Geschichte des Altertums, Band 5 - Eduard Meyer - E-Book

Geschichte des Altertums, Band 5 E-Book

Eduard Meyer

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Beschreibung

Dies ist Band 5 von 5, "Das Perserreich und die Griechen." Meyer war einer der letzten Historiker, der allein versuchte, eine Universalgeschichte des Altertums zu schreiben. Er versucht die historische Entwicklung in Vorderasien, Ägypten und Griechenland bis um 366 v. Chr. in einen Gesamtrahmen zu stellen und befreit damit die griechische Geschichte von der bislang üblichen isolierten Betrachtung. "Die Geschichte des Altertums" gilt bis heute als eines der bedeutendsten Werke der Altertumswissenschaft, wenngleich das Werk freilich durch den modernen Forschungsstand in Teilen überholt ist. Meyer war ein Vertreter der Zyklentheorie, die er aufgrund von Analogien in den äußeren Formen über den Fortschritt der Menschheit setzte (weshalb er auch 1925 in einem Buch entsprechenden Titels Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes guthieß). Über die Atlantis-Geschichte von Platon urteilte er: Atlantis sei eine reine Fiktion ohne zugrunde liegende geschichtliche oder naturwissenschaftliche Kenntnisse. (aus wikipedia.de)

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Geschichte des Altertums – Fünfter Band

Eduard Meyer

Inhalt:

Eduard Meyer – Biografie und Bibliografie

Geschichte des Altertums – Fünfter Band

Das Perserreich und die Griechen

Vorwort zur ersten Auflage

4. Buch: Der Ausgang der griechischen Geschichte

I. Lysanders Herrschaft und Sturz

Die politische Lage nach der Vernichtung des attischen Reichs

Durchführung der Herrschaft Spartas und Lysanders

Innere Gegensätze in Sparta

Befreiung Athens und Sturz Lysanders

Die spartanische Herrschaft nach Lysanders Sturz. Thessalien und Makedonien

II. Die Karthager und Dionysios von Sizilien

Sizilien nach der Abwehr der Athener

Erste Invasion der Karthager. Zerstörung von Selinus und Himera

Ausgang des Hermokrates. Zweite karthagische Invasion. Einnahme von Agrigent

Usurpation des Dionysios. Verlust von Gela und Kamarina und Friedensschluß

Sizilien nach dem Frieden. Dionysios' Aufgaben. Niederwerfung des Aufstands und erste Eroberungen

Dionysios' Regiment. Rüstungen. Finanzen

Zweiter karthagischer Krieg

III. Italien zur Zeit des Dionysios. Rom, die Sabeller und die Kelten. Das Reich des Dionysios

Niedergang der Etrusker. Vordringen der Sabeller. Der italiotische Bund

Dionysios in Italien

Rom und Latium bis zur Eroberung Vejis

Die Kelteninvasion

Dionysios im Adriatischen Meer und gegen die Etrusker

Neuer Krieg mit Karthago und den Italioten

Persönlichkeit und Reich des Dionysios

IV. Sparta im Kriege mit Persien

Abfall Ägyptens. Kyros' Erhebung und Untergang

Spartas Angriffskrieg gegen Persien. Agesilaos, Konon und Euagoras

Theben und Athen. Die restaurierte Demokratie. Verurteilung des Sokrates

Ausbruch des Kriegs in Griechenland. Schlachten bei Haliartos, Nemea, Koronea

Die Schlacht bei Knidos und ihre Folgen. Krieg um Korinth. Friedensverhandlungen

Fortgang des Kriegs. Versuch der Wiederherstellung des attischen Reichs. Aufstand des Euagoras

Der Königsfriede

V. Griechenland unter dem Königsfrieden. Die Kultur der Reaktionszeit

Politische, soziale und wirtschaftliche Zustände der Reaktionszeit

Durchführung der spartanischen Herrschaft. Theben. Olynth und Makedonien. Athen

Die Perser gegen Euagoras und Ägypten. Sonstige Aufstände im Perserreich

Die Kultur der Reaktionszeit. Kunst und Dichtung

Sophistik und Rhetorik. Isokrates

Wissenschaft und Philosophie. Demokrit.

Die Sokratiker. Plato

Individuum und Staat. Die politischen Theorien. Isokrates' Panegyrikos

VI. Wiedererhebung Thebens und Athens, bis zum Frieden von Sparta

Befreiung Thebens.

Bruch zwischen Athen und Sparta

Der zweite athenische Seebund

Der Landkrieg. Der böotische Einheitsstaat. Iason von Pherä

Der Seekrieg bis zum Frieden von 374

Wiederausbruch des Kriegs. Friede von Sparta

VII. Epaminondas und die Vernichtung der spartanischen Macht. Der Ausgang des athenischen Seebundes

Schlacht bei Leuktra

Die Folgen der Schlacht. Iasons Ausgang

Revolutionen im Peloponnes. Epaminondas gegen Sparta. Messene und der arkadische Bundesstaat

Parteikämpfe in Theben. Intervention in Thessalien und Makedonien

Verhandlungen und Kämpfe bis zum Frieden von 366

Athens Eroberungen und der Satrapenaufstand

Die Thebaner in Thessalien. Unternehmungen zur See

Der Peloponnes. Arkadien und Elis

Die Schlacht bei Mantinea und ihre Folgen. Epaminondas' geschichtliche Stellung

Athen bis zum Bundesgenossenkriege

Das Perserreich. Niederwerfung der Aufstände. Die Tyrannen. Klearchos von Heraklea

Der Bundesgenossenkrieg und das Ende der athenischen Macht

VIII. Der Ausgang Dionysios' I.

Vierter Karthagerkrieg und Tod Dionysios' I.

Dionysios II. Dion, Plato und der Reformversuch

Die Befreiung Siziliens

Dions Ausgang. Scheitern des Reformversuchs. Auflösung des westgriechischen Reichs

Fußnoten

Geschichte des Altertums, Eduard Meyer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849625207

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Eduard Meyer – Biografie und Bibliografie

Deutscher Geschichtsforscher, geb. 25. Jan. 1855 in Hamburg, studierte in Bonn und Leipzig Philologie und Altertumswissenschaft, habilitierte sich, nachdem er einige Jahre in Konstantinopel gelebt hatte, 1879 für alte Geschichte in Leipzig, ward 1885 ordentlicher Professor in Breslau, 1889 in Halle und 1902 in Berlin. Er schrieb: »Geschichte des Altertums« (Bd. 1–5, Stuttg. 1884–1902); »Geschichte des alten Ägyptens« (in Onckens »Allgemeiner Geschichte in Einzeldarstellungen«, Berl. 1888); »Forschungen zur alten Geschichte« (Halle 1892–99, 2 Bde.); »Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen« (das. 1894); »Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums« (Jena 1895); »Die Entstehung des Judentums« (Halle 1896), dazu Erwiderung an Jul. Wellhausen (das. 1897); »Zur Theorie und Methodik der Geschichte« (das. 1902); »Ägyptische Chronologie« (Berl. 1904).

Geschichte des Altertums – Fünfter Band

Das Perserreich und die Griechen

Vorwort zur ersten Auflage

Nach den Vorbemerkungen zum dritten und vierten Bande würde der fünfte keines weiteren Geleitworts bedürfen, wenn nicht ein neuer Fund hier noch Berücksichtigung erheischte.

Im Herbst 1901 hat BRUNO KEIL unter dem Titel Anonymus Argentinensis ein Papyrusblatt veröffentlicht und mit einem an wertvollen Exkursen reichen Kommentar begleitet, dessen Rückseite Notizen über die Geschichte Athens im fünften Jahrhundert enthält. Das Blatt ist in der Mitte der Länge nach durchgerissen, so daß von den 26 Zeilen immer nur die zweite Hälfte erhalten ist. Geschrieben ist der Text etwa gegen Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. Die Aufzeichnungen erinnern an die unter Heraklides' Namen gehenden Auszüge aus Aristoteles' Politien; es sind zusammenhangslose Exzerpte aus einem größeren Werk, wahrscheinlich, trotz der abweichenden Ansicht des Herausgebers, doch aus einer Atthis; genauer wird sich die Vorlage schwerlich bestimmen lassen. Soweit man nach dem Erhaltenen urteilen kann, sind die Notizen, wenn auch ebenso sprunghaft, so doch sorgfältiger exzerpiert als die des sog. Heraklides; ob die Vorlage selbst einen größeren Wert beanspruchen darf, darüber kann nur die Analyse der einzelnen Angaben Aufschluß gewähren, die freilich durch die unvollständige Erhaltung, die nur in wenigen Fällen einigermaßen sichere Ergänzungen zuläßt, außerordentlich erschwert wird.

Im ersten Paragraphen war von der Einsetzung einer Baukommission die Rede, offenbar für die Akropolis, und dann heißt es: kai ton Partenona metA eth iA, ka[tapolemhtenton hdh ton Per]son, hrxanto oikodomhsai. Falls der Verfasser hierbei das urkundliche Datum des Beginns des Parthenonbaus, 447, im Auge hat, würden die Beschlüsse über die Bauten ins Jahr 457, in die Zeit der Schlacht bei Tanagra, fallen. Die sorgfältigen und eingehenden Untersuchungen des Herausgebers1 zeigen, daß allgemeine Beschlüsse über die Neugestaltung der Akropolis für diesen Zeitpunkt recht wahrscheinlich sind: so scheint der Papyrus hier eine richtige Notiz zu bewahren, oder, korrekter gesprochen, ehemals bewahrt zu haben.

