Geschichten ohne festen Wohnsitz - Alberigo Tuccillo - E-Book

Geschichten ohne festen Wohnsitz E-Book

Alberigo Tuccillo

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Beschreibung

Geschichten über das Dazugehören, das Ausgeschlossen-Sein, über Identität, Heimat, Auswandern, Diaspora, Migration, über Heimweh und Fernweh, über das Fremde und Befremdliche in uns und um uns herum.

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Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

mit Ungeduld?

Bertolt Brecht

Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich war gern, wo ich herkomme.

Ich bin gern, wo ich hinfahre.

Ich sehe den Radwechsel

ohne Ungeduld.

Alberigo Tuccillo

Inhaltsverzeichnis

Enge Welt und große, weite Heimat

August

Fionas Spurwechsel

Quinto

Azzurra

Lindas Energie

Spaccanapoli

Der Freund

Versuch und Versuchung

Duftnote

Der Olivenhain

Grazias Köfferchen

Die Nonna

Saras Gesichter

Upside Down

Der Fall

Enge Welt und große, weite Heimat

Die Welt ist für jeden Menschen der Raum, in welchem er sich körperlich oder gedanklich bewegt.

Für Arnold, der sich Noldi nannte, und der von allen andern ebenso genannt worden wäre, hätte er nicht so zurückgezogen gelebt, dass ihn nur selten jemand überhaupt zu nennen brauchte, war der Raum — in dem er sich also körperlich bewegte — mehr oder weniger auf die abzählbaren Hektaren seines Ackers und seiner Weiden beschränkt. Jedenfalls überschritt dieser kaum je die Grenzen des Weilers, in dem er wohnte und dessen Reiz nicht allein in seinem Namen von gotthelfschem Wohlklang liegt: Hürlisegg-Schwendeli im Emmental.

Körperlich, wohlgemerkt, denn gedanklich, das muss gesagt und hervorgehoben werden, hielt sich Nol-di ab und zu auch anderswo auf.

Er besaß nämlich drei Bücher — vier, wenn man’s ganz genau nehmen und das Kirchen-Gesangbuch, das er seit der Konfirmation nicht mehr aufgeschlagen hatte, ebenfalls dazu zählen möchte.

Diese zwar nicht gerade überwältigende, aber doch von einer gewissen geistigen Unvoreingenommenheit zeugende Bibliothek war folgendermaßen zustande gekommen:

Der mit Bestimmtheit kostbarste und größte Band war ein Geschenk der Emmentaler Milchgenossenschaft; er umfasste 156 Seiten, hatte wunderschöne farbige Bilder und trug den eingängigen Titel «Unser Emmental», was selbstredend weit über Hürlisegg-Schwendeli hinausführte.

Das zweite Buch der Sammlung war in gewisser oder ungewisser Weise, sozusagen aus Versehen — Noldi konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie — aus der früheren Schulbibliothek in seinen Besitz geraten, trug den Titel «Ein See für vier Kantone», umfasste 288 Seiten und mehrere Bilder (aber alle bloß schwarz-gelb und gezeichnet; keine Fotografien).

Diesem Buch hatte er, wenn man vom Kirchen-Gesangbuch einmal absieht, am wenigsten Herzenswärme angedeihen lassen, denn es war ihm zu kompliziert, viel zu kompliziert geschrieben. Zudem war der ganze Text übersät mit Namen von österreichischen und deutschen Adeligen — sogar Italiener und Franzosen kamen darin vor! —, von denen Noldi nicht verstand, was sie denn eigentlich mit Küssnacht, Engelberg, Brunnen und Flüelen zu schaffen hatten. So hatte er dieses Buch nur zweimal ganz und einmal halb gelesen und es schließlich etwas enttäuscht beiseitegelegt.

Da war aber noch das dritte Werk, das man, ohne zu zögern, Noldis Lieblingsbuch nennen kann: «Meistererzählungen», 336 Seiten und so klein gedruckt, dass er nicht ohne die Brille seiner seit vielen Jahren verstorbenen Frau darin lesen konnte.

Etwas Besonderes unter den Büchern seiner Sammlung war dieses Bändchen nicht bloß, weil es so entzückend aussah, nicht nur, weil es das einzige war, das er regelrecht und eigenhändig gekauft hatte — nein, das Schatzkästchen, das vierundzwanzig Geschichten aus Deutschland, England, Italien, Frankreich, Spanien und sogar aus Russland enthielt, hatte ihm den größten Teil seiner Welt geschenkt: fast den ganzen Raum, in welchem sich sein Geist ab und zu bewegte, auch wenn sein Körper sich mit dem vergleichsweise engen Raum von Hürlisegg-Schwendeli im Emmental zufrieden gab.

