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Heirat aus Liebe? Niemals! Chloe macht sich auf die Suche nach einem ruhigen und leidenschaftslosen Ehegatten. Viscount Salcombe schließt sie von vornherein aus, obwohl er ihr Avancen macht. Nein, dieser heißblütige Mann kann nicht der Richtige sein - doch weshalb hat sie in seiner Nähe immer Schmetterlinge im Bauch?
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Seitenzahl: 291
IMPRESSUM
Gesucht: Ein Lord zum Heiraten erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2003 by Annemarie Hasnain Originaltitel: „The Viscount’s Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADYBand 499 - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Elisabeth Tappehorn
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733759421
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Chloe sah auf die Uhr auf dem Kaminsims und erschrak. Bereits vor fünf Minuten hätte sie sich bei den anderen im Salon einfinden sollen, aber sie war so in den Artikel über die Getreideknappheit in Europa vertieft gewesen, dass sie gar nicht auf die Zeit geachtet hatte. Eilig erhob sie sich.
„Weiß Justin, dass Sie heimlich seine Zeitschriften lesen?“
Errötend wirbelte sie herum. Brandt, Viscount Salcombe, stand mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen in der Tür. Chloe unterdrückte ein Stöhnen. Weshalb musste ausgerechnet er sie hier entdecken? „Ich … ich wollte nur etwas herausfinden.“
„Im Gentleman’s Magazine? Hatten Sie vor, eines der Themen heute Abend zur Sprache zu bringen?“
Da genau das ihre Absicht gewesen war, errötete sie heftig. „Wie lächerlich!“ Weshalb musste er sie ständig ärgern? Und ihr das Gefühl geben, ein dummes kleines Mädchen zu sein? „Ist es nicht Zeit, zu der Gesellschaft zu fahren?“, fragte sie spitz.
„Ja, deshalb hat Belle mich gebeten, Sie zu suchen. Leider versäumte sie, mir mitzuteilen, dass Sie im Arbeitszimmer sind und Justins Zeitschriften lesen.“
„Es ist nicht notwendig, das zu erwähnen.“ Wenn Belle oder ihr Gatte, der Duke of Westmore, sie nun fragen würden, weshalb sie sich plötzlich für Landwirtschaft interessierte?
„Nun gut, ich werde Ihr Geheimnis für mich behalten – unter einer Bedingung.“
„Welche?“, fragte sie misstrauisch.
„Sie willigen ein, heute Abend mit mir zu tanzen.“
„Na schön“, sagte sie ungnädig. Sie wusste, sie benahm sich kindisch. Aber sie schien nicht in der Lage zu sein, Brandt mit der kühlen Höflichkeit zu begegnen, die eine junge Dame einem Gentleman gegenüber an den Tag legen sollte, auch wenn sie ihn nicht mochte. Dass er in ihr offenbar eine Quelle der Belustigung sah, machte sie noch verdrossener.
Sie legte die Zeitschrift auf den Stapel auf dem Schreibtisch und hoffte inständig, dass Brandt sein Wort halten und sie nicht verraten würde. Belle oder Justin sollten nicht dahinterkommen, dass sie die Absicht hatte, Sir Preston zu heiraten.
Sie marschierte an Brandt vorbei in die Halle und warf ihm einen kühlen Blick zu. Ihre Laune besserte sich nicht, als sie sich in der Kutsche neben Belle setzte und feststellte, dass Brandt ihr gegenüber neben Justin Platz nahm. Seit Brandts Ankunft am Vortag war ihr der Aufenthalt in Falconcliff gründlich verdorben.
Bisher hatte sie eineinhalb idyllische Monate in Devon verbracht. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie wieder ein Gefühl von Freiheit; ihr Vormund Arthur, der Earl of Ralston, und seine Pläne, sie an den Meistbietenden zu verheiraten, waren weit fort. In den ersten Wochen hatte sie sich von einer ernsthaften Grippeerkrankung erholen müssen. Die Seeluft und die ausgedehnten Spaziergänge hatten ebenso dazu beigetragen, dass sie wieder zu Kräften kam, wie ihre Freude, bei Belle, deren Gatten Justin und dem kleinen Julian zu sein, der nun fast sechs Monate alt war. Und sie hatte beschlossen, sich in Sir Preston Kentworth zu verlieben, von dem sie sicher war, dass er ihre Zuneigung zu erwidern begann.
Alles war perfekt gewesen. Bis gestern.
Sie warf Brandt, der sich ungezwungen mit Justin und Belle unterhielt, einen finsteren Blick zu. Er war Justins Cousin, und zwischen den beiden Männern bestand eine unverkennbare Ähnlichkeit. Sie waren annähernd gleich groß, breitschultrig und dunkelhaarig und besaßen beide eine durch nichts zu erschütternde Selbstsicherheit. Eigentlich galt Justin mit seiner kühlen Zurückhaltung als der besser aussehende Gentleman, doch Chloe wusste durch Klatschgeschichten in London, dass viele Frauen Brandt mit seinem entwaffnenden Charme gleichermaßen anziehend fanden.
