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"Das Glück dieser Erde, liegt auf dem Rücken der Pferde" darin sind sich Penny, Rose, Pölze und Kornelia einig. Die in diesem Sammelband enthaltenen Geschichten "Penny und der Zirkus", "Wer nie den Sand geküsst", "Entscheide dich Rose", "Urlaubsfahrt mit Zwillingen ", "Jona träumt vom Reiten" und "Fohlen bringen Glück" berichten über die Abenteuer der Mädchen, die sie auf dem Reitgestüt erleben, sowie über die erste Liebe und aufrichtige Freundschaften. – Lustig und humorvoll erzählte Pferderomane über das Leben junger Mädchen und deren Liebe zu Pferden. Lesenswert! -
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Seitenzahl: 1044
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Lise Gast
Saga
Geschichten vom Pferdehof
German
© 1995 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509425
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Tante Trullala! Tante Trullala! Musch ist gekommen!“ schrie Penny. Tante Trullala, die in der Küche stand, trocknete sich die Hände an der Schürze ab.
„Das kann doch nicht wahr sein! Die Ferien fangen doch erst übermorgen an!“
„Ja, bei uns, aber bei Musch vielleicht eher!“ Sie raste hinaus, drehte sich aber noch einmal um.
„Und weißt du, mit wem sie kommt? Mit Rupert!“ Ja, ich kam mit Rupert. Rupert, unser großer Freund, hatte mich zu Hause abgeholt.
„Musch fährt doch sicherlich in den Herbstferien nach Hohenstaufen, da kann ich sie hinbringen und dort absetzen“, hatte er gesagt, als er Mutter begrüßte. Und als Mutter einwandte, ich hätte noch zwei Tage Schule, bat er sofort: „Bitte, bitte, die darf sie doch blaumachen! Es wäre zu schön, wenn ich sie hinfahren könnte!“
Wer kann Rupert widerstehen?! Ich glaube, niemand. Selbst Vater wickelte er ein, als wir mit unserer Bitte kamen, mich doch bei meiner Klassenlehrerin zu entschuldigen.
Bei der haben wir Englisch, und weil ich in Englisch so miserabel stand, hatte Mutter vor einem Jahr eine wundervolle Idee: Sie nahm sich ein englisches Au-pair-Mädchen, das heißt eine junge Engländerin, die gern Deutsch lernen wollte. Die sollte ihr im Haushalt und bei den jüngeren von uns Geschwistern helfen. Seit einem Jahr ist sie nun bei uns, und ich darf nur englisch mit ihr reden, und sie mit uns nur deutsch. Anfangs ging das überhaupt nicht, aber wir haben uns daran gewöhnt, und dann haben Helen und ich noch etwas erfunden, damit ich nicht nur Englisch sprechen, sondern auch schreiben lernte: Sie diktierte mir die Briefe an ihre Eltern deutsch, und ich schrieb sie englisch. Für jeden Fehler mußte ich ihr fünf Pfennig von meinem Taschengeld zahlen. Da hab’ ich es gelernt. Und nun bin ich in Englisch wirklich gut, hatte einen Zweier im Zeugnis, der nach oben zeigt – einen Einser hat keine von uns –, und bin natürlich bei unserer Lehrerin dicke da. So sagte sie nur: Ja, ja, ob denn die Halsschmerzen schlimm wären, und Vater sagte, man steckte da ja nicht drin, aber sprechen könnte Ursula fast gar nicht und schlucken auch nur schlecht ...
Es hatte an dem Tag dicke weiße Bohnen gegeben, die rutschen bei mir überhaupt nicht, auch wenn ich putzgesund bin. Also! Ich bekam die zwei Tage frei und durfte mit Rupert nach Hohenstaufen fahren, wo ich jede Ferien bin. Diese Freude!
Rupert ist unser Freund, Pennys und meiner. Er hat uns Reitstunden gegeben und ist mit uns kutschiert, und ein geborgtes Lama, das wir damals hatten, hat ihn einmal furchtbar vollgespuckt; und ein anderes Mal hat er uns gerettet, als wir uns Silvester im Schneesturm verlaufen hatten. Er ist schon alt, bestimmt über zwanzig, aber er kann wunderbar lustig sein und Dummheiten machen und vor allem den Mund halten, wenn was los ist, was die Erwachsenen nicht gerade hören müssen.
Insofern ist er wirklich prima, denn die älteren Leute petzen doch früher oder später – na, er also nicht. Diesmal kam er überraschend zu uns, als er mich abholen wollte, und ich erkannte ihn erst gar nicht, das wird mir Penny niemals glauben. Er trug eine sehr schöne Jeansjacke mit silbernen Nieten und dazu verblichene Hosen, beides wunderbar, aber ...
Ja, er hatte lange Locken. Dunkle Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen und das Gesicht einrahmten, und eine riesengroße schwarze Brille. Wie er so dastand und ich ihm die Etagentür aufmachte, wußte ich wahrhaftig nicht, wer es war.
„Was möchten Sie?“ fragte ich deshalb, und er sagte mit verstellter Stimme: „Sie abholen, gnädiges Fräulein.“
Ich hätte ihm beinahe einen Vogel gezeigt. Aber ich dachte eben, es wäre ein Fremder, und so sagte ich nur: „Verzeihung, ich hole meine Mutter.“
Wir waren gerade beim Essen, und Mutter kam sowieso über den Flur, um was zu holen, Salz oder was weiß ich, und sie fragte genau wie ich, was er wolle. Da nahm er die schwarze Brille ab und rief: „April April!“, obwohl doch Ende September war, aber da erkannten wir ihn im selben Augenblick.
„Rupert, nein, wie schön, kommen Sie herein!“ rief Mutter, und er kam herein und nahm Mutter in den Arm und drückte sie – das hatte er sonst nie getan.
„Nanu?“ staunte die Mutter, aber er sagte: „Bitte, draußen steht es ja“, und wir wußten zunächst beide nicht, was er meinte. Er zeigte es uns.
Die Klingel an unserer Flurtür geht manchmal nicht, und da hatte Til, mein ältester Bruder – er ist aber jünger als ich –, einen Zettel angemacht: „Kräftig drücken!“
„Bitte, das hab’ ich also getan. Und nun kommst du dran, Musch“, sagte Rupert und wollte mich mit seinen langen Armen umschlingen, aber ich riß aus.
„Nein!“ schrie ich und flüchtete in die Ecke des Flures. Rupert tat, als wäre er sehr traurig darüber.
„Liebst du mich nicht mehr? Dabei bin ich doch dein Blutsbruder!“
„Ja, das schon. Aber ...“
„Na, was denn?“ fragte er. Es war nicht sehr hell im Flur, sonst hätte ich an seinen Augen schon gesehen, daß er Spaß machte. „Was stört dich denn?“
„Stören – es ist mir nur so fremd. Damals hattest du noch keine ...“ Ich verstummte. Sicherlich fand er seine Locken sehr schön. Das finden alle, die sich welche wachsen lassen, ob es nun Mode ist oder nicht. Man muß sich ja nicht immer nach der Mode richten ...
„Ach so. Ich verstehe. Du liebst mich nur als kurzgeschorenen Schafbock nach der Schur“, sagte er und stellte sich betrübt. „Da muß ich also unters Messer.“
„Aber ...“, stotterte ich. Ich fand es wirklich scheußlich, aber das konnte ich doch nicht sagen. In diesem Augenblick machte Vater die Wohnzimmertür auf, und die schräge Herbstsonne fiel direkt auf Rupert.
„Für dich tu’ ich alles“, sagte er, griff nach seinem Kopf und nahm – ich dachte, ich seh’ nicht recht – die ganze Lockenpracht herunter wie eine Mütze. Darunter kamen seine richtigen Haare zutage – er hat gar nicht schwarze, sondern rotbraune, eine sehr hübsche Farbe –, und die dunkle Lockenpracht war nur eine Perücke gewesen.
Wir lachten alle, Vater und Mutter und ich und Til und die Zwillinge, die jetzt aus dem Wohnzimmer kamen; und der Kleine, der im hohen Stühlchen am Tisch saß, krähte auch, als ob er es verstünde, vergnügt und übermütig, und haute mit seinem Löffel ins Apfelmus, daß es spritzte. So führte sich Rupert diesmal bei uns ein, und das fand ich wieder herrlich und ganz so, wie er immer ist. Es wurde sofort ein Stuhl für ihn geholt und zwischen unsere an den Tisch geschoben, und Rupert mußte mitessen, was er mit Vergnügen tat.