Wie oft er dieses Buch gelesen hatte, wusste er selbst nicht mehr.

Einige Jahre zuvor hatte Noldi eine Zeit lang ernsthaft erwogen, ein weiteres Buch anzuschaffen. Er hatte sich ganz konkret mit dem Gedanken getragen, nach Langnau1 — nicht jenem am Albis, sondern jenem im Emmental! — zu fahren, um sich dort ein bisschen umzusehen, sich darüber etwas zu erkundigen, was denn der einschlägige Markt dem passionierten Leser vielleicht noch anzubieten hatte.

Dann jedoch war er, mitten in seiner Planung und Vorbereitung, allmählich von Zweifeln angeschlichen und schließlich regelrecht heimgesucht worden, weil ihm die Gefahr immer größer oder sogar unausbleiblich schien, dass ihm ein neues Buch weit weniger gefallen würde als die «Meistererzählungen». Und da es ihm unsinnig vorkam, sich einer neuen, ja noch gänzlich unvertrauten Lektüre hinzugeben, solange ihn die alte noch so sehr erfüllte, hatte er das eitle Vorhaben wieder fallen gelassen.

Ein Weiteres hatte noch dazu beigetragen, wenngleich nicht im selben Maße, Noldis Horizont und geistigen Raum, seine Welt also, wesentlich zu vergrößern: Nol-dis Knecht Azel kam nämlich — wenn es Noldi denn auch richtig verstanden hatte — aus einem Kaff, das im albanischen Teil Jugoslawiens lag, dessen Name in Hür-lisegg-Schwendeli unaussprechlich schien und das man wohl auf keiner Karte hätte finden können, die Noldi ohnehin nicht besaß — genauso wie man Hürlisegg-Schwendeli weder aussprechen noch auf einer Karte hätte finden können, da, wo Azel herkam.

Auf welchen seltsamen Wegen der jugoslawische Albaner oder der albanische Jugoslawe zu Noldi in die Schweiz, ins Emmental, nach Hürlisegg-Schwendeli gekommen war, konnte niemand mit Genauigkeit sagen, am allerwenigsten wohl Azel selbst, weil weder in der Genauigkeit noch im Sagen seine Stärke lag. Um allerdings Noldis Fantasie zu beflügeln, genügten schon die wenigen Städtenamen, die er dann und wann aus Azels unverständlicher Rede heraushören konnte oder heraus-zuhören glaubte: Priština, Skopje, Belgrad, Zagreb, Lju-bljana, Triest, Mailand.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, war der leicht verschlossene, maßvoll abweisende und auf den ersten Blick mürrisch wirkende Bauer aus Hürlisegg-Schwen-deli schon längst vom Fernweh ergriffen worden.

Es begab sich aber zu jener Zeit, dass eine Bank in Burgdorf, im unverdächtigen Städtchen am Ausgang des Emmentals, sozusagen an der Schwelle zur Welt, eine nicht geringe Anzahl übertragbarer Generalabonnements2 der Schweizerischen Bundesbahnen anschaffte und diese gegen je Franken zehn jedem beliebigen, vielleicht sogar bloß zukünftigen Kunden für einen Tag zur Verfügung stellte.

Davon berichtete die lokale Zeitung, die Noldi gelegentlich aus der Käserei mitnahm und bisweilen auch las. Selten, wie gesagt, denn in der Regel zog er die «Meistererzählungen» jeder anderen Lektüre vor.

Diesmal aber hatte er in der Zeitung gelesen, war auf die Meldung gestoßen, und was andere einen etwas außergewöhnlichen Werbeeinfall nannten, fasste er auf als eine Art persönlichen Appell!

Was lange in seiner Brust still geschwelt hatte, entfachte sich mit einem Mal und loderte so heftig auf, dass sich Noldi feierlich erhob, mit einer bemerkenswerten Weltgewandtheit, die ihn selbst erstaunte, zum Fenster schritt, seinen Blick zum Emmentaler Himmel richtete und die folgenden denkwürdigen Worte sprach: «Azel, wir gehen auf eine Reise.»

Knecht Azel war nicht in der Lage, obwohl er im Gegensatz zu Noldi schon viel gereist war, dem Wort ‹Reise› auch bloß eine der ungezählten möglichen Bedeutungen abzugewinnen. Aber er hatte in all den Jahren noch nie einen Grund gehabt, an der Richtigkeit der Entscheidungen zu zweifeln, die Noldi, sein Arbeitgeber, Patron und Beschützer, je getroffen hatte. Immer war dieser von sich und von der grundsätzlichen Un-anfechtbarkeit seines Standpunktes vollkommen überzeugt gewesen, hatte sich und den Standpunkt unerschrocken vertreten, sogar vor der Obrigkeit, ja sogar vor der Fremdenpolizei3.

