, daß man dieser ihr Gegenbild vorangehen läßt, die Ordnung, die man als matriarchalische oder mutterrechtliche Familie bezeichnet, sei es, daß man den Urzustand in der sogenannten Horde, der ungeregelten Vermischung von Männern und Frauen innerhalb eines sozialen Verbandes, oder in der Gruppenehe, der promiscuen Heirat einer (angeblich durch Ahnenkult in der Form des sogenannten Totemismus) geschlossenen Gruppe von Männern mit einer geschlossenen Gruppe von Frauen, zu erkennen glaubt. Diese älteste Ordnung des Geschlechtslebens, wie auch immer sie ursprünglich gestaltet gewesen sein mag, gilt als naturwüchsig, pysei, und mit dem Dasein des Menschen unmittelbar gegeben. Sie gilt daher als die Urzelle, aus der alle anderen Verbände, und so auch der Staat, erst im Laufe des geschichtlichen Prozesses entstanden sein sollen.

8. Indessen diese Auffassung, so verbreitet sie ist, und so selbstverständlich sie vielen erscheint, ist nicht haltbar, weder deduktiv noch empirisch. Denn sie faßt die Verbindung der Geschlechter ja keineswegs als den physischen Begattungsakt, der dann, je nach Umständen und Neigung, eventuell auch ein kürzeres oder längeres Zusammenwohnen von Mann und Weib zur Folge haben mag, sondern sie betrachtet sie als eine dauernde Lebensgemeinschaft von Männern, Weibern und Kindern, die bestimmten rechtlichen und allgemein anerkannten Ordnungen unterstellt ist und dauernde rechtliche Konsequenzen von höchster Bedeutung hat. Diese beiden Formen des Geschlechtsverkehrs, die freie ephemere Verbindung und die Ehe, sind aber streng auseinanderzuhalten; sie haben in Wirklichkeit gar nichts miteinander gemein als den rein physischen Geschlechtsakt. Die freie und daher zugleich promiscue Verbindung der Geschlechter existiert ohne Ausnahme bei allen Völkern und in jeder Gesellschaft, sei es, daß der Verkehr völlig freigegeben ist, sei es, daß er bestimmten Satzungen unterstellt und z.B. nur zwischen Angehörigen bestimmter Gruppen gestattet ist, oder daß er den jungen Mädchen vor der Verheiratung erlaubt oder, wie bei der weit verbreiteten religiösen Prostitution, direkt geboten ist. Sehr gewöhnlich ist ein besonderer Weiheakt, z.B. die Beschneidung, durch den die jungen Leute für die Ausübung des geschlechtlichen Verkehrs reif erklärt und damit zugleich in die Verbände der erwachsenen Männer oder Frauen als vollberechtigte Mitglieder aufgenommen werden. Bei den christlichen Völkern ist der freie Geschlechtsverkehr umgekehrt durch freilich so gut wie wirkungslose Gebote der Religion und Moral offiziell verpönt, wird jedoch darum nicht weniger eifrig geübt. Durchweg aber ist diese Form des Geschlechtsverkehrs, die bei vielen Tieren die allein herrschende ist, sozial völlig wirkungslos: mit der Befriedigung des Triebes und dem Erlöschen der individuellen Neigung ist das Verhältnis gelöst und hinterläßt sozial keine weiteren Folgen. – Ganz anders steht es mit demjenigen Geschlechtsverkehr, auf den die hier besprochenen Theorien gegründet sind. Er setzt überall eine bestimmte, allgemein anerkannte Regelung voraus und schafft ein dauerndes Verhältnis, eine Ehe, die bestehen bleibt, auch wenn der sexuelle