„Denn ich komme weit, weit her“, sagte er und nannte die nächste Stadt, die ungefähr fünfunddreißig Kilometer von uns entfernt ist, aber er tat, als sei es Südafrika gewesen, „und ich will noch weit, noch weiter sogar, bis Hohenstaufen, und dort eine alte Freundin von mir besuchen, die heißt Penny ...“
Na, da wußte ich, was er vorhatte, und die Eltern merkten es natürlich auch. Aber, wie gesagt, Rupert widersteht niemand, und so durfte ich mit. Und jetzt waren wir in Hohenstaufen angekommen, bei Tante Trullala und Onkel Albrecht, dem Töpfermeister und Ofenbauer, und wundervolle Ferien lagen vor uns beiden, vor Penny, meiner allerallerbesten Freundin, und mir. Auch Bella, meine Hündin, war mitgekommen, das ging im Auto besser als mit der Bahn, und hatte Boss begrüßt, Pennys Hund; sie sind aus demselben Zwinger und kennen sich natürlich, denn Bella verlebt alle Ferien mit mir in Hohenstaufen. Sie sind Eskimohunde, schwarz mit einem weißen Streifen ums Maul, groß und zottig. Tante und Onkel haben noch einen anderen Hund, einen Schäferhund. Der ist schon älter. Und dann haben sie noch Katzen und Schafe und Streifenhörnchen – ach, jedes Jahr noch etwas anderes dazu, sie können nicht genug Tiere halten. Deshalb bin ich eben auch so sehr gern dort, aber auch wegen Penny und natürlich wegen Tante Trullala, die ich sehr liebe. Hohenstaufen ist sozusagen meine zweite Heimat.
Erst einmal ging es, wie immer, wenn ich angekommen war, durch das ganze Haus, um alles zu begrüßen und wiederzusehen. Alle Zimmer, die gemütliche Küche, die Veranda und die Schafe, der Hund, die Streifenhörnchen. Die sind in der Werkstatt. Dort bin ich immer gern gewesen, und hier wartete dieses Jahr eine Überraschung auf mich. Onkels Haus liegt am Hang, es hat also auf der Rückseite ein Stockwerk mehr als oben an der Straße. Und dort ist die Werkstatt. Bisher war sie gleichzeitig eine Art Abstellraum gewesen, wo sich alles sammelte, was man noch braucht, aber im Augenblick wegstellen will: Säge und Hämmer und Bohrmaschine und Töpfe, halb voll mit Farbe, Pinsel, Eimer. „Kruscht“ nennt man das hier im schönen Schwabenland. An der Wand hing der Käfig mit den Streifenhörnchen, wegen denen kam ich hauptsächlich herunter. Und da staunte ich sehr!
Die beiden ineinandergehenden Räume waren wundervoll aufgeräumt, sie sind niedrig und die Fenster überwuchert von wildem Wein, so daß sie bisher immer etwas dunkel wirkten. Jetzt aber war der Wein zurückgeschnitten, die Fenster geputzt, und darin ...
Ja, darin befand sich eine wunderschöne kleine Wohnung. Die Wände nicht mit Tapeten zugeklebt, sondern mit Holz getäfelt; das hatte Penny gemacht, wie sie mir sofort erzählte, es ginge ganz leicht, man stecke ein Holz ins andere und nagele es an die Wand, von unten angefangen bis an die Decke hinauf. Nut und Feder heiße das, und es gäbe es in verschiedenen Holzarten. Dies hier war Fichte, und es hatte eine herrliche Maserung und lauter Aststellen, das sah so richtig natürlich aus. Und eingerichtet waren die Stübchen! Einfach entzückend. In einem standen zwei Betten übereinander, sie gingen gerade hinein, und Penny sagte, wenn man im oberen läge, könnte man sich eben umdrehen, ohne mit der Hüfte oben anzustoßen. Dafür konnte man von unten her mit den Füßen die obere Matratze hochstemmen, um den, der oben liegt, zu ärgern.
Die Betten waren rotkariert überzogen, und an jedem Kopfende war eine Lampe aus Sperrholz befestigt.
„Damit wir vor dem Einschlafen lesen können“, erklärte Penny atemlos, „und hier ...“
Ja hier! Das zweite Zimmer war auch goldig eingerichtet, mit einer zweigeteilten Bank in der einen Ecke unter dem Fenster und einem Tisch davor. Gerade schien die Sonne herein, und auf dem Tisch stand ein wunderschöner Strauß von Georginen, rot und orange. An den Wänden waren Bücherregale.
„Hier können wir wohnen. Das ist unsere Wohnung, deine und meine, weil doch mein Vater auch ein Zimmer braucht, wenn er da ist.“
Pennys Vater, ihre Mutter lebt nicht mehr, ist Künstler, ein Zauberkünstler, und meistens auf Reisen, deshalb hat Tante Trullala ihm ein Zimmer eingeräumt, in dem er wohnen kann, wenn er von seinen Tourneen, wie es heißt, zurückkommt.
„Und wir dürfen immer hier wohnen, wenn du da bist, und wenn du nicht da bist, wohne ich auch hier, und wir räumen alles selber auf, und duschen können wir nebenan in der Waschküche ...“
„Hach! Weißt du noch? Wo Rupert sich abschwemmte, als die Lydia ihn angespuckt hatte?“ Wir lachten. Im selben Moment kam Rupert herein.
„Ich hab’ euch im ganzen Haus gesucht. Tante hat Kaffee gekocht. Hier wohnt ihr jetzt? Nein, ist das wunderbar!“
Er stieß sofort mit dem Schädel an die Lampe, die natürlich sehr tief hängt, weil die Decke so niedrig ist.
„Autsch, na, wachst nur nicht so schnell, sonst müßt ihr in eurer neuen Wohnung auf allen vieren aus und ein gehen!“
Das hätte uns nicht gestört. Wir fanden beide, daß es keine schönere Wohnung geben könnte als unsere. Zu den zwei Zimmerchen kam nämlich noch was dazu: Hinter dem Haus, also mit dem Blick ins Tal hinunter, war ein überdachter Raum, weil das Haus dort etwas eingerückt ist, und da hatte Onkel Albrecht eine Bank hingestellt, aus einem halben Baumstamm geschnitten, und einen Tisch davor mit einer sehr dicken Platte. Dort konnte man auch sitzen und hinübersehen über das Tal, bis zu der Stelle, wo die Straße von Göppingen her aus dem Wald herauskommt. Dort hält Onkel Albrecht immer an, wenn er Besuch vom Bahnhof holt, und winkt zum Haus hinauf, und wer daheim ist, winkt vom Balkon zurück, am liebsten mit einer Tischdecke oder einem großen Bettuch. Das konnte man auch von hier aus.
„Hier hab’ ich Schularbeiten gemacht, den ganzen Sommer durch“, erklärte Penny voller Eifer – sie ist immer voller Eifer und atemlos, ein Mensch mit Tempo, und ich mußte lachen.
„Den ganzen Sommer durch ...“ Der halbe Sommer besteht ja aus Ferien, und da war ich hier, und die Werkstatt war noch der alte Abstellraum von früher.
„Jetzt heißt er Pennyheim, sagt Onkel Albrecht, aber das gefällt mir nicht“, erklärte sie. „Wir müssen uns einen neuen Namen ausdenken, denn dir gehört ja die Wohnung auch. Und die Hunde ...“
„Die Pennymuschbellaboßgesellschaftsiedlung“, schlug Rupert vor, „das ist kurz und genau und spricht sich ...“
„Wunderbar“, sagte Onkel Albrecht, der jetzt hereinkam, um zu sehen, wie es mir gefiele. „Vor allem ist es kurz. Es klingt aber eigentlich mehr wie ein Fluch, finde ich. So wie Himmelkreuzdonnerwetterkannillekasten noch mal, also ...
„Dann kürzen wir es eben ab. Von jedem von euch darf eine Silbe drin vorkommen“, sagte Rupert. Er hatte sich auf die Eckbank gesetzt und rauchte eine Zigarette. „‚Pemubelbo‘, ist das nichts? Sagt es mal nach!“
Und damit hatte er wieder mal ins Schwarze getroffen. Penny hatte sogleich ein Stück Pappe in der Hand und fing an, sie zu bemalen. Oben kam Pemubelbo hin, in großen Blockbuchstaben, und darunter zeichnete sie zwei Mädchen, eins mit schwarzem Strubbelhaar, das war sie selbst, und eines blond, das sollte ich sein. Die beiden Hunde kamen in die Mitte. Es wurde sehr schön, und als wir es später wiedersahen – Penny hatte es über die Tür genagelt –, da war noch eine dritte Person dazugemalt, mit Perücke und schwarzer Brille: Rupert.
„Ich gehöre doch auch dazu“, sagte er, als wir ihn zur Rede stellten, „ich will auch mit drauf sein. Bin ich euer Blutsbruder oder nicht?“
„Dann mußt du auch hier schlafen. Auf der Eckbank“, bestimmte Penny, und er probierte es gleich aus, legte sich mit dem Oberkörper auf die eine Bankhälfte und installierte seine langen Beine auf der anderen. „Es geht wunderbar, ich muß aussehen wie eine geknickte Lilie“, sagte er und kämpfte sich ächzend wieder hoch. „So ein Bett habe ich mir immer schon gewünscht.“
Er blieb noch, hatte es also überhaupt nicht so eilig gehabt herzukommen.
