Gesellschaft begreifen -  - E-Book

Gesellschaft begreifen E-Book

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Beschreibung

Wissenschaft und Gesellschaft scheinen manchmal meilenweit voneinander entfernt. Doch gibt es einen Ort, an dem sie zusammentreffen: die Soziologie. Aber wie kann diese Wissenschaft helfen, unsere Gesellschaft zu erklären? Und welche Gründe gibt es, sich für ein Studium der Soziologie zu entscheiden?

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LESEPROBE

Schöneck, Nadine M.; Schimank, Uwe

Gesellschaft begreifen

Einladung zur Soziologie

LESEPROBE

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40493-6

|7|Geleitwort

Hans-Georg Soeffner

Peter L. Berger hat seiner – immer noch beispielhaften – »Invitation to Sociology« (1963) den Untertitel »A Humanistic Perspective« beigefügt. Uwe Schimank und Nadine M. Schöneck stellen demgegenüber der von ihnen herausgegebenen »Einladung zur Soziologie« eine Formulierung voraus, die mit einem Imperativ spielt, der sich unauffällig als deskriptiver Infinitiv gibt, denn es fehlt ihm das Ausrufezeichen: »Gesellschaft begreifen«. Aber so sind Einladungen nun einmal. Sie haben nichts »Infinitivisches« an sich. Denn sie können sich nicht einfach hinter einer »nicht näher bestimmten Verbform« verstecken: Die Einladenden wünschen – in der Regel – nicht nur, dass man ihrer Einladung folgt, sie wissen auch, dass Einladungen verpflichten, und zwar beide Seiten. Die Einladenden haben etwas Attraktives zu bieten, und die Eingeladenen müssen, wenn Sie die Einladung nicht annehmen, dem Höflichkeitsgebot folgend, begründen, warum sie sich nicht einladen lassen wollen.

Eine einfache, kaum zu widerlegende und daher beliebte Ablehnungsformel besteht in der bedauernden Feststellung, man habe bereits andere Verpflichtungen übernommen. Furcht vor Langeweile kann sich gut hinter dieser Formel verbergen. Solchen Befürchtungen begegnen die Einladenden im hier vorliegenden Fall mit einem attraktiven Konzept. Es verspricht dem Lesepublikum, dass es eine neue, faszinierende Perspektive kennen lernen wird – die der Soziologie. Es ist eine Perspektive, von der auch die Einladenden selbst erkennbar fasziniert sind, weil in ihr zunächst »die Gesellschaft« verfremdet wird, eine Welt also, die wir alle gut zu kennen glauben, weil wir uns in ihr schließlich im Alltag immer schon bewegen und bewähren müssen. Diese unsere soziale Welt erscheint uns jetzt, eben durch das »Objektiv« der Soziologie aufgenommen, als ein neues, überraschend |8|komplex strukturiertes Terrain, das uns nun – in distanzierender Sichtweise – in seiner Entstehungsgeschichte, seinen Bauformen, seinen Entwicklungsmöglichkeiten und den damit für uns verbundenen, oft noch nicht erkannten Handlungsoptionen sichtbar, begreifbar und verfügbar wird. Soziologisches Wissen zu erwerben, lehrt uns diese Perspektive, befähigt uns, gesellschaftliches Leben besser zu verstehen und unser Handlungspotenzial zu vergrößern.

Mit Hilfe von exemplarischen Fallstudien, analytisch aufbereiteten Einzelbeobachtungen und daran anschließenden Reflexionen verfolgen die Herausgeber und Autoren das Ziel, sowohl die Besonderheit der soziologischen Perspektive als auch die Möglichkeiten soziologischen Denkens, seiner Theorien, Methodologien, Methoden, aber auch der »Gebrauchsformen« soziologischen Wissens so vorzustellen, dass man sich mit Gewinn zur Soziologie eingeladen sieht.

Diese Hinführung zur Soziologie versteht sich zugleich als Einführung – nicht nur für Studierende, sondern auch für jene, die, sofern ihnen daran liegt, »wohl informierte Bürger« (Alfred Schütz) zu sein, an der Analyse gesellschaftlicher Fragen und Probleme interessiert sein müssen. Es sei denn, sie begnügen sich damit, gesellschaftliche Vorurteile mit gesellschaftlichem Wissen gleichzusetzen. Eine »humanistische Perspektive« im Berger’schen Sinne vermitteln die Artikel des Bandes nicht, zumindest nicht in erster Linie. Stattdessen geht es um die alltäglichen, manchmal absonderlichen menschlichen Verhaltensweisen, Macht- und Statuskämpfe, Ideologien, Glaubens und Moralvorstellungen: um das »Menschliche«, nicht immer Humane und selten Humanistische also – um das Soziale aus soziologischer Perspektive.

|9|

Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner

DGS Geschäftsstelle

Kulturwissenschaftliches Institut

Goethestraße 31

45128 Essen

[email protected]

http://www.uni-konstanz.de/​ soziologie/fg-wiss/phpwebsite

Hans-Georg Soeffner, geboren 1939, studierte Literaturwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Tübingen, Köln und Bonn. Nach Professuren in Duisburg-Essen, Hagen und Potsdam war er zuletzt Professor für Soziologie an der Universität Konstanz. Er ist seit 2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).

|11|Einleitung: Willkommen in dieser Gesellschaft! Einladungen zur Soziologie

Uwe Schimank/Nadine M. Schöneck

Man kann mit der Gesellschaft zurechtkommen – oder auch nicht. Bei manchen Menschen ist das eine oder das andere ein durchgängiges Muster. Es gibt die lebenslangen Glückspilze, denen schon die Schule leicht fällt und später im Beruf alles gelingt, die eine harmonische Ehe führen und aus deren Kindern etwas wird, und die vielleicht sogar noch Seniorenmeister im Stadtmarathon werden … – und es gibt leider auch diejenigen, die überall schnell Probleme bekommen, Versager schon im Kindergarten, später ausgenutzt von »guten Freunden« und Vermietern, verheizt im Job und um die Rente betrogen. Die Glückspilze haben es nicht nötig, die Gesellschaft, in der sie so prächtig leben, genauer zu verstehen; ihnen legt die Gesellschaft alles in den Schoß. Den armen Teufeln am anderen Extrem wiederum dürfte es wohl auch nicht viel helfen, verstünden sie noch so gut, wie ihnen mitgespielt wird – es setzte den Qualen ihres Lebens nur noch die Krone auf.

