21,99 €
Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ist durch zwei Perspektiven bestimmt, die zueinander in Widerspruch stehen. Zum einen die großen Kriege und Katastrophen, die das deutsche 20. Jahrhundert in zwei Teile spalten – vor und nach 1945. Deutschland ist das Land, in dem die radikalen Ideologien von links und rechts erdacht wurden, und das einzige, in dem sie jeweils staatliche Form annahmen. Das prägt die erste wie die zweite Hälfte des Jahrhunderts. Zum anderen der Aufstieg der modernen Industriegesellschaft, der über die verschiedenen politischen Systeme hinweg zu jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die soziale und politische Ordnung führt. Erst 1990 scheinen sie gelöst, als der Sozialismus zusammenbricht. Aber am Ende des Jahrhunderts ist die Debatte um die Leistungen und Defizite des Kapitalismus wieder voll entbrannt. Diesen gewaltigen Prozess legt Ulrich Herbert mit einer Präzision und Tiefenschärfe frei, wie sie nur selten in der Geschichtsschreibung begegnet. Kriege und Terror, Utopie und Politik, Kapitalismus und Sozialstaat, Sozialismus und demokratische Gesellschaft, Geschlechter und Generationen, Kultur und Lebensstile, europäische Integration und Globalisierung: Wie diese widersprüchlichen Ereignisse und Entwicklungen strukturiert und aufeinander bezogen sind, davon handelt dieses Buch.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2017
C.H.Beck
Deutschland im 20. Jahrhundert – das sind zwei Weltkriege, eine gescheiterte Demokratie, Hitler-Diktatur und Holocaust, ein 40 Jahre lang geteiltes Land. Aber es ist auch Sozialstaat, Wohlstand, Liberalisierung und Globalisierung, eine erfolgreiche Demokratie und die längste Friedensperiode der europäischen Geschichte. Ulrich Herberts lang erwartetes Werk ist die brillante Darstellung eines ungeheuren Jahrhunderts – und setzt Maßstäbe, an denen sich Zeitgeschichte künftig wird messen lassen müssen.
„Ein großartiges Buch, ein intellektueller Genuss.“
Neue Zürcher Zeitung
„Einer der besten deutschen Historiker.“
Saul Friedländer
Ulrich Herbert gehört zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und erhielt 1999 für seine Arbeiten den Leibniz-Preis. Bei C.H.Beck gibt er die Reihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert heraus, zu der auch dieser Band gehört, der 2014 mit dem zum ersten Mal verliehenen Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien von Ulrich Herbert in der Reihe «Wissen» der Band «Das Dritte Reich» (22016).
Für Thilo und Charlotte
Vorwort
Einleitung
Erster Teil: 1870 bis 1918
1. Deutschland um 1900: Der Fortschritt und seine Kosten
Wirtschaftlicher Aufstieg
Die Neuerfindung der Welt
Gesellschaftliche Wandlungsdynamik
Fortschrittsbegeisterung und Orientierungskrise
Radikale Antworten auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft
2. Das Neue Reich
Das Erbe Bismarcks
Ende der liberalen Ära
Neuer Kurs
Reich und Weltreich
Flottenbau und «Weltpolitik»
Stabile Krise
Radikaler Nationalismus
Vor dem Krieg
3. Die Macht des Krieges
Kriegsbeginn
Geist und Ideen von 1914
Abnutzungskrieg
Kriegswirtschaft
Innenpolitische Konfrontation
Auswirkungen der Oktoberrevolution
Märzoffensive und Zusammenbruch
Der Erste Weltkrieg in der deutschen Geschichte
Zweiter Teil: 1919 bis 1933
4. Revolution und Republik
Revolution und konstitutionelle Bewegung
Aufstand von links
Versailles und die Folgen
Kapp-Putsch und Ruhrkrieg
Reparationen und Erfüllungspolitik
Verkehrte Welt
Die totale Krise
Prekäre Stabilisierung
5. Deutschland um 1926: Zwischen Krieg und Krise
Wirtschaft zwischen den Krisen
Sozialpolitische Steuerungsversuche
Klassen, Geschlechter, Generationen
Kultur der Großstadt
Kritik und Gegenentwürfe
Zukunftsperspektiven
6. Die Zerstörung der Republik
Krise des Parlamentarismus
Weltwirtschaftskrise
Die radikale Linke
Die radikale Rechte
Der Aufstieg der NSDAP und die Entmachtung des Parlaments
Varianten der Diktatur
Entscheidung für Hitler
Dritter Teil: 1933 bis 1945
7. Die Dynamik der Gewalt
«Machtergreifung»
Sicherung der Diktatur
Politik gegen die Juden
Funktionswandel des Terrors
Rüstungsboom und Arbeitsschlacht
Aufrüstung und Außenpolitik
Arbeiter, Bauern, Bürger
Kriegskurs
Kristallnacht
Am Vorabend des Krieges
8. Die Zerstörung Europas
Besatzungspolitik
Polnische Juden
Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz
«Euthanasie»
Hegemonie
Kriegsplanungen
Barbarossa
Umsteuerung auf den langen Krieg
9. Deutschland um 1942: Völkermord und Volksgemeinschaft
Helene Holzman
Vergeltung
Endlösung
Zwangsarbeit
Volksgemeinschaft im Krieg
Volksstimmung und Massenkultur
10. Untergang
Rückzug
Terror und Totaler Krieg
Perspektiven des Widerstands
Krieg in Deutschland
Das Ende
Nach dem Dritten Reich
Vierter Teil: 1945 bis 1973
11. Nachkrieg
Stunde Null
Stunde der Alliierten
Umgestaltung
Politischer Neuaufbau
Kalter Krieg und deutsche Teilung
Sommer 1948
Vergangenheit und Zukunft
Zwei Staatsgründungen
12. Wiederaufbau in Westdeutschland
Wirtschaftswunder
Westintegration im Kalten Krieg
Innere Stabilisierung
Sozialpolitik
Reintegration der NS-Anhänger
Entschädigung der NS-Opfer
Gesellschaft in den fünfziger Jahren
Alltagskultur
Abendland und Sittlichkeit
13. Das sozialistische Experiment
Das kommunistische Projekt
Sowjetisierung
Vom 17. Juni zum 13. August
Sozialismus durch Wissenschaft und Technik
Prag und Bonn
Das Ende der Ära Ulbricht
14. Vorboten des Wandels
Deutschlandpolitik im Kalten Krieg
Krise und Kritik der Ära Adenauer
Vergangenheitsbewältigung
Das schnelle Ende der Regierung Erhard
15. Deutschland um 1965: Zwischen den Zeiten
Zwei Gesellschaften
Aufstieg und Unterschichtung
Euphorie der Modernität: Neues Bauen
Atom: Hoffnung dieser Zeit
Planungsoptimismus
Konsum und Populärkultur
In einem heimgesuchten Land
16. Reform und Revolte
Moderne Politik
Internationale Protestbewegung
Strukturmerkmale der Revolte
Emphase des Neuanfangs
Ostpolitik
Innere Reformen
Modell Deutschland
Fünfter Teil: 1973 bis 2000
17. Krise und Strukturwandel
Das Ende von Bretton Woods und die erste Ölpreiskrise
Strukturwandel
Gesellschaftlicher Wandel und zeitgenössische Deutung
Aporien der Industriegesellschaft
Terrorismus
Politik als Krisenmanagement
Alte und neue Fronten
Weltwirtschaftskrise und Weltwirtschaftspolitik
Das Ende der sozialliberalen Ära
18. Weltwirtschaft und nationale Politik
Globalisierung und nationale Wirtschaftspolitik
Innenpolitische Transformationen
Von der Ausländerdebatte zur Asylkampagne
Politische Kultur der achtziger Jahre
Rückkehr der Geschichte
Deutschland, die Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges
Europäische Beschleunigung
19. Aufschwung, Krise und Zerfall der DDR
Die Hauptaufgabe
Integration und Opposition
Schuldenkrise
Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung
20. Deutschland um 1990: Zweierlei Vereinigung
Erosion des Ostblocks
Ein deutscher Herbst
Demos und Ethnos
Gipfeldiplomatie
Die Einheit und ihre Kosten
Die deutsche Einheit und die Europäische Union
21. Neue Einheit
Das Ende der Geschichte?
Vereinigungskrise
In der neuen Weltordnung
Asylpolitik und multikulturelle Gesellschaft
Maastricht
Zwei Vergangenheiten
22. Millennium
New Economy
Rot-Grün und der Krieg im Kosovo
Dritte und Neue Wege
Das Ende des 20. Jahrhunderts
Anhang
Anmerkungen
Verzeichnis der Abkürzungen
Quellen und Literatur
Dank
Personenindex
Europa ist unsere Gegenwart, aber unsere Geschichte bleibt im Nationalen verwurzelt. Das hat seinen guten Grund, denn persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen, politische Optionen, kulturelle Orientierung und Alltagsvertrautheit beziehen sich in allen europäischen Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, nach wie vor zuerst auf das Land, aus dem man kommt und in dem man lebt.
Aber offenkundig reicht der nationale Rahmen nicht aus, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, denn wichtige Entwicklungen erweisen sich schon beim zweiten Hinsehen nicht als national spezifische, sondern als gesamteuropäische Phänomene. Wie soll man regionenübergreifende historische Erscheinungen – vom Imperialismus bis zur Europäischen Union, von den großen Diktaturen bis zur Ausbreitung des europäischen Modells der sozialen Demokratie, von den Klassenkonflikten der 1920er bis zur Jugendrebellion der 1960er Jahre und von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bis zum Wirtschaftswunder der 1950er und zum Ölpreisschock der 1970er Jahre – in den Kategorien des Nationalstaats erklären können, wo es sich doch offenkundig eher um gemeinsame Grundprozesse und deren Varianten handelt?
Und doch dominiert in Europa nach wie vor eine Sichtweise, die den Nationalstaat als den vermeintlich natürlichen Aggregatzustand der historischen Entwicklung begreift und sich darum bemüht, nationale Differenzierungen und Sonderwege, Kontingenz und Divergenz als primäre, Konvergenz und Vereinheitlichungen hingegen eher als nachgeordnete Prozesse zu begreifen.