„Aber ich wollte dir doch zwei zusätzliche Ferientage herausschinden“, erklärte er, „und außerdem möchte ich auch mal Hohenstaufen-Ferien machen.“
Tante Trullala und Onkel Albrecht waren gleich einverstanden, sie kennen Rupert ja schon von früher, auch seinen Vater, mit dem meine Mutter einmal zur Kur gewesen war. Rupert hat sie und Tante Trullala damals hergefahren, und daraus entstand eine richtige Freundschaft und unsere Blutsbrüderschaft.
Am nächsten Morgen weckte er uns mit Getöse. Immer denkt er sich was anderes aus, um uns zu wecken. Früher einmal hat er eine Trompete genommen und uns damit in die Ohren geblasen. Diesmal haute er mit dem Spaten an die Tür, daß wir dachten, das Haus fiele ein.
„Wir sollen Kartoffeln rausmachen, los, aufstehen!“ rief er. „Und Tante bäckt Pflaumenkuchen dazu! Raus aus den Federn, ihr faules Volk!“
Die beiden Hunde fingen an zu bellen, es war ohrenzerreißend. Aber wir wurden wenigstens munter.
Erst gab es Kaffee in der gemütlichen Wohnstube oben, wo schon ein bißchen geheizt war; das tat richtig wohl nach der kalten Dusche in der Waschküche. Das Tal lag noch im Dunst der Frühe, der langsam in sich zusammensank und einen blaßblauen Himmel freigab.
„Wenn der Nebel hochgeht, kommt er als Regen wieder herunter, wenn er absinkt, wird es schön“, sagte Rupert und stopfte ein Riesenstück Hefezopf mit Butter und Marmelade beklebt in den Mund. „Ihr müßt tüchtig essen, ein zweites Frühstück gibt es nicht. Höchstens eine Zigarette für den Chef.“
„Bist du etwa der Chef?“ fragte Penny frech.
„Wer denn sonst? Natürlich. Tante hat mir den Kartoffelbuddelorden verliehen.“
Das Feld liegt ein Stück vom Haus entfernt, ich wußte, wo. Man geht den Weg, der vom Ort kommt, weiter, nicht zum Freibad hinunter, sondern auf halber Höhe entlang. Und dann ist es gleich links, nicht sehr groß – wenn wir fleißig waren, konnten wir es an einem Vormittag schaffen. Rupert schob die Karre, auf der die Säcke, der Gribbel und die Hacke lagen, und wir hatten jede einen Henkelkorb am Arm.
„Wir machen Kartoffelfeuer!“ sagte Penny, kaum daß wir losgegangen waren. „Das gehört dazu. Hast du Streichhölzer mit, Rupert?“
„Selbstverständlich!“
Es war noch kalt, der Atem rauchte uns vor den Mündern. Hohenstaufen liegt ja hoch.
„Guckt mal, die Spinnweben in den Ecken von den Koppelzäunen, wie die blitzen“, sagte Rupert, und Penny fragte: „Wieso gibt es die nur im September? Immer nur im September!“
Ja, das konnte Rupert uns auch nicht erklären.
Dann ging die Arbeit los. Rupert hob mit dem Gribbel – das ist ein Zwischending zwischen Spaten und Gabel – jede Kartoffelstaude an, schüttelte sie aus, und wir sammelten die heruntergefallenen Kartoffeln in unsere Körbe. Wenn der Korb voll war, schütteten wir ihn aus in die Säcke, die am Rand des Feldes lagen. Natürlich sammelten wir um die Wette, jede wollte mehr haben als die andere. Es waren schöne, helle, gleichmäßige Kartoffeln, man bekam richtig Appetit darauf.
Als der Tau von der Sonne aufgeleckt und es schon etwas warm war, machten wir das Feuer an. Dürres Kartoffelkraut, darunter Papier, das angezündet wurde, und nun mußte eine von uns immer wieder neues Kraut auflegen, damit es nicht ausging und eine Glut entstand. Wir wechselten uns ab.
Unsere Anoraks hatten wir längst ausgezogen und an den Rand des Feldes geworfen, so konnte man sich besser bewegen. Und die Säcke fingen an zu wachsen, sie richteten sich auf, je öfter man einen Korb hineingeleert hatte. Wir wetteten miteinander, ob wir sie alle voll bekämen. Gegen zehn sagte Rupert: „Wir wollen eine kleine Pause machen“, und setzte sich an den Rand der angrenzenden Wiese, um eine Zigarette zu rauchen. Wir rannten natürlich zum Feuer und guckten nach, ob die Kartoffeln schon gar wären.
Ja, sie waren fertig. Kohlschwarz sahen sie aus, aber man konnte sie auseinanderbrechen, und da kam das helle Fleisch zutage. Nur das Salz hatten wir vergessen, das war schade.
„Einer von uns muß es holen, sonst schmecken die Kartoffeln nur halb so gut“, sagte Rupert, und wir zählten ab, „Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, der bist du!“ Es traf mich. So eine Gemeinheit!
„Ich bin aber gleich wieder da, und da machen wir noch weiter Pause, verstanden? Und daß ihr mir nichts wegfreßt!“ sagte ich. Und dann rannte ich, so schnell ich konnte, den Weg entlang.
Aber schon auf halber Strecke sah ich jemanden mir entgegenkommen – Tante Trullala. Sie trug eine Thermosflasche mit Kaffee und einen Stapel Pflaumenkuchen, und als ich sie erkannte, lachte sie und sagte: „Ihr habt natürlich wieder das Salz vergessen, stimmt’s?“
Da mußte ich lachen. Wir hatten es nämlich schon zurechtgestellt gehabt, und das hatte sie gesehen. Ich nahm ihr die Hälfte ihrer Last ab, und miteinander wanderten wir dem Felde zu. Dort setzte sie sich zu uns, und wir schmausten. Dabei erzählte sie.
Tante Trullala weiß immer etwas Neues: Wo in Hohenstaufen ein Kind geboren ist oder Zwillingskälber oder wo jemand krank ist oder Besuch hat oder verreist. Diesmal wußte sie etwas ganz Tolles.
„Stellt euch vor, ein Zirkus kommt! Ein kleiner Wanderzirkus, der aus einer einzigen Familie besteht. Da ist der Vater ...“
„... der Elefant“, fiel Rupert im gleichen Tonfall ein. Er muß immer solche Späße machen.
„Quatsch, einen Elefanten haben sie natürlich nicht. Aber Pferde – oder doch wenigstens Ponys. Und eine Tochter ist ein Schlangenmensch, und eine tanzt auf dem Seil, und ein Bruder ist der Clown, und sogar die Kleinsten, die noch nicht in die Schule gehen, treten mit auf.“
Wir fragten und fragten, während wir erst Kartoffeln mit Salz aßen, bis die alle waren, und dann Pflaumenkuchen, der noch warm war, direkt aus dem Rohr. Wir betropften uns mit Saft und leckten ihn weg, und der Kaffee aus der Thermosflasche schmeckte süß und gut.
Als Tante Trullala dann ging, machten wir uns erneut an die Arbeit. Dabei sprachen wir natürlich vom Zirkus.
„Das muß doch herrlich sein, so herumzuziehen, überall für ein paar Tage das Zelt aufzustellen und dann wieder weiterzuwandern“, sagte Rupert.
„Und nie in die Schule zu müssen“, sagte ich.
„Die Zirkuskinder müssen aber auch in die Schule“, sagte Rupert. „Dort, wo sie ein paar Tage lang sind, gehen sie in die Klassen, in die sie altersmäßig gerade hineinpassen. Vielleicht kommen welche zu Penny. Da kannst du sie kennenlernen.“
Pennys Ferien hatten nämlich schon eher angefangen als meine, und sie würde die letzte Woche, die ich hier war, wieder zur Schule gehen müssen. Wenn sie da also die Zirkuskinder kennenlernte, war das doch ein Trost, fand ich.
„Du mußt sie dann aber auch mal mitbringen, damit ich sie auch kennenlerne“, sagte ich, und Penny versprach es. Gleich darauf schrie sie laut.
„Was ist denn?“ fragte Rupert, warf den Gribbel weg und sprang mit ein paar langen Sätzen zu ihr.
„Eine Schlange, eine Schlange! Huh, ob das eine giftige ist?“
Ich rannte auch hin. Nein, das war bestimmt keine Kreuzotter. Silberweiß und glatt, ohne einen Zickzackstreifen auf dem Rücken – wahrscheinlich eine Ringelnatter. Rupert nahm sie in die Hand. Sie wand und drehte sich. Wir gruselten uns und quiekten, wenn er uns damit nahe kam.
„Sie tut euch doch nichts! Sie ist harmlos und bestimmt nicht giftig“, sagte er und hielt sie dann so, daß sie nicht wegkonnte, aber daß es ihr auch nicht weh tat, behutsam, aber fest. „Seht doch, wie schön silbern sie glänzt! Wollt ihr sie nicht mal anfassen?“
Wir tupften mit Überwindung dran. Kühl und glatt, merkwürdig fremd. Andere Tiere sind einem gleich viel vertrauter.
„Wahrscheinlich, weil sie Fell haben“, sagte Rupert und ließ die Schlange wieder ins Gras hinunter. Sie ringelte sich und schlängelte sich um die Halme und Grasbuckel und war im Nu verschwunden. Rupert lachte vor sich hin.