Für die allermeisten von uns gilt freilich, dass wir uns weder am einen noch am anderen Extrem bewegen. Wir kommen teils ganz gut mit der Gesellschaft zurecht, ob es nun Familie, Beruf, Freizeitaktivitäten, politisches Engagement oder Geldanlagen sind; immer wieder gelingen uns Dinge sogar richtig gut! Doch teils haben wir Schwierigkeiten, uns zurechtzufinden, zu durchschauen, was da um uns herum vorgeht; und wir zerbrechen uns vielleicht lange den Kopf, wie wir uns in bestimmten wichtigen Angelegenheiten – Berufswahl, Umgang mit einem unangenehmen Vorgesetzten, Mobilisieren der Nachbarschaft gegen den Bau einer Schnellstraße – entscheiden sollten.

Dieses breite Mittelfeld des »Im-Großen-und-Ganzen-Zurecht-Kommens« ist die Zielgruppe, für die Soziologie interessant sein |12|müsste. Denn in dieser Lage gibt es Verbesserungspotenzial. Wenn man hier bestimmte Situationen, in denen man sich befindet, hinsichtlich der wirkenden sozialen Kräfte und Kräfteverhältnisse besser durchschaute, wäre vielleicht (noch) mehr drin. Man könnte sich besser darauf einstellen, was auf einen zukommt; man wüsste, woran, jedenfalls kurz- bis mittelfristig, nicht viel zu ändern ist und worauf man folglich seine knappen Energien nicht verschwenden sollte; und man käme vielleicht auf andere Ideen, wie man sich entscheiden und verhalten könnte.

Um keine falschen Erwartungen zu wecken: Das Wissen, das die Soziologie Gesellschaftsmitgliedern anbieten kann, ist zumeist kein Wissen nach Art eines Kochrezepts: »Man nehme …, man tue …, und alles wird gut!« Dergleichen versprechen nur Unternehmens-, Familien- und sonstige Lebensberater. Man weiß inzwischen zur Genüge, dass die dort angepriesenen Patentrezepte für alle Lebenslagen in der konkreten Praxis oft überhaupt nicht, und wenn, dann höchstens von begrenztem Nutzen sind. Wer sich an aus dieser Ecke stammende Heilsversprechen klammern muss, dem ist kaum noch zu helfen. Die Soziologie jedenfalls liefert kein derartiges Rezeptwissen, sondern Orientierungswissen. Sie hilft dabei, Gesellschaft erst einmal zu begreifen – als Voraussetzung dafür, sich dann, entsprechend den besonderen Umständen der jeweiligen Situation, selbst Gedanken darüber machen zu können, was denn getan werden könnte und womit man sich wohl zumindest vorerst abfinden muss.

Die Soziologie klärt also auf, statt zu indoktrinieren; und sie setzt dabei auf ein aufklärungsbereites, ganz im Sinne Immanuel Kants das Wagnis des Selbst-Denkens auf sich nehmendes Publikum. Leute, die nichts lieber wollen, als an die Hand genommen zu werden, sollten die Finger von der Soziologie lassen.

Beispiele soziologischer Aufklärung

Wie sieht eine sich so verstehende soziologische Aufklärung aus? An zwei Beispielen wollen wir andeuten, was wir darunter verstehen. Das erste greift eine oft zu hörende Meinung auf:

|13|Ist es nicht geradezu ein Gemeinplatz, dass in der heutigen »Wissensgesellschaft«, in der insbesondere Expertenwissen zur wichtigsten Produktivkraft geworden ist, mehr Wissen besser ist als weniger Wissen? Wenn wir ein Problem zu bewältigen haben, egal ob bei der Arbeit oder in unserer Partnerschaft: Verhilft uns nicht jedes Quäntchen relevanten Wissens, das wir uns – zum Beispiel über die allzeit bereite Beratungsliteratur oder im Internet – beschaffen können, zu einem entsprechend besseren Umgang mit dem Problem?

Eine ganz andere Frage stellt unser zweites Beispiel: Gehen wir nicht alle davon aus, dass Ehen und Familien immer brüchiger geworden sind und dies einer der Hauptgründe für den Geburtenrückgang ist, der uns in vielen Gesellschaftsbereichen – vom Arbeitsmarkt bis zur Rentenversicherung – vor große Probleme stellt? Liegt dem Verfall fester Partnerschaften nicht insbesondere ein Wertewandel in Richtung Individualisierung zugrunde? Weil jede und jeder zunehmend darauf pocht, das eigene Leben erst einmal mit Blick auf die eigene Selbstverwirklichung zu führen, driften wir in eine »Single-Gesellschaft«1 ab.

Zwei für vieles Weitere stehende gesellschaftliche Sachverhalte, die vermutlich jeder schon einmal zur Kenntnis genommen hat – und zwei Deutungen dieser Sachverhalte, die erst einmal plausibel klingen. Beide Sichtweisen werden von vielen Gesellschaftsmitgliedern, vom sprichwörtlichen »Mann auf der Straße« bis zur politischen Entscheidungsträgerin, geteilt. Aber beide Sichtweisen sind bei genauerem Hinsehen unzulänglich, um nicht zu sagen: Sie führen völlig in die Irre.

Zunächst ein paar Anmerkungen zur These von der eindeutigen Vorteilhaftigkeit des Mehr-Wissens. Es genügt erstens nicht, Wissen gesammelt zu haben – man muss es auch verarbeiten können. Und da stoßen wir schnell an unsere Grenzen, nicht zuletzt aufgrund zeitlicher Zwänge. Was hilft einem – ein läppisches Beispiel – ein Totalüberblick über die Tarife sämtlicher Telefongesellschaften, wenn sich die vielen Sonderkonditionen, die überdies im steten Wandel begriffen sind, mit dem eigenen Telefonierprofil nicht mehr abgleichen |14|lassen! Immer mehr Wissen paralysiert schnell – jedenfalls schneller, als einem lieb ist – die eigene Entscheidungsfähigkeit.