Zweifellos würde er die hiesigen Damen ebenso bezaubern. Chloe hoffte allerdings, dass er nicht reihenweise gebrochene Herzen zurücklassen würde, denn es war kaum anzunehmen, dass er lange in einem so langweiligen kleinen Ort wie Weyham bleiben würde. Jedenfalls war sie ihm gegenüber immun. Sie fand ihn zwar gut aussehend, doch für ihren Geschmack war er zu groß. Sie zog Männer vor, die nicht auf sie herabsahen und ihr das Gefühl gaben, ihnen hilflos unterlegen zu sein. Das war noch ein Grund, der für Sir Preston sprach, denn mit ihm konnte sie Konversation machen, ohne ihren Hals recken zu müssen.
Chloe sah aus dem Kutschenfenster und stellte fest, dass sie die Gesellschaftsräume erreicht hatten. Das Haus war vor einem halben Jahrhundert erbaut worden, als Weyham ein recht beliebtes Seebad gewesen war. Heutzutage kamen nur noch wenige Besucher an die schönen Strände, die wöchentlichen Gesellschaften indes fanden nach wie vor großen Zuspruch. In der Eingangshalle gestattete Belle den Herren voranzugehen. Sie blieb stehen und wandte sich an Chloe: „Ich weiß, dass du Brandt nicht sonderlich magst“, sagte sie leise, „aber versuch doch bitte, dir das nicht so deutlich anmerken zu lassen.“
„Es tut mir leid. Das kommt nur daher, weil er mich ständig ärgert. War es wirklich so offensichtlich?“
„Ich fürchte, ja. Du hast ihn äußerst finster angestarrt.“
„Oje.“ Chloe wusste, wie sehr Belle den Cousin mochte, der für Justin wie ein Bruder war. „Ich werde mich bemühen, zuvorkommender zu sein, das verspreche ich dir, und heute Abend sogar mit ihm tanzen.“ Sie brauchte ja nicht zu erwähnen, dass sie dazu erpresst worden war.
Belle schenkte ihr ein Lächeln.
„Ich weiß, dass du ein freundliches Wesen hast, und ich hoffe, du wirst es auch Brandt gegenüber zeigen. Er ist wirklich nicht so schlimm. Und er wird noch einige Zeit bei uns bleiben.“
Wie enttäuschend. Sie folgte Belle und beschloss, keinen Gedanken mehr an Brandt zu verschwenden. Mrs. Heyburn, die Gattin des örtlichen Friedensrichters, gesellte sich zu ihnen. Chloe hörte der Konversation nur mit halbem Ohr zu, während sie sich im Saal umsah, in der Hoffnung, Sir Preston zu finden. Schließlich entdeckte sie ihn in einer Gruppe von Gentlemen.
Sie entschuldigte sich bei Belle und Mrs. Heyburn und durchquerte den Saal, dann zögerte sie. Es würde schwierig sein, Sir Preston in Gegenwart seiner Freunde anzusprechen. Er war sehr zurückhaltend und brauchte immer sehr viel Ermutigung. Selbst eine Dame zum Tanz aufzufordern, schien ihm Unbehagen zu bereiten.
Bevor sie zu einem Entschluss gekommen war, was sie nun tun sollte, kam Lydia Sutton zu ihr. „Chloe! Weshalb hast du mir nicht erzählt, dass Lord Salcombe mitkommt!“
„Ich wusste es bis gestern Abend ebenfalls nicht. Er traf unerwartet ein“, erwiderte Chloe ohne große Begeisterung. Sie hatte keine Lust, über Brandt zu sprechen.
„Er ist so schneidig. Und ein Lebemann, nicht wahr?“ Lydia fächelte sich Luft zu. „Weißt du, ob er die Absicht hat, zu tanzen?“
„Das kann ich dir wirklich nicht sagen.“ Chloe bemerkte, dass Sir Preston den Ballsaal verließ. Sie hoffte, er würde sich nicht ins Kartenzimmer begeben. „In London hat er selten getanzt.“ Und er hatte sich keineswegs so skandalös verhalten, wie man ihm nachsagte.
Lydias Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefesselt. „Da ist Emily. Also wirklich! Man sollte meinen, ihr würde auffallen, wie grauenhaft Zitronengelb zu ihrem Teint passt.“
Chloe folgte Lydias Blick. Emily Coltrane stand wie gewöhnlich mit finsterem Gesichtsausdruck in einer Ecke des Saales, als wolle sie jedermann davor warnen, sich ihr zu nähern. Lydia hatte recht, das gelbe Kleid betonte ihre fahle Haut und das mausbraune Haar höchst unvorteilhaft. Obwohl Emily sie aus einem unerfindlichen Grund nicht leiden konnte, tat Chloe das junge Mädchen unwillkürlich leid.
Lydia klappte ihren Fächer zusammen. „Da! Lord Salcombe tanzt mit Lady Haversham. Er ist ein ausgezeichneter Tänzer, findest du nicht?“
Chloe sah zur Tanzfläche, wo Brandt gerade Lady Marguerite Haversham die Hand reichte, der Gattin eines Nachbarn. Die beiden schienen sich über irgendetwas zu amüsieren, und Chloe wandte den Blick ab. Sie musste Lydia unbedingt entkommen, nicht nur um Sir Preston zu finden, sondern weil sie nicht den ganzen Abend über den Viscount sprechen wollte. „Lydia …“, begann sie, doch ehe sie den Satz beenden konnte, kam Gilbert Rushton zu ihnen geschlendert.