So erklärte sich Azel durch beherztes Nicken einverstanden, ohne zu wissen, womit.

Ungeduld erfasste nun Noldis Brust; untadelig aber war dennoch seine Vorsorge. Mit dem Nachbarn besprach er — es kostete ihn allerdings etwas Mühe, ihn um die Gefälligkeit zu bitten — bis ins kleinste Detail den Tag, an dem sich dieser um seinen Stall kümmern sollte und — darauf musste er sich uneingeschränkt verlassen können! — auch wirklich kümmern würde. Und als es dann so weit war, wurden alle Fenster und Fensterläden verschlossen, der Hauptwasserhahn im Keller zugedreht und die Stecker des Stromkabels und des Antennenanschlusses beim Fernseher mit Umsicht und einer der Sachlage angemessenen Solennität oder mit ‹Solätte› — wie man in Burgdorf sagt — ausgezogen.

Er hatte sich auch die elfte Geschichte aus «Meistererzählungen» — diejenige aus Russland, die mit der schönen und herzensguten Irina — noch einmal vorgenommen, in der vornehmlich vom Reisen die Rede war, und sich von der Inhaberin des Lebensmittelladens den offiziellen Fahrplan der Schweizerischen Bundesbahnen ausgeliehen.

Nichts wurde in Hürlisegg-Schwendeli dem Zufall überlassen.

Der Zufall kam erst dann ins Spiel — was selbst kein Zufall ist —, als das Paar, nicht ohne die Komik zu ahnen, die ihm anhaftete, das allmählich erwachende und dennoch verschlafene Emmentaler Dorf verlassen hatte.

Am verheißungsvollen Morgen des Reisetags trafen die beiden in Burgdorf ein; nicht gerade in aller Herrgotts-frühe, aber doch so früh, dass die besagte Bank, die den Reisewilligen gegen ein zweifellos wohlfeiles Entgelt ein übertragbares Generalabonnement für einen Tag in Aussicht stellen wollte, noch geschlossen war.

«Die Besseren stehen halt später auf», erklärte Noldi seinem Knecht, als er im Restaurant ein Rivella4 bestellt hatte. Azel nickte und trank seinen Kaffee.

Sie saßen da.

Noldi dachte an seinen Stall, an seinen Nachbarn, an die verschlossenen Fenster und Fensterläden, an den zugedrehten Hauptwasserhahn im Keller, an den mit Umsicht feierlich von Stromnetz und Antenne getrennten Fernseher. Dann fiel ihm zu denken und zu sagen nichts mehr ein, und sie warteten darauf, dass die Bank öffnen würde.

Die Abonnements entgegenzunehmen war leichter als befürchtet: Sie mussten bloß ein paar Fragen beantworten, unterschreiben und bezahlen. Dann dankten sie, verabschiedeten sich, dankten, winkten, schritten rückwärts und ohne Hast dem Ausgang zu, dankten nochmals und gingen zum Bahnhof, wo sie in den Zug nach Olten stiegen.

«Olten», erklärte Noldi, «das ist der Knotenpunkt. Von da aus kommst du überall hin».

Und er sagte es noch einmal, als sie es sich im dortigen Bahnhofsbuffet zweiter Klasse bei Rivella und Kaffee wohl ergehen ließen.

Das Bahnhofsbuffet kannte Noldi recht gut, denn früher, wenn er jeweils zum Militärdienst musste — sei dies in der Rekrutenschule, in den Wiederholungskursen oder im Landsturm —, da war er fast immer in Ol-ten umgestiegen — und direkten Anschluss hat man ja nicht immer.

Azel schien auch damit einverstanden zu sein.

Im Zug in Richtung Chiasso hatte Noldi für kurze Zeit — sagen wir: von Luzern bis Biasca — das unscharfe Gefühl, dass das Reisen auf die Dauer etwas eintönig werden könnte.

Dann aber erinnerte er sich an die elfte Geschichte aus «Meistererzählungen» — in der, wie gesagt, vom Reisen die Rede ist —, und er versuchte es Irina, der Protagonistin, gleichzutun, indem er mit derselben Aufmerksamkeit zum Fenster hinausschaute, mit der sie es offenbar auf ihrer Reise und in ihrer Geschichte tut. Und obwohl er längst nicht so viel Bemerkenswertes bemerkte, wie Irina in ihrer Geschichte jeweils bemerkt, wurde das Reisen doch wesentlich angenehmer.

