Gesellschaft - Wie sie denkt und fühlt - Eckhard Dietz - E-Book

Gesellschaft - Wie sie denkt und fühlt E-Book

Eckhard Dietz

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Beschreibung

Unsere Gesellschaft bildet im Zeichen der Krisen (Klima, Pandemie, Krieg) veränderte Kommunikationsformen und Denkräume aus, die im Zusammenhang gesehen werden müssen. Als Bürger und aus der Sicht der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie werden diese Diskurse als eigenständiges Denken und Fühlen der Gesellschaft, als ihre Motive, Ängste, Ethik charakterisiert. Es wird begründet, wie diese sich unterscheiden von den analogen Formen wie wir sie im individuellen Fall kennen. Am Beispiel der genannten Krisen, die sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen darstellen, lassen sich Warnschilder skizzieren, die vor Verlusten an Diversität, Demokratie, Toleranz und Perspektive warnen.

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Wie Gesellschaft denkt und fühlt

Gedanken über

Meinungsbildung in der Gesellschaft,

Bedeutung von Bildung und Wissenschaft

Mainstream und Zeitgeist

Macht und Medien,

Herrschaft, Propaganda, Manipulation

Krisen und Diskurs

Leben, einzeln und frei wie ein Baum

und brüderlich wie ein Wald,

ist unsere Sehnsucht.

Nazım Hikmet

Gliederung

VORWORT

TEIL 1: BEGRIFFE UND INSTITUTIONEN

Begründung/Bedeutung des Themas

Gesellschaft – ein Begriff

Klassifikation wissenschaftlichen Denkens

Denken über das Denken – wer ist Subjekt, was Objekt?

Wo liegt das Problem des Themas?

Wie fängt man an?

Allgemeine Schulbildung

Schulbildung als Ausdruck gesellschaftlichen Wissens

Schulbildung als individuelle Basisqualifikation

Medien, die 4. Säule der Demokratie

Zunahme der Mediendichte

Neue Medien, Digitalisierung

Eine gewagte Analogie

Medien als zentrale Funktion gesellschaftlicher Orientierung

Demokratie und politische Beteiligung

Meinung und Orientierung

Wie reguliert gesellschaftliche Macht ihre Orientierung?

Manipulation als Machtausübung

Propaganda und seine bekannten Formen

Manipulation in demokratisch strukturierten Gesellschaften

Manipulation des großen Stils

Populismus

Wissenschaft

Wissenschaft aus der Eigensicht

Wissenschaft und Macht

Wissenschaftliche Revolutionen

Thinktanks

Denken und Handeln der Gesellschaft

Eine andere Perspektive ist nötig

Klassenbewusstsein

Neue Eliten und Intelligenz

Neue Unsicherheit und Prekariat

TEIL 2: PHÄNOMENE GESELLSCHAFTLICHEN DENKENS UND FÜHLENS

Gesellschaftlicher Fortschritt

Fragen an 'die Menschheit'?

Zwei Geschwindigkeiten des Fortschritts

Die Ambivalenz des technischen Fortschritts

Das Smartphone als Ikone und Paradigma

Neoliberalismus und moderne Kommunikationsbasis

Die Analogie des 'gesellschaftlichen Gesamtkörpers'

Zurück zur 'Menschheit'

Die Wissenschaft vom Sapiens studieren oder erzählen?

Fortschritt für wen?

Zusammenschluss von Wissenschaft und Kapitalismus

Der blinde Fleck: Die Organisation der Macht

Das Ende des Sapiens

Technik als Deus ex Machina

Der überwältigende Sieg der Naturwissenschaften

Teilaspekte gesellschaftlichen Denkens

Sprache und Schrift

Narrative

Riten und Mythen

Bedeutungshierarchien

Kunst und Kultur

Schuld und Sühne

Politik und Moral

Gefahren und Ängste

Ausgrenzung als akzeptierte Form der Gegnerschaft

Rechte und Pflichten

Komplexität und neue Außenbeziehungen

Reaktionen und Antworten auf neue Herausforderungen

beliebige Konstruktionen der Wirklichkeit.

Individualismus, neue Menschenfeindlichkeit.

konservative Abwehr und Abschottung

Transformations- und Revolutionskonzepte.

Vertrauen und Unsicherheit

Krise des Kapitalismus

Eine Alternative ist möglich?