Zweitens gibt es so einiges, was man besser nicht wüsste. Der Soziologe Heinrich Popitz sprach von der individuell und gesellschaftlich heilsamen »Präventivwirkung des Nichtwissens«.2 Will ich wirklich wissen, wie hoch die Erfolgsquote des Chirurgen ist, unter dessen Messer ich mich begebe? Und will ich dann vielleicht, womit ich wieder bei erstgenanntem Problem wäre, unendlich lange suchen, bis ich denjenigen gefunden habe, der mir bei der Behandlung meiner heiklen Krankheit die größten Heilungschancen garantiert? Dann bin ich womöglich schon vorher tot! Oder: Wenn ich wüsste, wie viele andere Versicherungsbetrug begehen, käme ich dann nicht auch in Versuchung, um nicht der ehrliche Dumme zu sein? Das wäre nicht gut für die gesellschaftliche Ordnung – und für die Versicherungstarife, die wir alle zu zahlen haben.

Zu den »social functions of ignorance«3 gehört drittens, dass man sich seine spontane Kreativität im Umgang mit immer wieder Neuem bewahrt. Wenn beispielsweise Eltern die Erziehung ihrer Kinder schematisch nach Maßregeln gestalten würden, die sie sich aus der extensiven Lektüre pädagogischer Literatur zurechtgelegt hätten, stünde zu befürchten, dass sie, geblendet durch dieses mühsam auf wissenschaftlicher Grundlage erarbeitete »System«, die prinzipielle Einzigartigkeit und damit Besonderheit jedes Kindes und, mehr noch, jeder erzieherisch zu gestaltenden Situation verneinen würden.

Nun zur These vom angeblichen Verfall von Partnerschaften und Familien: Hier muss man erstens sehen, dass die Zunahme der Singles in erheblichem Maße etwas damit zu tun hat, dass immer mehr alte Menschen allein leben, weil der Partner vor ihnen gestorben ist. Das wiederum ist nun wirklich kein Beleg für brüchiger werdende Partnerschaften und Selbstverwirklichungs-Egoismus.

|15|Dass zweitens junge Menschen länger allein oder länger in einer nicht formell als Ehe deklarierten Partnerschaft leben und dass für Ehen das Scheidungsrisiko angestiegen ist, hat ebenfalls nichts mit Werteverfall und Egoismus zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil die Wertigkeit von Partnerschaft, also das darauf gerichtete Anspruchsniveau, gestiegen ist, bindet man sich nicht so schnell und geht, wenn die Partnerschaft es nicht mehr »wert« ist, aufrechterhalten zu werden, schneller wieder auseinander.

Gleiches gilt drittens für den Tatbestand, dass weniger Kinder – und diese später – in die Welt gesetzt werden. Weil man Kinder, deren Lebensumstände und Erziehung, wichtiger nimmt als früher, zögert man länger mit der Realisierung des Kinderwunsches und begrenzt die Zahl der Kinder, die man liebevoll versorgen und aufmerksam erziehen will.

Zu beiden Beispielen wäre noch viel mehr zu sagen – aber sie sollen hier ja nicht mehr als andeuten, wie soziologisches Wissen unser Alltagswissen über gesellschaftliches Geschehen bereichern und immer wieder auch korrigieren kann.

Schon diese beiden Schlaglichter auf die scheinbaren Segnungen des Mehr-Wissens beziehungsweise den angeblichen Verfall von Partnerschaften illustrieren beispielhaft, mit welcher Art von Einsichten die Soziologie das Alltagswissen aufklären kann – hier ein paar weitere knapp skizzierte Beispiele für soziologische Aufklärung:

Die Soziologie kann Irrtümer im Faktenwissen über Gesellschaft korrigieren und falsche Ursachen- und Wirkungsbehauptungen zurechtrücken. Sind Ausländer wirklich krimineller als Deutsche, wie oft zu hören ist? Die Statistiken scheinen das erst einmal zu bestätigen. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass die ausländische Bevölkerung in Deutschland überproportional in den unteren Einkommensgruppen zu finden ist; und wenn man die Ausländer dann mit den weniger gut verdienenden Deutschen vergleicht, stellen sich die Kriminalitätsraten ziemlich ähnlich dar. Nicht das Ausländer-Sein, sondern das geringe Einkommen prädestiniert offenbar zur Kriminalität – wobei auch mit diesem zutreffenderen Befund die soziologischen Fragen eigentlich erst anfangen, denn schließlich wird nicht jeder arme Schlucker zum |16|Dieb. Immerhin kann die Soziologie schon hiermit bekannte Schnellschüsse mancher populistischer Politiker als solche entlarven.

Die Soziologie vermag gesellschaftliche Trends aufzudecken, die noch gar nicht in das Alltagswissen eingegangen sind, weil sie sich schleichend vollziehen oder weil die Medien noch nicht auf sie aufmerksam geworden sind. Der berühmte Kinsey-Report machte die Amerikaner in den späten 1940er Jahren mit den Mitteln soziologischer Umfrageforschung darauf aufmerksam, dass sie allesamt viel »perverser« in ihren Sexualpraktiken sind, als sie es sich, fest im Griff kirchlicher Propaganda und nachbarschaftlich gepflegter Fassaden der Wohlanständigkeit, je hätten träumen lassen: »Ich bin ja gar nicht der Einzige weit und breit, der sich mehrmals in der Woche selbstbefriedigt – statistisch gesehen tun es zwei meiner drei ebenfalls verheirateten Nachbarn auch.«

Die Soziologie entzaubert allerdings auch immer wieder die angeblichen Erfolgs-Storys, die wir uns bei der Verbesserung beklagenswerter gesellschaftlicher Zustände gerne einreden (lassen). Sie zeigt auf, dass die Chancen von Frauen, in Führungspositionen zu gelangen, nach wie vor weit geringer sind als die von Männern; und bereits Anfang der 1970er Jahre wurde die »Illusion der Chancengleichheit«4 der so genannten »bildungsfernen« Bevölkerungsgruppen soziologisch entlarvt. Dass ein Arbeiterkind durch eigene Bildungsanstrengungen den sozialen Aufstieg schafft, ist nach wie vor meistens eine Lebenslüge.