Wesentlich anders steht es mit der nächsten Angabe, daß unter Euthydemos (korrekt Euthynos, 450/49) auf Antrag des Perikles die Verlegung des Bundesschatzes von 5000 Talenten von Delos nach der Akropolis beschlossen worden sei. Daß Perikles die Maßregel beantragt hat, mag richtig sein; aber die angegebene Summe ist einfach absurd und das Datum völlig unmöglich. Denn wir wissen urkundlich, daß seit 454 die aparxh der eingehenden Tribute von den Hellenotamien an die Göttin auf der Burg gezahlt ist; daß trotzdem der Schatz selbst noch vier Jahre lang auf Delos geblieben sei, wird trotz allem, was BR. KEIL zur Verteidigung dieser, wenn die Angabe des Papyrus richtig ist, unvermeidlichen Folgerung ausführt, bei ruhiger Erwägung schwerlich irgend jemand für glaublich halten. Überdies ist die Verlegung des Schatzes im Jahre 450/49 ebensowenig zu erklären, wie sie 454, unmittelbar nach der ägyptischen Katastrophe, natürlich, ja notwendig war.

Die weitere Angabe, daß der Rat die Kontrolle über die alten Trieren führen und 100 neue bauen soll, wird richtig sein. – Dann folgen teils unverständliche, teils gleichgültige Exzerpte (über einen Hilfszug gegen die Thebaner innerhalb 3 Tagen, über den Namen einer Triere, über die Namen der Teile des Peloponnesischen Kriegs – hier erscheint der Name "Archidamischer Krieg" zum ersten Mal in der historischen Literatur [vgl. Bd. IV 2, 32 Anm. 1] –, über Adeimantos' Verrat bei Ägospotamoi), und zum Schluß eine Reihe von Angaben über die nach dem Sturz der Dreißig vorgenommenen Änderungen (darunter über die Kolakreten, deren Ersetzung durch andere Finanzbeamte berichtet sein wird, wie die erhaltenen Worte palai kolakretai schließen lassen). Am wertvollsten darunter würde, wenn sie vollständig ergänzbar wäre, die Notiz sein, daß im Jahre des Pythodoros oder der Anarchie thn ton nomopylakon arxhn [. .... an]dron isA. Die Frage nach den Nomophylakes gehört zu den dunkelsten der attischen Verfassungsgeschichte (vgl. Bd. IV 1, 541 Anm. 1). Es ist anerkannt, daß diejenigen Nomophylakes, von denen Philochoros im 7. Buch erzählte (lex. Cantabr. s.v.), erst in die Zeit des Demetrios von Phaleron gehören; möglich aber bleibt es, daß (wie BR. KEIL annimmt) die anschließende Angabe kai katesthsan, os Piloxoros, ote Epialths mona katelipe th ex Areioy pagoy boylh ta yper toy somatos doch eine richtige Nachricht enthält, wenn die Nomophylakes auch im fünften Jahrhundert eine größere Rolle im öffentlichen Leben gewiß nicht gespielt haben. Zu einem sicheren Resultat ist aber auch mit der fragmentarischen Notiz unseres Papyrus nicht zu kommen. In derselben scheint von einer Behörde von 16 Nomophylaken die Rede zu sein. So unwahrscheinlich wie möglich ist jedoch BR. KEILS Annahme, hier sei ihre Aufhebung unter der Anarchie berichtet worden. Viel wahrscheinlicher ist, daß von der Einsetzung einer derartigen Behörde durch die Dreißig die Rede war, die dann natürlich den Sturz der Oligarchie nicht überlebt hat. –

Zu meinem Bedauern habe ich die Schrift von JOSEPH BRUNŠMID, Die Inschriften und Münzen der griechischen Städte Dalmatiens, 1898 (Abh. des archäol-epigr. Seminars der Universität Wien, Heft XIII) und die darin S. 2ff. mitgeteilte wichtige Inschrift von Schwarzkorkyra zu spät kennengelernt, um sie S. 154 noch berücksichtigen zu können, obwohl dieselbe auch von DITTENBERGER in der Sylloge unter no. 933 abgedruckt und eingehend kommentiert ist. Die Inschrift stammt aus dem vierten Jahrhundert und enthält einen Vertrag zwischen den Issäern und zwei vermutlich illyrischen Machthabern, Pyllos und seinem Sohn Dazos, über den Grundbesitz der in die neugegründete Stadt entsandten Kolonisten. Daraus geht hervor, daß Issa in der Zeit des Dionysios oder kurz nachher auf Schwarzkorkyra eine Kolonie angelegt hat.

Halle a.S., den 25. Januar 1902

Eduard Meyer

4. Buch: Der Ausgang der griechischen Geschichte

I. Lysanders Herrschaft und Sturz

Die politische Lage nach der Vernichtung des attischen Reichs

Dreimal haben die Gegner Athens sich gegen seine Übermacht erhoben. Das erste Mal, in den Jahren 460-446, haben sie die Unabhängigkeit des Festlandes erstritten und Athen auf die Seeherrschaft beschränkt. Der Versuch, in einem zweiten Kampf, 431-421, auch diese Seeherrschaft zu brechen und die Festsetzung Athens im Ionischen Meer zu vereiteln, welche den Peloponnes zu umklammern drohte, ist gescheitert. Als dann aber Athen, statt die Wunden des Kampfes zu heilen, getragen von seinem Siege und getrieben von dem leidenschaftlichen Ehrgeiz eines Staatsmanns, der sich die Krone von Hellas erobern wollte, in verblendeter Überschätzung seiner Mittel die Hand nach der Herrschaft über die ganze Hellenenwelt ausstreckte, ist seine Macht zusammengebrochen. Da die Demokratie und ihre Führer die Fähigkeit vollständig verloren hatten, die Lage zu überschauen und die Kräfte ihres Staats richtig zu schätzen, fand der Kampf nicht eher ein Ende, als bis das Reich gänzlich vernichtet war. Daß Athen selbst nicht vom Erdboden vertilgt wurde, wie ehemals das Assyrervolk oder wie Sybaris, sondern als ohnmächtiger Vasall Spartas fortbestehen durfte, verdankte es nicht seinem verzweifelten Widerstande, sondern lediglich der Großmut des Siegers.

Im Namen der Freiheit der Hellenen und der alten von den Vätern begründeten Ordnung, welche die Nation groß und glücklich gemacht hatte, war der Kampf gegen den Staat geführt worden, der ganz Hellas seiner Zwingherrschaft zu unterwerfen strebte. Aus eigener Kraft freilich hatte der Partikularismus nichts vermocht gegen den mit allen Mitteln der modernen Großmacht ausgerüsteten Einheitsstaat; jeder Insurrektionsversuch der schon unterworfenen Gemeinden scheiterte hoffnungslos, und auch die stärksten der noch selbständigen Griechenstaaten, wie Theben und Korinth im Mutterlande, Syrakus und die übrigen Gemeinden Siziliens und Italiens im Westen, waren nicht stark genug, um selbst vereinigt dem energischen Vordringen Athens zu widerstehen, ganz abgesehen von der Zerrissenheit und ungenügenden Anspannung der Mittel, welche mit dem Prinzip des Partikularismus unvermeidlich verbunden ist. So hatten sie alle sich, gern oder ungern, um den Militärstaat geschart, der allein, weil er in seinen Anfängen, wenn auch nicht in seiner Ausgestaltung, denselben Tendenzen entsprungen war wie Athen, diesem einen kaum zu überwältigenden Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Dem Wesen des spartanischen Staats lag an sich der partikularistische Gedanke ganz fern, im Gegenteil, er wollte herrschen so gut wie Athen. Hätte dieses ihm innerhalb der zwar theoretisch weit umfassenderen, aber tatsächlich viel bescheideneren Grenzen, auf die sich Spartas Ansprüche erstreckten, Anerkennung und Unterstützung zu gewähren vermocht, so hätte eine dauernde Allianz beider Staaten und die Aufrichtung ihrer gemeinsamen Herrschaft über ganz Hellas das Ergebnis sein können. Aber alle Versuche, die wieder und wieder von beiden Seiten gemacht wurden, sind gescheitert und mußten scheitern, nicht nur weil die radikale Demokratie Athens und der ständige Fortschritt seiner kommerziellen und maritimen Macht einen ernsthaften Verzicht auf einen Teil des in seiner Machtsphäre liegenden Gebiets ausschloß, sondern vor allem, weil die Macht ihrem Wesen nach unteilbar ist und jedes dualistische System, in welcher Form immer es auftreten möge, den Entscheidungskampf nicht aufhebt, sondern nur vertagt. So blieb Sparta, wollte es nicht freiwillig auf die Macht verzichten, nichts übrig, als dem Drängen seiner Verbündeten nachzugeben und den Kampf zu beginnen. Es akzeptierte das Programm des Partikularismus und der Reaktion, um unter dieser Fahne seine eigene Herrschaft aufzurichten. Über die Gefahren für den Bestand seines Staatswesens, denen man dadurch sich aussetzte, machte man sich keine Illusionen; wieder und wieder hat der Eurotasstaat gezögert, den letzten entscheidenden Schritt zu tun. Aber auch hier waren die Verhältnisse mächtiger als der Wille der Staatsmänner; auch Sparta hatte keine Wahl mehr, sondern sah sich gezwungen, den Kampf bis zum letzten Ende durchzukämpfen. Jetzt lag die Entscheidung über die zukünftige Gestaltung von Hellas in seinen Händen. Daß damit Sparta vor Aufgaben gestellt war, vor denen es bisher immer zurückgescheut war, wußte es sehr wohl. Nach dem Programm des Partikularismus sollte man jetzt einfach die Weltgeschichte um ein Jahrhundert zurückschrauben und jeden Staat, ob groß oder klein, sich selbst überlassen. Das war eine Utopie, die ins Werk zu setzen Sparta weder versuchen durfte noch wollte; denn seine Vorherrschaft wollte es unter allen Umständen behaupten und damit zugleich die Pflichten erfüllen, die ihm gegen ganz Hellas auferlegt waren. Nun mußte sich zeigen, ob es seine Ehre wahren könne, indem es seine Suprematie behauptete, ohne das Programm mit Füßen zu treten, in dessen Namen es das Schwert gezogen und die Verbündeten sowie die Untertanen Athens um sich geschart hatte2.