„An was dachtest du gerade?“ fragte Penny verschmitzt. „Du hast ein Gesicht gemacht ...“
„An eine schöne Schlangengeschichte, jawohl“, sagte er und lachte nun richtig. „Wenn ihr fleißig seid und nicht aufhört zu sammeln, erzähl’ ich sie euch.“
Wir versprachen das Beste. Das Feld war jetzt soweit abgeerntet, aber wir mußten es noch einmal Schritt für Schritt abgehen. Rupert hatte die Hacke, mit der er von rechts und links noch mal jede Stelle durchhackte, wo eine Staude gestanden hatte, und wir lasen die Kartoffeln auf, die noch zum Vorschein kamen. Das war nicht so mühsam wie das eigentliche Sammeln, wo die Kartoffeln nur so purzelten, aber das Feld mußte ja sauber abgeerntet sein.
Dabei konnte Rupert jedoch schön erzählen.
„Wir waren auf einer Hütte“, sagte er, „im Sommer, nicht zum Schilaufen. Eine ganz lustige Bande, Männlein und Weiblein. Diese Hütte liegt nicht allzu hoch, und wir haben dort oben schon viel gefeiert, gesungen, auch getanzt. Wer hinaufkam, war meistens nett und vergnügt, andere Leute hab’ ich dort eigentlich nicht erlebt. Nur einmal kam eine Dame mit, die war etwas ‚foin‘“, Rupert machte einen ganz kleinen Mund, einen runden, drolligen, als er dieses Wort aussprach, das sah sehr komisch aus, „die fand an allem etwas auszusetzen. Die Tassen waren ihr zu dick, und der Kaffee zu dünn, und frische Brötchen bekam sie nicht zum Frühstück – woher sollte man denn, bitte sehr, auf einer Hütte frische Brötchen nehmen! – Vor allem aber regte sie sich furchtbar über das Klo auf, das diese Hütte hatte.
Wir fanden gerade das sehr schön. Es lag vielleicht fünfzig Schritte hinter der Hütte im Wald ziemlich versteckt in dichtem Gebüsch, und es hatte keine Tür. Ob es nie eine gehabt hatte oder ob sie irgendwann jemand stahl, weiß ich nicht. Jedenfalls gab es eine Vorrichtung, die bewirkte, daß keiner kam, wenn man gerade auf dem Thron hockte, denn das hat niemand gern, auch wenn man im ganzen Leben nicht so ‚foin‘ ist wie diese Dame. Man mußte an einer seitlich angebrachten Schnur ziehen, und da stieg über dem Gebüsch ein Wimpel auf, der bedeutete: besetzt. War man dann fertig und ging, so machte man die Schnur wieder los, und der Wimpel verschwand. Dann konnte der nächste kommen.
Wir hatten das immer sehr lustig gefunden, aber die Dame mokierte sich darüber und fand, es müßte auch im Haus ein Klo geben. Ich studierte um diese Zeit gerade in München, und dort gibt es, gleich hinter dem Deutschen Museum, einen Laden, darin kann man lauter komische und verrückte Dinge kaufen: Tinte, die erst riesengroße Flecke macht, so daß die Hausfrau erschrickt, und dann wieder ganz verschwindet. Nasen und Ohren aus Plastik. Weingläser, in denen eine rote Flüssigkeit ist, aber wenn man trinken will, kommt nichts, weil das Glas doppelt ist, ohne daß man es sieht. Und Zuckerstückchen, aus denen, wenn sie sich im Kaffee auflösen, Maden herauskommen oder Spinnen oder Fliegen, die dann in der Kaffeetasse schwimmen. Na, lauter solches Zeug. Dort hatte ich mir eine Schlangenfamilie aus Gummi gekauft.
Sie sahen natürlich aus wie Kreuzottern, grau, mit Streifen auf dem Rükken, wie Musch sie beschrieben hat. Zwei größere und ein paar kleine. Man konnte sie verbiegen, sie um sich selbst ringeln, und wenn man sie dann hinlegte, bogen sie sich mehr oder weniger langsam zurück, und das sah aus, als wären sie lebendig und bewegten sich. Die hatte ich mit auf der Hütte, und als die Dame wieder über das Klo schimpfte, kam mir eine Idee. Ich verbündete mich mit dem Hüttenwirt, der sofort einverstanden war.
Aus irgendwelchen Beständen brachte er ein Brett zum Vorschein, das so ein großes Loch hatte, wie man es bei Plumpsklos gewöhnt ist. Das montierte er in einer sehr schmalen Kammer an der hinteren Wand so an, daß man glauben konnte, es wäre ein richtiger Klositz. Dann hängten wir noch eine Papierrolle an die Seite, und die Tür bekam von innen einen Riegel, so daß man sie versperren konnte. Jetzt aber kam die Hauptsache: Unter das ausgesägte Loch stellten wir einen runden Korb, in den kam Torfmull. Und dort hinein legte ich meine Schlangen, den runden Deckel drüber.
Nun bewegten die sich ja nur, wenn man sie kurz vorher verdrehte. Ich lauerte also am anderen Morgen, bis die Dame erschien. Der Hüttenwirt trat zu ihr und sagte ihr halblaut und mit geheimnisvoll freundlicher Miene, sie brauchte nun nicht mehr in das Naturklo zu wandern, sondern für sie gäbe es ein besonderes, gerade erst gebaut. Sie dürfte es aber niemandem verraten, alle anderen Gäste müßten weiterhin wandern. Sie war sehr gerührt und bedankte sich, und ich lauerte nun mit meiner Schlangenfamilie. Nach dem Frühstück, ehe der große Wanderaufbruch kam, würde sie höchstwahrscheinlich ihre Pilgerfahrt antreten, so kombinierte ich, rollte meine Schlangen ein und legte sie in den Torfmullkorb, rannte hinaus und harrte der Dinge, die da kommen würden.
Und sie kamen. Das heißt, sie, die Dame, kam. Ich sah sie, hinter einem Schrank hervorlugend, herankommen, die Tür öffnen, den Riegel besichtigen und dann in die Kammer hineingehen. Und dann holte ich schnell meine Freunde, damit sie auch etwas Lustiges erleben konnten.
Es klappte wundervoll.
Kaum waren wir alle im Flur versammelt, da ertönte ein fürchterlicher Schrei, das heißt nicht einer, sondern einer nach dem anderen. Man hörte den hölzernen Deckel poltern, und dann riß jemand an der Tür, als wollte er sie aus dem Rahmen wuchten. Die Dame hatte vergessen, daß sie mit dem stabilen Riegel, über den sie sich erst gefreut hatte, selbst zugesperrt hatte, und riß und riß und schrie dabei ... es war zum Schreien.
‚Was ist denn los? Was ist Ihnen denn passiert?‘ rief schließlich einer von uns. ‚Wieso können Sie denn nicht raus?‘
Doch dann besann sie sich schließlich und machte den Haken auf, und dann rannte und rannte sie, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her.
Später hat sie sich dann dem Hüttenwirt anvertraut, was für eine schaurige Geschichte sie erlebt und in welcher Lebensgefahr sie geschwebt habe, und er hatte die größten Schwierigkeiten, nicht herauszuplatzen. Schlangen, ja, die bevorzugten geschützte Stellen, wo sie mit ihrer Brut hausten, und es wäre schon mehrfach vorgekommen, daß man sie im Heu oder Torfmull fände.
Das WC draußen – er sagte WC auf die ‚foinste‘ Weise – wäre hingegen von Schlangen noch nie als Nest gebraucht worden. Dies sei unter anderm der Grund, daß er dieses Häuschen im Gebüsch gebaut habe.“
„Und die Dame?“ fragte ich.
„Die ist bald abgereist und nie wieder erschienen, sie geht jetzt wohl in teurere Hotels“, sagte Rupert, „da paßt sie auch besser hin. Und ...“
„Hast du die Schlangen noch?“ fragte Penny mit funkelnden Augen. „Da könnten wir doch ...“
„... sie Onkel Albrecht oder Tante Trullala unterjubeln? Du bist ein Gemütsmensch, ein Goldherzchen. Nein, ich habe sie nicht mehr“, sagte Rupert, „ich habe sie dem Hüttenwirt geschenkt, falls er wieder jemanden da hat, der nicht gern ins Gebüsch geht. Aber wenn ich wieder in München bin, bring’ ich euch aus diesem Geschäft was mit. Einverstanden?“
„O ja! Aber noch besser wäre, du nähmst uns mit nach München in das Geschäft, denn sicherlich gibt es dort noch viel mehr Lustiges, was du noch gar nicht gesehen hast, und jeder Mensch hat doch einen anderen Geschmack“, meinte ich.