Europa im 20. Jahrhundert hingegen a priori als Einheit zu betrachten und seine Geschichte auch so zu erzählen, ist nicht weniger problematisch. Denn dies transponierte die Vision einer gemeinsamen europäischen Gesellschaft gewissermaßen nach rückwärts, als sei der Nationalstaat lediglich eine Verirrung der vergangenen 150 Jahre gegenüber einer ansonsten im Wesentlichen gemeineuropäischen Erfahrung gewesen. Das vernachlässigte nicht allein die national so extrem unterschiedlichen Entwicklungen, wenn man nur an Jahre wie 1917, 1933 oder 1989 denkt. Es negierte auch die daraus erwachsenen Erfahrungsdifferenzen, die sich nicht nur nach den Kategorien Klasse und Geschlecht, sondern im 20. Jahrhundert in ganz besonderer Weise nach Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit ordnen. Tatsächlich sind das 19. und das 20. Jahrhundert in Europa ohne die nationalstaatliche Perspektive nicht entzifferbar.
Um diesem Dilemma zu entkommen, versucht die Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert» einen anderen Weg: Die Geschichten der europäischen Staaten und Gesellschaften werden je für sich erzählt, aber zugleich im Kontext der europäischen Entwicklung und der globalen Verflechtungen. Um das zu verstärken, haben sich Herausgeber und Autoren auf eine gemeinsame Struktur geeinigt, die allen Bänden in stärkerer oder schwächerer Ausprägung zugrunde liegt: Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen werden in klassischer, diachroner Manier erzählt. An einigen, in allen Bänden etwa gleichen Zeitpunkten werden aber Querschnitte eingefügt, die es ermöglichen, Zustand und Zustände in der jeweiligen Gesellschaft synchron darzustellen und dadurch dem Vergleich mit anderen Ländern zu öffnen. Das betrifft die Zeiträume um 1900, Mitte der zwanziger Jahre, im Zweiten Weltkrieg, Mitte der sechziger Jahre und nach 1990. Abweichungen von diesem Raster ergeben sich aus spezifischen Besonderheiten in den einzelnen Ländern.
Auf diese Weise sollen im Konzert der Bände dieser Reihe Differenzen und Ähnlichkeiten, Konvergenzen und Alternativen erkennbar und die Nationalgeschichten aus ihrer Selbstbezogenheit gelöst werden, ohne die Eigendynamik und die spezifischen Traditionen der einzelnen Länder zu vernachlässigen. Bei dem Versuch, nationale Geschichte und europäische Perspektive zu verbinden, wird vielen Lesern das eine oder das andere zu kurz kommen, wie überhaupt das Unterfangen, eine Nationalgeschichte im 20. Jahrhundert in einem Band zu erzählen, einen gewissen Mut erfordert. Aber nur in dieser Form ist es möglich, diachrone Entwicklungen zu schildern und Linien durch das Jahrhundert zu zeichnen, die ansonsten angesichts der Vielzahl der Themen und Aspekte nicht erkennbar würden.
Wenn wir vom 20. Jahrhundert sprechen, so in einer spezifischen Weise. Es hat sich vielfach eingebürgert, den Ersten Weltkrieg als Wasserscheide zwischen den Jahrhunderten zu betrachten. Das hat Vorteile, weil dadurch die nachwirkenden Traditionen des «langen» 19. Jahrhunderts besser in Augenschein genommen werden können. Um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, ist es aber nötig, die tiefgreifende Veränderungsdynamik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914 zu berücksichtigen, die jahrzehntelang nachgewirkt hat und in kürzester Zeit eine solche Wucht entfaltete, dass alle europäischen Gesellschaften davon ergriffen und gezwungen wurden, auf diese Herausforderungen zu reagieren. So wird, wer den Aufstieg der Weltanschauungsdiktaturen und die beiden Weltkriege, den Holocaust und die Dekolonialisierung darzustellen und zu erklären hat, vor den Ersten Weltkrieg zurückgehen und die beiden Jahrzehnte vorher betrachten müssen, um die Durchsetzung des modernen Industriekapitalismus, der immer mächtiger werdenden Staatsapparate und den Aufstieg der großen radikalen politischen Massenbewegungen zu verfolgen, die im Laufe des Jahrhunderts eine so zerstörerische Wirkung entfalteten. Daher wird in diesen Bänden die Geschichte des «langen 20. Jahrhunderts» erzählt, die von den 1890er Jahren bis etwa 2000 reicht – wobei der Ausgangspunkt klarer ist als das Ende.
Schließlich hat Autoren und Herausgeber die Frage bewegt, wie man die so verschiedenen beiden Hälften des Jahrhunderts miteinander auf eine Weise verbinden kann, dass die Zusammenhänge zwischen beiden erkennbar werden, ohne den tiefen Einschnitt von 1945 zu relativieren. Hier sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften unübersehbar. Aber zugleich lässt sich doch angesichts der vielfältigen politischen Entwürfe und radikalen Alternativen über Jahrzehnte hinweg das Bemühen der Zeitgenossen erkennen, gesellschaftliche Ordnungssysteme zu finden, die den Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft angemessen sind. Das hat zu monströsen Gebilden und schrecklichen Opfern geführt.
Aber man kann doch auch erkennen, dass auf viele Herausforderungen, die sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg so scharf herausgebildet hatten, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich Antworten gefunden wurden, die sich bewährten und vermehrt auf Zustimmung stießen. Das betraf sowohl die Ausprägung der politischen Ordnung im Innern wie zwischen den europäischen Staaten, das Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit oder den Umgang mit der modernen Massenkultur. Dabei wurden die westeuropäischen Gesellschaften nach den 1960er Jahren einander immer ähnlicher, und zwar in Bezug auf das politische System, die soziale Ordnung, die kulturellen Wertorientierungen ebenso wie hinsichtlich der Wirtschaftsordnung und des Alltagslebens. Solche Tendenzen gab es in Ansätzen in den ost-mitteleuropäischen Ländern auch schon während der kommunistischen Herrschaft, und nach 1990 begannen sie sich rasch durchzusetzen. Mit diesen Tendenzen der Konvergenz und Homogenisierung der gesellschaftlichen Ordnungen in Europa, deren Bedeutung in historischer Perspektive deutlicher zu erkennen ist als zeitgenössisch, wuchs aber vielfach auch das Bedürfnis nach Differenz und nach Orientierung an der nationalen Geschichte.
Zugleich aber wurde nach der «goldenen Ära» der 1950er und 1960er Jahre die Brüchigkeit des industriellen Fundaments dieser Gesellschaften sichtbar, und neue Herausforderungen kündigten sich an, die unsere Gegenwart und vermutlich in noch stärkerem Maße unsere Zukunft bestimmen: das Ende der traditionellen Massenfertigungsindustrien, die ökologischen Krisen, die Ausprägung und Folgen der weltweiten Massenmigration, die neuen weltweiten ideologischen Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges, die zunehmende Bedeutung supranationaler Zusammenschlüsse und die globale Vernetzung wirtschaftlichen Handelns.
Soweit man es von heute erkennen kann, werden die Jahre 2000 oder 2001 keine markanten historischen Zäsuren bilden. Aber es wird doch sichtbar, dass im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts etwas zu Ende ging, was 100 Jahre zuvor begonnen hatte, und etwas Neues einsetzte, das wir bislang weder definieren noch historisieren können.
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in zwei Epochen geteilt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die erste Hälfte war von Kriegen und Katastrophen gekennzeichnet, wie sie die Welt nie zuvor gesehen hatte. In ihrem Mittelpunkt stand Deutschland, mit dessen Namen seither die furchtbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbunden sind. Die zweite Hälfte führte schließlich zu politischer Stabilität, zu Freiheit und Wohlstand, wie sie nach 1945 völlig unerreichbar schienen. Die Beschäftigung mit dem Problem, wie sich erste und zweite Hälfte des Jahrhunderts in Deutschland historisch zueinander verhalten, bildet den einen Argumentationsbogen dieses Buches. Wenn man für diese Epochenteilung ein symbolisches Datum nennen sollte, dann vielleicht den Sommer 1942, als mit dem Beginn der Aktion Reinhard die systematische Ermordung nahezu aller polnischen Juden begann und zugleich die Massendeportationen der Juden aus Westeuropa nach Auschwitz in Gang gesetzt wurden. Wie die Entwicklung in Deutschland von der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte des Landes um die Jahrhundertwende zu diesem Tiefpunkt führen konnte, ist die eine Frage. Wie die Deutschen in den folgenden sechzig Jahren aus dieser Apokalypse herausfanden, die zweite.
Gleichwohl, die Menschen wussten fünfzehn oder zwanzig Jahre zuvor nicht, was im Sommer 1942 geschehen würde, sie konnten es nicht einmal ahnen. Das gilt sogar für die Antisemiten und die zu dieser Zeit noch ziemlich wenigen Nationalsozialisten. Das begrenzt die Frage, «wie es dazu kommen konnte», und verweist auf die Offenheit des Geschehens, auf die Alternativen und die zahlreichen Nebenwege und Seitengassen der Geschichte. Noch im Juni 1914 war der Erste Weltkrieg abwendbar. Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 erzielten die Nationalsozialisten ganze 2,6 Prozent der Stimmen. Noch im Herbst 1939 war das Schicksal der europäischen Juden ungewiss. Wer nur nach der Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart oder der zeitlich je unterschiedlichen Gegenwarten fragt, folgt einer verborgenen Teleologie und blendet jene Entwicklungen aus, die abgebrochen wurden, die scheiterten oder im Sande verliefen.
Eine Zwangsläufigkeit enthält die Entwicklung zwischen der Jahrhundertwende und der Apokalypse des Massenmords nicht, obwohl die Kräfte, die dahin drängten, deutlich auszumachen sind. Aber ebenso wenig war nach 1945 der Wiederaufstieg zunächst des westlichen, dann des ganzen Deutschlands zu Freiheit und Wohlstand zwangsläufig. Dass ein wirtschaftlicher Aufschwung folgen konnte, war angesichts der industriellen Potentiale immerhin nicht ausgeschlossen, obwohl angesichts der Zerstörungen bei Kriegsende nur wenige daran glaubten. Aber dass es noch einmal gelingen konnte, in diesem Volk und seiner Führung den Sinn für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde zu wecken, und diese auch dauerhaft umzusetzen, schien doch nahezu ausgeschlossen. Die langsame Verwandlung von einer nationalsozialistisch geprägten in eine zunehmend westlichliberale Gesellschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik verfolgen können, ist eine der bemerkenswertesten Entwicklungen in diesem Jahrhundert, und zwar umso mehr, je klarer das tatsächliche Ausmaß der Belastung durch die personellen und mentalen Hinterlassenschaften der NS-Diktatur vor Augen tritt.
Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war wiederum geteilt, wenngleich auf andere Weise, mit der Folge, dass die Menschen im östlichen Teil Deutschlands erst am Ende des Jahrhunderts Gelegenheit bekamen, an der Freiheit und dem Wohlstand der Westdeutschen teilzuhaben. Den Menschen im Westen erging es nach 1945 viel besser als jenen im Osten, wenngleich nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch die Launen des Schicksals und der Besatzungsmächte; und bald schien es, als hätten die Deutschen im Osten die Folgen des Krieges alleine zu tragen. Dabei war die Geschichte der DDR nicht weniger, sondern eher noch stärker auf das Jahr 1945 bezogen als jene der Bundesrepublik – als Produkt der Besatzungspolitik der sowjetischen Siegermacht, aber auch als Reaktion der deutschen Kommunisten auf Faschismus und Krieg. Die hier vorliegende Darstellung ist von einer vergleichenden Geschichte der beiden deutschen Staaten weit entfernt. Aber es ist ganz unvermeidlich, dass die Bezüge, Verflechtungen, Antagonismen beider Staaten hier ebenso eine Rolle spielen wie Unterschiede und Ähnlichkeiten.
Dieser erste Argumentationsbogen, dem dieses Buch folgt, besitzt ohne Zweifel eine exklusiv deutsche Signatur. Die deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert unterscheidet sich von der Geschichte aller anderen Länder, und sie geht nicht in der europäischen Geschichte auf. Sie ist gleichwohl auch eine europäische Geschichte, und daher steht der zweite Argumentationsbogen dieses Buches zu dem ersten in Widerspruch, weil er die Zäsur des Jahres 1945 überwölbt.
Er bezieht sich auf die Durchsetzung der Industriegesellschaft in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen dieser fundamentalen Umwälzung auf die Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und namentlich auf die Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert. Anders als in den Jahrzehnten zuvor waren die der Industrialisierung innewohnenden Tendenzen seit der Jahrhundertwende nämlich nicht mehr auf spezifische Gruppen und wenige Regionen begrenzt, sondern verwandelten das Leben nahezu aller Menschen – und zwar innerhalb einer Generationenspanne und so grundlegend wie nie zuvor in der Geschichte.
Intensität und Dynamik dieser Veränderungen stellten die Zeitgenossen vor außerordentliche Herausforderungen. Die in den Folgejahrzehnten festzustellenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bewegungen, die mit großer Radikalität auftraten, sind vor allem als Versuche der Reaktion, der Antwort auf diese Herausforderungen zu verstehen, die zum einen als nie gekannter Fortschritt, zugleich aber als tiefe, existentielle Krise der bürgerlichen Gesellschaft empfunden wurden. Die Suche nach einem Ordnungsmodell von Politik und Gesellschaft, das auf diese rasenden Veränderungen reagierte und sowohl Sicherheit wie Dynamik versprach, Gleichheit wie Wachstum, prägte die folgenden Jahrzehnte.
Dabei verlor das liberalkapitalistische Ordnungsmodell in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, der Inflation und besonders nach der Weltwirtschaftskrise an Legitimität und Überzeugungskraft und sah sich der Konkurrenz der radikalen Alternativen von links und rechts gegenüber, die gegen Pluralität und Diversität das Prinzip der Einheit und der Dichotomien setzten, in den Kategorien der Klasse oder der Rasse. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts kann in weiten Teilen als eine Geschichte dieser Konkurrenz verstanden werden. Dabei verkörperten Nationalsozialismus und Kommunismus keine «antimodernen» Gesellschaftsformationen, sondern andere Entwürfe zur Ordnung der modernen Welt, in der der liberale Dreiklang aus freier Wirtschaft, offener Gesellschaft und wertbezogenem Universalismus auf je spezifische Weise durchbrochen wurde. Beide sind zu verstehen als komprimierte Antworten auf die seit der Jahrhundertwende sich vollziehende Wandlungsdynamik, radikalisiert durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und durch die Auseinandersetzungen mit den je konkurrierenden Ordnungsentwürfen.
Durch den Sieg und die überlegene militärische und wirtschaftliche Kraft des Westens, vor allem der USA, wurden die Prinzipien des liberalen, demokratischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder reaktiviert und entfalteten in Deutschland wie in ganz Europa nach dem Kriege eine Anziehungskraft, wie man sie in den dreißiger Jahren nicht mehr für möglich gehalten hatte. Aber erst als sich in den 1950er Jahren freie Marktwirtschaft und liberales System als stabil und erfolgreich erwiesen, setzte sich die liberale Option tatsächlich durch – als «Soziale Marktwirtschaft» deutlich in Konkurrenz zu der Konzeption des sowjetischen Sozialismus in der DDR und eingebunden in die globale Konfrontation des Kalten Krieges.
Hier bildete sich in Westdeutschland wie in den meisten anderen westeuropäischen Gesellschaften sukzessive ein Modell heraus, das Kapitalismus und Sozialstaat integrierte, liberale Ideen mit immer weiter reichenden Planungskonzepten verband und nationalstaatliche Orientierungen mit der Einbindung in die europäische Integration verband – verstanden als eine Geschichte des Fortschritts, der Eindeutigkeit und der Kohärenz und nach wie vor orientiert auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Ihren Höhepunkt erlebte die klassische Industriegesellschaft in den 1960er Jahren, danach begann sie an Prägekraft zunehmend zu verlieren. Die bis dahin unangefochtene Stellung von Schwerindustrie und industrieller Massenarbeit geriet ins Rutschen, und das Modell des industriellen Fortschritts geriet an seine Grenzen – sowohl im Westen, wo die Bergwerke, Stahlunternehmen und Schiffswerften geschlossen wurden, als auch in der DDR und den anderen Ländern des sowjetischen Imperiums, die in ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung vollständig auf Schwerindustrie und Massenarbeit orientiert waren und mit der Erosion der klassischen Industriegesellschaft zusammenbrachen. Der liberale Kapitalismus des Westens erwies sich als flexibler und passte sich seit den 1970er Jahren den neuen Bedingungen der nach-schwerindustriellen Zeit an. Hier bildeten sich seither in einem schmerzhaften Transformationsprozess die Ansätze zu einer neuen Formation heraus, die durch Dienstleistungen, die Globalisierung der Wirtschaft und die Rückkehr marktradikaler Modelle gekennzeichnet ist – mit weitgehend unbekanntem Ausgang.
Dieser zweite Argumentationsbogen ermöglicht es, die politisch so vielfach zerfurchten Jahre zwischen 1890 und 1990, die wir als «Hochmoderne» bezeichnen, als historische Einheit zu verstehen und die sehr unterschiedlichen Einzelentwicklungen in der Wirtschaft und der Politik, der Gesellschaft und der Kultur auf einander zu beziehen. Dabei werden auch die Verbindungen zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entzifferbar, ohne dass die beiden Weltkriege, die NS-Diktatur, das DDR-Regime oder der Triumph des sozial erneuerten, demokratischen Kapitalismus darin aufgingen.
Schon diese kurze Skizze macht deutlich, dass es sich hierbei um transnationale Prozesse handelt; insofern ist die Konzentration auf die Geschichte Deutschlands durchaus begründungspflichtig. Noch bis vor wenigen Jahren war das anders, weil sich das Interesse der Öffentlichkeit ebenso wie der Zeithistoriker in diesem Land nachgerade selbstverständlich auf die deutsche Zeitgeschichte richtete. Die Abfolge von Kaiserreich, Erstem Weltkrieg, Revolution, Weimarer Demokratie, NS-Diktatur, Zweitem Weltkrieg, Holocaust, schließlich deutscher Teilung und Wiedervereinigung enthielt eine solche Fülle dramatischer Großereignisse mit derart weitreichenden Folgen (und ungeklärten Zusammenhängen), dass mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Regel die deutsche Geschichte gemeint war. Zweifellos ist das europäische Jahrhundert ohne detaillierte Kenntnis der deutschen Geschichte nicht zu verstehen. Und auch wenn man allen historisch-politischen Identitätskonstruktionen mit großem Misstrauen begegnet, noch dazu wenn sie von der Fiktion natürlicher Einheiten ausgehen, bleibt die lebensweltliche und kulturelle Verbindung zu dem Land, in dem man aufgewachsen ist und lebt, und seiner Geschichte bestehen.
Aber die als selbstverständlich eingeforderte Orientierung auf die nationale Geschichte ist ein Anachronismus, auch wenn man die vielfältigen Versuche, der deutschen Geschichte und ihrer Folgen durch die Behauptung europäischer oder universeller Identitäten zu entkommen, als Fluchtversuche erkennen mag. Schon der ständige Bezug auf Kategorien wie Industriegesellschaft, Urbanisierung, Imperialismus, Migration oder Kalter Krieg zeigt, dass die Geschichte dieses Jahrhunderts nicht im Nationalen zu entziffern ist, und das trifft auf Deutschland in zwar spezifischem, aber doch besonders starkem Maße zu.
Das führt zurück zu den beiden die hier vorgelegte Darstellung überspannenden Argumentationsbögen, die auch nahelegen, dass es eine einzige These, auf die sich das deutsche 20. Jahrhundert zusammenfassen ließe, nicht geben kann. Sie würde der Vielfalt, den gegenläufigen Bewegungen, den Unschärfen und vor allem der Kontingenz der hier untersuchten Entwicklungen widersprechen. Aber es gibt einige Leitspuren, die über längere Zeiträume verfolgt werden: Die schon angesprochene Frage nach dem Verhältnis von industrieller Gesellschaft und politischer Ordnung ist eine davon, ebenso die nach dem Aufkommen und Abflauen des deutschen Radikalnationalismus; nach dem Umgang mit der Kultur der Moderne und der Massengesellschaft; nach der Dynamik der Gewalt und des Krieges; nach dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem; nach der Konvergenz entwickelter industrieller Gesellschaften. Dabei wird versucht, die verschiedenen Felder der Untersuchung – klassisch: der Politik, der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Kultur – miteinander zu integrieren und die Zusammenhänge zwischen diesen Feldern aufzuzeigen. Kultur wird dabei in einem weiten Sinn verstanden, als Reflexion und Verarbeitung gesellschaftlicher Prozesse in der Kunst, der Wissenschaft, der öffentlichen Debatte und in den Lebensweisen.