Eine Aufgabe bleibt

Schlussfolgerung

TEIL 3: SPEZIALFÄLLE

Wessis und Ossis im vereinten Deutschland

Das Phänomen

Links und Rechts im politischen Spektrum

Freiheit, Gerechtigkeit, Nationalismus

Transzendenz, Spiritualität, Religion,

Vorwort

Schau ich zurück auf mein Leben, erkenne ich ohne Mühe – und das wird nicht Wenigen so gehen wie mir – dass unsere Gesellschaft sich in diesen acht Jahrzehnten immer wieder drastisch geändert hat und doch dieselbe geblieben ist.

Eine Gesellschaft in der Mitte Europas, reich und nach 2 Weltkriegen mit historisch großer Verantwortung für Krieg, Tod und Verderben von zig Millionen Menschen immer und wieder auf dem Weg in eine neue, unbekannte Zukunft.

Eine Zukunft, die zwar neu, aber so weit erkennbar ist, wie uns die Geschichte lehrt. Wir, die Gesellschaft sind es, die lernen könnten, weil wir, die Gesellschaft sie machen, denken und fühlen können.

Dabei ist es dieser große Unterschied zwischen den einzelnen Menschen, den Individuen und der Gesellschaft, die in ganz unterschiedlicher Weise lernen, denken, fühlen können.

Es ist das Thema dieses Buches, zu untersuchen und anschaulich zu machen, was, wie und warum eine Gesellschaft denkt und fühlt und dieses nicht einfach als eine Summe, ein Durchschnitt, eine Statistik des Denkens und Fühlens der vielen Einzelnen, die in und mit dieser Gesellschaft leben.

Vielmehr muss ich bei meinem Rückblick erkennen, dass Gesellschaft ein eigenes, lebendiges Ganzes ist mit eigenen Möglichkeiten, speziellen Fähigkeiten, Hemmnissen und Widersprüchen und eigener, ganz anderer Wahrnehmung. Sie, die Gesellschaft, ist es, die Geschichte macht und schreiben lässt und auch aus dieser Geschichte lernen kann und lernen sollte.

Die Schwierigkeiten, die bestehen, wenn man Gesellschaft als eigenes lebendiges Wesen schildern will, bestehen in folgendem: Man trifft auf Schritt und Tritt auf Begriffe wie Wahrnehmung, Verantwortung, Lernen, Denken, Gefühle wie Angst, Tabu, Trauma, Moral, … Begriffe wie sie für Individuen und deren Psyche geprägt wurden und angewendet werden. Auf die Gesellschaft angewendet, führen diese Begriffe leicht auf Abwege, obwohl in der Tat analoge Sachverhalte angesprochen werden. Aber Denken und Fühlen trifft im Fall der Gesellschaft angewendet auf ein mindestens ebenso hochkomplexes lebendiges Wesen, doch völlig anders geartetes als beim menschlichen Individuum.

Der Hauptunterschied besteht darin, dass es bei Gesellschaft um Leben geht, das in seiner Vielfältigkeit ganz andere Widersprüche ausleben muss und innere Dynamiken entfalten kann, als es einem einzelnen Organismus und seiner Lebenskraft in der Regel zugemutet wird.

Systemtheoretisch gesprochen ist Gesellschaft ein völlig anderes System als das System eines autonomen Lebewesens. Die Besonderheit und der Zusammenhang zwischen beiden Systemen - Individuum und Gesellschaft - bestehen darin dass sie in einem originären dialektischen Verhältnis zueinander stehen.1

Der auffälligste Unterschied zwischen beiden Systemen besteht darin, dass die Einheit und der Zusammenhalt eines gesellschaftlichen Systems durch ein gesondertes System von Machthierarchien mit unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Interessen und Zielfunktionen gewahrt werden muss. Dieses System der Machthierarchien verfügt nicht über selbstregulative Stabilität wie etwa ein Regelkreis, oder eine Homöostase.

Die Funktionsfähigkeit eines gesellschaftlichen Systems beruht im Wesentlichen auf externer Kommunikation über Medien, deren Verfügbarkeit und Nutzung nicht mehr kontrollierbar ist, obwohl diese aus dem Lebensprozess, der gesellschaftlichen Reproduktion hervorgegangen sind.

Dieses komplizierte System der Gesellschaft und ihre Art und Weise zu denken, zu fühlen, zu kommunizieren, um ihre Lebensfähigkeit zu sichern, ist Thema aller 3 Teile dieses Buchs.