Verkehr aufhört und die Geschlechtstriebe anderweitig befriedigt werden, und die nur entweder durch einen bestimmten rechtlichen Akt, wenn auch in noch so einfachen Formen, oder durch den Tod gelöst werden kann – und oft überlebt sie selbst diesen, wenn die Witwe dem Gatten in den Tod folgen muß, oder wenn sie mit seiner sonstigen Hinterlassenschaft in den Besitz des Erben oder in ein rechtliches Abhängigkeitsverhältnis zu diesem übergeht, oder wenn sie in der Leviratsehe dem Verstorbenen einen fiktiven Nachkommen gebären muß. Dieses rechtliche Verhältnis der Ehe besteht auch, wenn in der Polyandrie die Frau mehreren Brüdern gemeinsam gehört, wenn in der Gruppenehe ein ganzer Verband promiscue mit einer bestimmten Frauengruppe verbunden ist, oder wenn die Sitte gestattet, daß die Frau neben dem Gatten noch eine beliebig große Zahl von Liebhabern haben darf – eine Sitte, die bei vielen Völkern ganz allgemein herrscht –, oder daß der Ehemann sein Weib dem Gaste überläßt, oder auch, wie es in Sparta und auch in Rom vorkommt (§ 11 A.), sie zeitweilig einem Freunde übergibt, damit dieser von ihr Kinder zeuge. Immer handelt es sich um ein dauerndes und rechtlich geordnetes Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Individuen der beiden Geschlechter, und zwar um ein Verhältnis, das allerdings auch der Befriedigung des Geschlechtstriebes dient und im Einzelfalle vielfach daraus hervorgeht, für dessen Entstehung und rechtliche Gestaltung aber dieser Trieb nur nebensächlich in Betracht kommt – bei reichen und vornehmen Männern und vor allem den Königen wird er vielmehr durch Konkubinen und Sklavinnen, nicht durch die Ehe befriedigt. Viel stärker fällt schon das Bestreben der Männer ins Gewicht, die Arbeitskraft der Frau auszunutzen für die Bereitung der Mahlzeit, die häuslichen Arbeiten, die Pflege des Viehs, die Bestellung der Felder, wozu dann oft noch die materiellen Vorteile der durch die Ehe geschlossenen dauernden Verbindung mit den Angehörigen der Frau hinzukommen. Das eigentlich Entscheidende aber ist überall das Verhältnis zu den Kindern und die Frage, wem diese rechtlich gehören.

 Vgl. über die hier berührten Fragen das, trotz einzelner Mißgriffe, besonnene und inhaltreiche Buch von H. SCHURTZ, Altersklassen und Männerbünde, 1902.

9. Schon oben ist auf die entscheidende Bedeutung hingewiesen, welche für alle Entwicklung des menschlichen Lebens der Tatsache zukommt, daß die menschliche Nachkommenschaft sich sehr langsam entwickelt und jahrelanger Pflege bedarf, bis sie selbständig existieren kann. Andrerseits ist das Bedürfnis, ausreichenden Nachwuchs zu haben, für jeden menschlichen Verband unabweisbar. Ihm liegt die Erzeugung und Aufziehung des Nachwuchses weit mehr am Herzen als dem einzelnen Menschen; denn diesem ist sein eigenes Leben die Hauptsache, für jeden Verband aber sind die gegenwärtig Lebenden an sich völlig irrelevant und nur die momentanen Vertreter der Verkettung der Generationen: er ist seiner Idee nach ewig und umfaßt Vergangenheit und Zukunft ebensogut wie die Gegenwart. Daher der Zwang zur Ehe und die Sorge für die Erzeugung und Aufziehung einer Nachkommenschaft; daher