In Chiasso mussten sie aussteigen, denn, wie Noldi seinen Knecht zu belehren nicht versäumte, hier war die Schweiz fertig!

«Dort drüben ist Italien. Das siehst du sofort: andere Lokomotiven und so weiter, alles ziemlich anders.»

Noldi war redselig geworden und fuhr mit nie zuvor gekanntem Schwung fort: «Im Buch zum Beispiel, in dem ich oft lese — das hast du ja sicher auch schon gesehen —, da sind auch Geschichten aus Italien drin, vor allem eine.»

Es war die Geschichte, die ihm am wenigsten gefiel, und wegen dieser Geschichte hatte er, sich in seiner gedanklichen und geistigen Welt bewegend, mit Italien immer etwas Mühe gehabt:

Ein alter reicher Mann hat eine junge hübsche Frau geheiratet, diese hat aber einen jungen, gutaussehenden Geliebten. Der junge Mann weiß nichts Gescheiteres zu tun, als sich eine List nach der andern auszudenken, um den Alten hereinzulegen, um auf dessen Kosten zu leben und um nachts mit dessen schönen jungen Frau zu schlafen.

Warum heiratet denn so ein alter Geizkragen wie der ein solches Frauenzimmer? Ja, warum heiratet er überhaupt? Und sie? So ein niederträchtiges Weibsbild, wie kann sie sich nur mit dem enervierenden und schlaf-mützigen Alten einlassen? Nur wegen des Geldes? Gut, das könnte ein Grund sein. Aber dem dreisten Jungen gehörte trotzdem einfach eins links und rechts um die Ohren! — Und dann die Intrigen, die schamlosen Lügen, der Argwohn, die Eifersucht, die Schadenfreude! Ach, was waren das für Menschen, was war das für ein jämmerlich unglückliches Land!

Nein, die Geschichte wollte ihm einfach nicht so recht gefallen, obwohl er sie gegen seinen eigentlichen Willen immer wieder las und dann gegen seinen eigentlichen Willen lachen musste, wenn der freche Bengel und das durchtriebene Teufelsweib ihren Plan ausheckten, um den alten Knauserfilz übers Ohr zu hauen.

Sie waren aber jetzt in Chiasso, im Tessin — und das hieß, trotz der Sprache, die man rundherum hören musste: in der Schweiz.

Das beruhigte.

Nun aber aufgepasst: Der Teufel will — wer sonst könnte so etwas wollen? —, dass vom Bahnhof von Chias-so eine ziemlich versteckte, aber irgendwie erreichbare Treppe, die sich fast durch nichts von einer ganz gewöhnlichen Treppe unterscheidet, direkt — das heißt: ohne an einer Grenzkontrolle vorbeizuführen! — das Inland, das Land, das Noldi gegebenenfalls mit seinem Sturmgewehr gegen wen auch immer hätte verteidigen müssen und verteidigen wollen, mit dem Ausland verbindet.

Reisenden, die es einigermaßen gewohnt sind, sich auf Bahnhöfen zu bewegen, widerfährt es nie, den eigentlichen Ausgang jenes Bahnhofs zu verfehlen, und Schmuggler, die verdächtig lange auf dem Bahnhofsgelände umherirren, weil sie den versteckten Ausgang suchen, fallen regelmäßig auf und werden unweigerlich geschnappt. Die Befürchtung, dass auf diesem Weg beliebige Waren, Bräuche oder Personen unkontrolliert eindringen beziehungsweise hinaus drängen würden und sich hier beziehungsweise dort einnisten könnten, hätten viele Jahre lang akribisch geführte Statistiken beider Grenzbehörden jederzeit zerstreut, wenn man sie gefragt hätte, aber, wie gesagt, wusste fast niemand, dass es die Treppe überhaupt gab.

Doch Noldi und Azel fanden, was sie nicht gesucht hatten, mit unglaublicher Leichtigkeit und befanden sich, plötzlich und ohne es zu ahnen, in Europa — genauer: in Italien.

Hungrig, wie sie nun verständlicherweise waren, schlug Noldi vor, etwas essen zu gehen, und Azel, der Jahre zuvor in Triest ein paar Monate lang im Keller eines Restaurants Getränkekästen umher geschleppt und aufeinandergestapelt hatte und deshalb ein gutes Dutzend italienisch klingender Wörter kannte, besorgte, als sie in ein Lokal getreten waren, die Bestellung oder versuchte Noldis Wünsche, die er der Spur nach verstand, der Spur nach zu übersetzen.