Im ersten Teil geht es um die institutionellen Bedingungen, die begründen, dass innerhalb einer Gesellschaft konsistent gedacht wird, dass Gefühle und Stimmungen abgestimmt werden. Es geht dort um die gesellschaftlichen Säulen der Bildung und Wissenschaft, der Kommunikation und Herrschaft.

Im zweiten Teil werden Aspekte betrachtet, die sich in der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, die es möglich gemacht haben, dass eine immer größer werdende Anzahl von Individuen weiter als Gesellschaft und nicht nur als 'Großhorde' überhaupt zusammen kommen und beherrscht werden konnte. Diese Aspekte werden unter Hinweis auf bekannte Bücher verschiedener Anthropologen diskutiert.

Im dritten Teil geht es um weitere Aspekte des Denkens, dem als allgemeinem Ziel des Denkens die Handlungsfähigkeit zugeordnet ist. Mit der Handlungsfähigkeit einer Gesellschaft sind wir direkt bei der Politik angekommen. Dort wird aktuell gesellschaftliches Denken und Fühlen beim Umgang und dem Erleben ernsthafter Krisen beleuchtet.

Mit der Einordnung dieser 3 Teile unter das Gesamtthema vom gesellschaftlichen Denken und Fühlen lassen sich diese 3 Teile durchaus in beliebiger Reihenfolge lesen. Denn es kann sein, dass die Einen die trivialen institutionellen Zusammenhänge gerne überschlagen und sofort zu den aktuellen politischen Krisen des Teils 3 kommen wollen. Oder die Anderen in erster Linie die Schlussfolgerungen aus der Menschheitsgeschichte der zitierten Literatur zur Kenntnis nehmen möchten. In jedem und jedem weiteren Fall wird sich vielleicht eine Erkenntnis verdichten: Ohne die Kenntnis der Gesellschaft und ihres Wesens ist die Autonomie und Freiheit des Individuums, wie wir es durch die Aufklärung gelernt haben, nichts als eine Illusion.

Eckhard Dietz 2.4.2024

1 Da Definition und Bedeutung eines dialektischen Zusammenhangs häufig unbekannt oder unverstanden sind, verweise ich auf die einfache, nicht-philosophische Definition in Dietz, E., Wissenschaft und Forschung – sicher auf unsicherem Boden, ISBN 978-3940190-74-1, S.32 ff

Teil 1: Begriffe und Institutionen

Begründung/Bedeutung des Themas

Margret Thatcher wird der Ausspruch zugeschrieben: „So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien." Im Gegensatz dazu vermittelt die Überschrift, dass es doch so etwas wie eine Gesellschaft gibt und dass diese etwas kann, nämlich denken und fühlen, was man vernünftiger Weise zunächst einmal nur bei Individuen feststellen kann. Dieser Gegensatz – und tatsächlich zumindest eine Begründung dafür, dass eine Gesellschaft denkt und fühlt, auch wenn das etwas Anderes sein wird, als wir es bei einzelnen Menschen kennen, ist das Thema dieses Textes.

Und wenn wir zunächst nur bei einer Behauptung sind, möchte ich weitere Behauptungen hinzufügen und damit von Voraussetzungen sprechen, von denen ich ausgehe, für die ich auch keine Beweise anführen kann, von denen ich aber hoffe und vermute, dass sie im Wesentlichen erklärt werden können, dass sie tragfähig sind, um darauf aufbauenden Ausführungen folgen zu können. Im Fall der Mathematik spricht man von Axiomen. Für Axiome verlangt man auch in der Mathematik keine Beweise. Man verlangt jedoch, dass die einzelnen Axiome eines Systems in sich widerspruchsfrei sind und dass sie vollständig sein müssen. Vollständig in dem Sinne, dass sie ausreichend sind, um das darauf aufbauende System als Ganzes und in all seinen Konsequenzen ohne Widersprüche daraus ableiten zu können. Soweit kann ich bei den folgenden Voraussetzungen nicht gehen, aber zumindest müssen sie im Sinne von Transparenz und Nachvollziehbarkeit genannt werden.