Aber in dem Moment, wo der Entscheidungskampf in Griechenland begann, stand die Hellenenwelt nicht mehr allein. Die Nationalfeinde, die beiden großen orientalischen Staaten im Osten und im Westen, die auf den Schlachtfeldern von Salamis, Himera, Platää definitiv abgewehrt schienen, die dann siebzig Jahre lang keinen Angriff, ja selbst kaum eine Abwehr gewagt hatten, sie erschienen in dem Moment, wo die griechische Großmacht, die bisher Hellas beschirmt hatte, dem Untergang entgegenging, von neuem auf dem Plan. Die alte Allianz zwischen beiden Mächten war längst inhaltlos geworden; indem sie jetzt ihren Anteil an der Beute in Sicherheit zu bringen suchten, wirkten sie auf die Weltlage in entgegengesetzter Richtung. Karthago streckte die Hände aufs neue nach Sizilien aus, zog dadurch die sizilischen Griechen vom Kriege gegen Athen ab und befreite dies von einem sehr energischen Gegner. Persien dagegen war durch das Streben, zunächst die asiatischen Küstenlande wieder zu erhalten, womöglich aber die Suprematie auch über die griechische Halbinsel zu gewinnen, auf den Bund mit Sparta und dem Partikularismus angewiesen. Erst dadurch kam der griechische Krieg zur Entscheidung: solange Persien, um Sparta nicht zu mächtig werden zu lassen, ihn nur lau betrieb, konnte Athen sich immer noch gegen die Alliierten behaupten; als es diesen seine Geldmittel in reicher Fülle zur Verfügung stellte, brach Athens Widerstandskraft zusammen. So fiel der Hauptgewinn des Krieges nicht Sparta und seinen griechischen Verbündeten zu, sondern dem Perserreich, so gering die Anstrengungen waren, die dies gemacht hatte. Denn das Reich war tatsächlich überhaupt nicht ernstlich in Aktion getreten; lediglich die Satrapen der Küstenprovinzen hatten den Krieg geführt, der König hatte nur Geld hergegeben. Athen war, das mußten auch seine Feinde anerkennen, so sehr sie die von ihm ergriffenen Mittel verdammen mochten, das Bollwerk von Hellas gegen Persien gewesen. Dies Bollwerk hatte Sparta niedergerissen; es war der dunkelste Flecken auf seiner Politik, daß es zu dem Zweck nicht nur den Bund mit dem Nationalfeind geschlossen, sondern auch seinen Anspruch auf die Herrschaft über die Griechen in Asien anerkannt hatte. Sollte es jetzt, wie Alkibiades und Tissaphernes vorausgesagt hatten, sein Wort brechen und zu den fast unlösbaren Aufgaben, die ihm in Griechenland gestellt waren, noch die weit größere Aufgabe auf seine Schultern nehmen, deren Lösung die Nation von der führenden Macht fordern durfte? Aber auch wenn es sich dazu nicht entschließen wollte, mußte, da die Ansprüche sich nun einmal kreuzten, das Verhältnis zu Persien alsbald zu Verwickelungen führen, denen man in Sparta nur mit schwerer Sorge entgegensehen konnte.

Indessen wie die Dinge im Moment des Sieges sich gestaltet hatten, lag die Entscheidung über die spartanische Politik tatsächlich überhaupt nicht in Sparta. Übermächtig hatte sich dem siegreichen Staat der Mann zur Seite gestellt, der es weniger durch seine Feldherrntüchtigkeit als durch sein diplomatisches Geschick verstanden hatte, ihm den Sieg zu verschaffen. Indem der spartanische Staat gezwungen war, neue politische Bahnen einzuschlagen, wurde auch er dem dominierenden Element der modernen Welt und der modernen Politik untertan. Wie in Athen Alkibiades dem Staate als selbständige Macht gegenüberstand, wie auf Sizilien eben jetzt Dionysios Aufgaben löste, welche die Republiken zu lösen nicht vermochten, so gelangte auch in Sparta durch Lysander die Persönlichkeit mit ihren Sonderinteressen zu maßgebender Bedeutung. Es war die nächste Frage, welche die weitere Entwicklung beantworten mußte, ob die siegreiche Bürgerschaft wirklich den Gewinn aus dem Siege werde davontragen können, oder ob sie sich werde begnügen müssen, den Namen herzugeben für die Aufrichtung der Herrschaft Lysanders über Hellas.

Durchführung der Herrschaft Spartas und Lysanders

Durch den Sturz der Herrschaft Athens standen die Städte seines Reichs, soweit sie nicht, wie mit Ausnahme von Milet und Ephesos die meisten und namentlich die kleineren Orte des ionischen und karischen Festlandes, von den persischen Satrapen besetzt waren, zur Verfügung Spartas3. Sparta hatte ihnen die Autonomie zugesichert, das heißt Freiheit nach außen und Wiederherstellung der altererbten, durch die Gewaltherrschaft der Demokraten unterdrückten aristokratischen Verfassung im Inneren, die das politische Recht auf die Besitzenden beschränkte, die sich selbst bewaffnen konnten. Der Ausführung des zweiten Teils des Programms stand jetzt kein Hindernis mehr im Wege. Überall wurde die Demokratie gestürzt und Oligarchien eingerichtet. Wenn das in manchen Fällen, wie namentlich auf Samos, ohne arge Gewalttätigkeit nicht abging, so trugen die Demokraten selbst die Schuld: sie hatten durch ihr Wüten gegen die Gegner die Vergeltung unvermeidlich gemacht. Alle Kolonien Athens wurden aufgehoben, die Ansiedler und ebenso die mit Land ausgestatteten Kleruchen auf Euböa, Samos, Lesbos, Naxos u.a. verjagt, das Land den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben, nach Agina4, Melos, Hestiäa, Skione, Torone, Potidäa die Reste der alten Einwohner zurückgeführt. Nur die drei Inseln Lemnos, Imbros und Skyros mußte man den attischen Ansiedlern lassen, wenn auch ihre Abhängigkeit von Athen jetzt gelöst war, da es hier Reste der alten, überdies nichtgriechischen Bevölkerung nicht mehr gab. Dagegen der erste Teil des Programms erwies sich sofort als unausführbar und ist auch von Sparta niemals ernsthaft in Aussicht genommen worden. Es mußte seine Anhänger schützen und seine Suprematie aufrechterhalten und konnte, wenn es geordnete Zustände schaffen wollte und das Ergebnis der Zertrümmerung des attischen Reiches nicht ein wüstes Chaos werden sollte, die Städte nicht sich selbst überlassen. Im Kriege mit Athen hatte es, zuerst unter Brasidas in Thrakien, dann im Seekrieg auf den Inseln und in Kleinasien, in die von Athen abgefallenen oder eroberten Städte überall Garnisonen (meist aus geworbenen Truppen) unter Führung eines spartanischen Offiziers gelegt, der als "Ordner" (Harmost)5 die Verteidigung leiten und die Verfassung im konservativen Sinne organisieren sollte. An diesem System hielt man auch weiter fest. Die Anhänger Spartas waren damit einverstanden und baten vielfach selbst um Entsendung eines Harmosten; sie bedurften eines Rückhalts gegen die ihrer politischen Rechte beraubte Masse, die zu Athen hielt. Überdies hatte Sparta die Küstenstädte in Thrakien gegen die Barbaren des Binnenlandes, die Inseln und Häfen gegen die durch Krieg und den Wegfall der athenischen Seepolizei aufblühende Piraterie zu schirmen, und die asiatischen Küstenstädte suchten bei ihm Anlehnung gegen die drohende Herrschaft der persischen Satrapen. Auch die "freiwilligen" Beiträge, welche die Bündner, wenn auch unregelmäßig genug, gezahlt hatten, wurden beibehalten und jetzt nach athenischem Muster fest geregelt; angeblich hat Sparta, wie sein Vorgänger, jährlich einen Tribut6 von über 1000 Talenten erhoben. Es konnte die Bundessteuern um so weniger entbehren, da sein eigenes Finanzwesen gänzlich unentwickelt war, und es doch, bei der numerischen Schwäche seines Bürgerheers, wesentlich auf geworbene oder von den abhängigen Gemeinden, namentlich denen Arkadiens, gestellte Söldner angewiesen war.