Die widersprüchliche Vielfalt des 20. Jahrhunderts hat sich übrigens auch bei den Versuchen gezeigt, einen griffigen Titel für dieses Buch zu wählen. Diese Versuche sind allesamt gescheitert, weil sie das 20. Jahrhundert über einen Leisten schlagen müssten. Es gab vielleicht eine Ausnahme: Der Verfasser hätte das Buch im Obertitel gern «Die Jahre, die ihr kennt» genannt, in Anlehnung an ein Buch von Peter Rühmkorf von 1972, in dem er seine Erinnerungen an die sechziger Jahre mit Gedichten und Einfällen aller Art kombinierte. Der Titel ist aber geschützt, zumal das Buch im Jahr 2000 neu aufgelegt worden ist, und zweifellos hätte eine solche Titelübernahme ja auch etwas Ungehöriges. Deswegen heißt das Buch jetzt trocken «Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert», und das trifft ja genau, worum es geht. «Die Jahre, die ihr kennt» aber hätte das komplizierte Verhältnis der Deutschen zu ihrem 20. Jahrhundert angesprochen – die Zeitgeschichte, die nie vergeht. Zwar ist der Beginn des Zweiten Weltkriegs in dem Jahr des Erscheinens dieses Buches bereits 75 Jahre her, aber wer in die Zeitungen schaut und in die Fernsehprogramme, der wird keinen Tag erleben, an dem nicht dieser Krieg, die Nachkriegsjahre oder die NS-Herrschaft thematisiert würden. Der Erste Weltkrieg begann vor 100 Jahren, und er füllt im Jubiläumsjahr die Titelseiten der Wochenmagazine und vermutlich mehr als hundert neue Bücher. Und auch die mit der Chiffre «1968» bezeichneten Ereignisse sind weit davon entfernt, als vergangen betrachtet zu werden; noch jede westdeutsche Fehlentwicklung wird zuverlässig mit dem Hinweis darauf erklärt. Selbst wer fast nichts oder jedenfalls wenig Zutreffendes über diese Geschichte weiß, hat doch eine Meinung dazu. Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert hat es daher mit einer sehr speziellen Art von Zeitgenossenschaft zu tun, die beinahe unabhängig ist vom Lebensalter und auf die Bezug genommen werden muss, und sei es in kritischer Absicht. Dabei geht es nicht darum, sensationsverdächtige Neuigkeiten vorzustellen. Der Vorteil des historischen Blicks liegt eher darin, aufgrund der Distanz und der Vielzahl der Perspektiven neue Zusammenhänge aufzuschließen und längerfristige Prozesse und Veränderungen der Lebensbedingungen, der politischen Mentalitäten oder kulturellen Orientierungen zu entdecken, die für die Zeitgenossen in ihrer Bedeutung oft gar nicht erkennbar waren.
Das Buch ist in fünf Teile gegliedert, mit Einschnitten in den Jahren 1918, 1933, 1945, 1973 und 1990. Die äußere Struktur folgt den politischen Daten, der Argumentationsgang in der Regel nicht. Wie in allen Bänden der Reihe sind in diesen Teilen jeweils Querschnittskapitel eingefügt, die einzelne Jahre oder Zeitabschnitte genauer und jenseits der politischen Abläufe in den Blick nehmen, das trifft hier auf die Jahre 1900, 1926, 1942, 1965 und 1989/90 zu.
Da die Arbeit an dem Manuskript, nach mancherlei Unterbrechungen, viel länger gedauert hat als geplant, war der Autor gezwungen, der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung unentwegt nachzulaufen, weil die eigene Darstellung durch neu erschienene Studien korrigiert, erweitert oder anders akzentuiert werden musste. Das Bonmot von Sisyphus, den man sich als einen glücklichen Menschen vorstellen müsse, hat gewiss niemand geprägt, der eine zeitgeschichtliche Gesamtdarstellung geschrieben hat. In manchen Punkten modifizierte dabei die Arbeit an einer späteren Zeitphase auch die Darstellung einer früheren. Nie zuvor wurde dem Autor die Bedeutung der Rede vom Konstruktionscharakter der Geschichte so deutlich wie hier. Und doch wurde er durch die Quellen und die aus ihnen sprechenden Zeitgenossen immer wieder darauf geworfen, dass ihre, diese Geschichte wirklich stattgefunden hat und dass das Ethos des Historikers darin besteht, der daraus entstehenden Verantwortung gerecht zu werden.
Im September 1913, zum 25. Thronjubiläum Kaiser Wilhelms II., legte Karl Helfferich, einer der führenden deutschen Nationalökonomen, Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank und des Zentralausschusses der Reichsbank, eine Bilanz der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands vor. Unter dem Titel «Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913» schilderte er darin den rasanten Aufstieg der deutschen Wirtschaft: das Wachstum der Industrie, die technischen und wissenschaftlichen Neuerungen, die Ausdehnung von Verkehr, Kommunikation und Handel, den Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen und die Verbesserung des Lebensstandards in breiten Bevölkerungsschichten. Helfferich schloss seine nüchterne Darstellung mit einer politischen Einordnung: «In der Ausbildung der wissenschaftlichpraktischen Technik und der alle Kräfte und Mittel wirksam zusammenfassenden wirtschaftlichen Organisation, in der Steigerung der Gütererzeugung und des Verkehrs, in der Erweiterung und Festigung unserer wirtschaftlichen Weltstellung, in der Verbesserung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse und in der Hebung der gesamten Lebenshaltung unserer in gesundem Wachstum fortschreitenden Bevölkerung – in allen diesen Fortschritten hat Deutschland sich auf eine in seiner ganzen Geschichte niemals erreichte Stufe emporgearbeitet und im friedlichen Wettkampf der Nationen den ersten und mächtigsten Mitbewerbern sich gleichwertig erwiesen» – ein Aufstieg, «wie er, zusammengedrängt in eine so kurze Zeitspanne, in der Völkergeschichte kaum seinesgleichen hat». Der Stolz auf diese immense Leistung sei daher ganz legitim, fuhr Helfferich fort, zumal sich die Deutschen zuvor über Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt hätten, «beiseite zu stehen und sich vor der Ueberlegenheit anderer in Demut zu beugen.» Die Auswirkungen dieser Haltung seien noch heute zu spüren, denn die Deutschen zeichneten sich einerseits durch einen Mangel an gesundem Selbstbewusstsein, an innerem Gleichgewicht und an Selbstsicherheit aus, andererseits durch Anflüge von «eitler Selbstüberschätzung und flachem Hochmut». Die ebenso erfolgreiche wie rasante Aufwärtsentwicklung Deutschlands und insbesondere «die großen Verschiebungen im inneren Aufbau unseres Volkskörpers – im Verhältnis von Stadt und Land, in der beruflichen und sozialen Gliederung, in den Vermögensverhältnissen» – hätten zu «Spannungszuständen» geführt, durch welche «die Grundlagen der sittlichen und körperlichen Gesundheit grosser Volksteile» bedroht würden: zu «Klassenkampf und Klassenhass» vor allem, aber auch zu «schlaffem Wohlleben», «Begehrlichkeit und Genusssucht».[1]
Die Gemütslage der deutschen Eliten und erheblicher Teile der deutschen Bevölkerung in den Jahren nach der Jahrhundertwende wird hier treffend abgebildet: auf der einen Seite Stolz auf das Erreichte, der noch wuchs, wenn der grandiose Wirtschaftsaufschwung der vergangenen 25 Jahre mit den Daten der anderen europäischen Länder verglichen wurde, sodass der Aufstieg Deutschlands zu einer der führenden Industrienationen der Welt vor Augen trat. Auf der anderen Seite die Klage über die unerwünschten Begleiterscheinungen der neuen Zeit: soziale Widersprüche, kulturelle Spannungen – und in der Politik wie in der Gesellschaft ein stetes Schwanken zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl.
Die Zeitspanne, auf die Helfferich zurückblickte, erweist sich auch aus heutiger Sicht als Phase eines historisch unvergleichlichen, über mehr als zwanzig Jahre fast ungebremsten Aufschwungs, durch welchen Deutschland innerhalb einer Generation von einem Agrar- zu einem Industriestaat wurde und sich in Struktur und Gestalt veränderte wie nie zuvor in seiner Geschichte.
Dieses enorme wirtschaftliche Wachstum, die Durchsetzung der Industrieproduktion und der Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen waren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gesamteuropäische Phänomene. Dabei wiesen einige kleinere europäische Staaten – Belgien, Dänemark, Schweden und die Schweiz – zwischen 1860 und 1910 beim Bruttosozialprodukt die höchsten Zuwächse auf. Unter den größeren Staaten war, welchen Indikator man auch heranzieht, Deutschland immer unter den Ländern mit den höchsten Wachstumsraten und stieg in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende zu einer der drei weltweit führenden Wirtschaftsnationen neben den USA und Großbritannien auf.