Die Soziologie ist in der Lage, hintergründige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auszubuchstabieren, die durchaus bekannten Phänomenen, für die aber viel zu simple Erklärungen kursieren, zugrunde liegen. Siehe nur die oben angesprochenen Märchen, die über Scheidungen und Kinderlosigkeit in die Welt gesetzt worden sind! Und wenn Friedhelm Neidhardt uns an der RAF die unbehagliche Wahrheit vor Augen führt, dass jemand nicht etwa aufgrund bestimmter besonderer Persönlichkeitsmerkmale wie der |17|Herkunft aus einem streng protestantischen Elternhaus zum Terroristen wird, sondern jeder aufgrund soziologisch fassbarer biographischer Eigendynamiken in eine solche »Karriere« hineinrutschen kann, hätten wir uns das auch in unseren kühnsten Albträumen nicht vorstellen können.5

Die Soziologie deckt verborgene soziale Nützlichkeiten von Phänomenen auf, die allgemein nur als wertlos, unmoralisch oder gar schädlich gelten. So spricht Niklas Luhmann davon, dass es in allen Arten von Organisationen eine »brauchbare Illegalität« gibt,6 etwa den »kleinen Dienstweg«, der zwar nicht den Regeln entspricht und den zu gehen oder gegangen zu sein man im Zweifelsfall stets tapfer abstreiten muss, der aber vieles auch im Sinne der Organisation erleichtert und beschleunigt.

Zu diesem Buch

Mit diesem Buch wird Ihnen eine »Einladung zur Soziologie«7 offeriert. Zwei Zielgruppen möchten wir ansprechen: Zum einen wenden wir uns an diejenigen Zeitungsleser und an gesellschaftlichen Fragen Interessierten, die es genauer wissen wollen – die sich nicht mit den Beschreibungen und Erklärungen gesellschaftlicher Zustände zufriedengeben, die ihnen von Medien, Politikern und Stammtisch frei Haus geliefert werden. Um den Slogan einer bekannten überregionalen Tageszeitung für die ins Auge gefassten Leserinnen und Leser dieses |18|Buches zu variieren: »Dahinter steckt immer ein nachdenklicher Kopf.« Zum anderen wenden wir uns sowohl an Interessierte am Studienfach Soziologie als auch an Studienanfänger. Ihnen möchten wir die Frage beantworten, die für eine Studienfachentscheidung noch immer an erster Stelle stehen sollte: Mit welchem Faszinationspotenzial wartet die Soziologie als studierbare Wissenschaftsdisziplin auf?

Beiden Zielgruppen – an gesellschaftlichen Fragen und am Studienfach Interessierten – möchten wir »unsere« Wissenschaft näherbringen. Wir laden dazu ein, Gesellschaft zu begreifen. Wer bereit ist, einmal genau hinzuschauen, wird erkennen: Soziologisch Fassbares verbirgt sich in unzähligen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Phänomenen, und wer sich der Soziologie zuwendet, kann eine sehr spannende Zeit erleben.

Der Soziologe Michael Burawoy sprach in seiner »presidential address« als Vorsitzender der amerikanischen Soziologen-Fachgesellschaft vor wenigen Jahren davon, die Soziologie müsse wieder stärker eine »public sociology« werden, sich also gezielt den großen Fragen, die hier und heute in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert werden, stellen – und sie sollte Fragen, die eigentlich gestellt werden müssten, aber vergessen oder totgeschwiegen werden, aufwerfen.8 Die »public sociology« ist beileibe nicht die ganze Soziologie, doch ohne diese Zielrichtung bleibt das Fach letztlich akademisch-steril – oder, noch schlimmer, die Soziologie wird zur Geheimwissenschaft, die allenfalls in Think Tanks mittels unter Verschluss gehaltener Expertisen die Großen und Mächtigen dabei berät, wie sie uns noch besser manipulieren können.

Die Autorinnen und Autoren, die an diesem Buch mitgewirkt haben, tragen, wie wir finden, auf gelungene Weise – und ganz im Sinne Michael Burawoys – zur Popularisierung ihrer Wissenschaft bei. Hier liegt also keine Einführung, kein systematischer oder enzyklopädischer Überblick über Gegenstände, Theorien oder Methoden des Faches vor – es sind »Appetithappen«! Wir haben Kolleginnen und Kollegen eingeladen, auf die beiden Fragen,

|19|warum Soziologie sie fasziniert und

warum soziologisches Wissen gesellschaftlich wichtig ist, persönliche Antworten zu geben. Die Beiträge zeigen an je eigenen Arbeitsgebieten und Interessenschwerpunkten – pars pro toto – auf, was das soziologische »Gesellschaft begreifen« bedeutet.