Nur mit Hilfe der Truppen, Schiffe und Geldmittel seiner Verbündeten hatte Sparta den Sieg erringen können. Jetzt suchte es seine Führerstellung zunächst im Peloponnesischen Bunde noch fester zu gestalten, als es nach der Niederwerfung des Sonderbundskrieges geschehen war. Einen Ersatz aus der Siegesbeute erhielten die Bündner für ihre Leistungen nicht. Von den alten Gegnern Spartas hatte Argos rechtzeitig Frieden geschlossen. Auch Mantinea war im J. 417 wieder in den Peloponnesischen Bund eingetreten. Freilich war es noch immer demokratisch und im Grunde Sparta feindlich gesinnt; aber die Truppenunterstützung, die Athen von hier für den Zug nach Sizilien erhalten hatte, war von Privatleuten gestellt, offiziell hatte die Stadt Sparta Heeresfolge geleistet. So scheute Sparta vor einem Bruch des dreißigjährigen Friedens zurück7. Ganz ungeregelt waren noch die Beziehungen zu Elis8. Die schweren Provokationen der Zeit des Sonderbundskrieges waren nicht gesühnt; immer noch behauptete es die Herrschaft über Triphylien und hatten die Demokraten das Regiment. In den Peloponnesischen Bund war es nicht wieder eingetreten, sondern neutral geblieben; ja als König Agis einmal in Olympia ein Opfer darbringen wollte, damit Zeus ihm Sieg gewähre, wiesen die Elier ihn zurück: es sei nicht Brauch, den panhellenischen Gott in einem Kriege zwischen Hellenen um Sieg anzuflehen. Trotzdem wurde auch hier die Abrechnung noch verschoben. Selbst gegen die Messenier, die es doch unmöglich in Naupaktos dulden konnte, ist Sparta zunächst noch nicht eingeschritten; und den Westen, Korkyra und die ionischen Inseln, Akarnanien, Ätolien, um die im Archidamischen Kriege so heftig gestritten war, überließ es gänzlich sich selbst. Auch Sparta bedurfte nach den großen Anstrengungen der letzten Jahre zunächst der Ruhe, und vor einem größeren Landkriege scheute es um so mehr zurück, da auch ein Sieg leicht schwere Verluste an Menschenleben bringen konnte. – Trotzdem empfanden die Bundesgenossen Spartas sofort, wie sehr sich mit dem Wegfall des von Athen geübten Gegendrucks ihre Stellung verschlechtert hatte. Allgemein hatte man sich dem Gefühl hingegeben, daß mit dem Falle Athens irgend etwas Unerhörtes, eine neue glückliche Zeit eintreten werde und daß Sparta das bringen müsse. Aber alles blieb beim alten; ja die ökonomische Lage Griechenlands wurde durch gewaltsamen Umwälzungen und durch die Unsicherheit der Meere noch schlechter als vorher, zumal der Haupthandelsplatz durch die inneren Wirren noch über ein Jahr lang vollkommen brach gelegt war. Politisch standen auch die nicht zum Peloponnesischen Bunde gehörenden Staaten Mittelgriechenlands, Böotien, Phokis, Lokris, jetzt zu Sparta nicht anders als jene. Mit der erträumten Autonomie war es nichts. Gerade die größten Bundesstaaten, Theben und Korinth, die eben noch die Zerstörung Athens gefordert hatten, mußten jetzt empfinden, daß sie in der freien Bewegung noch mehr gehemmt waren als früher; ihr Ideal von Autonomie, eine selbständige Politik und Erweiterung ihrer Macht über die Nachbarn, war durch eben den Staat vereitelt, dem sie durch ihr Geld und Blut die Herrschaft verschafft hatten. Als die Böoter9 ihren Anteil an dem Zehnten der Beute10 forderten, um auch ihrerseits dem delphischen Apollo ein Weihgeschenk darbringen zu können, wurden sie abgewiesen; Lysander nahm sie insgesamt für Sparta in Anspruch und errichtete daraus das große delphische Weihgeschenk, das sich in seiner Verherrlichung zuspitzte.11 So schlug überall in kürzester Frist die Stimmung vollkommen um, vor allem aber in Theben und Korinth; wenn ihnen bisher Athen im Wege gestanden hatte, so spähten sie schon ein Jahr nach seinem Fall nach einer Gelegenheit, das weit härtere Joch abzuschütteln, das Sparta ihnen auferlegt hatte.

Zunächst war dazu freilich wenig Aussicht. So gering Spartas Kriegsmacht, so groß seine Kriegsscheu war, seine absolute Überlegenheit im Feld war allgemein anerkannt; und überall hatte es feste Verbindungen und zuverlässige Anhänger. Die Gegner dagegen waren isoliert und ohnmächtig; sollte ein Staat wagen, ihm zu trotzen, so war sein Schicksal im voraus besiegelt. Spartas Hauptstützen aber waren die beiden Staaten, die ihm als selbständige Mächte im Kriege gegen Athen zur Seite gestanden hatten, Persien und Sizilien. Gleich nach dem Frieden schickte Sparta den Aristos als Gesandten an den neuen Machthaber in Syrakus, um mit allen Mitteln seine Stellung zu festigen (u. S. 87) und die Allianz mit Dionysios abzuschließen, die unerschüttert bestanden hat über die Zeit hinaus, wo Sparta eine Großmacht war. So gern Sparta sich als Tyrannenfeind preisen ließ, so wenig hat es jemals Bedenken getragen, sich mit einem Tyrannen zu verbinden und seine Stellung zu stärken, wo es ihm dienlich war: es hat immer nur praktische Politik getrieben. Verwickelter waren die Beziehungen zu Persien. In den Verträgen hatte Sparta das Recht des Königs auf das asiatische Festland anerkannt; aber zur Zeit befanden sich zahlreiche Küstenstädte in Spartas Händen, und es traf keinerlei Anstalten, sie herauszugeben. Einstweilen drohte hier noch keine Gefahr. Kyros befand sich noch am Hofe und hatte Lysander gestattet, in seinen Provinzen nach Belieben zu schalten. Tissaphernes von Karien hatte den Prinzen begleitet und war überdies durch ihn ganz in den Hintergrund gedrängt. Mehr Schwierigkeiten waren von Pharnabazos zu erwarten, der am Kriege mit Eifer persönlich teilgenommen hatte und nicht gewillt war, seine Rechte ruhen zu lassen. Indessen solange Lysander unumschränkt schaltete, konnte auch er nicht daran denken, mit Gewalt vorzugehen.

Die Durchführung der Neuorganisation des attischen Reichsgebiets lag in den Händen des Siegers von Ägospotamoi, und damit eine so unumschränkte Machtstellung, wie sie noch nie ein Grieche besessen hatte. Das Schicksal von mehreren hundert Städten, Leben und Besitz von Hunderttausend griechischer Bürger hing allein von seinem Willen ab. Lysanders Ziel war, diese Stellung für sich festzuhalten; die ihm von Sparta gegebenen Instruktionen führte er in dem Sinne aus, der seinen Zwecken dienlich war. So ging er ganz andere Wege als ehemals Brasidas in Thrakien. Schon in seiner ersten Nauarchie 408/7 hatte er den Grund zur Aufrichtung seiner persönlichen Herrschaft gelegt, indem er überall in Ionien die oligarchischen Klubs organisierte und zugleich die feste Verbindung mit Kyros knüpfte (Bd. IV 2, 339). Als er im Winter 406/5 zum zweitenmal den Oberbefehl übernahm, hat er diese Stellung weiter gefestigt. Gewissensskrupel kannte er nicht; die ihm zugeschriebenen Worte: "wo das Löwenfell nicht ausreicht, muß man den Fuchspelz umhängen" und "Knaben betrügt man mit Würfeln, Männer mit Eiden" zeichnen treffend seinen Charakter und seine Politik. Wie er Milet durch ein Blutbad unter den Demokraten in die Hände seiner Anhänger brachte, ist schon erzählt (Bd. IV 2, 355). Nach dem Siege wiederholten sich ähnliche Szenen vielerorts. Auf Thasos12, das seit 408 (Bd. IV 2, 325) wieder fest zu Athen gestanden hatte, hat er (vielleicht erst Anfang 403) die Anhänger Athens durch eine feierlich im Heraklestempel abgegebene Erklärung, sie hätten nichts zu befürchten, und man müsse den Gegnern verzeihen, aus ihren Schlupfwinkeln gelockt und dann in der Stadt sämtlich aufgreifen und umbringen lassen. An anderen Orten warteten seine Vertrauensmänner nicht, bis er kam; sie waren sicher, daß er sie nötigenfalls schützen werde. So führte die Befreiung vom Joch Athens in allen Städten seines Reichs zu Bluttaten und Greuelszenen, die alles weit hinter sich ließen, was man der attischen Demokratie und ihren Beamten und Gerichten mit Recht oder Unrecht zum Vorwurf gemacht hatte. Eine echte Aristokratie, wie sie Sparta verheißen hatte, lag durchaus nicht in Lysanders Interesse. Vielmehr kamen unter dem Namen der Restauration des gerechten patriarchalischen Regiments der Vorzeit überall die verworfensten Gesellen ans Ruder, die kein anderes Ziel kannten, als die Herrschaft mit vollen Zügen auszukosten, ihre Taschen zu füllen und Rache zu üben an dem Demos, der sie bedrückt hatte. Auf der Siegesfahrt nach der Schlacht und während der Belagerung Athens suchte Lysander möglichst viele Städte selbst auf, hob überall die demokratische Verfassung auf und verjagte die Anhänger Athens. Die Regierung vertraute er durchweg Kommissionen von 10 Männern (Dekarchien13) an, die völlig unumschränkt über Leben und Eigentum der Bürger schalten konnten. Nach der Kapitulation von Samos wurde auch hier bei den restaurierten Oligarchen die gleiche Verfassung eingeführt. Sein Einfluß in Sparta war groß genug, daß zu Harmosten14 nur Männer seines Vertrauens bestellt wurden, oft Leute niederer Herkunft, nicht selten Mothakes (Heloten); die bereits in älterer Zeit ernannten wußte er ganz an sich zu fesseln, indem er ihren Lüsten nachsah und sie verlockte, ihre Macht nach seinem Vorbilde zu mißbrauchen. Wo ein Anlaß zu weiterem Einschreiten vorlag, zögerte er keinen Augenblick. Aus Sestos15 vertrieb Lysander die alten Einwohner und siedelte hier seine Schiffsoffiziere an. Dadurch sicherte er sich zugleich den Schlüssel zur hellespontischen Meerstraße. Am schlimmsten fuhr Chios16, weil es der mächtigste aller Seestaaten war und als freier Verbündeter zu Sparta übergetreten war. Die Konflikte, in die es mit den spartanischen Nauarchen geriet, haben wir schon kennengelernt; sie endeten damit, daß Kratesippidas die Verbannten zurückführte, den Oligarchen das Regiment gab und die Führer des Demos verjagte (Bd. IV 2, 324). Lysander scheint dann diese Maßregeln noch einmal in größerem Umfange wiederholt zu haben; die Verbannten sammelten sich unter persischem Schutz in Atarneus an der äolischen Küste. Außerdem aber hat Lysander die gesamte Flotte der ehemals seemächtigen Insel fortgeführt. So mochten die Chier jetzt aufs bitterste bereuen, daß gerade sie, die bevorrechteten Bundesgenossen Athens, die ersten gewesen waren, welche zum Sturze der attischen Macht die Hand geboten hatten.