„Guten Abend, Lady Chloe, Lydia“, begrüßte er sie grinsend. „Ich habe gesehen, wie Sie beide die Leute beobachten, und mich gefragt, über wen Sie wohl sprechen.“
„Wir haben nur festgestellt, wie gut Lord Salcombe tanzt“, sagte Lydia.
Mr. Rushton warf einen Blick auf die Tanzfläche. „In der Tat. Seine Anwesenheit ist eine Bereicherung für Weyham. Gerüchten zufolge hat er Waverly erworben.“
„Wie großartig!“, rief Lydia aus.
Chloe drehte sich der Magen um. „Das kann nicht sein!“, protestierte sie. Sir Preston war für den Moment völlig vergessen.
Mr. Rushton hob eine Braue. „Weshalb nicht?“
„Weil …“ Weil sie sich nicht vorstellen konnte, wo er das Geld dafür herhaben sollte. Und darüber hinaus war er der letzte Mensch, den sie in dem alten Anwesen sehen wollte, in das sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte: Es hatte sich trotz der überwucherten Gärten und bröckelnden Mauern eine solide Würde bewahrt. Die dort stehende vernachlässigte Kapelle mit ihrem winzigen ummauerten Garten war das Romantischste, was man sich vorstellen konnte. Es gab auch Gerüchte darüber, dass Geheimgänge auf dem Gelände existierten, die vom Haus zur Kapelle und sogar bis an die darunterliegende Küste führen sollten. Chloe war entzückt gewesen, als Arbeiter kurz nach ihrer Ankunft auf Falconcliff damit begonnen hatten, das Dach und die Wände zu reparieren. Die Identität des Käufers blieb unbekannt, obwohl im Dorf unzählige Vermutungen angestellt wurden, wer er sein könnte. „Ein solches Haus würde ihm gewiss überhaupt nicht gefallen. Sie irren sich sicher. Ich muss jetzt wirklich Belle suchen.“
„Du kommst doch morgen zu mir, nicht wahr?“, hielt Lydia sie auf. „Denk daran, wir wollen die Tänze für den Ball der Havershams üben. Mr. Rushton wird ebenfalls da sein“, fügte sie hinzu und bedachte den jungen Mann mit einem strengen Blick.
„Allerdings. Indes muss ich nun meine Verabredung zum Kartenspiel einhalten.“ Mr. Rushton verbeugte sich und schlenderte davon.
„Du kommst doch, nicht wahr, Chloe? Hast du Sir Preston nicht versprochen, ihm den Walzer beizubringen?“
„Oh ja.“ Wie hätte sie das vergessen sollen, wo sie so viel Zeit damit verbracht hatte, etwas über Landwirtschaft zu lesen, damit sie Sir Preston mit ihrem neu erworbenen Wissen beeindrucken konnte.
„Meinst du, Lord Salcombe würde sich uns anschließen?“
„Lord Salcombe?“ Chloe starrte nun Lydia an. „Höchstwahrscheinlich nicht. Er findet einen solchen Zeitvertreib sicher zu langweilig.“
„Vielleicht könntest du ihn fragen. Ihr seid schließlich verwandt.“
„Wir sind allenfalls angeheiratete Verwandte.“ Auch wenn sie Belle als Schwester betrachtete, so war diese in Wahrheit doch nur ihre Schwägerin, weil sie in erster Ehe Chloes Halbbruder Lucien geheiratet hatte.
„Fragst du ihn trotzdem?“
„Vielleicht“, erwiderte Chloe unbestimmt. Ihr war ganz und gar nicht wohl bei der Vorstellung, dass Brandt sie mit seinen sarkastisch blitzenden Augen beobachtete, während sie versuchte, sich mit Sir Preston über Landwirtschaft zu unterhalten.
Sir Preston schien tatsächlich im Kartenzimmer zu sein – jedenfalls konnte sie ihn nirgends entdecken. Sie hörte ihren Namen, drehte sich um und sah Lady Kentworth, Sir Prestons Mutter, vor sich, das dicke Gesicht zu einem Lächeln verzogen. „Meine liebe Lady Chloe! Wie entzückend, Sie zu treffen. Haben Sie meinen Sohn gesehen? Nein? Dann ist er sicher im Kartenzimmer. Ich hoffe, er lässt sich wenigstens zu einem Tanz überreden. Vielleicht mit Ihnen, Sie sind doch so gute Freunde geworden.“ Sie gab Chloe keine Möglichkeit, darauf zu antworten, und plapperte mit ihrer lauten Stimme weiter, bis sie endlich erklärte, sie wolle eine Runde Karten spielen. Sie bestand darauf, dass Chloe Sir Preston unbedingt begrüßen müsse, und so kam es, dass Chloe Lady Kentworth ins Kartenzimmer begleitete.