Das Inhaltsverzeichnis vermittelt bereits einen Eindruck von der Themenvielfalt dessen, was im Folgenden geboten wird. Von der Frage, warum Menschen zum Islam konvertieren, bis zur allgegenwärtigen und offenbar unaufhaltsamen Beschleunigung des Lebens in der modernen Gesellschaft reicht der Bogen – ohne dass damit das thematische Gesamtspektrum der Soziologie abgedeckt wäre. »Kleine«, unscheinbare Phänomene wie die Schwierigkeiten und Praktiken, mit denen man kommunikativ die eigene Kompetenz, etwa als Ärztin oder Frisör, demonstriert, kommen ebenso zur Sprache wie »große«, gesellschaftsübergreifende Strukturen sozialer Ungleichheit. Auch die Herangehens- und Darstellungsweisen der Beiträge sind sehr unterschiedlich – ganz wie es für das Fach charakteristisch ist. Einige Beiträge stützen sich auf statistische Daten, andere auf biographische Interviews oder sorgfältige Beobachtungen von Alltagssituationen; manche Beiträge sind als theoretische Überlegungen angelegt, die an sozialphilosophische Reflexionen grenzen. Teils ist ein persönliches moralisches oder politisches Engagement des Soziologen erkennbar, teils wird gerade auf eine Distanz von allen Arten der Bewertung der betrachteten Phänomene geachtet. Eine bunte Mischung also! Wir machen zwar mit der von uns gewählten Reihenfolge der Beiträge einen Vorschlag, wie sie gelesen werden könnten; aber jede Leserin und jeder Leser kann zwanglos auch irgendwo in der Mitte oder am Ende anfangen zu lesen.

Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, auch ihren persönlichen Bezug zu dem Thema, das sie vorstellen, anzudeuten. Dies ist üblicherweise in wissenschaftlichen Texten nicht gefragt, aber uns ging es darum – wiederum beispielhaft – vorzuführen, wie ein Interesse an soziologischen Fragen entstehen kann und welche Wege Menschen zur Soziologie führen können. Die Autorinnen und Autoren vermitteln hier, mehr oder weniger explizit, ganz Unterschiedliches, weil es sich um ganz unterschiedliche Menschen handelt, wie auch aus den jeweiligen Kurzinformationen zum wissenschaftlichen |20|Werdegang hervorgeht, die den Beiträgen vorangestellt sind. An diesem Band beteiligt sind Soziologinnen und Soziologen aus verschiedenen Generationen, mit verschiedenen Lebenshintergründen, Theorieorientierungen, Forschungsschwerpunkten und methodischen Herangehensweisen, Vertreter unterschiedlicher Wissenschaftsverständnisse und Auffassungen von Soziologie. Es gibt ja manche Wissenschaftsdisziplinen, die hinsichtlich der sozialen Herkunft und des Typs Mensch ihrer Vertreter recht homogen sind. Das gilt für die Soziologie nicht. Sie ist ein Sammelbecken sehr heterogener Herkünfte, biographischer Verläufe und Beweggründe.

In einer Hinsicht bieten die Autorinnen und Autoren – einschließlich der Herausgeber – dieses Bandes freilich dennoch eine große Homogenität: Es handelt sich ausnahmslos um Soziologinnen und Soziologen, die im universitären Bereich arbeiten, zumeist auf Professuren. Das sind nun keineswegs die einzigen beruflichen Betätigungsfelder für Soziologen. Soziologen finden sich in Unternehmen und Verwaltungen, in Parteien und Verbänden, in Krankenhäusern und Kirchen, von der Markt- und Umfrageforschung ganz zu schweigen – eigentlich in allen Bereichen unserer Gesellschaft, auch als Selbständige. Wer nach der Lektüre verschiedener Beiträge dieses Bandes wissen möchte, wo überall in dieser Gesellschaft Soziologen tätig sind und ihr Wissen einbringen, findet hierzu am Ende dieses Bandes einen Beitrag. Nicht zuletzt, wer sich nun näher für ein Studium des Faches interessiert, dürfte hier Nützliches erfahren. Für diese Zielgruppe haben wir überdies einen kleinen Serviceteil angefügt, der auf einige Informationsquellen zum Fach und seinen Berufsperspektiven, zu den Fachgesellschaften und zu den Studiengängen mit soziologischen Inhalten hinweist.

Wir hoffen nun, dass dieses Buch Interesse an der Soziologie weckt und befriedigt. Auch wenn wir zweifellos befangen sind: Das Fach, so finden wir, hat es verdient.

Am Schluss steht unser Dank an alle, die dieses Buch möglich gemacht haben: Adalbert Hepp und Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag, die nicht lange überzeugt werden mussten und viele gute Ideen eingebracht haben; Hartmut Rosa, der sich bereit erklärte, den ersten beispielgebenden Textbeitrag zu liefern; alle anderen Autorinnen und Autoren, die sich mit großem Engagement auf dieses etwas |21|andere Buch eingelassen haben; Bettina Kolwe, Ludwig Krüger und Sebastian Wagner, die als studentische Hilfskräfte nicht nur den Serviceteil erstellt, sondern uns auch viele Arbeiten auf dem Weg zum verlagsfertigen Buchmanuskript abgenommen haben; und Gudrun Hilles, die wieder einmal die Schlusskorrektur gewissenhaft übernommen hat. Wir freuen uns besonders, dass auch der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Hans-Georg Soeffner, unser Anliegen unterstützt.

Last but not least ein ganz persönlicher Dank des Herausgebers an die Herausgeberin: Die Idee zu diesem Buch stammt allein von ihr; und ohne diese Idee wäre gar nichts passiert.

Dipl.-Soz.wiss. Nadine M. Schöneck

FernUniversität in Hagen

Fakultät für Kultur-

und Sozialwissenschaften

Institut für Soziologie

58084 Hagen

[email protected]

http://www.fernuni-hagen.de/​soziologie/​institut/​team/​nadine.schoeneck_soz2.shtml

Nadine M. Schöneck, geboren 1975, studierte Sozialwissenschaft in Bochum, Austin/Texas und Oxford. Sie ist seit Sommer 2003 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen beschäftigt.

Seit ihrer Studienzeit befasst sie sich mit der Zeitthematik aus soziologischer Perspektive. Zu diesem Thema gewann sie im Jahr 2003 den Deutschen Studienpreis der Hamburger Körber-Stiftung. Sie schrieb eine zeitsoziologische Diplomarbeit und arbeitet derzeit an einer von Prof. Dr. Uwe Schimank betreuten zeitsoziologischen Dissertation.

Ein Kurzporträt zu Uwe Schimank finden Sie bei seinem Beitrag.

|22|Monika Wohlrab-Sahr

Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr

Universität Leipzig

Institut für Kulturwissenschaften

PSF 920

04009 Leipzig

[email protected]

http://www.uni-leipzig.de/​~kuwi/​bio_Wohlrab.html

Monika Wohlrab-Sahr wurde 1957 in Selb/Oberfranken geboren.