Auch Athen konnte dem Schicksal der Städte seines Reichs nicht entgehen. Wiederherstellung der Verfassung der Väter war hier seit langem das Schlagwort der konservativen Partei, und diese war es, welche durch Theramenes den Frieden geschlossen und damit den Anspruch auf die Leitung der Stadt gewonnen hatte. Aber neben sie traten jetzt die von Lysander zurückgeführten Exulanten, meist von den Radikalen verjagte und zum Teil wegen offenkundigen Hochverrats geächtete Mitglieder der Vierhundert, unter ihnen Männer wie Onomakles, Aristoteles, Charikles, der ehemalige Glenosse des Peisandros in der Verfolgung der Hermokopiden. An ihre Spitze trat alsbald Kritias, der Sohn des Kallaischros. Auch er war wie Alkibiades und Theramenes ein echter Jünger der Sophistenzeit. Der Sproß eines der vornehmsten attischen Adelshäuser, der Medontiden, aus dem ehemals die Könige Athens und später Solon hervorgegangen waren, geboren etwa um 455, hatte er bereits ein viel bewegtes Leben hinter sich. Als junger Mann hatte er die Sophisten gehört und sich namentlich Sokrates angeschlossen; dann entfaltete er eine rege Tätigkeit auf allen Gebieten der Literatur17. Wir kennen von ihm Tragödien im Stile des Euripides, in denen z.B. Sisyphos die echt sophistische Lehre entwickelte, die Sittengesetze seien von den Menschen aus sozialen Bedürfnissen geschaffen worden; dann habe, um ihre Beobachtung zu erzwingen, ein besonders schlauer Mann die Götter erfunden. In Vers und Prosa behandelte er Sitten und Lebensweise mehrerer griechischer Staaten (speziell Sparta und Thessalien, wahrscheinlich auch Athen), mit unverhohlener Bewunderung der spartanischen Institutionen, z.B. des maßhaltenden spartanischen Trinkkomments im Gegensatz zu dem in Athen herrschenden Trinkzwang. Ferner hat er rhetorische Musterreden und ethische und naturwissenschaftliche Abhandlungen verfaßt. Tiefe und selbständige Gedanken hat er, soviel wir sehen können, nirgends aufzuweisen; aber seine Darstellung war gewandt und nicht ohne Wirkung; er verstand eben die Mache. Jedoch seinem Ehrgeiz genügte es nicht, sich als einen neumodischen, allen Sätteln gerechten Literaten zu erweisen und womöglich den ersten Platz unter ihnen zu erobern; er wollte eine herrschende Rolle spielen so gut wie sein etwas jüngerer Genosse und späterer Rivale Alkibiades oder wie Lysander. Bei der Bewegung der Vierhundert saß er im Rate, trat aber hinter seinem Vater zurück (Bd. IV 2, 285). Dann schwenkte er wie Theramenes und so viele andere noch rechtzeitig zu den Gegnern ab, half den Extremen den Prozeß machen und beantragte Alkibiades' Rückberufung (Bd. IV 2, 303); trotzdem wurde er von den Radikalen unter Kleophon verbannt (Bd. IV 2, 315). Er ging nach Thessalien und hetzte hier die leibeigenen Bauern gegen die Grundherrn auf (u. S. 51). So war er eine ebenso gewissenlose Natur wie Lysander und für diesen der gegebene Mann. Einstweilen ging er mit Theramenes zusammen; die patriarchalische Verfassung und die Herrschaft der Tüchtigsten nach spartanischem Muster war das Ideal, das auch er bekannte. Aber tatsächlich erstrebte er wie seine Anhänger, vor allem Charikles, nichts anderes als die unumschränkte Gewalt und Rache an den Demokraten; um dies Ziel zu erreichen, war ihm so gut wie seinen Gesinnungsgenossen, die Lysander in den anderen Städten ans Ruder brachte, jedes Mittel recht.

Durch den Frieden mit Sparta war den Athenern in ihren inneren Angelegenheiten freie Hand gelassen worden; wollte die Umsturzpartei ihre Pläne durchsetzen, so mußte sie, wie im J. 411, den Demos dazu bringen, freiwillig auf seine Rechte zu verzichten. Sie setzte ein geheimes Aktionskomitee von fünf von den Klubs ernannten Ephoren18 ein, die die Volksversammlung, die Wahlen und die Garnison terrorisieren und nach ihrem Willen lenken sollten. Die Demokraten versuchten, sich zur Wehr zu setzen, voran die Strategen und Taxiarchen, welche schon die Annahme des Friedens zu verhindern gesucht hatten (Bd. IV 2, 363). Aber sie kamen nicht mehr ans Ziel; ihr Komplott wurde beim Rat angezeigt19, und dieser, der bereits ganz unter dem Einfluß der Oligarchen stand, ließ sie verhaften. Indessen zeigten diese Vorgänge doch, daß die Umsturzpartei ohne einen kräftigen Druck von außen nicht ans Ziel gelangen konnte; sie wandte sich an Lysander, der noch vor Samos lag. Theramenes und seine Genossen sorgten, daß die entscheidende Volksversammlung20 bis auf seine Ankunft verschoben wurde. Dann wurden die noch im Lande stehenden feindlichen Truppen zusammengezogen und eine Volksversammlung ins Theater von Munychia berufen. Drakontides brachte den Antrag ein, dreißig Männer zu ernennen, welche die neue Verfassung auf Grund der Ordnungen der Väterzeit ausarbeiten und bis dahin das Regiment führen sollten. Die Menge murrte; aber Theramenes erklärte, das kümmere ihn wenig, wo alle besser Gesinnten mit ihm einverstanden seien. Den Ausschlag gab die Erklärung Lysanders, Athen habe die für die Niederlegung der Mauern gesetzte Frist bereits verstreichen lassen und somit den Friedensvertrag gebrochen; jetzt müsse es die neue Bedingung annehmen. Von den Dreißig wurden zehn von Theramenes, zehn von den Ephoren der Klubs vorgeschlagen, zehn nominell frei gewählt (etwa Juni 404). Damit war die Demokratie dem Untergang des Reichs nachgefolgt; ihre letzten Verteidiger, die verhafteten Strategen, Taxiarchen, Trierarchen, wurden dem Gericht zur Aburteilung überwiesen.