Nun waren diese in der Tat erstaunlichen Leistungszuwächse nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die führenden Industrienationen in den vorangegangenen Jahren die Märkte für ihre Produkte so enorm ausgeweitet hatten. Technische Verbesserungen beim Warentransport über Land und über Wasser, die Beschleunigung der Kommunikation durch Telegraph und Telefon, die Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen den Industrieländern und zu den kolonisierten Regionen der Welt hatten den wirtschaftlichen Austausch internationalisiert – «globalisiert» sagte man seit den 1980er Jahren, als die weltweite Vernetzung eine weitere Stufe der Intensität und Dichte erreichte. Kennzeichnend für die Entwicklung um 1900 war dabei auch das unablässige Vergleichen der wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der «fortgeschrittenen» Länder – Ausdruck jenes «friedlichen Wettkampfes» der Nationen, der auch noch den Nachweis höherer Baumdichte oder größerer Eisenbahnwaggons als Ausweis nationaler Überlegenheit verstand.[2]
In Deutschland war es vor allem die rapide Industrialisierung, die Staunen hervorrief. Zwischen 1870 und 1913 versechsfachte sich die industrielle Produktion. Noch in den 1860er Jahren hatte der deutsche Anteil an der Weltindustrieproduktion nur 4,9 Prozent betragen, der britische hingegen fast 20 Prozent. Im Jahre 1913 lag der Anteil bei 14,8 Prozent – höher als der Großbritanniens (13,6 Prozent), allerdings deutlich niedriger als der Anteil der Vereinigten Staaten (32 Prozent), des anderen großen wirtschaftlichen Aufsteigers dieser Jahre. Auch beim Welthandel gehörte Deutschland um 1910 mit Großbritannien und den USA zu den drei führenden Nationen.[3]
Dieser Wachstumsprozess verlief in Deutschland zeitlich, regional und nach Wirtschaftsbereichen sehr unterschiedlich. Kennzeichnend war aber der kurze Zeitraum, in dem sich diese weitreichenden Veränderungen vollzogen. Das verlieh dem hier geschilderten Prozess jene spektakuläre Dramatik, welche schon die Zeitgenossen beeindruckte und die Entwicklung in Deutschland von den gleichzeitig stattfindenden Prozessen in anderen Ländern unterschied, wo sich der Umschlag von der industriellen Revolution in die Hochindustrialisierung oft über längere Zeiträume erstreckte. Noch 1867 war mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland bzw. dem Deutschen Bund im Agrarbereich tätig gewesen (8,3 Mio., 51,5 Prozent). In der Industrie, im Handwerk und im Handel hatten zu dieser Zeit 4,3 Mio. Menschen (27 Prozent) gearbeitet, konzentriert auf einige Zentren in den Großstädten, in Schlesien und dem Rheinland. Bis 1913 erhöhte sich die Gesamtzahl der Erwerbstätigen erheblich, auch in der Landwirtschaft, wo nun 10,7 Millionen Menschen arbeiteten – sie machten aber nur noch ein gutes Drittel aller Erwerbstätigen aus. Demgegenüber hatte sich die Zahl der Beschäftigten des sekundären Sektors im gleichen Zeitraum fast verdreifacht und lag nun bei 11,7 Millionen, was einem Anteil von 37,8 Prozent entsprach.[4]
Die Entwicklung der Wertschöpfung beschreibt die Veränderung noch sinnfälliger. 1873 hatte sie bei 16,3 Milliarden Mark gelegen, davon war ein Drittel auf Industrie, Handwerk und Bergbau entfallen. Bis zum Jahre 1900 hatte sie sich verdoppelt (33,1 Milliarden Mark), bis 1913 verdreifacht (48,4 Milliarden Mark). Der Anteil von Industrie, Handwerk und Bergbau lag mittlerweile bei 44 Prozent.
Angesichts solcher Zahlen wirkt die Entwicklung im Agrarbereich eher krisenhaft, und vor einem Verfall oder dem gänzlichen Zusammenbruch der Landwirtschaft warnten auch schon zeitgenössische Beobachter – darunter allerdings vorrangig Agrarlobbyisten. Zwei Tendenzen waren hier ausschlaggebend: Zum einen expandierte auch die landwirtschaftliche Produktion, die Wertschöpfung verdoppelte sich zwischen 1875 und 1913, die Zahl der dort Beschäftigten nahm um mehr als ein Viertel zu. Neue Produktionstechniken setzten sich durch, der Einsatz von Kunstdünger etwa oder die Verwendung von Dreschmaschinen; wenngleich die Technisierung der Landwirtschaft in Deutschland deutlich langsamer vor sich ging als etwa in den USA. Produktivität und Hektarerträge steigerten sich, die landwirtschaftliche Produktion wuchs zwischen 1873 und 1912 um 73 Prozent. Und schließlich setzte sich auch in der Landwirtschaft die Orientierung auf den Markt durch, auf den nationalen Markt wie auf den Weltmarkt, was vor allem durch Erschließung der Verkehrswege – Eisenbahnstrecken, Landstraßen, Kanäle – ermöglicht wurde.
Im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft und vor allem im Vergleich zum industriellen Sektor aber sank die Bedeutung des Agrarbereichs, der nun seine einstmals dominierende Stellung in der deutschen Wirtschaft innerhalb kurzer Zeit verlor. Der agrarische Anteil an der Gesamtwertschöpfung sank von 37 Prozent (1875) auf 23 Prozent (1913), der Anteil der Beschäftigten, wie gesehen, von mehr als der Hälfte auf ein Drittel. Allerdings lebten auch nach der Jahrhundertwende noch etwa 18 Millionen Menschen von der Landwirtschaft.[5]
In der Industrie bildeten nach wie vor die Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie, also die Leitsektoren der ersten Industrialisierungsphase, die Grundlage des rapiden industriellen Wachstums. Allein die Steinkohleförderung stieg von 8 Millionen Tonnen im Jahre 1865 auf 114 Millionen Tonnen im Jahre 1913, und die Zahl der Beschäftigten in diesem Sektor von etwa vierzigtausend auf fast eine halbe Million. Die Roheisenproduktion hatte zwischen 1870 und 1874 in Deutschland 1,6 Millionen Tonnen pro Jahr betragen; dreißig Jahre später, zwischen 1900 und 1904, waren es acht Millionen Tonnen und vor Beginn des Krieges 14,8 Millionen Tonnen.[6]
Kennzeichen der Jahrhundertwende waren jedoch bereits die neuen Industrien: der Chemie- und der Elektrobereich, die als Leitsektoren der zweiten Industrialisierungsphase jene außerordentliche Dynamik und Wachstumsintensität bestimmten, die für diese Periode charakteristisch waren. In der Chemiebranche wurde Deutschland schnell zum weltweit führenden Hersteller mit einem Anteil am Weltexport von 28 Prozent, mit 250.000 Beschäftigten (1907) und jährlichen Wachstumsraten von über sechs Prozent. Hier stachen drei Entwicklungen hervor: der Ausbau der Elektrochemie, durch die etwa die Herstellung von Aluminium ermöglicht wurde; die Fabrikation synthetischer Farbstoffe sowie der Aufbau der pharmazeutischen Industrie. Vor allem in den beiden letztgenannten Bereichen waren die deutschen Hersteller, die sich bald zu großen, vertikal integrierten Chemiekonzernen zusammenschlossen, erfolgreich. Zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg betrug der deutsche Anteil am Weltmarkt im Bereich der Farbenproduktion zwischen 80 und 90 Prozent.
In der elektrotechnischen Industrie boten sich durch die Elektrifizierung der öffentlichen und privaten Beleuchtung, durch Elektromotoren und die Durchsetzung der elektrisch betriebenen Straßen- und U-Bahnen außerordentliche Wachstumsfelder. Hier waren mit Siemens und AEG vor allem zwei Großfirmen aktiv, die ihre Hauptwerke in Berlin hatten. Ähnlich wie bei der chemischen Industrie kam dabei der engen Verbindung zwischen Wissenschaft, Technologie und Industrie eine ausschlaggebende Bedeutung zu, sodass neue Erfindungen, etwa im Bereich der Starkstromtechnik, in kurzer Zeit in industrielle Produkte umgesetzt werden konnten. Bereits um 1910 waren alle Großstädte und ein großer Teil der ländlichen Regionen an das Stromnetz angeschlossen. Ein Drittel der elektrotechnischen Weltproduktion entfiel zu dieser Zeit auf die deutschen Firmen. Entsprechend hoch waren die Wachstums raten, die 1890 bei neun Prozent, 1900 bei 16 Prozent lagen.[7]
Neben der explosionsartigen Ausdehnung der Industrie war es vor allem die systematische Verbindung von Wissenschaft und Technik, welche diese Epoche kennzeichnete. Die Ergebnisse dieser Verbindung veränderten das Leben und die Wahrnehmung der Zeitgenossen in vordem nicht für möglich gehaltener Weise. Nie zuvor und nie mehr seither hat sich ein wissenschaftliches Weltbild in so kurzer Zeit so stark und mit solchen Auswirkungen gewandelt wie in den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei standen im Bereich der Chemie die großen Synthesen im Vordergrund – die Indigosynthese (1880), die Synthese des Kautschuks (1909), des Ammoniaks aus Luftstickstoff und Wasserstoff durch Katalysatoren (1908). Auf dieser Grundlage wurden die Kunststoffe entwickelt, die in der Industrie und im Alltagsleben nun ihren Siegeszug antraten. Zugleich gelangen der Durchbruch zur systematischen Pharmazie und damit die Entwicklung der modernen Chemopharmaka. In der Physik waren zunächst die Entfaltung der elektromagnetischen Theorie, die Erschließung der Elektronen, schließlich die Erforschung der Strahlung von großer Bedeutung. Besonders spektakulär war die Entdeckung der X-Strahlen durch Conrad Röntgen, deren Entstehung mit den bisherigen Theorien nicht erklärbar war. Die in diesem Kontext von Max Planck entwickelte Quantentheorie verwies bereits auf die Grenzen der klassischen Mechanik. Hier haben die Fragen nach dem Aufbau und Zerfall des Atoms ihren Ursprung – die Jahrhundertwende war auch die Geburtsstunde der Atomphysik. Im Bereich der Biologie hatten sich schon früh die Theorien Darwins durchgesetzt; naturimmanente und kausale Erklärungsweisen für die Geheimnisse des Lebens verdrängten in ihrem Gefolge Theologie und Metaphysik. Zellforschung und Evolutionstheorie mündeten in die neu entstehende Genetik. Biochemie und Verhaltensforschung kamen auf und revolutionierten die herkömmlichen Vorstellungen vom Leben und vom Menschen.[8]
Als die sensationellsten Veränderungen jedoch wurden im Publikum die neuen Möglichkeiten der Medizin empfunden, die ja auch die unmittelbarsten Auswirkungen auf das Leben der Zeitgenossen besaßen. Grundlage dieser revolutionären Entwicklung war die Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin: Wenn Krankheiten auf physikalische und chemische Veränderungen zurückzuführen waren, dann mussten diese mit adäquaten naturwissenschaftlichen Methoden nachweisbar sein. Davon ausgehend differenzierte sich die Medizin in die einzelnen Sparten, und der hier begonnene Aufbau einer systematischen Medizin zeitigte bald überragende Erfolge. So wurden im Bereich der Physiologie und Zellforschung Hormone, Vitamine und Blutgruppen klassifizierbar. Durch die Entdeckung der Mikroorganismen konnten nun auch die Erreger zahlreicher Krankheiten identifiziert und mithilfe von Antistoffen erfolgreich bekämpft werden. Mit der Entdeckung der Erreger des Milzbrandes, der Tuberkulose und der Cholera setzte seit den siebziger und achtziger Jahren der Siegeszug gegen die großen Volkskrankheiten ein, später folgten diejenigen der Gonorrhöe, Typhus, Diphtherie, Lungenentzündung und Syphilis. Und schließlich wurden mit der Verbesserung der Anästhesie bis dahin undenkbare Operationen möglich; Blinddarm, Niere, Gallenblase waren nun operativ entfernbar.