Der Raum, den man für die Kartenspiele reserviert hatte, war klein und stickig. Es war Chloe peinlich, wie Lady Kentworth sie zwischen den eng beieinanderstehenden Tischen hindurchführte. Mehrere Anwesende sahen auf, als sie an ihnen vorbeikamen, unter anderem Lady Haversham, die ihr einen mitleidigen Blick zuwarf. Als sie bei Sir Preston stehen blieben, wäre Chloe am liebsten davongelaufen. Er saß mit zwei anderen Gentlemen am Tisch. Mr. Blanton und – Brandt.
„Preston, mein Junge. Lady Chloe ist hier.“
Die Männer blickten hoch. Chloe spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, als Brandt sie musterte. „Lady Chloe. Möchten Sie sich zu uns gesellen? Oder wollten Sie mich an unseren Tanz erinnern?“
Den Tanz? Den hatte sie vollkommen vergessen. „Ich wollte nur ein wenig zuschauen.“
„Vielleicht möchte Lady Chloe gerne eine Runde spielen. Sir Preston hat es ihr nämlich beigebracht, wissen Sie“, verkündete Lady Kentworth.
„Nein danke, ich muss wirklich gehen und …“
Sir Preston sah sie an. Ein Lächeln erhellte sein angenehmes, kantiges Gesicht. „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich zu uns gesellen.“
„Ich glaube nicht …“
Mr. Blanton lächelte ebenfalls. „Kein Grund, schüchtern zu sein, Lady Chloe. Kentworth behauptet, Sie seien eine vielversprechende Schülerin.“
„Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen“, fügte Lady Kentworth hinzu. „Setzen Sie sich, Lady Chloe.“ Ihr Ton duldete keinen Widerspruch, und so nahm Chloe neben Brandt Platz. Lady Kentworth strahlte. „Sehr schön. Ich habe Sylvie Compton versprochen, eine Runde mit ihr zu spielen.“ Geschäftig eilte sie davon.
Chloe wusste nicht, wohin sie schauen sollte. „Ich möchte wirklich nicht spielen.“
„Haben Sie Angst, dass wir Sie vernichtend schlagen?“, fragte Brandt mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen.
„Natürlich nicht“, erwiderte sie gereizt, doch dann fiel ihr ein, dass man sie ja für eine Anfängerin hielt. „Ich meine, ich rechne durchaus damit.“ Das klang keineswegs besser, und es war Brandt deutlich anzusehen, wie amüsiert er war.
„Dann spielen Sie eben Whist. Salcombe kann Ihr Partner sein“, schlug Mr. Blanton vor. „So haben alle gleich gute Chancen.“
Brandt? Sie sah ihn kurz an. Er erwiderte ihren Blick mit ausdruckslosem Gesicht. Sie hob das Kinn. „Ich hatte eigentlich an Sir Preston gedacht.“
Sir Preston schaute erschrocken drein. „Äh, ich fühle mich natürlich geehrt, aber ich bin gewiss nicht der beste Partner für Sie. Salcombe hat mehr Erfahrung.“
Jetzt verstand sie. Sie dachten, sie würde so schlecht spielen, dass Brandt ihre fehlenden Kenntnisse wettmachen müsste. „Wir werden uns sicher gut schlagen.“
Sie hätte völlig blind sein müssen, um den Blick zu übersehen, den die drei Männer tauschten. „Äh, zweifellos“, sagte Sir Preston.
Sie konnte es ihnen kaum verübeln. Sie hatte keineswegs die Absicht gehabt, in Devon zu spielen, aber bei einer Gesellschaft vor einem Monat hatte Sir Preston bemerkt, wie sie bei einem Spiel zugesehen hatte, und angenommen, dass sie es nicht konnte. Er war zu ihr getreten und hatte ihr angeboten, es ihr beizubringen. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht hatte, seinen Eindruck von ihr zu korrigieren. Als sie damals sein offenes, freundliches Gesicht betrachtet hatte, während er ihr die Regeln erklärte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass er genau der richtige Ehegatte für sie wäre. Ihr Glück wurde nur durch das Wissen getrübt, dass sie ihn betrog, denn es fiel ihr immer schwerer, Unkenntnis vorzutäuschen und den Drang, zu gewinnen, den sie so an sich hasste, zu beherrschen.
„Dann wäre das geregelt.“ Brandt nahm das Kartendeck zur Hand. „Whist?“
„Whist, bitte.“
Chloe hob ab, dann teilte Brandt die Karten aus, und das Spiel begann. Nach wenigen Zügen wurde ihr klar, dass die drei Männer, vor allem Brandt, nachsichtig mit ihr waren. Als er die Karte nicht ausspielte, von der sie annahm, dass er sie auf der Hand hatte, und sie einen Stich machen ließ, hatte sie es plötzlich satt, Unfähigkeit vorzutäuschen. Sobald sie wieder an der Reihe war, machte sie einen Stich und dann noch einen. Blanton rieb sich das Kinn und warf Brandt mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu. Als sie den nächsten Stich ebenfalls bekam, konnte sie beinahe spüren, wie die Atmosphäre zu knistern begann. Die fiebrige Konzentration, die sie seit einer Ewigkeit nicht mehr verspürt hatte, ergriff Besitz von ihr, und sie vergaß alles, außer dem Wunsch, zu gewinnen. Sie würde Brandt beweisen, dass sie nicht das dumme kleine Mädchen war, für das er sie hielt.