Gesellschaft – ein Begriff

Ich gehe, wenn ich über Gesellschaft rede, davon aus, dass der Begriff tatsächlich etwas benennt, was es 'in Wirklichkeit' gibt. Dass der Begriff einen abstrakten Sachverhalt beschreibt, der in konkret zu nennenden einigen oder vielen Fällen Eigenschaften hat, die es wirklich gibt, die geteilt und verstanden werden. Da es weltweit Sozialwissenschaften gibt mit den zugehörigen Institutionen und Menschen, lasse ich es damit bewenden, dass der Begriff offensichtlich brauchbar ist. In diesem Sinn schließe ich mich dem pragmatistischen Konzept von Öffentlichkeit von John Dewey an.2

Mit diesem einen Beispiel – dem Begriff der Gesellschaft – wurde bereits vorausgesetzt, dass hinter Begriffen Abstraktionen, Denkoperationen, also Denken steht, das zwar konkret von Menschen gedacht wird, aber im Prozess des wissenschaftlichen Denkens, der Wissenschaft, einem spezifischen gesellschaftlichen Denk- und Erkenntnisprozess entstanden ist und umfassend diskutiert, geprüft und genutzt wird. Auf Wissenschaft und wie sie gesellschaftliches Denken formt, wird im Kapitel Wissenschaft eingegangen.

Sprache, ihre Begriffe, Ausdrucksmöglichkeiten, Vergleiche und Anspielungen ist das Medium gesellschaftlichen Denkens. Wie notwendig sich dieses Denken und die Sprache sich bedingen wird später im Kapitel Sprache und Schrift behandelt.

Weil ich mich hier zunächst nur auf wissenschaftliches Denken beziehe, möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass ich im weiteren Verlauf auch auf anderes Denken, Formen des Denkens noch eingehen werde. Insbesondere zu einem Denken, das im Zusammenhang mit bestimmten Kommunikationsmitteln und –formen steht.

An dieser Stelle ist allein wichtig, bei dem hier gebrauchten Begriff von Wissenschaft als der Gesamtheit des im allgemeinen Sinn gedachten Systems der Wissenschaft zu denken, an seine Geschichte, Institutionen, Werte und Wertschätzung und nicht an Wissenschaft, ihrer Fächer und ihrem System der Erkenntnisgewinnung, ihrer Methoden und Einzelergebnisse. Dieser Unterschied ist genau der Unterschied zwischen dem, was einzelne Wissenschaftlerinnen, Forschungsteams und Fachwissenschaften bei ihrer Arbeit als Wissenschaft betreiben und beachten und dem, was der Gesellschaft die Wissenschaft bedeutet, welche Bedeutung der Wissenschaft zugewiesen wird, wie sie Wissenschaft nutzt und welche Ressourcen sie ihr zubilligt.

Klassifikation wissenschaftlichen Denkens

Indem man diesen gesellschaftlichen Denkprozess 'Wissenschaft' historisch verfolgt, lässt sich zum einen feststellen, dass allein dieser Prozess am besten ausdrückt, was ich unter gesellschaftlichem Denken verstehe und wie die globale Weltgesellschaft diesen Prozess in der Vielfalt und Breite als ihr Denken am besten verkörpert.

Zum anderen zeigt eine gröbste Einteilung der Inhalte und Ergebnisse, mit denen sich Wissenschaft beschäftigt die Entfaltung des gesellschaftlichen Denkens.

Mit vier Bereichen im weitesten und gröbsten Sinn befasste und befasst sich gesellschaftliches Denken, das ich zunächst mit Wissenschaft gleichsetze

mit der unbelebten Natur,

mit der belebten Natur, kurz: dem Leben,

mit der Gesellschaft und dem

Denken (der Individuen und der Gesellschaft).

Man kann einwenden, dass diese Grobeinteilung willkürlich ist und unbegründet. Unbegründet deswegen, weil nachweislich zu allen Zeiten Menschen in verschiedenen Gesellschaften quer zu dieser Einteilung gedacht und gewirkt haben.

Andererseits sind die Probleme, Fragen, Methoden, Ergebnisse in diesen Bereichen grundverschieden. Probleme in und mit der unbelebten Natur spielten eine Rolle für Landvermessung, Navigation, Materialbearbeitung, Transport, quantitative Fragen aller Art.