ist auch die Entscheidung, ob ein neugeborenes Kind am Leben bleiben und als Glied des Verbandes anerkannt werden soll, bei den meisten Völkern nicht in das Belieben des Erzeugers gestellt, sondern wird von den Sippen oder einem anderen staatlich anerkannten Verbande gefällt. Der umfassende staatliche Verband oder der Stamm weist die Ausführung dieser Aufgaben im wesentlichen, wenn auch nicht ausschließlich, den in ihm stehenden engeren Gruppen, den Brüderschaften oder Phratrien, den Clans und Geschlechtsverbänden zu: denn diese haben das lebhafteste Interesse daran, ihre Stellung und ihren Einfluß innerhalb des umfassenden Verbandes zu erhalten und zu mehren, und wenn sie ihren Nachwuchs zahlreich und kräftig erhalten, sind damit zugleich die Bedürfnisse der Gesamtheit befriedigt. Bei vielen Völkern – keineswegs bei allen – ist aus dem Glauben an eine Fortexistenz der Seele nach dem Tode die Vorstellung erwachsen, daß diese Fortexistenz nur dann gesichert oder wenigstens einigermaßen behaglich gestaltet werden kann, wenn die Nachkommen für sie sorgen, ihr Speise und Trank, Kleidung und zauberkräftige Gebete darbringen (§ 59f.). Damit tritt ein für den Einzelnen sehr wirksames egoistisches Motiv hinzu, rechtzeitig für die Erzeugung eines Nachwuchses zu sorgen, der "seinen Namen lebendig erhält"; wenn aber die Sitte und die religiöse Anschauung der Gesamtheit diesen Glauben übernimmt und fördert, so ist das oft genug doch nur ein verhüllter Ausdruck ihres Bedürfnisses nach dauernder Erhaltung ihres Bestandes; dafür zu sorgen, wird dem Einzelnen als religiöse, im eigensten Interesse liegende Pflicht auferlegt. Eben darum kommen für diese Anschauung bei patriarchalischer Familienorganisation die Töchter (außer im Falle der Erbtöchter) nicht in Betracht: mit der Sorge für die Erzeugung von Söhnen ist vielmehr sehr häufig die Aussetzung und Tötung der weiblichen Nachkommenschaft verbunden.

 Bei den Erbtöchtern tritt das treibende Moment besonders deutlich zu Tage: wenn kein Sohn, sondern nur eine Tochter da ist, greift der Staat ein und erhält die Familie künstlich, indem er ihre Hand und damit das Erbgut vergibt. Die Fiktion, daß dadurch dem Verstorbenen der Totenkult und die Fortexistenz seiner Seele gesichert wird, ist dabei durchaus nebensächlich und nur Einkleidung; die Erhaltung der Zahl der begüterten und leistungsfähigen Familien ist das, worauf es in Wirklichkeit ankommt, und eben deshalb ist die Erzeugung des fiktiven Nachkommen nicht der Pietät der Angehörigen überlassen – da würde das Pietätsgefühl oder die Furcht vor dem Zorn der Seele des Toten, in der die Modernen das Motiv sehen, sehr wenig erreichen, sondern in der Regel würden die Angehörigen das Erbgut für sich nehmen –, sondern wird vom Staat nach feststehenden Rechtssätzen erzwungen. – Als ein instruktives Beispiel, wie lebendig im Stammesleben das Streben, die eigene Existenz zu erhalten, wirksam werden kann, teilt mir E. LITTMANN mit, daß die Abessinier nur stammfremde Kriegsgefangene kastrieren; sind die Rebellen oder Gegner ihre eigenen Landsleute, so werden ihnen Hand und Bein abgehackt, aber sie können weiter zeugen.