Sie spielten drei Runden, und am Ende waren sie und Sir Preston Sieger. Chloe wandte sich zu Brandt und versuchte gar nicht erst, ihren Triumph zu verbergen. „Wir haben fünf Punkte.“
Schweigen. Die drei Männer starrten sie an. „In der Tat“, sagte Brandt schließlich. Chloe vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten.
„Hervorragend!“, rief jemand hinter ihr. „Noch nie hat jemand Brandt beim Whist besiegt.“ Erschrocken bemerkte Chloe, dass Lady Haversham und mehrere andere Leute sich um sie geschart hatten. Sie wäre am liebsten im Boden versunken, doch sie zwang sich, Sir Preston anzusehen.
„Großartig, Lady Chloe“, sagte Sir Preston verblüfft. „Ich hätte nie gedacht … nun jedenfalls nicht, als wir letztes Mal miteinander gespielt haben.“
„Eine weitere Runde, Salcombe?“, dröhnte Squire Heyburn. „Ein Spiel zwischen Ihnen und Lady Chloe. Ich werde mein Geld jedenfalls auf Lady Chloe setzen. Was haben Sie ihr außerdem beigebracht, Kentworth? Piquet?“
„Ich denke nicht …“, begann Chloe.
„Kommen Sie, Lady Chloe“, unterbrach Mr. Blanton sie. „Nur ein Spiel. Solche Fähigkeiten sollte man nicht verkümmern lassen.“
„Obwohl ich immer wieder feststelle, dass Kartenspielen zum großen Teil Glückssache ist.“ Emily Coltrane musterte Chloe mit dem kühlen, missbilligenden Blick, mit dem sie sie stets ansah.
„Nun, es hängt davon ab, ob man weiß, wie man die Gelegenheit nutzt, die sich einem bietet“, sagte Brandt schleppend.
„Das weiß Lady Chloe auf jeden Fall“, dröhnte der Squire. „Kommen Sie, noch ein Spiel.“
Komm schon, Chloe, noch ein Spiel. Plötzlich war sie wieder in dem dunklen, feuchten Arbeitszimmer in Braddon Hall, und ihr Bruder Lucien lächelte charmant und bedrängte sie schmeichelnd, eine weitere Runde gegen einen seiner betrunkenen Freunde zu spielen. Sie konnte sich nicht weigern, denn dann würde sein strahlendes Lächeln verschwinden und dem höhnischen Grinsen weichen, das ihr Angst machte. Also musste sie so lange weiterspielen, bis er sie in ihr Schlafgemach schickte, wo sie in ihr Bett und in einen von Albträumen geplagten Schlaf fallen würde.
„Chloe?“ Marguerites besorgte Stimme riss sie aus ihrer Trance. Sie erhob sich, die Freude über ihren Sieg war verschwunden. Im Augenblick wollte sie nur noch fort. „Danke, nein. Jedenfalls nicht jetzt. Emily hat völlig recht. Ich habe einfach Glück gehabt.“
Brandt erhob sich ebenfalls. „Lady Chloe hat mir einen Tanz versprochen.“ Er reichte ihr seinen Arm. „Ich werde Sie in den Ballsaal zurückbegleiten.“
Sie wusste kaum, was sie tat, als sie sich bei ihm einhakte. Marguerite nickte, obwohl sie noch immer besorgt aussah. „Eine großartige Idee.“
Chloe brachte ein Lächeln zustande. Brandt führte sie in den Ballsaal, wo gerade ein Ländler getanzt wurde. Er sah sie mit einem nachdenklichen, prüfenden Blick an.
„Wo haben Sie so gut Kartenspielen gelernt?“
Sie erschrak. „Sir Preston hat es mir beigebracht.“ Das klang selbst in ihren eigenen Ohren gelogen.
„Seine Fähigkeiten als Lehrer übersteigen anscheinend seine Fähigkeiten als Spieler bei Weitem.“
„Ich hatte heute Abend einfach Glück.“
„Natürlich.“
Sie hatte den Verdacht, dass er ihr kein Wort glaubte. „Ich … ich werde bestimmt haushoch verlieren, wenn ich das nächste Mal spiele.“
„Sie unterschätzen Ihre Fähigkeiten. Sie sind außergewöhnlich talentiert.“
„Wenn das so ist, dann ist es ein Talent, das ich lieber nicht hätte!“, platzte es aus ihr heraus. Als sie seinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
„Sie brauchen sich dessen nicht zu schämen“, sagte er schließlich. „Ich bezweifle, dass Sie die Absicht haben, Ihr Talent an den Spieltischen zu nutzen.“
Einen Augenblick lang war ihr schwindlig, und ihr wurde beinahe übel. „Ganz sicher nicht“, erwiderte sie schwach.