Studierte Evangelische Theologie und Soziologie in Erlangen und Marburg. 1985–1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg. 1991 Promotion zum Thema »Biographische Unsicherheit. Lebenskonstruktionen und Lebensarrangements von Zeitarbeiterinnen«. 1992–1999 als wissenschaftliche Assistentin an der FU Berlin und Postdoktorandin im Graduiertenkolleg »Gesellschaftsvergleich in historischer, ethnologischer und soziologischer Perspektive«. 1996 als Visiting Scholar am Institut für Soziologie der University of California, Berkeley. 1998 Habilitation an der FU Berlin im Fach Soziologie zum Thema »Symbolische Transformation krisenhafter Erfahrung. Über Form und Funktion von Konversionen zum Islam in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika«. Von 1999 bis 2006 Professorin für Religionsoziologie an der Universität Leipzig. Im Wintersemester 2007/2008 Fernand-Braudel-Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

Seit April 2006 ist Monika Wohlrab-Sahr Professorin für Kultursoziologie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.

Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Religionssoziologie (Konversion, Islam in Europa, Säkularisierung, Religion in postsozialistischen Ländern), Qualitative Methoden sowie Biographieforschung.

Zentrale Veröffentlichungen von Monika Wohlrab-Sahr sind:

Konversion zum Islam in Deutschlandy und den USA. Frankfurt/New York 1999: Campus.

Konfliktfeld Islam in Europa. Sonderheft 17 der Sozialen Welt. Baden-Baden 2007: Nomos (herausgegeben mit Levent Tezcan).

Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München/Wien 2008: Oldenbourg (mit Aglaja Przyborski).

|23|Was hat ein Tschador im heute-journal zu suchen?

Nachdem Susanne Osthoff, eine seit mehreren Jahren im Irak lebende, dort in humanitären und kulturellen Projekten engagierte und seit langem auch zum Islam konvertierte deutsche Archäologin, im Dezember 2005 aus vierwöchiger Geiselhaft freigekommen war, gab sie – noch vor ihrer Rückkehr nach Deutschland – in Doha, Katar, zwei Fernseh-Interviews. Das erste Interview brachte der arabische Fernsehsender Al-Jazeera, das zweite – geführt von Marietta Slomka – wurde in gekürzter Form im heute-journal des ZDF ausgestrahlt. Während des Al-Jazeera-Interviews trug Susanne Osthoff ein Nadelstreifen-Jackett und hatte den Kopf leger mit einem Schal bedeckt, der ihre Haare teilweise freigab. In dem ZDF-Interview am 26.12.20051 dagegen trug sie einen schwarzen Tschador (Schleier), der nur die Augenpartie freigab. Über das Auftreten in diesem zweiten Interview wurde anschließend in der deutschen Presse, im Fernsehen und in diversen Internet-Blogs erbittert gestritten. Die Bild-Zeitung gab mit der Schlagzeile »Irrer TV-Auftritt« den Tenor vor.

|24|Was geht hier eigentlich vor? Warum trägt eine freigelassene deutsche Geisel beim ZDF-Interview einen Tschador?

Im Januar 2006 trat Susanne Osthoff in einem 90-minütigen Interview in der ARD-Sendung »Beckmann« ohne Schleier oder Kopftuch auf. In dem Gespräch wurde eine Reihe sachlicher Fragen zur Entführung und den damit verbundenen Umständen besprochen. Darüber hinaus übernahm der Interviewer die Rolle des Repräsentanten der öffentlichen Meinung. Er stellte Fragen, die vorher in der Öffentlichkeit häufig als Vorwurf gegenüber der befreiten Geisel geäußert worden waren: Ob sie denn dem deutschen Staat und der Bevölkerung dankbar sei für deren Engagement? Ob sie inzwischen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie aufgenommen habe? Und ob sie nun bei ihrer Tochter in Deutschland bleibe, anstatt in den Irak zurückzukehren? Susanne Osthoff entsprach dem darin zum Ausdruck kommenden Ansinnen allerdings wenig. Sie verweigerte sich – teils trotzig, teils selbstbewusst – den Erwartungen, die eine medialisierte Öffentlichkeit an ein gerettetes Entführungsopfer herantrug und auf dessen adäquate Reaktion diese Öffentlichkeit gewissermaßen einen Anspruch zu haben schien. Für diese Art der Verweigerung gegenüber medialen Erwartungen wurde Susanne Osthoff im Anschluss heftige Kritik, aber auch Anerkennung zuteil. Es wurde sogar der Vorschlag laut, man solle sie für dieses Interview mit dem Grimme-Preis auszeichnen.

Was in dem Gespräch mit Beckmann jedoch nicht aufgeklärt wurde, war die Frage, warum sich Susanne Osthoff in dem ersten ZDF-Interview im Tschador präsentiert hatte. Sie hätte doch wissen müssen, wie das in den Medien wirken würde. Ihre Antworten auf Beckmanns Fragen gingen auf merkwürdige Weise am Kern der Sache vorbei. Sie sei vom Beginn der Interviewaufzeichnung überrascht worden, die Kameras seien schon gelaufen; sie sei verschwitzt gewesen, und das Indigo des Tschador habe abgefärbt, sie habe sich so nicht zeigen wollen, antwortete Susanne Osthoff auf die Fragen des Journalisten, der sie mit gegenteiligen Aussagen des ZDF-Teams konfrontierte.

|25|Aus dem später im Internet als Text veröffentlichten Vorgespräch mit Marietta Slomka2 wird deutlich, dass sie im Vorfeld des ZDF-Interviews explizit auf ihre Verhüllung angesprochen und gefragt worden war, ob sie denn während des Interviews verschleiert bleiben wolle. Sie antwortete daraufhin: »Ich hab’ dafür eindeutig Gründe, das hätte ich vorher noch abklären können, wenn mir dann irgend jemand noch eine Zusage gegeben, ich bin jetzt nicht mehr in der Verfassung, noch in mein Gesicht äh, ich meine, ich kann nicht mehr, ja? Das ist die Sitte des Landes so, und ich passe mich halt hier eben an.« So kam es dann zu dem Interview, das das Bild der blonden Marietta Slomka und neben ihr der schwarz verschleierten Susanne Osthoff millionenfach in deutsche Haushalte übermittelte und am nächsten Tag auf der ersten Seite der Bild-Zeitung abgedruckt wurde mit der Überschrift: »Irrer TV-Auftritt«.