Auch der enorme Aufschwung der Wissenschaften war ein Phänomen aller Industriestaaten. Die Wissenschaftler in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und den USA waren untereinander eng verbunden, und die für die Zeitgenossen schier unfassbaren Erfolge der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung jener Jahre verdankten sich vor allem dieser internationalen Kooperation. Gleichwohl wurden auch sie nationalistisch interpretiert: als Ausweis der Tüchtigkeit nicht nur der Wissenschaftler, sondern der Nationen, denen sie angehörten. Das galt auch und besonders für Deutschland, und in der Tat verlief diese Entwicklung hier besonders intensiv und geradezu dramatisch. Von den 556 in den Jahren 1860 bis 1910 gezählten bedeutenden wissenschaftlichen Entdeckungen in den medizinischen Fächern wurde nahezu die Hälfte (249) deutschen Wissenschaftlern zugeschrieben. Im Bereich der Physik war der Anteil etwa ebenso hoch, was sich bald auch in der Zahl der Nobelpreise niederschlug – auch diese Ausdruck und Motor des Wettbewerbs der Industrienationen um Prestige, Einfluss und Marktmacht.[9]
Die Gründe für diese erstaunlichen deutschen Erfolge im Bereich der Wissenschaften waren vor allem im Bildungs- und Universitätssystem zu suchen, das bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts systematisch mit dem Ziel ausgebaut worden war, die wirtschaftliche Rückständigkeit der deutschen Länder insbesondere gegenüber Großbritannien auszugleichen. Seit der Reichsgründung und dann noch einmal verstärkt seit der Jahrhundertwende waren diese Anstrengungen weiter intensiviert worden. Zwischen 1873 und 1914 stiegen die Ausgaben aller Bundesstaaten für die Universitäten um fast 500 Prozent. Die Zahl der höheren Schüler verdoppelte sich in dieser Zeitspanne; diejenige der Studenten verfünffachte sich.
Grundprinzip der deutschen Universitäten war der Primat der Forschung. Die Forschungsleistung entschied über die Karrieren der Wissenschaftler, und dabei stand die Grundlagenforschung im Vordergrund. Technische Nutzanwendungen, so stellte sich heraus, waren nicht wirklich planbar, sondern ergaben sich eher als Neben effekte der freien, nicht auf Anwendung bezogenen Forschung. Diese Ausrichtung galt als Fundament der weltweit führenden Position des deutschen Universitätssystems, an dem sich die amerikanischen ebenso wie die russischen Universitätsgründer orientierten. Zu den Universitäten traten seit den 1880er Jahren die Technischen Hochschulen hinzu, an denen die in besonders großer Zahl benötigten technischen Experten ausgebildet wurden, vor allem in Bereichen wie Bergbau, Maschinenbau, Elektrotechnik, Bauingenieurswesen. Dieser Zuwachs an wissenschaftlich ausgebildeten Fachleuten wirkte sich insbesondere in den neuen Leitsektoren Chemie und Elektrotechnik aus und bildete die Basis der stark intensivierten produktorientierten Industrieforschung. Als dritte Säule schließlich wurden in den Jahren um 1900 in enger Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat die ersten Großforschungseinrichtungen gegründet, die dann vor allem als «Kaiser-Wilhelm-Institute» mit gewaltigen Summen zu Spezialeinrichtungen für besonders zukunftsträchtige Forschungsfelder ausgebaut wurden.[10]
Solche wissenschaftlichen Erfolge schlugen sich vor allem in technischen Innovationen nieder, die das Alltagsleben auf tiefgreifende und zum Teil verblüffende Weise veränderten. Das galt besonders für die rasche Verbreitung des elektrischen Lichts, das seit Einführung der Metallfadenlampe aus Wolfram preisgünstig und relativ gefahrlos zu benutzen war. Kaum etwas hat die Wahrnehmung des Lebens in den Städten so sehr verändert wie die helle Beleuchtung von Straßen, Plätzen und Häusern bei Nacht. Damit einher ging die Durchsetzung des Elektromotors als Voraussetzung für die Produktion von elektrischen Haushaltsgeräten ebenso wie für die elektrischen Straßenbahnen, die sich in Deutschland nun rasch auszubreiten begannen. Bereits um 1900 gab es hier etwa 3000 km elektrischer Straßenbahnstrecken – so viel wie in allen anderen europäischen Ländern zusammen, wie sogleich triumphierend berechnet wurde. Mit den ebenfalls in diesen Jahren entwickelten Verbrennungsmotoren begann zudem die Erfolgsgeschichte des Automobils – wenngleich nicht in Deutschland. Zwar waren funktionstüchtige Prototypen zuerst hier entwickelt worden, von Benz, Otto und Daimler, aber es gab in Deutschland gar keinen aufnahmefähigen Markt für diese Erfindung. Bis in die frühen 1950er Jahre blieb Autofahren hier das Privileg der begüterten Oberschichten. In den USA hingegen fuhren im Jahre 1913 bereits mehr als 1,2 Millionen Kraftfahrzeuge, in Großbritannien 250.000 – in Deutschland nur 70.000.
Zum Sinnbild der Jahrhundertwende wurde beim Individualverkehr eher das Fahrrad, das nun einen wahren Boom erlebte, zum Massenverkehrsmittel aufstieg und auch die erste Phase des modernen Massensports bestimmte. Eine ähnlich rasante Karriere erlebte in dieser Zeit die Kommunikations- und Bürotechnik: Schreibmaschine und Telefon wurden nach den privaten Unternehmen nun auch in der staatlichen Bürokratie und im Privathaushalt gebräuchlich. Bereits um 1895 erreichte Deutschland die Zahl von 100.000 Telefonanschlüssen, 1904 waren es mehr als eine halbe Million, der größte Teil davon in Berlin; bis 1915 stieg die Zahl der Anschlüsse auf 220 pro 1000 Einwohner. Und schließlich wurde auch die Unterhaltung revolutioniert: Mit der Verbesserung der Fotografietechnik entstanden erste bewegte Bilder; ihre öffentliche Vorführung wanderte vom Jahrmarkt in feste Häuser, «Lichtspieltheater», und zog bald die Massen in ihren Bann. Im Jahre 1914 gab es bereits etwa 2500 Kinos in Deutschland.[11]
Mit den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Veränderungen gingen rapide gesellschaftliche Wandlungsprozesse einher. Räumliche Mobilität, Wanderungsbewegungen prägten das Bild Deutschlands um die Jahrhundertwende wie nie zuvor. Im Jahre 1907 lebte nur noch etwa die Hälfte der Deutschen in dem Ort, in dem sie geboren waren – alle anderen hatten mindestens einmal den Wohnort gewechselt, die Arbeiterbevölkerung viel häufiger. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war zunächst die gewaltige Bevölkerungszunahme, die bereits seit der Jahrhundertmitte feststellbar war und sich seit den 1870er Jahren beschleunigte. Zwischen 1871 und 1910 wuchs die Zahl der Deutschen um mehr als die Hälfte – um 56 Prozent von 41 auf 64 Millionen. Das lag etwas über dem europäischen Durchschnitt von ca. 45 Prozent. Die Einwohnerzahl Frankreichs hingegen vergrößerte sich in der gleichen Zeit nur um 6 Prozent – was dort als ein Zeichen von Schwäche und Degeneration interpretiert wurde.
Der große Bevölkerungszuwachs hatte seine Ursachen bis in die 1890er Jahre vor allem im Rückgang der Säuglingssterblichkeit, seither aber hauptsächlich im verstärkten Rückgang der allgemeinen Sterblichkeitsraten – Ausdruck verbesserter Lebensbedingungen und ärztlicher Versorgung. In der ersten Industrialisierungsphase seit der Jahrhundertmitte hatte das Wachstum der Bevölkerung zur Verschlechterung der Lebensverhältnisse geführt, weil keine entsprechenden Arbeitsplätze vorhanden waren, insbesondere auf dem Lande. Daraufhin hatten die großen Auswanderungswellen eingesetzt. Noch zwischen 1880 und 1895 verließen fast zwei Millionen Deutsche das Land, die meisten mit dem Ziel Nordamerika. Seither aber war durch die rasante wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ein erheblicher Bedarf an Arbeitskräften entstanden, vor allem in den neu entstehenden Industrieagglomerationen in Berlin, Schlesien und Sachsen und im Ruhrgebiet. Nun wurden die Auswanderungsströme umgelenkt und verstärkten die schon seit den 1870er Jahren manifeste Binnenwanderung. Die verlief in der Regel von Ost nach West, vom Land in die Stadt, aus den agrarischen in die industriellen Regionen – angetrieben von der Not und Unterbeschäftigung auf dem Lande, angelockt von den Arbeitsplätzen in der Industrie mit besseren Löhnen, größerer Arbeitsplatzsicherheit und – häufig als erstes Motiv genannt – der größeren individuellen Freiheit in der Stadt.
Die Mehrheit der Wandernden bestand aus jungen, unverheirateten Männern. Viele von ihnen folgten den Werbekommandos der großen Firmen, der Zechen vor allem, die ihnen in den Industrieregionen Unterkunft und Arbeit versprachen. Dort angekommen wurden die meisten aber nicht sofort sesshaft, sondern wechselten häufig Arbeitsstelle und Aufenthaltsort – rechnerisch zog jeder Deutsche, der in stadtnahen Gebieten lebte, viermal pro Jahr um. Viele wechselten bei schlechter Konjunkturlage auch wieder zurück aufs Land und kehrten abermals in die Stadt zurück, wenn es dort Arbeit gab.[12]
Die enormen Wanderungsbewegungen waren auch der wichtigste Auslösefaktor der Urbanisierung. Das bezog sich zum einen auf den Zuwachs der Stadtbevölkerung, der bereits seit den 1860er Jahren und dann verstärkt seit den 1890er Jahren festzustellen war. Besonders die Bergbau- und Schwerindustriestädte expandierten. Die Einwohnerzahl von Duisburg nahm zwischen 1875 und 1910 von 37.000 auf 229.000 zu, diejenige von Essen von 54.000 auf 294.000; von Leipzig von 127.000 auf 589.000. Am stärksten wuchs – in realen Zahlen – Berlin: von 966.000 auf über zwei Millionen; prozentual die benachbarten und bald eingemeindeten Vorstädte wie Schöneberg oder Charlottenburg, dessen Einwohnerzahl etwa von 25.000 auf 305.000 sprang. 1871 hatte es nur acht Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern gegeben, in ihnen lebten insgesamt knapp zwei Millionen Menschen. 1920 gab es 48 solcher Großstädte mit etwa 13 Millionen Einwohnern, einem Fünftel der Gesamtbevölkerung. Freilich lebte auch im Jahre 1910 noch etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung in Landgemeinden oder Kleinstädten. Ländliches und kleinstädtisches Milieu prägten das Bild des Deutschen Reiches nach wie vor – aber eben nicht mehr vornehmlich, sondern neben den großen Industriestädten.[13]
Mit «Urbanisierung» ist zum anderen aber auch die Durchsetzung jenes neuen großstädtischen Lebensstils gemeint, der sich vom traditionellen Leben in den Kleinstädten und Dörfern radikal unterschied. Die Großstadt wurde zum Signum der Epoche. In den großen Städten bildete sich das soziale Profil der deutschen Gesellschaft neu heraus. Nicht mehr die durch die ständische Tradition legitimierten Gruppen wie der Adel, die Geistlichkeit, der «Bürgerstand» prägten das Gesicht der städtischen Gesellschaft, sondern die durch ihre Stellung in der kapitalistischen Marktgesellschaft definierten Klassen. Nach ihnen bestimmte sich auch weitgehend die soziale Hierarchie, wie sie sich in den Städten um die Jahrhundertwende darbot.