Für den Bereich der belebten Natur galten zu allen Zeiten Fragen zur Entstehung des Lebens, den Problemen des Landbaus und der Tierhaltung, der Frage von Krankheit und Gesundheit, der Ernährung. Während Fragen der Ethik, der Macht und Herrschaft, des Rechts und der Gerechtigkeit dem Bereich der Gesellschaft zugeordnet wurden, befasst und befasste sich Philosophie, die historische Vorläuferin aller Wissenschaften mit dem Denken. Dazu gehören alle Fragen zu Wahrheit, den Erkenntnismöglichkeiten, der Logik, aber auch eine Reihe von Grundfragen, mit denen sich Gesellschaft und Individuen auseinander gesetzt haben. Als da sind: der Anfang der Welt, des eigenen Ichs, der eigenen Gesellschaft, alle Themen der Zukunft und eines Endes.

Es sind aber nicht nur die sehr unterschiedlichen und unterschiedlich komplexen Fragen aus diesen Seinsbereichen, die diese Grobgliederung nahe legen und deren je eigene Systematik begründen. Diese Systematik ergibt sich aus der objektiven zeitlichen und qualitativen Entwicklungslogik der wirklichen Weltbewegung. Mit der Entstehung des Lebens, der tierischen und dann menschlichen Gesellschaften und der qualitativ völlig neuen Welt des menschlichen Denkens bis hin zum heute erkennbaren Stand der Wissenschaften sind Zäsuren und Sprünge faktisch geschehen, die diese Einteilung nicht nur nahe legen, sondern verbindlich machen. Es ist die Verbindlichkeit der Begriffe, wie wir sie bereits beim Begriff der Gesellschaft gesehen haben, die den 'Praxistest' der Gesellschaft bestanden haben. Dieser Praxistest beinhaltet durchaus auch eine Komponente von Übereinstimmung, Akzeptanz und sogar Gewohnheit, ohne die Verständigung auch jenseits von Wissenschaft undenkbar wäre.

Soweit zum Ausgangspunkt jeglichen Denkens und einer Erkenntnis, die folgendes deutlich macht: die wesentlich qualitativ unterschiedlichen Wirklichkeiten, ihre jeweiligen Fragen und Probleme müssen auch unterschiedlich behandelt und gedacht werden. Es ist dringend notwendig, diese Wirklichkeiten zu unterscheiden und spezifisch zu erforschen. Trotz der Tatsache, dass Philosophie als Vorläufer aller Wissenschaft immer alle Bereiche umfasste. Es ist ein wesentliches Anliegen dieses Textes, diese notwendige Unterschiedlichkeit des Herangehens und Denkens in diesen Seinsbereichen deutlich und verständlich zu machen.

Auch die heutige Ausdifferenzierung der Wissenschaften und ihrer Hauptsparten lassen die Wirksamkeit der genannten Grobeinteilung erkennen. Zugleich zeigen die spezifischen Wissenschaftsmethoden in diesen Sparten, die Basisbegriffe und Kategorien sowie die unterschiedliche Methodologie, dass ein innerer Grund dieser Seinsbereiche oder Gegenstandsbereiche vorliegt, der diese Grobeinteilung ebenfalls begründet.

Denken über das Denken – wer ist Subjekt, was Objekt?

Nach diesen Vorbemerkungen geht es nun laut Gesamtüberschrift um 'das Denken', den letzten, großen umfassenden Bereich nach den großen Seinsbereichen, der unbelebten Natur, der belebten Natur, dem Leben generell und der Gesellschaft, also um das Denken überhaupt. Genauer gesagt, es geht um den Unterschied zwischen dem Denken der Menschen – gedacht als Individuen – und dem Denken der Gesellschaft als ganzer, das selbstverständlich nicht die Summe, die Mehrheit oder der Durchschnitt dessen ist, was individuell gedacht wird und wie es gedacht wird.

Mit dieser Einordnung wird bereits das Hauptproblem dieses Gegenstandes deutlich. Während es für die Beschäftigung mit der Natur noch erlaubt sein könnte, die unbelebte Natur als Gegenstand menschlichen Denkens, Wissens und Erkennens zu bezeichnen, ist das für einen 'Gegenstandsbereich' Gesellschaft bereits unmöglich. Wir als Menschen und damit als gesellschaftliche Wesen könnten nie der Gesellschaft als einem Gegenstand unseres Denkens gegenüber treten. Die Trennung eines erkennenden Subjekts von ihrem Objekt des Erkennens, nämlich der Gesellschaft, ist unmöglich. Wer immer über Gesellschaft, seine oder ihre eigene oder eine fremde nachdenkt, betrachtet, analysiert, ist selbst nie losgelöst von dem, was sie oder er, was eine Institution, ob Regierung, Wissenschaft, Kirche, Sozialverband, Schule, Medien bereits aus ihm oder ihr, dem denkenden und erkennenden Menschen gemacht haben.