Als Soziologin macht mich das neugierig. Welchen Sinn hat dieses Verhalten, was kommt darin zum Ausdruck? Immer vorausgesetzt, man gibt sich nicht mit der einfachen Formel des »Irreseins« zufrieden.

Soziologie als Kultivierung der Neugier

Für die Tatsache, dass man Soziologin wird (und es vor allem bleibt), lassen sich viele verschiedene Gründe angeben: Personen, die einem begegnet sind und einen beeinflusst haben; Fragen, die einen schon immer beschäftigt haben; Diskussionszusammenhänge, in die man hineingeraten ist und die einen gefesselt haben; schließlich auch Zugänge zur Wirklichkeit, die einen überzeugt haben. All dies hat auch bei mir eine Rolle gespielt.

Aber es kommt noch ein wesentlicher Punkt hinzu: Soziologie hat für mich im Kern etwas mit Neugier zu tun, mit dem Lösen von Rätseln, auch mit dem Hinterfragen von Dingen, die auf den ersten Blick so eindeutig zu sein scheinen. Ich frage mich: Was zum Teufel |26|geht hier eigentlich vor? Was bedeutet das, was ich hier sehe? Welchen Sinn ergibt das Verhalten dieser Person oder dieser Gruppe? Wieso läuft ein sozialer Prozess auf eine bestimmte Weise ab? Wie passt das alles zusammen? All dies sind soziologische Fragen. Max Weber hat als erster Soziologe deutlich gemacht, dass man bei dem Versuch, einen Sachverhalt zu erklären, auf das Verstehen der beteiligten Menschen angewiesen ist.

Bei dem Versuch zu verstehen, sieht sich die Soziologin nun aber mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert: Die Zusammenhänge, mit denen sie es zu tun hat, sind in der Regel nicht nur äußerliche Verknüpfungen, die es lediglich festzustellen gälte – nach dem Motto: In Katar ist eben ein Tschador für Frauen vorgeschrieben, deshalb trägt Susanne Osthoff im Fernsehen einen Tschador. Oder umgekehrt: Da man im deutschen Fernsehen als Deutsche keinen Tschador trägt, kann eine Frau, die dies dennoch tut, nur verrückt sein. Anpassung oder Verrücktheit: Die erste Erklärung hat Susanne Osthoff gegenüber Marietta Slomka gegeben, die zweite gab die Bild-Zeitung.

Soziologen können nicht einfach ablesen (oder gar schlicht ausrechnen), was es mit den Dingen auf sich hat, sondern sie sind darauf angewiesen, soziale Wirklichkeit zu interpretieren. Erschwerend kommt hinzu, dass sie eine Wirklichkeit vorfinden, die von den Subjekten dieser Wirklichkeit immer schon selbst interpretiert wurde. Der Soziologe Alfred Schütz, der sich Gedanken über das Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und Alltagswissen gemacht hat, spricht davon, dass Soziologen »Konstruktionen zweiter Ordnung« anfertigen, indem sie wissenschaftliche Deutungen von etwas erstellen, das im Alltag bereits bestimmten Deutungen unterliegt.

Ein wenig hat die Soziologie mit dem Voyeurismus gemeinsam: mit dem Blick in die erleuchteten Fenster von Menschen, die man nicht kennt und von deren Leben man im Vorbeigehen einen Ausschnitt erhascht; mit einer Szene in der Straßenbahn, die man fasziniert beobachtet und auf die man sich einen Reim macht. Insofern schließt soziologisches Denken an das an, was wir auch im Alltag tun. Was zur Soziologie aber notwendig dazu kommt, ist, dass wir gegenüber dem alltäglichen Deuten und Interpretieren einen Schritt zurücktreten, dass wir verschiedene mögliche Deutungen abwägen und |27|die Dinge in ihrem Kontext und ihrem Gewordensein betrachten. Die Neugier muss also geschult und zugleich gebändigt werden. Keineswegs darf es bei der spontanen Spekulation über das, was da vor sich geht, bleiben.

Um auf das Interview mit Susanne Osthoff zurückzukommen: Auch hier ist die Irritation der Normalität für die Soziologin zunächst eine ähnliche wie für andere Fernsehzuschauer. Diese Irritation muss aber überführt werden in eine systematische, methodische Überlegung. Mit anderen Worten: Soziologie lenkt die Neugier in kontrollierte Bahnen. Sie führt weg von der wilden Spekulation, aber auch weg von der konkreten Person Susanne Osthoff, die sich auf eine bestimmte Art und Weise verhält, hin zu dem Allgemeineren, das in diesem Verhalten zum Ausdruck kommt.

Konversion als eine Form symbolischer Emigration

Ein Phänomen, dem ich mich – angetrieben von derartiger Neugier – soziologisch so genähert habe, war das Phänomen der Konversion zum Islam. Religion hatte mich auch vorher schon als soziales Phänomen interessiert. Aber dann kam ich nach Berlin, wo Konvertiten im Stadtbild unübersehbar waren. Vor allem die deutschen Frauen fielen auf, wenn sie mit exakt gebundenen Kopftüchern, unter denen kein Härchen hervorschaute, durch die Straßen gingen. Nicht wie die traditionellen, älteren Migrantinnen, und auch nicht wie manche jungen Türkinnen, die ihre eigenen Kombinationen aus Jeans und Kopftuch schufen. Welchen Sinn hat das?