10. Die große Frage ist nun aber, wem die Kinder gehören; und sie hat bekanntlich die verschiedensten Beantwortungen gefunden und die große Mannigfaltigkeit der Eheformen erzeugt, die uns in der Ethnologie entgegentritt. Eine der am weitesten verbreiteten Formen ist die, welche mit einem ungeschickten und irreführenden Namen als Mutterrecht oder gar als Matriarchat bezeichnet wird. Von einer wirklichen Frauenherrschaft ist dabei keine Rede. Denn die Unterordnung des Weibes unter den Mann (die keineswegs ursprünglich und überall völlige Hörigkeit ist) ist nun einmal durch die physischen Eigenschaften des weiblichen Geschlechts unabänderlich gegeben; die bei barbarischen Völkern mehrfach vorkommende Einrichtung eines Amazonenkorps kann nie über einen eng beschränkten Kreis hinausgreifen und hat die Jungfräulichkeit der Amazonen zur Voraussetzung, und die Teilnahme der Frauen primitiver Völker am Kampf bei großen Kriegszügen schließt eine rechtliche Unterordnung unter die Männer keineswegs aus (§ 20). Bei dem sogenannten Mutterrecht dagegen ist das Weib ein werbender Besitz des Verbandes (der Gruppe, des Geschlechts, der Familie), in dem sie geboren ist und aus dem sie niemals ausscheidet. Die Kinder, die sie zur Welt bringt, gehören daher diesem Verbande an, d.h. sie stehen unter der Aufsicht ihres mütterlichen Großoheims oder der Brüder ihrer Mutter, und beerben daher diese. Eine derartige Ordnung kann also rechtlich wohl den Begriff des Ehemanns kennen – falls die geschlechtliche Verbindung eine feste rechtliche Form angenommen hat –, aber nicht den des Vaters; ein rechtliches Verhältnis zwischen dem Erzeuger und seinen physischen Kindern existiert nicht, sondern statt dessen ein rechtliches Verhältnis zwischen dem Mann und den Kindern seiner Schwester. Bei solcher Ordnung haben die Frauen nicht nur im Geschlechtsleben, sondern auch rechtlich eine weit freiere Stellung, da das Erbrecht ihrer Kinder an ihnen haftet; das eheliche Verhältnis kann alsdann sehr locker sein, so daß die Forderung der Keuschheit der Frau ganz unbekannt ist und die Verhältnisse sich der Promiscuität nähern, die daher in unseren Berichten oft ganz in den Vordergrund tritt; bei anderen Stämmen dagegen mag es sich immer fester gestalten, so daß das "Mutterrecht" nur noch in den für die Kinder geltenden Bestimmungen, vor allem im Erbrecht, rudimentär fortlebt. Vielfach führt das dazu, daß die Ehe regelmäßig im engsten Kreise der Blutsverwandten geschlossen wird (die sogenannte Endogamie), daß, wie in Aegypten, die Ehe zwischen Bruder und Schwester dominierend wird – alsdann wird der Gatte auch rechtlich zum Vater seiner Kinder, aber nicht als Erzeuger, sondern als mütterlicher Oheim. Bei anderen Stämmen ist umgekehrt die geschlechtliche Vermischung innerhalb der als blutsverwandt geltenden Gruppe verpönt (die sogenannte Exogamie). Eine rohere Form ist die vollständige oder nahezu vollständige Promiscuität innerhalb bestimmter Gruppen, sei es endogam, sei es exogam, wie sie aus älterer Zeit vielfach glaubwürdig bezeugt ist und in Australien noch jetzt besteht. Dem allem gegenüber stehen die Ordnungen, in denen der Mann auch rechtlich Mittelpunkt der Ehe und daher Herr der Frau und Vater und Eigentümer seiner Kinder wird, eine Eheform, die bekanntlich sehr oft in Gestalt der Raubehe auftritt. Im einzelnen gestaltet sich auch diese patriarchalische Ordnung der Familie sehr verschiedenartig: bei manchen Stämmen herrscht Polyandrie, d.h. mehrere Brüder oder Blutsverwandte haben gemeinsam nur ein Weib (in der Regel unter Vorherrschaft des ältesten) und die Kinder gehören ihnen gemeinschaftlich; bei anderen herrscht Polygamie – die aber immer durch die Vermögensverhältnisse, d.h. die Schwierigkeit, mehrere Frauen zu ernähren, beschränkt ist –; bei anderen tritt uns von Anfang an die monogame Ehe entgegen.