Wie die Vierhundert im J. 411 waren die Dreißig ernannt als eine interimistische Behörde, welche den Staat aus der demokratischen Korruption in das Ideal der gesetzmäßigen und gerechten Ordnung überführen sollte, und die Gemäßigten, wie Theramenes, mögen auch wirklich dies Ziel im Auge behalten haben21. Aber die Extremen dachten so wenig wie vor sieben Jahren ihre Vorgänger daran, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen: sie wollten die Herrschaft dauernd behalten und womöglich mit niemand anders teilen. Zunächst gingen beide Richtungen noch Hand in Hand. Die Grundgesetze der Demokratie wurden aufgehoben, die ausgeleerten Schiffshäuser, das Symbol der Seemacht und der auf ihr beruhenden Pöbelherrschaft, auf Abbruch verkauft22. Die einfachen Zustände des Agrarstaats sollten wiederkehren. Daher wurden alle Sätze des solonischen Rechts23 gestrichen, welche eine feinere Kasuistik enthielten und dadurch zu juristischen Erörterungen Anlaß boten, ferner der neumodische Unterricht in der Redekunst verboten – eine Maßregel, die speziell auf Kritias' ehemaligen Lehrer Sokrates zielte24. Im übrigen brauchte man keine Verfassungsgesetze, wohl aber willfährige Organe. Neue Beamte wurden ernannt, darunter als Archon Pythodoros; der Rat wurde aus dem letzten Rat der Demokratie, der sich bereits gefügig genug erwiesen hatte, mit geringen Modifikationen entnommen25. Ihm wurde, nach spartanischem Muster, auch die Kriminaljurisdiktion übertragen; um ihn völlig zu terrorisieren, fand die Stimmabgabe bei den Prozessen26 öffentlich statt, unter dem Präsidium der Dreißig. Auch darüber war Theramenes mit Kritias und Charikles einig, daß, ehe festgestellt werden könne, wer würdig sei, dem neuen Staat als Bürger anzugehören, Athen von den schlechten Elementen gründlich gesäubert werden müsse. So wurden, wie in der Französischen Revolution, die Polizei- und Henkerkommissionen die wichtigsten Hilfsorgane des Staats, die Elfmänner in der Stadt unter Satyros (Bd. IV 2, 362), die Zehnmänner im Piräeus unter Kritias' Vetter und Mündel Charmides, dazu eine Leibgarde von 300 Peitschenträgern27. Die wegen des demokratischen Komplotts Verhafteten (o. S. 16) wurden vom Rat zum Tode verurteilt28, ebenso zahlreiche Sykophanten und Demagogen niederen Ranges, die ehemals die Geißel der Besitzenden gewesen waren29. Das fand auch bei den Gemäßigten volle Zustimmung und vor allem bei der Ritterschaft, die sich überhaupt mit Begeisterung der Reaktion in die Arme warf. Bei jedem weiteren Schritt aber traten die inneren Gegensätze unter den Machthabern hervor. Theramenes und seine Anhänger wollten jetzt wirklich an die Ausarbeitung der Verfassung gehen; den Extremen, Kritias und Charikles voran, erschien das als Torheit: sie seien Gewaltherrscher, auch wenn sie dreißig seien und nicht einer, und jede Konzession an die konstitutionellen Einrichtungen könne ihre Stellung nur gefährden. Aber um die Herrschaft dauernd zu behalten und nach Gutdünken schalten zu können, bedurften die Machthaber der demokratischen Masse gegenüber noch viel mehr eines ständigen Rückhalts an Sparta, als die Zehnherrschaften in den übrigen Städten. So gingen Äschines und Aristoteles nach Sparta, um sich die Entsendung eines Harmosten und einer Garnison zu erbitten. Lysander, jetzt nach Sparta heimgekehrt (Herbst 404), erwirkte die Bewilligung. Kallibios wurde mit 700 Mann nach Athen geschickt und nahm sein Quartier auf der Burg. Kritias und die Seinen kamen ihm auf alle Weise entgegen, so daß er ihnen jeden Exzeß gestattete. Zugleich brauchte man immer dringender Geld, nicht nur um die Anhänger zu belohnen und die eigenen Taschen zu füllen, sondern auch um der Besatzung den Sold zu zahlen. So mehrten sich von Tag zu Tag die Exekutionen und Konfiskationen, nicht mehr nur unter den Führern der Gegenpartei und dem Gesindel, sondern gegen jeden, der den Herrschern gefährlich schien oder ihre Rache oder auch ihre Begehrlichkeit reizte, darunter Männer wie der ehemalige Stratege Leon (Bd. IV 2, 267., 344, 2) und Nikias' Sohn Nikeratos – sein Oheim Eukrates war bereits mit den demokratischen Verschwörern hingerichtet. Das Sykophantengewerbe blühte alsbald unter der Oligarchie noch mehr als unter der Demokratie, und manche der ärgsten Denunzianten der früheren Zeit wurden jetzt bequeme Werkzeuge der Gewaltherrscher30. Noch größer als die Zahl der Hingerichteten war die der Verbannten und Geflüchteten. Die spartanische Regierung verbot allen griechischen Staaten, die Flüchtlinge aufzunehmen; aber Theben und Argos trotzten dem Befehl und gewährten ihnen Schutz, und selbst in Megara fanden nicht wenige Zuflucht31. Auch die bisherigen Anhänger der Reaktion in Athen begannen stutzig zu werden, zumal auch ihr Leben der Willkür der Machthaber schutzlos preisgegeben war; und wieder wie 411 übernahm Theramenes die Führung der Opposition gegen die Extremen. Kritias und Charikles sahen ein, daß sie eine Konzession machen mußten: die Dreißig entschlossen sich, eine Liste von 3000 Namen aufzustellen, welche fortan Vollbürger sein und nur durch einen Spruch des Rats verurteilt werden sollten, während sie über alle anderen sich selbst die volle Gewalt vorbehielten32. Die Zahl 3000 entsprach, nach den gewaltigen Verlusten, welche die letzten Jahre an Leben und Eigentum gebracht hatten, den 5000 Vollbürgern des Jahres 411. Aber eben darum war Theramenes auch damit nicht zufrieden: es sei eine Absurdität, eine Normalzahl festzusetzen, während der richtigen Theorie nach Vollbürger alle die sein müßten, welche sich selbst bewaffnen und aus eigenen Mitteln etwas für den Staat leisten könnten. "Was wir tun", sagte er, "widerspricht sich diametral: wir gründen eine Gewaltherrschaft, die schwächer ist als die Unterworfenen." Kritias und Charikles ließen sich dadurch nicht beirren. Sie entwaffneten alle Athener, die nicht im Katalog der 3000 standen, und fuhren fort zu morden. Sie suchten möglichst viele Athener zu ihren Maßregeln als Gehilfen heranzuziehen, um so durch den Kitt des Verbrechens ihre Herrschaft zu festigen. Um sich Geld zu beschaffen, setzten sie einen Beschluß durch, daß jeder der Dreißig einen reichen Metöken greifen und hinrichten und sein Vermögen einziehen solle. Theramenes beharrte auf seinem Widerspruch. Da sah Kritias, daß er sich des Rivalen mit Gewalt entledigen müsse; er berief eine Ratssitzung und erhob gegen ihn die Anklage wegen Hochverrats. Obwohl der Sitzungssaal mit Bewaffneten umgeben war, machte die Majorität nach Theramenes' glänzender Verteidigungsrede33 aus ihrer Gesinnung kein Hehl. Da half sich Kritias, indem er Theramenes' Namen aus dem Verzeichnis der 3000 strich und ihn jetzt aus eigener Machtvollkommenheit den Henkern übergab. Mit seinem Tode begann die volle Schreckensherrschaft. So fiel durch sein Ende ein verklärender Abglanz auf Theramenes' Persönlichkeilt zurück; man vergaß seine Ränke und Intrigen, man verzieh ihm selbst seine Schuld im Arginusenprozeß, weil er als Märtyrer für ein Ideal gefallen war, das viele der besten Männer im Herzen trugen. Freilich hat eben sein Leben und sein Schicksal erwiesen, daß, wie Athen sich einmal entwickelt hatte, die gemäßigte Aristokratie ein Traum war, und daß jeder Versuch, ihn zu verwirklichen, zwischen den Extremen, die er beide mit gleicher Entrüstung von sich wies, zermalmt werden mußte.

Ganz Griechenland lag wehrlos Sparta und seinem Feldherrn zu Füßen. Aber noch lebte ein Mann, der ihnen gefährlich werden konnte, Alkibiades. Nach dem Siege Lysanders war für ihn auf seinen thrakischen Besitzungen keines Bleibens mehr; aber er hoffte noch immer, sein altes Ziel erreichen zu können. Die Pläne des Kyros und seine enge Verbindung mit Sparta waren ihm nicht verborgen; wenn er dem neuen König Artaxerxes II. die Augen öffnete über die drohenden Gefahren und die Treulosigkeit seiner Verbündeten, mußte es gelingen, ihn auf Athens Seite hinüberzuziehen und Spartas Übermacht zu brechen. Nach mancherlei Abenteuern gelangte er an den Hof des Pharnabazos: und auch hier erwies er seine Fähigkeit, die Menschen zu gewinnen und nach seinen Zwecken zu lenken. Der Satrap gewährte ihm die Möglichkeit, an den Hof zu gehen. Nur um so dringenderes Interesse hatten all seine Feinde, ihn zu beseitigen, ehe er neues Unheil anrichtete. Die Dreißig hatten ihn verbannt und geächtet34, König Agis haßte ihn als den Schänder seiner Ehre; die Ephoren sandten an Lysander den Befehl, ihn aus der Welt zu schaffen35, und dieser, der in ihm noch immer seinen gefährlichsten Rivalen in dem Kampf um die persönliche Herrschaft sehen mußte, stellte an Pharnabazos im Namen Spartas die peremptorische Forderung, seinen Schützling zu töten. Pharnabazos war mit der Übermacht, die Lysander gewonnen hatte, und mit seinem herrischen Auftreten keineswegs einverstanden; aber zur Zeit fühlte er sich noch zu schwach, ihm zu widerstehen, und überdies mochte er, wenn er auch dem regierenden König die Treue wahrte, doch Bedenken haben, sich durch eine gegen Kyros gerichtete Maßregel allzu sehr zu kompromittieren. So gab er der Forderung nach; er ließ Alkibiades auf der Reise in Phrygien überfallen und niedermachen36.

Innere Gegensätze in Sparta

Während die Welt des Ägäischen Meeres durch Spartas Sieg den heftigsten Erschütterungen anheimfiel, entbrannte auch in dem siegreichen Staat selbst, zwar nicht so gewaltsam, aber darum nicht minder verhängnisvoll, der Kampf um die altüberlieferte Verfassung, die patrios politeia. Es erfüllte sich, was die Einsichtigen immer hatten kommen sehen; und die Rückwirkung der Herrscherstellung war um so tiefer, da der Staat in seiner bisherigen Gestalt den neuen Aufgaben in keiner Weise gewachsen war und man doch seine Organisation nicht ändern konnte, ohne sein innerstes Wesen anzutasten. Sinnfällig trat der Gegensatz allen vor Augen, als im Herbst 404 Lysander mit der Kriegsbeute im Siegeszuge nach Sparta heimkehrte. Er führte nicht nur die Schnäbel der vernichteten Flotten und die Trieren aus dem Piräeus mit sich, sondern auch Massen von goldenen Kränzen, welche die Städte überall ihm verehrt hatten, und dazu für den spartanischen Staatsschatz 470 Talente aus den Resten der ihm von Kyros überwiesenen Tribute und der sonstigen Beute. Angeblich hat er bereits im Jahr vorher Gylippos mit noch weit größeren Summen vorausgeschickt37. Das widersprach allen Traditionen und Satzungen des Staats: die heilige Ordnung des Lykurgos verpönte jeden Besitz von Edelmetall. So kam der Konflikt zunächst über diese Frage zum Ausbruch; die Vertreter des Alten forderten, daß man das fremde Gold nicht zulassen und sich nach wie vor mit dem heimischen Eisengeld begnügen solle. Daß das politisch gänzlich undurchführbar war, konnten Lysander und seine Anhänger leicht nachweisen. Aber die Versuchung, welche damit an den Staat und den Einzelnen herantrat, war nicht minder offenkundig; eben jetzt war Gylippos, der Sieger von Syrakus, bei der Ablieferung der Geldsummen auf einem plumpen Diebstahl38 ertappt worden. Er wurde verbannt, wie ehemals sein Vater (Bd. IV 1, 586.), und soll sich selbst der Tod gegeben haben. Für die Zukunft aber einigte man sich dahin, daß zwar der Staat Gold und Silber besitzen dürfe, dagegen jedem Bürger der Besitz von Edelmetallen bei Todesstrafe untersagt sei39.