Wie hätte Noldi merken können, dass er sich nun im Ausland bewegte? Wie hätte er auch bloß auf den Gedanken kommen sollen, dass er keinen Schweizer Boden mehr unter seinen Füßen hatte, wo sich doch alle Unterschiede zwischen In- und Ausland in so perfider Weise versteckt hielten? Lokomotiven zum Beispiel, die am Bahnhof noch den Unterschied zwischen Schweiz und Nichtschweiz so deutlich gemacht hatten, waren hier keine zu sehen, und den hübschen jungen Frauen, die mit den jungen Männern an den Tischen des Lokals saßen, war schließlich ganz und gar nicht anzusehen, dass sie im Begriff waren, ihre geizigen, reichen, alten Ehemänner zu betrügen.

Stutzig wurde Noldi nur einen Augenblick lang, als der bockbeinige Kellner auf keine Weise dazu zu bewegen war, ihm ein Rivella zu bringen, aber jeder Hauch eines Zweifels war zerstreut, als er Azels Penne all’ar-rabbiata und sein halbes Brathühnchen mit Schweizer Franken bezahlt hatte.

Der Moment schien nun gekommen, den von der Lebensmittelhändlerin ausgeliehenen offiziellen Fahrplan der Schweizerischen Bundesbahnen zu konsultieren.

Noldi setzte die Brille seiner verstorbenen Frau auf und begann im Kursbuch zu blättern und zu lesen, und fuhr beharrlich und konzentriert fort mit Lesen und mit Blättern, bis er, so ungefähr auf Seite 483, auf die ersten Wörter stieß, die wirklich Vertrauen einflößten: Hutt-wil, Sumiswald, Ramsei.

Das half ihm aber auch nicht weiter. Das Einzige, was er jetzt wissen musste, war die Abfahrtszeit des nächsten Zuges nach Olten, dem Knotenpunkt, dem Punkt, von wo aus du überall hinkommst, auch nach Burgdorf, letztlich auch nach Hürlisegg-Schwendeli im Emmental.

Das hätte doch — Noldi hatte nicht ganz zu Unrecht darauf vertraut — aus jenem Buch zu erfahren sein müssen, wäre es bloß nicht so kompliziert, so schandbar kompliziert zu lesen gewesen, dass sich im Vergleich dazu das Lesen in «Ein See für vier Kantone» ausnahm wie ein Kinderspiel.

Er dachte kurz und ohne jeden vernünftigen Zusammenhang an den italienischen Herzog, der in einer anderen Geschichte aus «Meistererzählungen» gegen die Österreicher die Kapitulation unterzeichnen muss — dann gab er es auf.

Das Paar — diesmal ohne die Komik zu ahnen, die ihm anhaftete — machte sich auf den Weg zum Bahnhof.

Doch die Treppe, die sich fast durch nichts von einer gewöhnlichen Treppe unterschied, die Treppe, die man offenbar nur findet, wenn man sie nicht sucht, war jetzt, da sie diese suchten, nicht mehr da. Und jeder andere Weg, der von Europa, vom Ausland, von Italien ins Inland, in die Schweiz, nach Olten, nach Burgdorf und letztlich nach Hürlisegg-Schwendeli im Emmental führte, führte an der Grenzkontrolle vorbei.

Es ist nicht schwer zu verstehen, dass sich in Nol-dis Magen ein mulmiges Gefühl breit machte, als er vor der Passkontrolle stand. Nicht etwa, weil weder er noch Azel die nötigen Papiere bei sich hatte. Er wusste ja noch nicht, dass er Papiere nötig haben würde. Das mulmige Gefühl rührte vielmehr daher, dass er sich im Inland wähnte. Er hatte doch nie eine Grenzkontrolle passiert! Er hatte doch ein halbes Brathühnchen und Penne all’arrabbiata mit Schweizergeld bezahlt! Wenn nun also der Bahnhof von Chiasso jenseits der Grenze lag, lag Chiasso — das trotz der Sprache, die man dort sprach, durch und durch schweizerische und durchaus verteidigungswürdige Chiasso — wie aus heiterem Himmel in Europa, genauer: in Italien.

Und wenn einem so etwas nicht in die Knochen fahren darf, dann, bitteschön, weiß man wirklich nicht, was einen zwar etwas kauzigen, aber doch im Grunde einigermaßen normalen Emmentaler aus Hürlisegg-Schwendeli überhaupt noch aufwühlen sollte.