„Ich mit euch in München, das wäre was“, sagte Rupert, „und dann auf die Wies’n. Die Oktoberwiese, die bekanntlich im September stattfindet. Backhendln essen und Geisterbahn fahren. Und dann gibt es dort einen Turm, da muß man sich oben auf einen Fußabtreter setzen und fährt dann wie in einem hohlen Korkenzieher runter, immer rundum, und schnell! Das macht Spaß! Manche Leute können hinterher überhaupt nicht mehr gehen, sie schwanken und wackeln wie Betrunkene – es gibt übrigens auch richtige Betrunkene dort, die sind weniger schön, aber auch oft sehr komisch –, und Kettenkarussells gibt es und die Raketenreise auf den Mond.“
„Ach was, jetzt haben wir einen Zirkus hier, da brauchen wir gar nicht nach München“, erinnerte sich Penny wieder. „Kommt schnell, wir müssen hin, vielleicht können wir helfen und kriegen dafür Freikarten!“
Wir waren fertig und warfen Gribbel und Hacke und Körbe auf die Karre; die Kartoffeln würde Onkel Albrecht später mit einem Gespann holen. Nur für eine Mahlzeit nahmen wir neue Kartoffeln mit, einen Henkelkorb voll, denn heute sollte es frische Pellkartoffeln mit Butter geben, das allerschönste Essen, das der Herbst einem schenken kann.
Wir zogen los, die Hunde sprangen in langen Sätzen voran. Sie sind immer froh, wenn sie wieder beisammen sind, genau wie Penny und ich. Ich habe zu Hause vier Brüder, Til und die Zwillinge Ralf und Roland und dann noch den Kleinsten, aber so gut wie mit Penny versteh’ ich mich mit keinem. Penny ist meine Beinaheschwester und meine allerbeste Freundin.
„Wir sind fertig – wo ist der Zirkus?“ fragte Penny sofort, als wir heimkamen. Tante Trullala hatte sich bereits erkundigt, denn sie kennt ihre liebe kleine Pflegetochter.
„Er ist da. Aber aufgebaut hat er noch nicht. Er hat noch keine Erlaubnis für einen bestimmten Platz. Der Bürgermeister muß erst mit den Leuten beraten, denn der Platz muß ja eben sein, und hier geht es überall bergauf und bergab ...“
Das war insofern ein Glück, als wir dann zu einem Mittagessen kamen. Penny will immer sofort los, wenn sie etwas vorhat, und allein hätte ich sie nicht laufen lassen, das ganz bestimmt nicht. So aber konnten wir sowieso noch nicht hin, und Tante Trullala war es recht; sie denkt immer, wir werden ganz dünn oder verhungern, wenn wir einmal eine Mahlzeit überspringen.
„Das macht nichts, Tante Trullala“, sagen wir dann immer, aber sie bleibt dabei, Essen und Trinken hielte Leib und Seele zusammen, und weil wir nie anders als im Galopp rannten, ginge sowieso alles wieder runter.
So blieben wir also erst mal zu Tisch da. Die Kartoffeln schmeckten wunderbar, man brauchte sie nicht mal zu schälen, so dünn war die Schale, und Tante hatte sie mit Kümmel und Salz gekocht. Hinterher gab es Apfelmus, das nirgends so gut schmeckt wie hier; sie tut nämlich immer eine Quitte mit hinein. Und dann endlich konnten wir losrennen. Onkel Albrecht hatte beim Bürgermeister angerufen, und der gab Bescheid: „Auf dem Platz vor der Spielburg.“ Hurra, das war nicht weit von hier, wir kannten den Platz – wahrhaftig! Dort haben wir mal was erlebt ...
Als wir hinkamen, standen schon ein paar Wagen da, die so ähnlich aussahen wie Möbelwagen, ein Traktor und ein Wagen, der aussah wie ein Campingbus. Ein paar Kinder aus dem Dorf waren auch schon da, und wir standen und guckten. Wir waren wieder mal gerannt, so schnell wir konnten, und stoppten nun ab.
Zwei Männer bauten das Zelt auf. Sie rammten ringsherum Pfosten ein; dabei konnten wir nicht helfen, so wenigstens dachte ich. Penny war sofort bei dem einen und hielt den Pfosten, während der junge Mann mit dem Vorschlaghammer darauf haute, und so wagte ich es bei dem anderen. Es ging schnell und glatt, natürlich, die Leute haben ja Übung darin.
Als später die Mittelmasten aufgerichtet wurden, halfen auch die Frauen mit, eine ältere und eine jüngere. Wir pirschten uns an den Campingbus heran. Eine Treppe mit drei Stufen war heruntergeklappt, dort hinauf wagten wir uns aber nicht. Wir wollten die Leute um Himmels willen nicht verärgern, aber neugierig waren wir schon.
Die Tür zum Wohnwagen war offen, und man konnte manches erkennen: In einer Ecke einen Tisch und Betten übereinander, alles furchtbar praktisch und auf den kleinsten Raum beschränkt. Ein Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, hantierte an einem puppenkleinen Herd. Sie hieß Laila, wie wir später erfuhren, und war die älteste Tochter. Dann gab es noch eine Zahl jüngerer Geschwister, von denen wir die Namen erst später erfuhren.
Hinter dem Wagen waren die Tiere angebunden. Die interessierten uns natürlich am meisten. Wir hatten unsere Hunde vorsorglich zu Hause gelassen, weil wir dachten, sie gingen vielleicht auf die Zirkustiere los. Das war gut. Es gab einen weißen Spitz, der furchtbar kläffte und an seiner Kette zerrte, und dann gab es Pferde. Das heißt, ein Pferd, einen großen, breiten Schimmel, das andere waren Ponys. Der Schimmel kam uns beinahe so groß vor wie ein Elefant. Wir standen neben ihm und begriffen nicht, wie man da hinaufkommt.
Gerade kam Laila, das größere Mädchen, und hörte, daß wir sagten, dazu brauchte man ja direkt eine Leiter, und sie lachte. Sie ist nicht viel größer als wir, aber daß sie älter ist, das merkt man natürlich. Sie trug an diesem Tag die Haare, die ganz wuschelig sind, hinten zusammengebunden, und rechts und links neben dem Mund hatte sie je eine Falte, wie ich sie bei einer Siebzehnjährigen bis dahin noch nie gesehen hatte. Vielleicht hatte sie gerade eine unglückliche Liebe hinter sich oder andere Sorgen ...
Aber uns sprach sie freundlich an.
„Vielleicht mit einer Leiter raufsteigen? Was meint ihr wohl“, sagte sie und lachte ein bißchen, mit einem halb zusammengekniffenen Auge und einem breiten Mund, „geht ganz leicht ohne.“ Und damit trat sie dicht an den Schimmel heran, hob das rechte Bein und stieß sich mit dem linken, auf dem sie jetzt stand, ab – und wahrhaftig, oben war sie! Es sah kinderleicht aus. Uns blieb der Mund offenstehen.
„Darf ich mal probieren?“ fragte Penny sofort, begierig und mit weit aufgerissenen Augen. Ihr widersteht so leicht keiner, wenn sie um etwas bittet, aber Laila lachte.
„Mal, wenn es keiner sieht. Wenn ich euch jetzt probieren lasse, wollen es alle“, sie wies mit der Schulter nach hinten, wo die Dorfkinder sich heranschoben. Das sahen wir selbstverständlich ein.
Wir guckten uns dann noch die Ponys an. Sie standen nebeneinander angebunden, größere und kleinere, die meisten schwarz, ein paar Schwarzschecken dabei, zwei Fohlen – sehr niedlich! – und ein winziger Schimmel. Noch trugen sie das kurze Sommerfell, waren gut gehalten und auch nicht mager. Neben dem letzten stand ein Zwergesel, der ganz besonders süß war! Und dann kam ein Käfig mit einem Bären. Vor dem standen wir lange.
Wo mochte er herstammen? Aus der Wildnis? Wo gab es noch Bären? Sein Fell sah mottenzerfressen aus und abgeschabt, vor allem am Hals, wo er ein Halsband mit einer Kette trug, und seine Äuglein guckten traurig. Oder bildeten wir uns das ein?
„Was frißt der Bär?“ fragte Penny, die ihn gleich trösten wollte.
„Bären sind Allesfresser“, sagte Laila, „Honigbrot, Reis, Kartoffeln, rohe Eier, auch Fleisch.“
„Wir bringen ihm was!“ versprachen wir wie aus einem Munde, „ihm und den Ponys. Was sollen wir denen bringen? Zucker?“
„Himmel, nein, nur nicht zuviel Zucker! Natürlich mögen sie, wie alle Pferde, Zucker furchtbar gern, aber sie dürfen nicht zuviel davon bekommen. Zucker übersäuert den Magen, so komisch das klingt. Könnt ihr ihnen nicht Mohrrüben bringen? Davon bekommen sie nie zuviel, und sie geben ein schönes glattes Fell.“
„Wir holen welche“, versprach Penny sofort. „Komm, Musch, los! Ich weiß was!“
Ich hätte gern noch mal richtig in den Wohnwagen hineingeguckt, aber Penny riß mich mit sich fort. Und der Zirkus würde ja wohl eine Weile bleiben, da konnte ich mir das noch aufsparen. Wir rannten über die Höhe, die zwischen dem Dorf und der Spielburg liegt, und quer über das Stoppelfeld hinunter. Das kann man im Herbst, sonst muß man auf den Wegen bleiben. Penny erzählte während des Rennens, ich verstand nur die Hälfte.