Er starrte sie an. „Ich wollte Sie nicht aufregen.“
„Ich … das haben Sie nicht.“
„Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen. Vergessen Sie den Tanz. Sie sollten sich setzen.“
Bevor sie protestieren konnte, führte er sie in ein kleines Zimmer neben dem Ballsaal, in dem es verschiedene Sitzgelegenheiten gab. Er brachte sie zu einem Sessel und bestand darauf, dass sie Platz nahm. „Ich werde Belle zu Ihnen schicken und Ihnen eine Limonade holen.“
Wenige Minuten später kam Belle in den Raum geeilt. „Chloe, was ist los? Brandt sagt, du wärest im Ballsaal beinahe in Ohnmacht gefallen.“
„Er übertreibt.“
Belle setzte sich in den Sessel neben ihr und betrachtete sie besorgt. „Was ist passiert?“, fragte sie sanft.
„Nichts …“, begann Chloe, brach dann jedoch ab. „Oh, Belle, ich habe etwas ganz Schreckliches getan… Ich habe mit Sir Preston, Mr. Blanton und Brandt Whist gespielt. Sir Preston war mein Partner und … und wir haben gewonnen.“
Belle schwieg einen Augenblick. „Was ist daran so schrecklich?“
„Ich habe die ganze Zeit so getan, als verstünde ich nichts vom Kartenspielen! Und niemand sollte herausfinden, dass das nicht stimmt! Ich hatte wirklich nicht vor, zu spielen, doch als Lady Kentworth darauf bestand, habe ich schließlich zugestimmt. Ich merkte sofort, dass sie mich schonten, und das machte mich wütend. Ich wollte ihnen beweisen, dass ich nicht so dumm bin, wie sie meinten … Was mir ja auch gelungen ist; ich habe es jedoch umgehend bereut. Alle waren verblüfft und bestanden darauf, dass ich weiterspiele, und ich wollte ihnen nur noch entkommen.“
Sie holte Luft. „Als wir wieder im Ballsaal waren, fragte Brandt mich, wo ich so gut Kartenspielen gelernt hätte. Ich konnte sehen, dass er mir nicht glaubte, als ich ihm erklärte, Sir Preston habe es mir beigebracht.“ Sie starrte Belle an. „Ich wollte heute Abend gewinnen, Belle, unbedingt. Genau wie früher. Und ich hasse mich dafür. Wie alle mich erstaunt anstarren und dann wetten, ob ich auch das nächste Spiel gewinnen werde.“
„Es ist doch nicht so wie damals“, sagte Belle sanft. „Es gibt keinen Lucien mehr, der dich nötigt, weiterzuspielen.“ Sie nahm Chloes Hand. „Du warst erst dreizehn, eigentlich ein Kind. Lucien war ein schlechter Mensch, weil er dich für seine Zwecke benutzt hat.“
„Dennoch habe ich gespürt, dass das, was ich tat, falsch war. Ich hätte es Papa sagen sollen“, flüsterte Chloe. Oh, wie oft hatte sie sich das bereits vorgeworfen?
„Lucien hat dir doch gedroht, dass es dir schlecht ergehen würde, wenn du etwas sagst. Wie hättest du dagegen ankommen sollen?“ Belle drückte Chloes Hand und sah hoch. „Brandt kommt mit deiner Limonade. Du musst all das hinter dir lassen – es ist Vergangenheit. Lucien ist tot. Er kann niemandem mehr wehtun.“
„Du hast recht, Belle.“ Außer dass sie nach dem heutigen Abend befürchten musste, dass die Vergangenheit sie einholen würde, obwohl sie sich solche Mühe gab, sie zu vergessen.
Brandt stand am Fenster des Frühstückssalons. Er hatte seinen jüngsten Cousin auf dem Arm und fragte sich, worüber man sich mit einem fünf Monate alten Säugling unterhielt. Der kleine Marquis of Wroth gab einen glucksenden Laut von sich und schaute ihn unverwandt an. Würde er etwa anfangen zu weinen? Brandt räusperte sich. „Ich fürchte, deine Mama hat dich sehr unerfahrenen Händen überlassen. Ich hoffe, sie ist gleich wieder da.“
Plötzlich verzog der Kleine den Mund, und Brandt stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sein winziger Cousin ihn anlächelte. Unwillkürlich lächelte er zurück und strich sanft über die weiche Wange des Jungen. Der kleine Julian gluckste erneut, hob seine pummelige Hand und hielt Brandts Finger fest. Unerwartet durchflutete Brandt ein Gefühl der Wärme, und plötzlich war ihm klar, weshalb Justin so völlig im Bann seines Sohnes stand. Natürlich hatte er Julian bei seiner Taufe gesehen, da er der Pate des Kindes war, aber damals hatte ihm das Glück seines Cousins das Gefühl gegeben, nicht dazuzugehören. Nun bedauerte Brandt, dass er so lange nicht mehr da gewesen war.
Er hörte Schritte und hob den Kopf. Da er Belle erwartete, erschrak er, als er stattdessen Chloe erblickte. Sie sah ihn ebenfalls erschrocken an. Dann bemerkte sie Julian auf seinem Arm, und ihre Augen weiteten sich erstaunt.