An der Spitze stand die kleine Gruppe des reichen Großbürgertums, zu ihm gehörten nicht mehr als etwa ein- bis zweihunderttausend Personen. Unter dieser schmalen Spitze dann das eigentliche Wirtschaftsbürgertum aus Unternehmern in Industrie, Handel und Handwerk, das etwa drei bis vier Prozent der Bevölkerung ausmachte. Darunter das Bildungsbürgertum, dem um die Jahrhundertwende nur etwa ein Prozent der Bevölkerung angehörte. Es wuchs vor allem durch die Ausweitung akademischer Professionen im Staatsdienst: in der Bürokratie, im Rechts- und Gesundheitswesen und in den Bildungsseinrichtungen. Zugleich nahm die Zahl der Beschäftigten mit akademischer Ausbildung aber auch im industriellen Bereich stark zu, etwa Ingenieure, Chemiker, Architekten. Viel uneinheitlicher war der Mittelstand, das sogenannte «Kleinbürgertum»: Darunter wurde nicht nur der «alte» Mittelstand gezählt – Kleinhändler, Handwerker, mittlere Beamte und Offiziere –, sondern auch das schnell wachsende Heer der Angestellten im Industrie- und Dienstleistungsbereich, der «neue» Mittelstand. Zusammen machten diese als «Bürgertum» verstandenen Gruppen etwa acht bis zehn Prozent der Bevölkerung aus, knapp fünf Millionen Menschen.
Die sozialen Differenzen und symbolischen Distanzen zwischen diesen verschiedenen Gruppen des Bürgertums waren jedoch immens. Zwischen einem der neuen superreichen Großunternehmer wie Krupp, Thyssen oder von Stumm-Halberg und einem Handwerksmeister, einem städtischen Amtsleiter oder einem Gymnasialprofessor lagen Welten – auch im gesellschaftlichen Komment, vom Heiratsverhalten bis zum Umgang in den geselligen Vereinen. Und doch gab es im gemeinsamen Bezug auf bürgerliche Kultur, in der Hochschätzung der neuhumanistischen Bildung und in den Normen bürgerlicher Moral ein alle Gruppen umspannendes und einigendes Band, das es erlaubt, von diesen Gruppen insgesamt als dem Bürgertum zu sprechen.[14]
Auch die zweite marktdefinierte Klasse, die Arbeiterschaft, war eine äußerst heterogene Gruppe. Nimmt man die engere Gruppe der in Gewerbe, Handel und Verkehr unselbstständig beschäftigten Arbeiter, so kommt man 1882 auf 24, 1907 auf etwa 33 Prozent der Bevölkerung. Fasst man auch Landarbeiter, Heimarbeiter, Dienstboten, also die vorindustriellen Unterschichten, darunter, so kommt man für 1907 auf etwa 50 Prozent. Nimmt man hingegen aus der preußischen Einkommensstatistik jene, die unterhalb der Armutsgrenze von 900 Mark Jahreseinkommen lagen, so zählt man fast zwei Drittel der Gesellschaft. Auf diese Größenordnung stößt man auch, wenn man den Anteil der Lohnarbeiter an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen misst, der von 56 Prozent im Jahre 1875 auf 76 Prozent im Jahre 1907 stieg.
Auch wer die engste Definition zur Grundlage nimmt, hat es nicht mit einer sozial homogenen Einheit zu tun, zu sehr unterschieden sich die einzelnen Arbeitergruppen voneinander. Das betraf zum einen die regionale Herkunft – die Alteingesessenen und die Zuwanderer aus dem Osten waren durch sehr verschiedene Vorerfahrungen und Einstellungen geprägt. Zum anderen trennte die soziale Herkunft – die meisten Arbeiter waren Kinder von Angehörigen der Unterschichten. Aber auch immer mehr Kinder von Handwerkern, Bauern oder kleinen Selbstständigen wurden Arbeiter. Die «Proletarisierung» des unteren Mittelstands war ein ebenso verbreitetes wie besorgt diskutiertes Phänomen. Besonders die verschiedenen Ausbildungsgrade erzeugten große Unterschiede zwischen den einzelnen Arbeitergruppen. Zwar war der Begriff des Facharbeiters nicht exakt bestimmbar, aber die sozialen Bedingungen, die ein gelernter Metallarbeiter vorfand, waren doch erheblich besser als die eines angelernten «Hilfsarbeiters», der zudem bei konjunkturellen Krisen als Erster entlassen und beim nächsten Mal erneut nur kurzfristig beschäftigt wurde.
Erheblich waren auch die Unterschiede zwischen Arbeitern in Groß- und in Kleinbetrieben; vor allem aber die zwischen männlichen und weiblichen sowie zwischen jungen und alten Arbeitern. Am besten bezahlt und sozial am besten gestellt waren junge männliche Arbeiter; Altersarmut blieb ein verbreitetes Schicksal in der Arbeiterschaft. 1907 waren zwischen 15 und 20 Prozent der erwerbstätigen Arbeiter weiblich, mit allerdings stark variierenden Anteilen in den verschiedenen Industriezweigen. Die Frauen waren meist ungelernt oder angelernt und verdienten deutlich weniger als Männer in gleicher Stellung.
Aber trotz solcher erheblicher Unterschiede und Differenzierungen überwogen doch die Gemeinsamkeiten: Die Arbeitszeiten waren lang, die Arbeit in der Regel körperlich anstrengend, schmutzig und gefährlich, die Wohnsituation in den engen Quartieren der großen Städte bedrückend. Ein Verlust des Arbeitsplatzes bedeutete die Verarmung der ganzen Familie. Arbeitsunfähigkeit wegen Unfall oder Krankheiten war trotz der schrittweise eingeführten Sozialversicherungssysteme bis ins 20. Jahrhundert hinein in der Arbeiterschaft ein ebenso gefürchtetes wie reales und existenzbedrohendes Risiko.
Auch die Durchsetzung der Lohnarbeit trug zur Vereinheitlichung der Arbeiterschaft bei. Die Teilentlohnung mit Naturalien, die es auf dem Lande noch lange gab, verlor nun rasch an Bedeutung. Über längere Distanzen hin betrachtet begann sich die Situation der Arbeiter bei den Einkommen zu verbessern: Die nominalen durchschnittlichen Jahreslöhne stiegen von 506 Mark (1870) über 711 Mark (1890) auf 1163 Mark (1913) – wenn auch hier wiederum die Unterschiede in den einzelnen Branchen groß waren. Auch die Reallöhne stiegen – zwischen 1871 und 1890 um 50 Prozent, bis 1913 um 90 Prozent. Das waren deutliche Zuwächse, aber sie blieben doch auch ebenso deutlich unter denen der Arbeiter in Frankreich, Großbritannien und den USA.
Insgesamt wurde auf diese Weise die größte Not der Arbeiterbevölkerung gelindert, und vor allem schien die längerfristige Perspektive auf eine noch deutlichere Verbesserung hinzuweisen: 1892 bzw. 1895 hatten in Preußen und Sachsen drei Viertel der besteuerungsfähigen Staatsbürger unterhalb der Grenze von 900 bzw. 950 Mark Jahreseinkommen und also in ärmlichen Verhältnissen gelebt; 1912 nur noch gut die Hälfte.[15] Aber das bedeutete eben auch, dass mindestens jeder Zweite nach wie vor in Armut lebte.
Die Differenz zwischen Arm und Reich in Deutschland vergrößerte sich in den Jahren der Hochindustrialisierung erheblich. 1854 war in Preußen ein Fünftel des Gesamteinkommens auf die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung entfallen; 1873 war es ein Viertel, 1913 ein Drittel. Demgegenüber sank der Einkommensanteil der ärmsten 25 Prozent der Bevölkerung im gleichen Zeitraum von acht auf sieben Prozent. Das waren im internationalen Vergleich zwar durchaus keine außergewöhnlichen Zahlen – in Großbritannien hielten die fünf Prozent Spitzenverdiener fast die Hälfte des Gesamteinkommens. In Deutschland war es aber vor allem die rasche Ausdehnung der Spitzeneinkommen und der Einkommensunterschiede, welche die Aufmerksamkeit auf sich zog.[16] Dass sich die Differenz zwischen Arm und Reich und damit die soziale Spaltung der Gesellschaft unaufhaltsam zu vergrößern schien, war eine der größten Besorgnisse dieser Jahre in Deutschland. In der Kritik an der «sozialen Zerreißung des Volkes» durch den modernen Kapitalismus trafen sich Konservative und Sozialisten, wenngleich mit ganz unterschiedlichen Zielvorstellungen.
Von den sich in den Städten herausbildenden Sozialstrukturen unterschieden sich diejenigen auf dem Lande noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein sehr deutlich. Trotz regionaler Abweichungen herrschte hier nahezu überall eine Dreiteilung zwischen Großgrundbesitzern, Bauern und Landarbeitern vor. Der in den wirtschaftlich rückständigen Gebieten im Nordosten Deutschlands besonders verbreitete große Gutsbesitz war zu einem Teil aus den Rittergütern in adeligem Besitz hervorgegangen. Die damit traditionell verbundenen rechtlichen und sozialen Privilegien waren zwar seit den preußischen Reformen sukzessive abgebaut worden, in manchen Bereichen aber hielten sie sich trotz der Durchsetzung der bürgerlichen Rechtsgleichheit noch bis ins 20. Jahrhundert hinein – im Steuersystem, im Rechtswesen, in der ländlichen Selbstverwaltung sowie im Verhältnis zu den Tagelöhnern, Mägden und Knechten. Die ländlichen Regionen, vor allem östlich der Elbe, blieben eine Domäne gutsherrlicher Macht. Das war nicht gleichbedeutend mit der Macht des Adels: Schon in den 1860er Jahren waren eine Mehrheit, um 1880 gar zwei Drittel der Rittergüter in bürgerlicher Hand.