„Nachbarin ... drei Beete voller Mohrrüben ... vorige Woche gesagt ... wohin damit ... kein Mensch mag mehr Mohrrüben ... Karnickel abgeschafft ...“
Als wir schließlich unten ankamen, fragte ich sie noch mal aus. Und dann gingen wir zu der Nachbarin, der der Manderl, das Pferd, das wir einmal in Pension hatten, ein Mohrrübenbeet abgefressen hatte. Penny läutete, und nach einer Weile erschien die Dame auch, in bunter Wickelschürze wie damals; sie sah auch sonst noch genauso aus.
Penny legte gleich los: daß der Zirkus da wäre und die Ponys so gern Mohrrüben fräßen und ob wir nicht – wir würden die Beete hinterher auch wunderschön fertigmachen, umgraben, damit man sie im nächsten Frühjahr wieder bepflanzen könnte ...
„Aber nicht wieder mit Möhren“, sagte die Nachbarin. Das war uns egal, Hauptsache, wir durften jetzt ernten!
Penny sauste auf unser Grundstück und holte die Karre, die wir zum Kartoffelernten benutzt hatten, und setzte den Gribbel an, und ich sammelte die Möhren, die großen und die kleinen, in den Korb. Das ging viel leichter als bei den Kartoffeln, weil die Möhren ja herausgucken, und wir hatten im Handumdrehen ein Beet leer und eine Karre voll. Mit der zogen wir zum Zirkus.
Dort war das Zelt schon aufgebaut. Groß war es nicht, aber drin gab es einen richtigen Manegenrand, der bei allen Zirkussen dasein muß, und in seine Rundung waren Sägespäne gestreut. Wir suchten Laila, fanden sie aber nicht. Da gingen wir zu den Ponys und fütterten erst mal jedem eine Rübe, die wir vorher sorgfältig an der Hose abgewischt hatten. Irene, der der Manderl gehört, hat uns mal erzählt, daß ein Pferd, das immer unabgeputzte Mohrrüben bekam, dreißig Pfund Sand im Magen hatte. Das werde ich nie vergessen. Deshalb putzten wir die Möhren wirklich sehr schön ab und fanden es eigentlich ungerecht, als plötzlich ein kleines Mädchen geschossen kam, etwas älter als wir, und uns anfauchte: „Was macht ihr mit unsern Ponys?“
Ich wollte alles erklären, aber sie schubste uns weg und schrie dabei richtig giftig, und wir konnten gar nichts sagen, bis, gottlob, Laila zufällig dazukam.
„Aber Marfa, das sind zwei nette Mädchen, die haben uns Mohrrüben gebracht!“
„Sie sollen aber nicht füttern – füttern ist verboten!“ keifte die Jüngere. Penny packte mich am Handgelenk.
„Komm, wir gehen. Bis heute abend“, sie blinzelte Laila zu.
Natürlich würden wir heute abend kommen, das ließen wir uns nicht nehmen. Zur Eröffnungsvorstellung!
Wir hätten doch auch jetzt noch bleiben können, maulte ich und ließ mich widerwillig mitziehen. Aber Penny hatte sich bereits einen Plan ausgedacht.
„Sei ruhig, morgen kommen wir sowieso wieder und übermorgen auch. Aber heute ...“
„Wohin willst du denn?“
„Zur Irene. Zum Manderl. Paß auf!“ Ich schob die Karre, und sie trug den Korb. Dabei entwickelte sie ihren Plan.
„Wir gehen zu Irene und üben dort am Manderl so raufzukommen wie Laila auf den Schimmel“, sagte sie.
„Und wenn wir es auf dem Manderl können, dann versuchen wir es am Schimmel und ...“
Ja, das fand ich gut. Wir stellten unser Zeug im Vorgarten ab und trabten durchs Dorf, dem Hof zu, in dem Irene wohnte. Sie war zu Hause, welches Glück! Wir erzählten ihr sofort vom Zirkus und vom Zirkusschimmel und was wir vorhätten.
Sie lachte.
Irene ist schon erwachsen, aber furchtbar nett. So ähnlich wie Rupert, der kann auch noch soviel Quatsch machen. Ich kann Erwachsene gut leiden, die so sind.
Irene ging in den Schuppen und holte das Halfter für den Manderl. Auch einen Gurt trug sie in der Hand, als sie wieder herauskam. Penny rannte voran an den Koppelzaun. Der Manderl stand unter einem Apfelbaum und sah uns entgegen. Er graste nicht, denn viel war nicht mehr auf der Weide – hier und da ein Hälmchen, es war ja Herbst.
„So komm her, alter Schlawiner“, sagte Irene, „hier wollen zwei was lernen. Wenn jemand was lernen will, soll man ihn nicht daran hindern. Paßt auf!“
Sie hatte ihm das Kopfstück angelegt, Gebiß ins Maul, Zügel über den Hals, und schnallte ihm nun den Gurt um, der oben zwei Griffe hatte. Wir sahen gespannt zu.
„Los! Terrab!“ kommandierte sie, und er setzte sich gehorsam in Trab. Irene lief neben ihm her, sagte: „Galopp!“ und wupp war sie oben.
„Wunderbar!“ rief Penny und stieß die Luft aus. „Das möchte ich auch können! Aber Irene hat halt längere Beine als wir und Laila auch ...“
„Denkste! Daran liegt es nicht“, erklärte Irene, die mit dem Manderl angetrabt gekommen war und absprang, „sondern ...“
Und jetzt bekamen wir richtigen Unterricht.
„Ich lass’ den Manderl im Galopp im Kreis laufen,“ sagte sie „und ihr rennt mit, faßt die Griffe und springt auf, genau wie ich.“
Penny und ich sahen einander an. Im Galopp?
„Könnten wir es nicht erst mal im Stehen versuchen oder im Schritt?“ fragte ich schüchtern. Auch Penny war, so mutig wie sie sonst ist, erst mal für Schritt oder Trab. Irene lachte.
„Versucht es doch!“ sagte sie und stellte sich vor den Manderl, ihn rechts und links am Backenstück haltend. Los, hopp!
Erst versuchte ich es so, wie Laila es gemacht hatte. Rechter Fuß hoch, linker stößt ab – nicht die Hälfte kam ich hinauf. Penny ebenso. Sie ist ja etwas kleiner als ich. Irene lachte und lachte.
„Übrigens, so wie ihr denken die meisten“, gestand sie uns schließlich. „Und so richtig erklären, warum es im Galopp leichter ist als im Trab, kann ich auch nicht. Irgendwie zieht einen das Pferd eben nicht nur vorwärts, sondern auch hinauf. Nun paßt auf, jetzt üben wir. Ich lass’ den Manderl rundum im Kreis laufen, und ihr lauft mit. Erst mal Musch, du bist die Größere. Kommt mal beide mit in den Kreis, ich ruf’ dann: ‚Los, hopp!“‘
Wir gehorchten. Sie ließ den Manderl laufen, erst im Trab, dann sagte sie: „Ga-lopp!“, und ruhig wie ein Schaukelpferd begann er zu galoppieren. Man denkt immer, Galopp müßte ganz schnell gehen, aber das stimmt nicht. Der Manderl schaukelte so gleichmäßig rundum, gar nicht schnell, und als Irene rief: „Los, hopp, Musch!“, rannte ich ihm nach. Das war schon der erste Fehler.
„Halt, Musch. Nicht hinterherrennen! Damit machst du dich schon vorher kaputt. Du mußt an der Longe entlanglaufen.“ Sie deutete auf die Leine, die sie in der Hand hielt. „Damit du vorn am Pferdekopf ankommst. Noch mal hierher. Also ...“
Ich ging zu ihr in den Kreis, sie ließ den Manderl wieder galoppieren, und zu mir sagte sie noch schnell: „Du mußt eine Weile neben ihm her im gleichen Takt laufen, richtig mitgaloppieren ...“
Ich rannte. Langte beim Manderl an, versuchte, meine Beine in den gleichen Takt zu bekommen, Ga-lopp – Ga-lopp – und faßte dann, wie ich es bei Irene beobachtet hatte, den Griff oben am Gurt. „Und – hopp!“ hörte ich Irene rufen, und da sprang ich. Wirklich, es riß mich hoch, zu meinem grenzenlosen Erstaunen saß ich plötzlich tatsächlich auf dem Pferd.
Der Manderl galoppierte weiter, auf, ab, wie ein Schaukelstuhl, also wunderbar.
„Bravo!“ rief Irene und lachte, und Penny hopste und tanzte und schrie: „Jetzt ich! Jetzt ich!“
„Erst muß Musch runter. Achtung, Musch, schlag das rechte Bein vorn über den Pferdehals nach links, so hoch, daß du nicht hängenbleibst, so hoch du kannst, und gestreckt – damit kommst du in den Damensattel ...“
Ich gehorchte platzend vor Eifer, und bums, saß ich auf der Wiese, innerhalb des Kreises, den der Manderl beschrieb. Ich muß ein entsetzlich dummes Gesicht gemacht haben, denn die beiden anderen bogen sich vor Lachen.