Als ich Anfang der 1990er Jahre anfing, mir diese Überlegungen zu machen, war der 11. September 2001 noch in weiter Ferne und damit das Feld des Islam noch nicht in derselben Weise politisiert wie heute. Aber auch damals galt der Islam in vielerlei Hinsicht als »fremde«, zum Teil auch als befremdliche Religion. Der Islam war die Religion der Migranten, und vielen erschien er rückständig und nicht auf dem Stand der Aufklärung, den Religionen in unserer Gesellschaft durchlaufen haben. Insbesondere das Geschlechterverhältnis, das häufig nach außen erkennbar wurde, schien wenig kompatibel mit |28|einem liberalen Bild von Geschlechtergleichheit und Emanzipation. Nun waren manche Antworten, gerade bei den konvertierten Frauen, vermeintlich schnell zur Hand: Vermutlich handelt es sich um Frauen, die mit Migranten verheiratet sind. Vielleicht werden sie von ihren Männern gedrängt, sich so zu kleiden? Aber die deutschen Musliminnen wirkten in ihrer ungewöhnlichen Art, sich zu kleiden, durchaus selbstbewusst. Vielleicht sogar ein wenig provokativ – so als würden sie mit der Differenz spielen. All das machte mich sehr neugierig.

Ich habe dann mehrere Jahre lang über dieses Thema geforscht, sowohl in Deutschland als auch in den USA. Ich habe viele lange – bis zu vierstündige – Interviews mit Männern und Frauen geführt, die zum Islam konvertiert sind. Ich habe sie nicht gefragt: Warum sind Sie konvertiert? Ich bin einen Umweg gegangen, indem ich mir ihr Leben erzählen ließ, in dem irgendwann die Entscheidung zur Konversion gefallen ist. Auf diese Weise wollte ich herausfinden, wie diese Entscheidung biographisch eingebettet ist, unter welchen Umständen es zur Konversion gekommen ist. Welchen Sinn hat es für die Betreffenden, zu einer Religion zu wechseln, die den meisten anderen irgendwie verdächtig erscheint? Welchen Sinn hat es, sich von heute auf morgen in einer Weise zu kleiden, die in der eigenen Umwelt höchst befremdlich wirkt? Nicht mehr in die Kneipe zu gehen? Nicht mehr im Bikini oder Badeanzug im öffentlichen Schwimmbad schwimmen zu gehen? Mehrmals am Tag zu beten und während des Ramadan zu fasten? Keinen Alkohol mehr zu trinken und kein Schweinefleisch mehr zu essen? Sich Regeln der Trennung der Geschlechter zu unterwerfen? Sein Leben insgesamt neu zu gestalten?

Je nachdem, wie man fragt und hinsieht, erhält man von den Konvertiten auf diese Fragen verschiedene Antworten. Eine Antwortet lautet: Ich habe viele Religionen geprüft und eine rationale Entscheidung für die beste von allen getroffen. Eine andere Antwort lautet: Ich bin von Allah auf einen Weg geführt worden. Die erste Antwort lässt sich aufgrund der von mir geführten Interviews zumindest in der Reihenfolge der Ereignisse widerlegen: Meist fand das Abwägen der Religionen gegeneinander erst statt, nachdem die Personen eine Entscheidung für den Islam getroffen hatten. Sie waren |29|auf verschiedenen Wegen hineingeraten in einen Kontext, der ihnen entsprochen hat, und haben – im Gespräch mit anderen – dafür eine rationale Begründung gefunden. Zwar ist nicht auszuschließen, dass es in der Realität nicht auch den umgekehrten Weg gibt: die gezielte Suche nach der besten Religion. Aber auch hier könnte man weiterfragen: Wie kommt diese Suche zustande, die doch die meisten anderen Menschen nicht antreibt?

Der Verweis auf die göttliche Begegnung – auf die ich in meinem Material freilich nur sehr selten gestoßen bin – blockiert im ersten Moment weiteres Nachfragen. Der Hinweis auf eine religiöse Erfahrung richtet gleichsam ein Stoppschild auf gegenüber der Suche nach weiteren Gründen. Dennoch kann man fragen: Was ist denn die Situation oder der Kontext, in der jemand von sich selbst sagt, er habe aufgrund einer Gotteserfahrung sein Leben radikal verändert? Diese Situation ist dann sehr wohl wissenschaftlicher Erforschung zugänglich.

Mich interessierte es nun allerdings, einen Blick hinter diese Erklärungen zu werfen. Ich wollte herausfinden, welchen Sinn die Konversion vor dem Hintergrund einer bestimmten biographischen Geschichte ergibt. Wie vollzieht sich der Prozess, in dessen Verlauf Personen sich entscheiden, ihr Leben derart umzugestalten? Und dies in einer Weise, die nicht nur eine klare Differenz gegenüber dem markiert, was sie vorher gemacht haben, sondern auch eine Differenz gegenüber dem, was die allermeisten Leute in ihrer Umgebung machen – so dass unter Umständen die engsten Verwandten sagen, die Mutter habe ihren Sohn verloren, als er zum Islam konvertiert ist.

Die Analysen der biographischen Erzählungen zeigen, dass die Konversion eine Art Problemlösung darstellt. In vielerlei Hinsicht waren die Personen, die konvertiert sind, in biographische Krisen geraten – Krisen in Familien, Partnerschaften, im beruflichen Leben, Krisen der Anerkennung, des Selbstwertgefühls und der Zugehörigkeit. In solchen Situationen kamen sie mit dem Islam in Berührung, in der Regel vermittelt über andere Personen, und manchmal wurden diese Personen zu ihren späteren Partnern.

Exemplarisch greife ich hier eine Art der Problemlösung heraus, auf die ich im Rahmen meiner Forschung gestoßen bin. Ich habe sie als symbolische Emigration bezeichnet. Charakteristisch für die biographische |30|Situation der entsprechenden Personen ist ein Problem mangelnder Zugehörigkeit: Sie leben in einem sozialen Kontext und gehören aus irgendeinem Grund doch nicht wirklich dazu. Drei Beispiele sollen diese symbolische Emigration veranschaulichen:

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