11. So tritt uns eine bunte Fülle oft diametral entgegengesetzter Ordnungen entgegen. Es ist Willkür und petitio principii, wenn eine von ihnen als die ursprünglich allgemein herrschende, alle anderen als spätere Umwandlungen angesehen werden, wie es von den ethnologischen Kulturhistorikern bald mit dieser, bald mit jener versucht ist – hier stehen die Theorien eben so bunt einander gegenüber, wie die realen Erscheinungen, und jede von ihnen beansprucht für sich in derselben Weise absolute Gültigkeit, wie diese der bestehenden Ordnung innerhalb eines bestimmten Stammes zusteht. Vielmehr haben sich auch auf diesem Gebiete die verschiedenen Stämme verschiedenartig entwickelt, bei den einen ist, aus dem Zusammenwirken gegebener Zustände und Anschauungen, diese, bei den anderen jene die herrschende geworden. Im allgemeinen kann allerdings die patriarchalische Ordnung als die fortgeschrittenste gelten; aber auch aus ihr sind Übergänge in rohere Formen sicher nachweisbar. So ist es nicht zweifelhaft, daß bei den Indogermanen Ehe und Verwandtschaftsverhältnisse patriarchalisch geordnet waren; aber von den wahrscheinlich iranischen Massageten erzählt Herodot I, 216, daß zwar jeder ein Weib hat, daß diese aber promiscue benutzt wurden; also der Ehemann ist nur der dauernde, nicht der einzige Liebhaber des Weibes. Ähnliches erzählt Megasthenes bei Strabo XV, 1, 56 von den Stämmen des indischen Kaukasus, und von den Kelten Britanniens und Irlands wird uns die Weibergemeinschaft vielfach bezeugt – da hat ZIMMER nachgewiesen, daß es sich um eine piktische, von den eingewanderten Kelten übernommene Sitte handelt. In Sparta und Kreta wachsen die Kinder gemeinsam in "Herden" auf, als Besitz der Gesamtheit, nicht der Einzelfamilien, die Frauen haben in Sparta eine sehr freie Stellung, vor allem Erbrecht, der Begriff des Ehebruchs ist dem spartanischen Recht fremd, dagegen Polyandrie und zeitweilige Überlassung der eigenen Frau an einen anderen sehr gewöhnlich. Bei den hamitischen Völkern Nordafrikas ist die mutterrechtliche Eheform allgemein herrschend (§ 10 A.); bei den Semiten dagegen, auch bei den Arabern, besteht im allgemeinen durchaus Patriarchat, aber daneben kommt bei den Wüstenstämmen die umgekehrte Form der Ehe vor, die zeitweise Verbindung eines Stammfremden mit einem Weibe, bei der die Kinder dem Stamm der Mutter angehören; bei den Sabaeern herrscht Polyandrie mit Vorherrschaft des ältesten Bruders und Erbfolge des ältesten lebenden Geschlechtsgenossen; von den Saracenen wird berichtet, daß "die Frauen nur auf eine bestimmte Zeit geheiratet ('gegen Lohn gemietet', uxores mercenariae conductae ad tempus ex pacto) werden; sie geben dem Mann, mit dem sie sich verbinden, Lanze und Zelt, und nach Ablauf der festgesetzten Zeit gehen sie von dannen" (Ammian XIV, 4, 4). Auch die obligatorische Prostitution der Töchter, in der der freie Geschlechtsverkehr, der den mannbaren Töchtern vor der Eheschließung gestattet (oder geboten) war, als religiöse Institution fortlebt, ist bei den kleinasiatisch-armenischen Stämmen weit verbreitet und wahrscheinlich von ihnen aus zu den Nordsemiten gedrungen (vgl. §§ 345. 373. 423. 487 u. A. 490). In diesen und allen ähnlichen Fällen ist es verkehrt, so oft es auch geschehen ist, die uns roher erscheinende Form als die ältere zu betrachten, die einmal allein geherrscht habe und dann durch fortgeschrittenere Formen verdrängt sei; die umgekehrte Entwicklung ist ebensogut möglich.