„Die Duchess bat mich, Kindermädchen zu spielen, solange sie sich mit Mrs. Keith bespricht.“
„Ich verstehe.“ Chloes Gesichtsausdruck war beherrscht, wie stets, wenn sie in seiner Nähe war. Sie trug ein cremefarbenes Musselinkleid, und ihr rotbraunes Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten gesteckt. Ein paar Löckchen umrahmten ihr Gesicht. Sie sah frisch und hübsch aus. Und vollkommen unberührbar. Er hatte keine Ahnung, wie es einem Mädchen, das so warm lächeln konnte, gelang, sich gleichzeitig jeden möglichen Verehrer vom Leibe zu halten. Er war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie ihn nicht mochte, und er konnte es ihr bis zu einem gewissen Grad nicht verübeln. Dennoch verwirrte es ihn, dass sie auch die Annäherungsversuche anderer begehrenswerter junger Gentlemen zurückwies.
Auch ihr Verhalten am vorherigen Abend am Kartentisch verwirrte ihn. Jeder Narr konnte sehen, dass sie keine Anfängerin war. Weshalb hatte sie dann so getan, als habe Kentworth ihr das Kartenspiel beigebracht? Noch verwirrender war ihre entsetzte Miene gewesen, nachdem sie gewonnen hatte.
Julian strampelte und streckte seine Ärmchen nach Chloe aus. „Ich glaube, er möchte zu Ihnen.“ Brandt warf einen zweifelnden Blick auf ihr Kleid. „Falls Sie ihn haben möchten.“
„Natürlich.“ Chloe trat zu ihm und nahm ihm das Kind ab. Der Junge kuschelte sich an sie, drehte das Köpfchen und lächelte Brandt zögernd an. Chloes Gesichtsausdruck wurde weich, als sie den Kleinen betrachtete. Dann blickte sie Brandt an. „Er mag Sie.“
„Das will ich hoffen, schließlich sind wir verwandt.“
„Ich glaube nicht, dass das der einzige Grund ist.“
„Und welchen Grund könnte es sonst dafür geben?“
„Ich …“ Sie wirkte verlegen. „Sie sind nett.“
„Ah. Ein Kompliment aus Ihrem Munde. Ich werde es hüten wie einen Schatz.“
Sie errötete heftig. „Sie brauchen nicht so sarkastisch zu sein.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder verschlossen, und sie senkte rasch den Blick.
Er verkniff sich einen Fluch. Er hatte keine Ahnung, weshalb er in ihrer Gegenwart so unbeholfen war.
Sie setzte sich an den Tisch. Sofort griff Julian nach einem Löffel. Als er ihm aus der Hand fiel, begann er zu weinen.
Brandt starrte den Jungen ratlos an. „Soll ich Belle holen gehen?“
„Nein. Heben Sie den Löffel auf.“ Chloe erhob sich, wiegte den Jungen sanft hin und her und sprach leise auf ihn ein.
Brandt holte den Löffel unter dem Stuhl hervor. Er hielt ihn Julian hin. Der Kleine hörte auf zu weinen, doch statt nach dem Löffel zu greifen, streckte er Brandt seine Ärmchen entgegen.
„Er möchte wieder zu Ihnen“, sagte Chloe. „Hier …“ Sie hielt ihm Julian hin.
Und wieder hielt Brandt das pummelige, glucksende Bündel in den Armen, das ihn mit einem strahlenden Lächeln ansah. Er erwiderte das Lächeln und hatte das höchst seltsame Gefühl, dass er nie mehr derselbe sein würde.
Er warf Chloe einen Blick zu und stellte fest, dass sie ihn beobachtete. Und was noch erstaunlicher war, sie lächelte ihn tatsächlich an. Zum zweiten Mal innerhalb einer Minute wurde ihm beinahe schwindlig. „Er ist … er ist entzückend.“ Das schien ihm völlig unzureichend zu sein.
„Das finde ich auch.“ Sie lächelte dieses warme Lächeln, das er erst ein- oder zweimal an ihr gesehen hatte. Es ließ ihr Gesicht aufleuchten, sodass sie unglaublich schön aussah.
Brandt fühlte sich, als habe er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Ihr Lächeln schwand, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Julian begann zu strampeln und gab fröhliche, ungeduldige Laute von sich. Als Brandt sich von Chloes Anblick losriss, sah er, weshalb: Justin und Belle waren gerade hereingekommen.
Der Duke of Westmore blieb stehen. „Du scheinst ja erstaunlich gut mit unserem Sohn zurechtzukommen.“
„Glücklicherweise kam Chloe, kurz nachdem Belle gegangen war, und rettete mich.“
„Er hatte es nicht nötig, gerettet zu werden“, sagte Chloe.
Überrascht, dass sie ihn verteidigte, warf er ihr einen Blick zu, doch ihr Gesicht zeigte wieder den üblichen verschlossenen Ausdruck. Julian kreischte und streckte seine Ärmchen nach seinem Vater aus. Lächelnd nahm Justin seinen Sohn und drückte einen Kuss auf seinen Scheitel. Dann sah er seine Gattin an. Sie lächelte ihm zu, und für einen kurzen Moment schienen die drei auf eine Weise verbunden zu sein, die den Rest der Welt ausschloss.
Ein merkwürdiges Gefühl durchzuckte Brandt wie ein kurzer, heftiger Blitz. Er begegnete Chloes Blick. Sie starrten einander an, und er meinte das gleiche Sehnen in ihren Augen wahrzunehmen, das er selber empfand. Dann sah sie weg.