„So hoch brauchtest du das Bein ja nun auch nicht zu schmeißen“, sagte Irene und wischte sich die Lachtränen aus den Augen, „nur nicht hängenbleiben am Hals. Viele Leute steigen auch nach dem Reiten so ab, zum Beispiel ich. Man soll es aber eigentlich nicht. Denn irgendwann trägt man doch vielleicht Sporen – bei manchen Pferden ist das nötig und in keinster Weise Tierquälerei, wie viele denken –, und das Pferd hebt gerade den Kopf, und man bleibt hängen. Besten Dank, das kann häßlich enden, das Pferd kann auch scheuen, weil man ihm weh tat, und durchgehen. Aber beim Voltigieren springt man so ab, und beim Voltigieren tut man sich auch überhaupt nicht weh, wenn man runterfällt. Das ist ebenso merkwürdig und nicht zu erklären. Nicht wahr, Musch, du hast dir überhaupt nicht weh getan?“
„Überhaupt nicht“, sagte ich, und nun war Penny dran. Sie rannte an der Longe lang auf den Manderl zu, angelte nach den Griffen, stieß sich ab, fiel wieder zurück, hing an einer Hand, wollte wieder in den gleichen Galopp kommen ...
„Kopf runter, Hinterteil hoch!“ rief Irene. Penny mühte und mühte sich, sie war schon ganz außer Atem und japste, und ihre schwarzen Haare flogen. Immer wieder – immer im Kreis.
„Und hopp! Hoch jetzt!“ feuerte Irene an. Penny versuchte es, schaffte es aber nicht.
„Haaaalt!“ kommandierte Irene, und der Manderl fiel in Schritt.
„Jetzt komm erst mal wieder zum Schnaufen“, sagte sie zu Penny, „es ist im Grunde nur ein Trick. Bei Musch war es Zufall, daß es gleich klappte, beim zweitenmal würde es sicher auch danebengehen. Nun paßt mal gut auf, ich werde es euch vormachen. Musch, du nimmst die Longe und läßt den Manderl laufen, und ich mach’ es euch vor.“
Sie gab mir die Leine in die Hand, die beim Manderl am Kopfstück endete. „So, ganz ruhig halten und mit dem Pferd sprechen. Es kennt die Kommandos genau. Erst: ‚Marsch‘, dann geht er im Schritt los. Und dann: ‚Im Arbeitstempo – terrab‘ – dann trabt er, und schließlich: „‚Ga-lopp marsch!‘“
Ich versuchte, es genau in ihrem Tonfall zu sagen. Der Manderl gehorchte, er ist ja die Gutmütigkeit selber. Und als er dann galoppierte, lief Irene an der Longe entlang zu ihm hin, mit ihm mit, rief uns zu: „Guckt, so! Hintern hoch und Kopf runter!“, und oben war sie. Sie machte dann noch ein paar Übungen auf dem Pferderücken, ritt im Damensattel, indem sie das rechte Bein überschlug und eine Runde so sitzen blieb, hob dann das linke Bein rückwärts über die Kruppe und saß verkehrt herum, holte das zweite Bein nach, so daß sie wieder im Damensattel saß – nur daß ihre Beine jetzt außen im Kreis hingen – und schwang zuletzt das linke Bein wieder nach links. Dann ließ sie sich im Galopp immer weiter nach hinten rutschen und glitt zuletzt über Manderls Schweif auf die Erde, ohne hinzufallen. Wir fanden es großartig.
„So, nun kann er eine Weile ausruhen“, bestimmte Irene, machte dem Manderl das Kopfstück ab und ließ ihn laufen, und wir drei warfen uns auf die Erde in die milde Herbstsonne unter einen Apfelbaum und verschnauften auch. Penny hatte zwar keine Ruhe, sie war nicht hinaufgekommen und bettelte und bat, daß sie es nachher noch mal versuchen dürfte. Irene versprach es ihr. Gleich darauf fiel ein Schatten auf uns, und als wir aufblickten, stand Rupert da.
„Na, hier seid ihr Bande! Ich suche euch wie eine Stecknadel“, sagte er und setzte sich auch. „Ich habe mir schon fast die Augen ausgeweint.“ Dabei strahlte er Irene an, als wäre sie es gewesen, die er suchte, und dabei hatte er sie vorher noch gar nicht gekannt.
„Wir waren erst beim Zirkus, und da kamen wir nicht aufs Pferd, deshalb haben wir hier geübt“, erklärte Penny in rasender Eile. Sie spricht ja immer so, daß man denkt, ihre Worte überkugeln sich. „Aber jetzt muß Rupert es auch versuchen, paßt auf, er schafft es nicht!“
„Ich? Ich schaff’ alles!“ sagte Rupert großspurig und lehnte sich behaglich an den Stamm des Baumes, unter dem wir saßen. „Aber jetzt will ich erst mal der Paris sein, der zwischen drei schönen Frauen wählen darf.“
Ich habe zu Hause ein Buch, das „Die Sagen des klassischen Altertums“ heißt, und da wußte ich gleich, was er meinte. Da streiten sich Hera, Aphrodite und Athene darum, wer die Schönste wäre, und Paris, ein Schafhirt, soll es entscheiden und der Schönsten einen Apfel reichen. Dafür sollte er die schönste Frau der Welt bekommen, das war die schöne Helena, und daraus wurde dann der Trojanische Krieg.
„Ein Schafhirt bin ich heute sowieso, ich hab’ nämlich die Schafe einfangen müssen, die waren wieder mal sonstwo, und wer nicht da war und mir suchen half, das waren Musch und Penny“, sagte er strafend. Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen, aber Penny schrie: „Alles Lüge! Ist nicht wahr! Die Schafe sind heute im Stall, Onkel hat mir extra aufgetragen, daß ich sie heute früh nicht herauslassen sollte. Sie bekommen eine Spritze vom Tierarzt, hat er gesagt, gegen Würmer oder so, aber drin bleiben sollten sie.“
Rupert machte ein dummes Gesicht, und wir anderen lachten schadenfroh. Aber den Paris wollte er trotzdem spielen, er guckte zu dem Apfelbaum hinauf und suchte den schönsten Apfel aus, den er erspähen konnte, und fing an mit Stöckchen und Steinen danach zu werfen. Es ist ziemlich schwer, einen Apfel am Baum zu treffen, und unsere Hunde Bella und Boss, die mit ihm gekommen waren, mißverstanden es, wenn er warf, und dachten, sie sollten die Stöcke oder Steine apportieren. Schließlich gab es Rupert auf und begann, am Baum hochzuklettern. Die unterste Strecke war schwer, nur der dicke, rissige Stamm, aber als er die erste Astgabel erreicht hatte, hatte er gewonnen. Und nun kletterte er immer höher, bis er den schönen Apfel erreicht hatte, um den es ihm ging.
Er pflückte ihn und steckte ihn in die Hosentasche, und dann kletterte er hinunter und sprang zuletzt ab.
„So, jetzt muß ich mir aber ganz genau überlegen, wer ihn kriegt“, sagte er und polierte ihn am Ärmel blank. Dann sah er uns nacheinander an, Irene am längsten. Sie wurde ganz rot.
„Irene ist wunderschön, aber sie hat mich noch nicht auf ihrem Pferd reiten lassen“, sagte er, „und das kann ich ihr nicht verzeihen. Penny ist auch wunderschön, nur kämmt sie sich zu oft. Immer ist sie gestriegelt und geschniegelt ...“ Das Gegenteil war natürlich der Fall. Penny hat die zottligsten Haare, die ich je bei einem Mädchen gesehen habe, und auch als man sie ihr im Krankenhaus mal abschnitt, wuchsen sie wieder zottlig nach. Heute sah sie nach dem Toben mit dem Pferd überhaupt aus wie ein schwarzer Wollknäuel, um den sich zwei junge Katzen gebalgt hatten.
„Und Musch? Musch ist wunderschön, nur leider viel zu dick“, sagte Rupert und machte ein Gesicht, als wäre er sehr traurig. „Ein Fettwanst sozusagen“, und dabei hatte meine Mutter mich diesen letzen Sommer hindurch geradezu gemästet, weil ich kein Gramm zunahm, sondern immer magerer wurde. Sogar mit Lebertran hat sie es versucht, und den kriegt man doch sonst nur im Winter.
„Wem soll ich nun den Apfel geben?“
„Mir!“ riefen wir alle drei. Und streckten die Hände danach aus, und Rupert tat schnell den Apfel hinter den Rücken und trat einen Schritt zurück, damit wir ihn nicht umschubsten. Gleich darauf schrie er laut. Der Manderl war unbemerkt von hinten an ihn herangekommen und hatte ihm den Apfel aus der Hand genommen. Knirsch, knirsch – hörte man, und aus Manderls Maul troff der Saft. Da machte Rupert ein noch dümmeres Gesicht als ich vorhin, nachdem ich vom Pferd gefallen war.