In der Tat sind in den nächsten Jahren derartige Todesurteile gefällt worden (u. S. 41); aber geholfen haben sie nicht viel. Der spartanische Staat war aufgebaut auf die militärische Disziplin und auf den Wetteifer der Bürger, deren jeder von Jugend auf streben sollte, es seinesgleichen zuvorzutun. Aber längst war die innere Homogenität der Bürgerschaft geschwunden; arm und reich schufen auch hier eine tiefe Kluft, welche durch die militärische und gesellschaftliche Ordnung nur noch künstlich überbrückt und dem Auge des Fremden verborgen wurde (Bd. IV 1, 437). Und nun eröffnen sich dem Ehrgeiz Ziele, von denen sich noch vor wenigen Jahrzehnten kein Spartiat hätte träumen lassen. Vor dem Namen des spartanischen Bürgers zittert ganz Hellas; mit unumschränkter Macht schaltet der Feldherr und der Harmost über die "verbündeten" Städte; alle Versuchungen, welche die Macht bringt, treten an ihn heran, der im Eurotastal unbekannte Luxus der Fremde, die devote Schmeichelei der von seiner Gnade abhängigen Parteien; wie hätte er, eben aus der strengen äußeren Zucht der Heimat gekommen, widerstellen sollen, wo er nur zuzugreifen brauchte? Fremd war dem Kriegerstaat das Streben nach Gewinn, nach Mehrung des Besitzes, nach beherrschendem Einfluß niemals gewesen; jetzt wächst es ins Ungemessene. Da kann der Einzelne das moderne Machtmittel des Geldes so wenig mehr entbehren wie der Staat. Wege, das Gesetz zu umgehen, gab es auch hier, vor allem dadurch, daß man das Barvermögen außer Landes bei den Tempeln deponierte, z.B. in Tegea oder wie Lysander in Delphi; andere mochten es heimlich auf ihren Gütern verbergen. Die Aufrechterhaltung eines an sich schon unnatürlichen Gesetzes wird eben unmöglich, wenn die Beteiligten selbst es nicht wollen. So konnte wenig später ein athenischer Schriftsteller sagen: "Gold und Silber gibt es in ganz Griechenland zusammen nicht so viel wie in Sparta allein; denn seit vielen Generationen strömt es dorthin aus ganz Griechenland und oft auch von den Barbaren, aber heraus kommt es niemals, sondern es gilt hier, was in Äsops Fabel der Fuchs zum Löwen sagt, man sieht deutlich die einwärts gewandten Spuren des nach Sparta eingehenden Geldes, aber nirgends solche, die herausführen. So kann man sicher sein, daß seine Bewohner die reichsten Griechen an Gold und Silber sind und unter ihnen wieder der König."40 Die Zeitgenossen sahen darin die Ursache der Korruption und bald auch der äußeren Katastrophe Spartas; schon dem Lykurg, so behauptete man, habe die Pythia verkündet: "die Geldgier wird Sparta verderben und nichts anderes"41; in Wirklichkeit war es das charakteristischste Symptom der inneren Umwandlung des Staats unter der Einwirkung seiner Herrscherstellung42.

Durch diese Entwicklung wurde die Ungleichheit des Besitzes und der ökonomische Ruin der Ärmeren noch weiter gefördert; immer größer wurde die Zahl der "Minderen" (ypomeiones), die wegen Armut das Vollbürgerrecht verloren (Bd. IV 1, 438). Außer Königen, Geronten und Ephoren zählte im J. 399 Kinadon (u. S. 47) auf dem Markt von Sparta nur noch etwa 40 Spartiaten unter mehr als 4000 anderen, Heloten, Neodamoden, Hypomeiones und Periöken43. Auf dem Lande tritt dasselbe Verhältnis noch schärfer hervor. Die Bürgerschaft44 bestand im J. 404 noch etwa aus 2000 waffenfähigen Männern (Bd. IV 1, 441, 2), ging aber in den nächsten Jahrzehnten an Zahl ständig zurück. Und nun sollte sie nicht nur diese Masse von Unzufriedenen und Unterjochten niederhalten, "unter denen keiner es bergen kann, daß er nicht mit Freuden jeden Spartiaten roh auffräße", sondern zugleich die Herrschaft über ganz Hellas östlich vom Ionischen Meer behaupten, über ein Volk von etwa 3 bis 4 Millionen Seelen. Athen, mit einer bürgerlichen Bevölkerung, die etwa 17mal so groß gewesen war als die Spartas, hatte die gleiche Aufgabe doch nur in etwa der Hälfte dieses Gebiets erfüllen können. An der Organisation des Staats ließ sich nichts ändern, abgesehen von einigen Reformen im Heerwesen. Seit dem Ende des Peloponnesischen Krieges ist die spartanische Armee (einschließlich der Garde der ippeis von 300 Mann) in sechs aus Spartiaten und Periöken gebildete Hoplitenregimenter (Moren) geteilt (Bd. IV 1, 444, 1). Die Stärke schwankte nach der Höhe des Aufgebots; die Normalzahl scheint 600 Mann gewesen zu sein, darunter, auch wenn man die waffenfähigen Bürger (Vollbürger und Mindere) bis zum 55. Jahre aufbot, weit über die Hälfte Periöken. Hinzu kommen die Skiriten und seit Brasidas die aus freigelassenen Heloten gebildeten Neodamoden, von denen jetzt immer stärkere Korps aufgestellt werden. Außerdem hatte Brasidas eine Reiterei ins Leben gerufen, die jetzt gleichfalls aus sechs Moren zu 100 Pferden bestand. Aber im Gegensatz zu Athen, Böotien, Thessalien stand diese Truppe in Sparta auch jetzt in geringem Ansehen; sie wurde im Frieden nicht einexerziert, sondern erst zu Beginn des Feldzugs formiert. Die Pferde hatten die Reichsten zu stellen; aber zu Reitern nahm man die am wenigsten leistungsfähigen Leute, darunter gewiß nur wenige Spartiaten. So vermochte Sparta aus eigenen Mitteln, abgesehen von den verstreut in seinem Machtbereich liegenden Truppen, im Notfall ein Heer von 6000 Mann und 600 Reitern aufzustellen, das durch seine Disziplin und seine ununterbrochene Schulung noch immer dem Aufgebot jedes anderen griechischen Staats überlegen war und den festen Kern des von Sparta geführten Bundesheeres abgab45. Aber damit war der Staat auch an der äußersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt; selbst an eine Verstärkung seiner kleinen Seemacht konnte er trotz der jetzt disponiblen Geldmittel nicht denken, sondern blieb hier nach wie vor im wesentlichen auf die Schiffe seiner Bundesgenossen angewiesen. Daher gab es für die Behauptung der Herrschaft über die griechischen Staaten gar keine anderen Mittel als die, welche man daheim zur Niederhaltung der Heloten und Periöken anwandte. Die brutalen und perfiden Maßregeln Lysanders, die unter der Phrase der Freiheit die rücksichtslose Gewaltherrschaft aufrichteten, mochte man verschmähen; eine gewundene Politik, welche den Zwang, den sie nicht entbehren konnte, unter den Formen des Rechts zu verbergen suchte, war dem spartanischen Staat durch die Gewalt der Umstände aufgezwungen, wenn er nicht freiwillig zurücktreten und seinen Feinden die Möglichkeit einer neuen Erhebung gewähren wollte.

Aber noch gab es in Sparta nicht wenige Männer, welche es ehrlich meinten mit den ererbten Ordnungen und, wie Kallikratidas als Nauarch, die neumodische Politik mit Abscheu von sich wiesen. Spartas Größe lag ihnen ebensosehr am Herzen wie Lysander und seinen Genossen; aber seine Ehre wollten sie rein erhalten und das feierlich verpfändete Wort Spartas wahr machen, es sei gekommen, die Hellenen von Athens Tyrannis zu befreien und die glücklichen und gerechten Zustände der Vorzeit wieder herbeizuführen. Die Opposition gegen Lysander war um so stärker, da die neue Politik in erster Linie ihm selbst zugute kam und die Stellung, die er einnahm, in schroffem Widerspruch stand zu der Gleichheit, auf der die Freiheit der Bürger beruhte. Lysander machte kein Hehl daraus, daß er seine Stellung dauernd zu behaupten trachtete; er wird auch damals schon für den Plan gewirkt haben, das erbliche Doppelkönigtum durch eine Wahlmonarchie zu ersetzen und so seiner Tyrannis auch die eigene Heimat zu unterwerfen. In dem Kampf um Zulassung des Geldes hatte die Opposition mindestens einen halben Sieg errungen; sie konnte dabei nicht stehen bleiben. Ein Umsturz der Verfassung und der Herrscherstellung der Spartiaten, wie sie die Hörigen erstrebten, lag diesen Bestrebungen ganz fern; aber so wie die Verhältnisse in Sparta sich gestaltet hatten, durften sie nicht bleiben, wenn nicht Sparta, das man jetzt in ganz Hellas als das Muster einer weisen Staatsordnung anstaunte, an innerer Fäulnis zugrunde gehen sollte. Wie überall in Hellas die Parole der Rückkehr zu den Zuständen der alten Zeit ausgegeben war, wie die athenischen Oligarchen der verkommenen Verfassung der Demokratie die Idealverfassung des Drakon entgegenstellten (Bd. IV 2, 282), so mußte auch Sparta zurückkehren zu den wahren Ordnungen des Lykurgos, von denen es abgefallen war. Man akzeptierte die in Griechenland weit verbreitete, in Sparta ursprünglich nicht heimische Anschauung, daß Lykurgos von dem delphischen Gotte inspiriert gewesen sei und dieser dem Staate ewiges Gedeihen verheißen habe, solange er seinen Geboten getreu bleibe; um so mehr sei Sparta verpflichtet, jede Neuerung und jede Verfälschung seiner Satzungen rückgängig zu machen. Die Führung der Reformbestrebungen übernahm König Pausanias, der Enkel des Siegers von Platää, der im J. 408 seinem Vater Pleistoanax gefolgt war. In ihm vereinigten sich die Reformbestrebungen mit den alten Tendenzen des Agiadenhauses. Das gottbegründete Königtum der Herakliden, das Lykurg mit den höchsten Ehren ausgestattet hatte, war durch die weitere Entwicklung völlig geknechtet worden; die Ephoren waren aus seinen Dienern seine Herren geworden, selbst die militärische Leitung hatten sie ihm beschränkt; an Stelle des weisen Rates der Alten, der mit den Königen Hand in Hand gehen sollte, herrschte auch in Sparta die Demokratie durch die alljährlich aus der Menge gewählten Ephoren, beliebige Leute, die durch Intrigen und Konnexionen zur höchsten Macht gelangten. Hier mußte die Reform einsetzen; nur das wahre Königtum in seiner alten Machtvollkommenheit konnte eine Besserung der Zustände schaffen. Eine Reihe von Orakelsprüchen wurde in Umlauf gesetzt, die authentischen Verse, welche Lykurg von der Pythia erhalten hatte – Pausanias hat sie später im Exil (u. S. 230) in einer Schrift46 publiziert. Hier wird Recht und Frömmigkeit, Heilighaltung der Eide, Ehrfurcht vor den Alten (dem Rat), Ehrung der Schutzgötter des Königtums, der Tyndariden und des Menelaos, geboten; nur dieser Weg führt zu Tapferkeit und Eintracht und damit zur Freiheit, der andere zu Bürgerzwist, Feigheit und Knechtschaft. Auch der Spruch über die Geldgier gehört hierher, ferner eine Anzahl von Distichen, welche die Grundzüge der echten Verfassung enthalten – vielleicht sind sie schon damals für ein Gedicht des Tyrtäos ausgegeben worden. Völlig beiseite geschoben wird das Ephorat: die Ephoren hat König Theopompos im Messenischen Kriege als seine Gehilfen bei der Rechtsprechung eingesetzt, ihre spätere Macht ist usurpiert. Auch die Volksversammlung soll nicht selbständig entscheiden wollen, sondern dem zustimmen, was Könige und Geronten im Rat beschließen. Endlich gehört in diesen Zusammenhang die Erzählung, Lykurg habe das Gebiet von Sparta gleichmäßig unter die Bürger aufgeteilt und so die wahre Gleichheit geschaffen: das ist das Programm einer umfassenden sozialen Reform, welche der Armut der Menge ein Ende machen und die Wehrkraft des Staats auf eine breitere und festere Grundlage stellen soll47.