Die schwierigen Anpassungskrisen der Landwirtschaft, aber auch Misswirtschaft und Luxuskonsum der adeligen Gutsbesitzer hatten seit den 1870er Jahren zu einer Überschuldung vieler Güter und zu ihrem Verkauf geführt, vielfach an reich gewordene Bürgerliche. Um dem wirtschaftlichen Ruin zu entgehen, passten sich viele, auch adelige, Gutsbesitzer nun stärker dem modernen, kapitalistischen Wirtschaftsprinzip an und verwandelten sich in Agrarunternehmer; das war allerdings ein sehr langfristiger Prozess. Zugleich aber wurde der Lebensstil, übrigens auch ein Teil der Privilegien der «Junker», von den neuen bürgerlichen Gutsbesitzern übernommen oder imitiert. Viele versuchten auch, selbst einen Adelstitel zu erhalten – eine in vielen westeuropäischen Staaten zu dieser Zeit zu beobachtende Entwicklung, die vom deutschen Adel mit sich versteifender sozialer Abschließung gegenüber den neureichen Aufsteigern beantwortet wurde. Die Zahl der Neu-Nobilitierungen blieb hier daher vergleichsweise gering.
Obwohl sich das gesamtwirtschaftliche Gewicht der Landwirtschaft verringerte, blieb die soziale Sonderstellung des Adels bestehen. Als Gutsbesitzer blieben Adelige die bestimmenden Figuren auf dem Lande, oftmals in Verbindung mit der an Einfluss stetig gewinnenden regionalen Staatsbürokratie, den Landräten. Vor allem aber waren Adelige in den Spitzen der Ministerialverwaltung weit überrepräsentiert, ebenso wie im diplomatischen Dienst und der Armeeführung, wo die Generalität nahezu ausschließlich aus Adeligen bestand. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts waren Sozialprestige und politischer Einfluss des Adels paradoxerweise höher, als sie es zu Beginn der Industrialisierungsepoche gewesen waren.[17]
Um die Jahrhundertwende zählte man in Deutschland insgesamt etwa 5,5 Millionen ländliche Eigentümer – mit ihren Familien wohl mehr als zehn Millionen Menschen. Weniger als 0,5 Prozent davon galten als Großgrundbesitzer; alle anderen waren Bauern. Allerdings gab es nur etwa 250.000 Großbauern mit zwanzig bis hundert Hektar Land, während die Zahl der Mittelbauern mit Höfen bis zwanzig Hektar auf etwa eine Million geschätzt wurde. Diese beiden Gruppen dominierten die soziale Hierarchie des Dorfes und unterschieden sich stark von den mehr als vier Millionen Klein- und Kleinstbauern («Parzellisten»), die von dem Ertrag ihres Landbesitzes nicht oder nur schlecht leben konnten und deswegen in der Mehrheit nur Nebenerwerbslandwirte waren und als Tagelöhner auf Guts- und Bauernhöfen oder bereits in der nahen Stadt ihr Geld verdienten.[18]
Unter den ländlichen Eigentümern und ihren Familien standen die Landarbeiter. Sie zählten mit ihren Familien etwa sechs Millionen Menschen und lebten durchweg in dürftigen, ja ärmlichen Verhältnissen. Ein Teil von ihnen stand auch bei Beginn des neuen Jahrhunderts noch in Abhängigkeit vom Gutsherren, wenngleich dieser «halbfreie» Status als Insten, Kätner oder Häusler selbst im hinteren Ostelbien immer seltener wurde. Die meisten waren Tagelöhner, mithin formell freie Lohnarbeiter, obwohl sich das Prinzip der marktbezogenen Lohnarbeit hier erst allmählich durchsetzte. Daneben gab es aber auch weiterhin das Gesinde, also Mägde und Knechte, die anders als die Tagelöhner als Dauerarbeitskräfte auf Gütern und Höfen beschäftigt waren. Die zunehmend als bedrückend empfundene Abhängigkeit vom Bauern oder vom Gutsherrn sowie schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen waren es vor allem, welche eine Abwanderung in die Stadt und auf industrielle Arbeitsplätze für das Landproletariat und die Kleinstbauern so verlockend machten.
Stadt und Land begannen sich nun allmählich zu verzahnen – Marktbeziehungen, staatliche Verwaltung, Eisenbahn, Steuern, Militärund Schulpflicht waren hierbei die wichtigsten Faktoren. Dennoch blieb das Dorf bis ins 20. Jahrhundert hinein eine eigene Lebenswelt mit scharfen und schier unübersteigbaren sozialen Hierarchien, geringen Aufstiegschancen, hoher Sozialkontrolle und einer durch traditionelle Normen geprägten Sozialkultur.[19]
Betrachtet man die Sozialstruktur des Wilhelminischen Deutschland insgesamt, so sehen wir eine gespaltene Gesellschaft: auf der einen Seite eine sich rapide ausdehnende kapitalistische Klassengesellschaft – städtisch, industriell, geprägt durch enormes Wachstum und eine hohe Veränderungsintensität in allen Lebensbereichen. Auf der anderen Seite eine Agrargesellschaft, die von der industriegesellschaftlichen Dynamik ebenfalls und in zunehmendem Maße beeinflusst wurde, aber doch noch deutlich durch überkommene ständische Strukturen und durch einen Überhang traditioneller Normen gekennzeichnet blieb, welche auch die Wahrnehmung des Neuen formten. So existierte beides gleichzeitig und überlagerte sich: einerseits schroffe Klassengegensätze und soziale Ungleichheit, wie sie für Industriegesellschaften typisch waren, andererseits ständische Differenzierungen mit ausgeprägten Privilegien für Adel, Militär, Beamte und Landbesitzer.
Das waren, betrachtet man es im europäischen Vergleich, keine deutschen Besonderheiten. Die Gleichzeitigkeit von traditionalen und modernen Formationen ist in dieser langen Übergangsphase von vorwiegend agrarischen zu vorwiegend industriell bestimmten Gesellschaften eher die Normalität als die Ausnahme. Die stilbildende Dominanz adeliger Lebensführung in den bürgerlichen Oberschichten, das Weiterwirken ländlicher Normen und Traditionen, die beharrliche Autonomie ländlicher Lebensweisen finden wir in diesen Jahrzehnten in anderen sich industrialisierenden Ländern Europas ebenso wie im Süden der USA.
Als deutlichste Besonderheit der deutschen Entwicklung gerät daher immer wieder die enorme Geschwindigkeit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende in den Blick. Die Reibungsflächen zwischen traditionalen und modernen Orientierungen waren hier größer, die Konfliktpotentiale vielfältiger, die Veränderungserfahrungen intensiver.[20]
Symbol dieser forcierten Veränderungsdynamik war die moderne Großstadt, und für die moderne Großstadt stand Berlin. «Es ist eine neue Stadt, die neueste, die ich je gesehen habe», schrieb 1892 ein Besucher aus Amerika, Mark Twain. «Chicago nähme sich dagegen ehrwürdig aus, denn es gibt viele altaussehende Bezirke in Chicago, in Berlin jedoch nicht viele. Die Hauptmasse der Stadt macht den Eindruck, als sei sie vorige Woche erbaut worden.»[21] Die Bauwut in Berlin um die Jahrhundertwende beeindruckte die Zeitgenossen sehr – ganze Stadtteile entstanden innerhalb weniger Jahre, das Verkehrsaufkommen vervielfachte sich, atemloses Tempo bestimmte das Leben. Entsprechend verwirrt reagierten die Besucher, noch mehr aber die Neuhinzugezogenen, die vom Lande in die Stadt kamen. «Was machten wir uns einen Begriff von Berlin!», schrieb der Landarbeiter Franz Rehbein über seine erste Reise mit der Bahn aus Pommern in die Reichshauptstadt. «Wahre Wunderdinge hatte man uns drüber erzählt, von seiner Größe, seinen himmelhohen Häusern und der märchenhaften Beleuchtung. Die Zahl der Stationslichter mehrte sich jetzt zusehends. Abwechselnd steckten wir die Köpfe aus den Wagenfenstern und blickten nach vorwärts dem hauptstädtischen Lichtmeer entgegen. Ausrufe des Staunens und der Überraschung: So viel Lichter gab’s wohl in ganz Hinterpommern nicht, als wie uns hier im Fluge entgegenleuchteten.»[22] Ähnlich ging es dem Bäckergesellen Jessaia Gronach, als er im Jahre 1906 aus Galizien zum ersten Mal nach Berlin kam: «Hier kam ich nicht in eine Stadt. Hier kam eine Stadt über mich. Hier fühlte ich mich überfallen, attackiert, nach allen Seiten gerissen von einem neuen Rhythmus, neuen Menschen, einer neuen Sprache, neuen Sitten und Gebräuchen. Ich musste an mich halten, Augen aufreißen, Muskeln anspannen, um nicht überrannt, nicht zermalmt, nicht zerquetscht zu werden.»[23]
Berlin verkörperte in diesen Jahrzehnten wie sonst nur London und New York den Durchbruch der modernen Zeit. Die rastlose Bautätigkeit, das Entstehen neuer, immer größerer und prächtigerer Kaufpaläste, die Verbreitung der modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel versinnbildlichten den durchgreifenden Optimismus im alltäglichen Leben. Die Erforschung der Natur und die Beherrschung der Technik, so glaubte man fest, würden den Fortschritt unbegrenzt machen. Werner von Siemens, einer der berühmtesten Erfinder und Unternehmer seiner Zeit, brachte diese frohe Zukunftsgewissheit auf die Formel, «dass unsere Forschungs- und Erfindungsthätigkeit die Menschen höheren Kulturstufen zuführt, sie veredelt und idealen Bestrebungen zugänglicher macht, dass das hereinbrechende naturwissenschaftliche Zeitalter ihre Lebensnoth, ihr Siechthum mindern, ihren Lebensgenuss erhöhen, sie besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener machen wird».[24