Das ist Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und Erforschung und sogleich Thema und Grundproblematik jeglicher Gesellschaftstheorie. Trotz dieser erkannten und selbstverständlichen Problematik ist es wissenschaftliche Praxis, dass diese Trennung nicht nur für möglich gehalten wird, sondern tagtäglich praktiziert wird. Soziologie, alle Gesellschaftswissenschaften, ihre Herangehensweise, ihre Methoden, ihre Institutionen, Begriffe und Theorien deuten Gesellschaft als das, was die Wissenschaft, die einzelnen Wissenschaftlerinnen untersuchen, indem sie sich als Subjekt begreifen, das in die Gesellschaft hineinschaut, die sie untersuchen und verstehen wollen. Ein solches Subjekt aber, das selber unabhängig, objektiv von außerhalb auf seinen Gegenstandsbereich schaut und aus dieser Sicht Begriffe, Konzepte, Theorien darüber entwirft, entwickelt, prüft, verwirft und weiter damit arbeitet, kann es beim Objekt 'Gesellschaft' jedenfalls nicht geben.

Selbstverständlich werden die Methoden der wissenschaftlichen soziologischen Erkenntnis sorgfältig geprüft, ob nicht Einflüsse, Abhängigkeiten der Wissenschaftlersubjekte und ihres Tuns die Art und Weise sowie die Inhalte ihrer Erkenntnis beeinträchtigen, stören oder verfälschen. Wie das geprüft wird, darüber geben alle Lehrbücher der empirischen Sozialforschung Auskunft, Anleitung und Begründung. Eine Behandlung würde hier zu weit führen. Ich verweise auf die umfangreiche Literatur. Dabei wird eine tiefer gehende Begründung für die Validität dieser Methoden und Verfahren bereits dem Sachbereich Wissenschaftstheorie zugewiesen.

Aber mit dieser sorgfältigen Prüfung ist es dann auch getan. Die institutionelle Forschungstätigkeit ist damit in der Lage allgemein ihre Begriffe und Konzepte als Elemente und Bestandteile guter, d.h. brauchbarer, zutreffender bis wahrer Erkenntnis weiter zu verwenden. Damit werden diese Begriffe, Konzepte und Theorien zu geltenden Ordnungs-, Wissens- und Denksystemen. Das grundsätzliche Problem scheint damit gelöst und wird nur noch in Randbereichen überhaupt benannt und diskutiert. Genauer: es wird aus dem soziologischen Forschungsprozess ausgegliedert und – wie bereits angemerkt - der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie und deren Problemen zugeordnet. Aus verschiedenen, scheinbar zufälligen Gründen gibt es ab und zu Veränderungen bis hin zu 'Störungen' in und mit den geltenden Ordnungs-, Wissens- und Denksystemen. Es kommt zum sog. Paradigmenwechsel, Änderungen grundlegender Sichtweisen, Perspektiven, Zielstellungen gesellschaftlichen Denkens. Dazu genauer im Kapitel Wissenschaftliche Revolutionen.

Dasselbe passiert und geschieht laufend mit dem 'Gegenstandsbereich' Denken selber. Dieser ist der Philosophie zugeordnet. Er wird auch als Gegenstand der Psychologie, der Medizin, der Neurowissenschaften und dergl. eingeordnet. Bereits mit diesen Zuordnungen werden z.T. schwerwiegende Eingrenzungen und Reduktionen vorgenommen, die aufgrund einer allgemeinen Akzeptanz dieser Zuordnungen oftmals nicht einmal registriert werden.

Wird etwa die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten bei Kindern beschrieben, begrifflich gefasst und kategorisiert, beginnt diese Forschung oftmals direkt bei den Kindern und deren Umfeld. (s. Holzkamp-Osterkamp3). In einer Zeit, in der man immer häufiger von 'künstlicher Intelligenz' spricht, wird man immer wieder auf Zusammenhänge gestoßen, in denen Informationsgewinnung und –verarbeitung von Computern auch mit menschlichen Möglichkeiten des Wahrnehmens, Prüfen und Entscheidens in Verbindung gebracht werden. Auch hier sind dringend Klärungen dieses Zusammenhangs, der vorherrschenden Analogien, ihrer Zulässigkeit und Reichweite erforderlich.