Wie wenig die Mehrheit der Bürgerschaft von der neumodischen Politik wissen wollte, zeigte sich bei den Ephorenwahlen; in dem neuen Kollegium, das im Herbst 404 antrat, bestand die Mehrzahl aus Gegnern Lysanders und Anhängern des Pausanias. Trotzdem gelangten die Reformbestrebungen nicht zum Ziel. Es ist das Verhängnis Spartas und ganz Griechenlands gewesen, daß das Königtum zu schwach und die Gefahren zu groß waren. Entscheidende Bedeutung gewannen die Gegensätze daher nur in den praktischen Fragen der auswärtigen Politik. Hier gewann Lysander zunächst, wahrscheinlich noch durch die alten Ephoren und durch König Agis48, mit dem er während des Krieges in gutem Verhältnis gestanden hatte, einen vollen Sieg. Seine Anordnungen wurden bestätigt; die großen Weihdenkmäler, welche Sparta daheim und vor allem in Delphi aus der Beute zum Dank für die Beendigung des Krieges errichten ließ, dienten ausschließlich seiner Verherrlichung49: in Delphi stand seine Statue inmitten der Götter, umgeben von sämtlichen spartanischen und bundesgenössischen Heerführern, und Poseidon setzte ihm den Siegeskranz auf. Für das neue Amtsjahr wurde sein Bruder Libys zum Nauarchen gewählt; tatsächlich übernahm als sein Adjutant auch diesmal Lysander den Oberbefehl. So konnte er gegen Ende des Jahres 404 an der Spitze der spartanischen Flotte noch einmal einen Triumphzug durch Hellas halten50 und seine Maßregeln festigen und ergänzen. Diesmal scheint er namentlich an der thrakischen Küste operiert zu haben, wo sich noch mancher Widerstand regen mochte; auch sein Eingreifen auf Thasos (o. S. 11) gehört wohl in diese Zeit. In allen Städten überhäuften ihn seine Anhänger mit den höchsten Ehren: der Mann, der unumschränkt in ganz Hellas schaltete, war mehr als ein Mensch, er war ein Gott und sein Wille Gesetz wie das Gebot der Gottheit. Die Aristokraten auf Samos51 haben ihm Altäre errichtet, geopfert und "dem Feldherrn des wackeren Hellas aus dem reigenfrohen Sparta" Päane gesungen; das Herafest wurde durch ein Lysanderfest ersetzt. Die Dichter drängten sich um ihn und verherrlichten wetteifernd seine Taten, Choirilos von Samos, Antimachos von Kolophon, Nikeratos von Heraklea, dem er selbst beim Lysanderfest den Preis erteilte. Die Ephesier errichteten ihm und seinen Mitfeldherrn im Artemistempel, die Samier in Olympia eine Statue. Er war in der Tat der ungekrönte König von Hellas. Aber während er auf dem Gipfel seiner Macht stand, nahmen die Dinge in Athen eine Wendung, die rasch und unerwartet den Anstoß gab zu jähem Sturz aus schwindelnder Höhe.

Befreiung Athens und Sturz Lysanders

Zu Anfang des Winters des J. 404 hatte sich eine Schar flüchtiger Athener, geführt von Thrasybulos und Anytos52, insgeheim unterstützt von den Häuptern der demokratischen Partei in Theben, in dem attischen Bergdorf Phyle inmitten des Parnes, nordwestlich von Athen, festgesetzt. Es waren zuerst nicht mehr als 70 Mann; aber der steile Gipfel, auf dem sie sich verschanzten, ermöglichte ihnen, die Angriffe der Dreißig abzuwehren; und eine regelrechte Belagerung wurde durch starken Schneefall verhindert. Die Machthaber legten der Bewegung anfangs wenig Bedeutung bei; sie fuhren fort, in ihrer bisherigen Weise zu regieren, ließen hinrichten, wer ihnen im Wege stand oder ihre Habgier reizte, und zogen den Grundbesitz der Verurteilten für sich und ihre Freunde ein. Wie auf Samos der Demos verjagt war, sollten auch in der Stadt Athen nur Anhänger der neuen Ordnung leben; wer nicht im Katalog der Dreitausend stand, wurde in die Vororte und den Piräeus ausgewiesen53. Aber auch hier waren sie ihres Lebens nicht sicher, so daß sich alle Nachbarstaaten mit Flüchtlingen füllten54. Mit Thrasybulos55 sollen die Dreißig Verhandlungen angeknüpft und ihm den Eintritt in ihr Kollegium geboten haben. Das wies er ab. Seine Macht war jetzt auf 700 Mann angewachsen56; damit gelang es ihm, die spartanische Garnison und zwei Reiterschwadronen, die nördlich von Acharnä57 lagerten, um das Land gegen seine Raubzüge zu schützen, in der Morgenfrühe zu überfallen und zu schlagen. Da begannen die Dreißig um ihre Zukunft besorgt zu werden; um sich für alle Fälle einen festen Zufluchtsort zu sichern, überfielen sie mit der Ritterschaft Eleusis und führten die Bewohner gefangen fort. Auch eine Anzahl Salaminier teilten ihr Schicksal; der Rat wurde gezwungen, ihnen sämtlich, etwa 300 Bürgern, unterschiedlos das Todesurteil zu sprechen58.

Diese ununterbrochene Kette von Verbrechen schadete der Sache der Dreißig mehr, als sie nützte; auch unter denen, die zu Anfang den Sturz der Demokratie und die ersten Maßregeln der Oligarchie mit Freude begrüßt hatten, wandten sich die meisten mit Abscheu von ihnen ab, selbst viele der jungen Aristokraten, die im Reiterkorps dienten, wie Xenophon und Platon, der Neffe des Charmides, des Vetters des Kritias; verlassen konnten sie sich höchstens noch auf die, welche ihnen freiwillig Schergendienste geleistet hatten und den Raub nicht fahren lassen wollten. Thrasybuls Streitmacht wuchs von Tag zu Tag; er konnte jetzt einen entscheidenden Schlag versuchen. Vier Tage nach dem Gefecht bei Acharnä zog er mit 1000 Mann in den jetzt offen daliegenden Piräeus ein und setzte sich auf dem steilen Hügel Munychia fest, der die Hafenstadt beherrschte. Die Dreißig führten die spartanische Garnison und das Gesamtaufgebot der Stadt heran und suchten vom Markt aus durch die zur Höhe führende Hauptstraße die feindliche Stellung zu stürmen. Aber alle Vorteile des Terrains waren auf seiten der Freiheitskämpfer; in Massen strömte die waffenlose Bevölkerung des Piräeus ihnen zu und schleuderte, gedeckt durch die in der Front stehenden Hopliten, Steine und Speere auf die Scharen der Angreifenden. In dem Straßenkampf fielen Kritias59 und Charmides und etwa 70 andere. Mit dem Scheitern des Angriffs brach in Athen die Macht der Dreißig zusammen; am nächsten Tage traten die Dreitausend zusammen, kündigten ihnen den Gehorsam und setzten sie ab (etwa Anfang März 403)60. Acht Monate lang hatten sie das Regiment geführt; die Zahl ihrer Opfer wird auf 1500 Bürger geschätzt, "beinahe eine größere Zahl von Athenern als die Peloponnesier während der zehn Jahre des Krieges getötet hatten61". Die Überlebenden von den Dreißig entwichen nach Eleusis, bis auf Pheidon und Eratosthenes, zwei Parteigänger des Theramenes, die sich am gemäßigtsten gehalten hatten; die Dreitausend aber bestellten sich eine neue Regierung, zehn Männer62, einen aus jeder Phyle, darunter der eben genannte Pheidon, ferner Rhinon63