 Von den Briten berichtet Caesar b.G. V, 14 uxores habent deni duodenique inter se communes, et maxime fratres cum  fratribus parentesque cum liberis; sed si qui sunt ex his nati, eorum habentur liberi, quo primum virgo quaeque deducta est. Ebenso Bardesanes bei Euseb. pr. ev. VI 10, 28 en Bretannia polloi andres mian gynaika exoysin. Das ist also Polyandrie, an der aber nicht nur Brüder, sondern auch der Vater beteiligt ist [daß eine Frau mit dem Vater in geschlechtlicher Verbindung gestanden hat, gilt hier für den Sohn ebensowenig als Ehehindernis, wie in rein patriarchalischen Verhältnissen da, wo der Harem sich auf den Sohn vererbt, wie z.B. bei den Aegyptern, den Persern, den Israeliten; in der Türkei ist dagegen der Harem des verstorbenen Sultans für seinen Nachfolger unberührbar]. Dagegen erzählt Dio Cass. 76, 12, 2 von den Kaledoniern und Maiaten, d.i. den beiden piktischen Stämmen, diaitontai ... tais gynaixin epikoinois xromenoi kai ta gennomena panta ektrepontes [das ist im Gegensatz zu dem Recht des Vaters über Leben und Tod der Kinder die natürliche Folge der freien Ehe]; ebenso Strabo IV, 5, 4 von den Iren pyneros misgestai tais te allais gynaixi kai mhtrasi kai adelpais. Bei Dio 76, 16, 5 wird eine Antwort einer kaledonischen Frau an die Kaiserin Julia Domna angeführt, die sie epi th anedhn spon peos toys arrenas synoysia verspottet hat: pollo ameinon hmeis ta ths pyseos anagkaia apoplhroymen ymon ton Pomaion hmeis gar paneros tois aristois omiloymen, ymeis de latra ypo ton kakiston moixeyeste. Das trifft durchaus den Kernpunkt: die patriarchalische und die monogamische Ehe führt zu Konkubinat, Prostitution und Ehebruch, die bei freier geschlechtlicher Stellung der Frau nicht vorkommen können. Nach ZIMMER (das Mutterrecht der Pikten und seine Bedeutung für die arische Altertumswissenschaft, Ztschr. der Savignystiftung, romanist. Abt. XV, 209ff.) ist der freie Geschlechtsverkehr der verheirateten Frau in der irischen Sage eben so gewöhnlich, wie nach Herodot bei den Massageten  und Nasamonen; er führt das Eindringen dieser Sitte auf die piktische Urbevölkerung zurück, bei deren Herrschern sich die Erbfolge in weiblicher Linie noch bis in späte Zeit erhalten hat: auf die Brüder folgt der Sohn der Schwester. Der freie Geschlechtsverkehr der verheirateten Frau kann neben der von Caesar bezeugten Polyandrie ebensogut bestanden haben wie anderswo neben monogamischer oder polygamischer Ehe. Bei den Festlandskelten besteht dagegen die volle väterliche Gewalt: Caesar b.G. VI, 19 viri in uxores sicuti in liberos vitae necisque habent potestatem, obwohl das Ehegut beiden Gatten gemeinsam gehört; vgl. Arist, pol. II, 6, 6, wonach bei den Kelten keine Gynaikokratie besteht, die sonst bei kriegerischen Stämmen die Regel ist. – Frauentausch bei den Spartanern: Xen. pol. Lac. I, 7f. Plut. Lyc. 15. Nic. Dam. fr. 114, 6 (mit arger Übertreibung: Lakedaimonioi ... tais ayton gynaixi parakeleyontai ek ton eyeidestaton kyestai kai aston kai xenon); Polyb. XII, 6 b,