Wenn ich das Denken als 'letzten' der genannten Seinsbereiche bezeichne, ist ebenfalls dieser Sündenfall der wissenschaftlichen Erkenntnis bereits geschehen. Indem unbelebte Natur quasi selbstverständlich Milliarden Jahre unabhängig von menschlichem Tun und Denken existierte, ebenso wie die belebte Natur, schien es erlaubt, dass Menschen zunächst als 'reine' Naturwesen sich mit dieser Natur außerhalb ihres Selbst-Seins beschäftigten, sie erlebten, erforschten und sich unabhängig davon ihre Gedanken über diese Natur machen konnten. Eine zeitliche Reihenfolge der Erkenntnis war doch plausibel? Genauso war es plausibel, dass sie erst viel später im Laufe ihrer historischen Entwicklung sich die Welt erklären wollten, die sie als Gesellschaft schon lange praktizierten. Genauer gesprochen, wollten sie sich diese nicht nur erklären, sondern sie mussten es.

Sie mussten Gesellschaft in und mit ihren Riten, Mythen, Geschichten und Religionen erklären, um überhaupt lebensfähig zu sein. Und dann noch später konnten sie diese Arten der Erklärung als Religion, Philosophie, als menschliche Erkenntnissysteme selbst 'in Frage stellen', d.h. befragen und in neue Zusammenhänge einordnen.

Kurz: allein mit der Frage, wie verhält sich menschlichindividuelles Denken zum gesellschaftlichen Denken, also zu Wissenschaft, Philosophie, Religion, Zeitgeist, Literatur, Medien steht man unmittelbar vor einem verschlungenen Knäuel von Problemen, die akzeptable Klarheit oder einfache Antworten praktisch ausschließen – von Lösungen gar nicht zu reden.

Andererseits gibt es unübersehbar bereits viele Antworten. Wir besitzen umfangreichstes Wissen und unendliche Literatur zur Psychologie des Denkens (Kognition), also des individuellen Denkens und genau so viel Wissen darüber, wie und was Wissenschaft, die Philosophie, Religion und Zeitgeist etc. über das Denken der Gesellschaft zu Tage gefördert hat.

Wo liegt das Problem des Themas?

Angesichts dieser Widersprüche frage ich mich und werden Leserinnen und Leser fragen: Was könnte der Inhalt eines Essays über gesellschaftliches Denken und dessen Verhältnis zum individuellen Denken sein?

Die damit zusammenhängende Frage wäre die folgende: Warum hätte die Beschäftigung mit dieser Frage, diesem Verhältnis überhaupt einen Sinn, eine Bedeutung, wo liegt das Problem?

Ein aktueller Anlass, der ein Licht auf das Problem wirft, besteht m.E. in einer Praxis, die laufend im und für den politischen Diskurs, die Demokratie angewandt wird, eine große Bedeutung hat und genau das Verhältnis von gesellschaftlichem und individuellem Denken betrifft. Ich meine damit z.B. die Befragungen der Bevölkerung zu allen nur denkbaren Themen, die mit nicht geringem Aufwand für Politik und Wirtschaft unabdingbar sind. Es ist bekannt, dass die Ergebnisse dieser Befragungen neben vielen aktuellen Anlässen und Motiven jeweils zwei Hauptfunktionen erfüllen sollen.

Einerseits soll der Öffentlichkeit widergespiegelt werden, was 'man' in dieser Öffentlichkeit oder einem bestimmten Ausschnitt dieser Öffentlichkeit zu einem abgegrenzten Thema denkt bzw. meint und gleichzeitig wird durch das Ergebnis, seiner gezielten Verbreitung und Interpretation für dieses Publikum eine Orientierung gegeben darüber, was gedacht wird, worin Mehrheiten, Minderheiten sich unterscheiden, so dass man sich selber zu- und einordnen kann. Was öffentlich gemeint wird, verarbeitet das Individuum im Verhältnis zu seiner individuellen Einstellung. Zu Recht werden diese Meinungsumfragen und ihr Einsatz als Mittel der Meinungsbildung, Meinungsmanipulation, der Begründung und Rechtfertigung politischen Handelns gewertet. Für die Medien sind Umfrageergebnisse sowohl das Potential der Themen, Schwerpunkte, Meinungen aus dem sie schöpfen, um Bekanntheit, Akzeptanz, Verständnis – schlicht Aufmerksamkeit zu erlangen. Und gleichzeitig verstärken sie dieses Potential – ungeachtet der Stromlinienförmigkeit, der sie sich damit unterwerfen.