„Nun helft ihr mir noch, die Kühe herauszubringen“, bat Irene, als wir uns einigermaßen wieder beruhigt hatten. „Der Manderl kommt jetzt in den Stall und die Kühe heraus.“
„Machen wir. Stellt euch vor, was mir neulich mit einer Kuh passiert ist“, sagte Rupert. „Es war auf der Fahrt, auf der ich dann Musch abholte. Ich wollte es euch schon lange erzählen, aber bei euch kommt man ja nicht zu Worte. Also ich fuhr, sehnsüchtig nach Musch, nach der mein Herz ja immer schreit, und da stand ein Bäuerlein an der Straße mit einer Kuh am Strick, und der Mann winkte mir, ich sollte anhalten. Na ja, früher hab’ ich auch gewinkt und mich mitnehmen lassen, als ich noch keinen Wagen hatte, und da wäre ich mir schäbig vorgekommen, vorbeizufahren. Aber mit einer Kuh ...
‚Darf ich mitfahren?‘ fragte der Bauer höflich.
‚Gern. Aber was wird aus Ihrer Kuh?‘
‚Die binden wir hinten an. Die kann gut laufen‘, sagte er.
Ich konnte nur den Kopf schütteln. Der Bauer aber war schon hinten am Wagen, band den Strick, der der Kuh um den Hals ging, an die Stoßstange und stieg ein.
‚Kann losgehen‘, sagte er.
Na schön, wenn er meinte? Ich fuhr an, langsam, vorsichtig im ersten Gang. ‚Schneller!‘ sagte mein Mitfahrer und entzündete gemächlich sein Pfeifchen, das zum Himmel stank. Ich nahm den zweiten Gang, fuhr so ungefähr zwanzig. ‚Können Sie nicht schneller? So ungefähr zwanzig‘, fragte der Mann neben mir.
‚Natürlich kann ich‘, sagte ich, schaltete und gab Gas. Der Bauer rauchte, die Kuh rannte. Mir war nicht wohl dabei.
‚Ich hab’ es eilig‘, sagte mein Mitfahrer schließlich. Ich ging auf sechzig. Im Rückspiegel sah ich die Kuh.
‚Hören Sie mal, jetzt quellen ihr schon die Augen aus dem Kopf‘, sagte ich, entschlossen anzuhalten. Ich bin ja nun wirklich kein Tierquäler.
‚Lassen Sie nur. Die setzt nur zum Überholen an‘, sagte das Bäuerlein neben mir gemütlich.“
„Rupert, das ist nicht wahr! Das ist gelogen!“ schrien wir alle drei und fielen über ihn her.
Er rollte sich davon durchs Gras, hielt die Arme vors Gesicht und wimmerte um Gnade.
„Nein, nein, es ist nicht wahr. Es war ...“
„Na?“ fragten wir gespannt, im Prügeln innehaltend.
„Es war ein Ochse ...“
„So. Zur Strafe bist du in einen Kuhfladen gerollt“, sagte Penny befriedigt, „du siehst von hinten aus, als hättest du dich im Spinat gewälzt. Das ist die Strafe Gottes.“
Wir fingen den Manderl ein und holten dann die Rinder. Dabei erzählte Irene: „Vielleicht glaubt ihr mir jetzt auch nicht, aber was ich erzähle, ist wahr. Jedenfalls hab’ ich es in einer Illustrierten gelesen und Fotos davon gesehen. Da haben zwei Bauernmädel, Schwestern, eine siebzehn, die andere zehn, sich zwei Jungrinder zum Reiten dressiert. Wirklich und wahrhaftig, irgendwo in Bayern. Haben sie aufgezäumt, ohne Gebiß allerdings, aber mit Zügel und Nasenriemen, Sättel zurechtgemacht – auf einer Kuh kann man ohne Sattel nicht gut sitzen, auf Eseln ja, das wundert mich immer wieder, denn Esel haben ganz ähnliche Rücken wie Kühe – und sind in den dortigen Reitverein gegangen. Sind mitgeritten, in der Halle, auf dem Platz, nur nicht im Turnier. Sogar gesprungen sind sie, bis zu einem Meter. Ist das nicht toll?“
Wenn Rupert das erzählt hätte, hätten wir es sicherlich nicht geglaubt. Irene aber glaubten wir, so unwahrscheinlich es klang.
„Ich such’ euch die Bilder und den Artikel heraus, ich hab’ mir beides aufgehoben“, versprach sie, als wir uns von ihr verabschiedeten.
„Dürfen wir morgen wieder kommen?“ bettelten wir noch. Irene nickte und winkte uns nach. Wir mußten uns sputen, denn es war ratsam, zum Abendbrot pünktlich zu sein, sonst durften wir womöglich abends nicht in den Zirkus. Und das wollten wir doch auf jeden Fall.
Immer habe ich Herzklopfen, wenn ich auf einen Zirkus zugehe oder auf einen Rummel oder ins Theater, wenn der Gong schlägt und der Vorhang sich bewegt. Immer macht es „Bumm-bumm“ da drin, ein gleichzeitig beklemmendes und herrliches Gefühl. Und immer möchte ich die Zeit anhalten, damit es recht lange dauert, bis es vorbei ist. So auch diesmal.
Das Zelt war erleuchtet, dadurch sah es größer aus, und die Musik spielte schon. So ein kleiner Zirkus hat natürlich kein Orchester, aber einen Plattenspieler hatten sie, und der feuerte herrliche Märsche in die Gegend, die wir schon hörten, als wir auf der Höhe angekommen waren. Auch andere aus dem Dorf kamen, nicht viele, aber immerhin eine ganze Menge mit größeren Kindern. Die Kleinen würden wahrscheinlich in die Nachmittagsvorstellung gehen.
Rupert nahm gute Plätze, ziemlich vorn, dritte Reihe. Ich hatte bis dahin im Zirkus immer sehr weit hinten gesessen, so fünfzehnte Reihe oder noch weiter oben, aber so viele Reihen gab es hier gar nicht. Wir setzten uns und warteten, und dann kam die erste Nummer, der Clown.
Die Clowns kommen sonst immer später, wenn umgeräumt wird, aber hier kam er gleich, mit weißbemaltem Gesicht und einem Riesenmund und Hosen, die immerzu runterrutschten. Wir mußten von Anfang an lachen. Auf dem Kopf trug er ein winziges Hütchen. Er stolperte auf dem Manegenrand entlang und fragte immerzu: „Wo is’n hier der Eingang?“
Seine Hände steckten in riesengroßen weißen Handschuhen, und wenn er sie bewegte, sah das sehr komisch aus. Gleich darauf aber vergaßen wir, ihn anzusehen, denn die Musik wurde rasant, und vier Kinder kamen auf vier Ponys hereingeprescht, alle gleich angezogen. Sie trugen gegürtete Kittel und Pelzmützen und Kosakenstiefel, und sie sausten in der Runde herum, daß man die Beine der Pferdchen gar nicht sehen konnte. Erst saßen sie richtig auf den Rücken ihrer kleinen Pferde, dann zogen sie die Füße herauf und standen auf und hielten sich an einer ganz dünnen Leine, die vorn am Sattel festgemacht war. Aber es ist bestimmt trotzdem schwer, bei diesem Tempo zu stehen. Sie hoben gar einen Arm ganz hoch in die Höhe, alles im Galopp. Der kleinste Reiter – ob Mädchen oder Junge, konnte man nicht erkennen – war sicherlich erst fünf. Dann legten sie sich quer über die Pferderücken und ließen den Oberkörper ganz weit herunterhängen, während sie ein Bein hochspreizten. Mit dem andern hingen sie an einer Schlinge. Diese Haltung heißt Kosakenhang. Wir saßen mit offenen Mündern da und dachten an den Manderl ...
Als die kleinen Kosaken hinausgesaust waren, kam der Zirkusdirektor herein und führte den Bären mit sich. Der Direktor trug einen Frack und einen Zylinder. Der Bär watschelte hinter ihm her.
„Mein Bär versteht jedes Wort“, erklärte er, „passen Sie auf, meine hochverehrten Herrschaften. Also Mischka, sag, wo sind wir hier? In – Hoooooooo-“, er zog das Wort in die Länge, und der Bär richtete sich auf die Hinterbeine auf und hob die vorderen, so hoch es ging –„ -henstaufen“, vollendete sein Herr, und Rupert klatschte wie verrückt, wir Mädchen mit. Da begannen auch die anderen Zuschauer zu klatschen.
„Wir müssen klatschen, das gehört dazu“, sagte Rupert halblaut zu uns, „die armen Kerle arbeiten für den Beifall. Das, was sie an Eintrittskarten verdienen, reicht wahrscheinlich knapp für das Essen und für die Ernährung der Tiere. Was haben sie sonst vom Leben.“
Ich dachte, sie haben allerhand davon. Sie können jeden Tag reiten, sie haben süße Ponys und den großen Schimmel und den Bären und ...
„Jetzt werden Sie staunen, wie geschickt mein Bär ist“, fuhr der Direktor fort. „Komm, Mischka, jetzt wird geradelt.“