An dieser Stelle kann ich nicht auf die Methoden der empirischen Sozialforschung eingehen4, die je nach Aufwand mehr oder weniger zur Anwendung kommen und bei der offiziellen, d.h. seriösen Berichterstattung über die Ergebnisse einer Befragung auch bewertet werden. Hier geht es noch weiter darum, die beiden Hauptfragen zu verfolgen, die die unlösbare Verquickung von individuellem und gesellschaftlichem Denken betreffen und die Relevanz einer Klärung dieses Verhältnisses betreffen.

An dieser Stelle ist verallgemeinernd zu fragen, ob, wie und in welchen Bereichen und Formen Wissenschaft überhaupt als ein Ausdruck gesellschaftlichen Wissens und Denkens aufgefasst werden muss. Historisch jedenfalls gibt es eindeutig Zeiten, in denen völlig andere Weltauffassungen und Welterklärungen als Wissenschaft dominant waren als in unserer Neuzeit, die sich mit dem Fortschritt nicht nur wissenschaftlicher Erkenntnis schmückt, sondern diesen Fortschritt absolut in historischer Hinsicht als letzten und besten Stand feiert.

Mit dem Komplex der sog. Meinungsumfragen ist zwar ein relevantes Thema genannt, das eine genauere Analyse des Themas rechtfertigt. Aber als weit umfassender, wirkmächtiger, bedeutsamer kann man weitere Bereiche benennen, in denen individuelles Denken entwickelt, geprägt und geformt wird durch das geltende gesellschaftliche Wissen und Denken. Dazu gehören in erster Linie die Schulbildung, die Formen und Strukturen der Institutionen des allgemeinen Bildungssystems. Dazu gehört weiter das System der öffentlich zugänglichen und breit genutzten Informations- und Meinungsmedien. Nur, um nicht auszuufern, will ich mich auf diese wichtigen Bereiche beschränken und behaupte, wenn nur in diesen drei genannten Bereichen eine Klarheit der Analyse erkennbar wäre, ist die Frage der Relevanz und damit der Notwendigkeit dieser Analyse bestätigt.

Wie fängt man an?

Bleibt die schwierige Frage, ob und wie man analytisch dem Komplex des Denkens und Fühlens auf der gesellschaftlichen Ebene zu Leibe rücken kann. Zu dieser Frage gehört die Darstellung und Erklärung der Methoden und Ergebnisse, die bisher bekannt sind. Diese Darstellung möchte ich konkret für die genannten drei Bereiche der Meinungsumfrage, des Schulbildungssystems und der Medien so kurz wie möglich vornehmen lediglich zu dem Zweck, um verständlich und vergleichbar zu machen, welche Bedingungen, welche Dynamik der Veränderung und welche Bedeutungen in diesen Bereichen wirksam sind. Es geht also nicht um die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bisher in diesen Bereichen vorliegen. Diese wären auch niemals in einem Zusammenhang oder Werk darstellbar. Es geht vielmehr um die Darstellung dessen, was 'man' – ein unbestimmter gesellschaftlicher Durchschnitt – weiß, wissen könnte oder sollte über Schulbildung, Medien, Meinungsumfragen und Wissenschaft.

Mit dieser Kurzdarstellung allein dieser vier Felder sollte die Vorstellung des gesellschaftlichen Denkens gelingen. Keinesfalls ist damit eine erschöpfende Erklärung dieses Begriffs möglich. Wichtig ist mir bei dieser 'Vorstellung', dass die Unterschiede zum individuellen Fall deutlich werden und dass Anregungen entstehen, die genannten vier Felder im Zusammenhang ihrer Wirkungen, ihres Zusammenspiels bei der Formung des gesellschaftlichen Denkens zu sehen.

Anschließend gehe ich auf einige erhellende schichtspezifische Formen des gesellschaftlichen Denkens ein. Danach versuche ich Begriffe wie Moral, Ängste, Vertrauen etc. als Beispiele gesellschaftlichen Fühlens zu diskutieren in Abhebung zum jeweils individuell verstandenen Begriff.