Irgendetwas an dieser Verbindung zwischen ihnen beunruhigte ihn, und er wollte flüchten. „Da ihr meine Dienste als Kindermädchen nicht mehr benötigt, werde ich mich verabschieden und meinen Anwalt aufsuchen.“ Er lächelte Belle an. „Ich fürchte, du wirst hier öfter über mich stolpern, als dir lieb sein könnte.“
Sie erwiderte sein Lächeln. „Das bezweifle ich. Ich bin froh, dass du uns endlich besuchst. Ich hatte schon Angst, dass du für Julian ein Fremder bleibst.“
Brandt sah das Kind an, das ihm so plötzlich ans Herz gewachsen war. „Das brauchst du nicht mehr zu befürchten“, sagte er weich.
Er verabschiedete sich und nickte Chloe kurz zu. Dieses eine Mal hatte er keine Lust, sie zu necken. Tatsächlich schien es ihm das Beste zu sein, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen.
Er war fast vor der Kanzlei des Anwalts angelangt, als ihm auf einmal einfiel, dass Ms. Sutton ihn am Abend zuvor zu der Tanzstunde eingeladen hatte, die an diesem Nachmittag in ihrem Hause stattfinden würde. Sie hatte die Hoffnung geäußert, ihn zu dieser Gelegenheit begrüßen zu dürfen. Dass sie hinzugefügt hatte, Chloe sei der Ansicht, dass er eine solche Zerstreuung langweilig finden würde, hatte ausgereicht, ihr augenblicklich eine Zusage zu geben. Besonders als er erfahren hatte, dass Chloe dabei sein würde. Er freute sich darauf, ihr zu beweisen, dass er keineswegs der gelangweilte Mann von Welt war, für den sie ihn offenbar hielt. Im Augenblick allerdings schien ihm die Aussicht auf den Nachmittag nicht mehr so verlockend.
Als Chloe sich wieder an den Frühstückstisch setzte, überschlugen sich ihre Gedanken. Was war da gerade geschehen? Für einen kurzen Moment, als ihre Blicke sich trafen, hatte sie ganz genau gewusst, was Brandt dachte und was er fühlte. Sie hatte eine verletzliche Seite an ihm gesehen, die ihn rührend menschlich machte. Allerdings war sie bereits völlig aus dem Gleichgewicht geraten, als er Julian das zweite Mal auf den Arm genommen hatte. Der arrogante, kühle Viscount war plötzlich wie ausgewechselt gewesen. Als sein Gesichtsausdruck beim Anblick des Kleinen weich geworden war und er verkündet hatte, der Junge sei entzückend, war ihre Abneigung gegen ihn geschwunden.
„Chloe?“
Ihr wurde bewusst, dass sie den Toast auf ihrem Teller angestarrt hatte. „Ich … ich fürchte, ich war in Gedanken versunken, Belle.“
„Das sehe ich. Bist du noch wegen gestern Abend beunruhigt? Oder hat Brandt etwas gesagt, das dich beschäftigt?“
„Er war nur besorgt, weil er Julian auf dem Arm hatte.“
Belle lächelte. „So ist das bei Männern. Ich habe Brandt nie zuvor so bestürzt gesehen wie in dem Moment, als ich ihn bat, Julian zu halten, während ich mit Mrs. Keith spreche. Ich war überrascht, dass er ihn auf dem Arm behalten hat, bis ich zurückkam. Ich war sicher, er würde ihn dir sofort geben.“
„Das tat er, doch Julian hat ihm unmissverständlich klargemacht, dass er wieder zu ihm wollte.“
Belle lachte. Sie goss sich Kaffee nach und warf Chloe einen Blick zu. „Das klingt nicht danach, als ob ihr auf dem Kriegsfuß gestanden hättet.“
„Ausnahmsweise nicht.“
„Gut. Ich hoffe nämlich, ihr könnt Freunde werden.“
„Das bezweifle ich. Wir kommen nicht gut miteinander aus.“
„Bist du sicher? Ich habe das Gefühl, die Abneigung geht hauptsächlich von dir aus. Allerdings weiß ich nicht recht, was du gegen ihn hast.“
„Er ist mir zu arrogant. Solche Männer kann ich nicht leiden.“ Chloe senkte den Blick.
„Das ist schade, denn ich glaube, er mag dich“, sagte Belle sanft.
Chloes Kopf ruckte hoch. „Das bezweifle ich. Er neckt mich gnadenlos, und es scheint ihn zu freuen, dass ich mich darüber ärgere.“
„Ich denke eher, er tut das, um deine Aufmerksamkeit zu erlangen. Sonst neigst du nämlich dazu, ihn zu schneiden.“
Chloes Wangen röteten sich. Es lag nicht in ihrer Natur, jemanden zu kränken, und sie hatte ihre Unhöflichkeit Brandt gegenüber damit entschuldigt, dass er wahrscheinlich ohnehin keine Gefühle habe, die sie verletzen könnte. „Ich nehme an, ich kann ihm einfach nicht verzeihen, wie er dich zu Anfang behandelt hat. Wie konnte er glauben, dass du irgendetwas mit Luciens Plan zu tun hattest, Justin zu vernichten.“ Sie würde niemals vergessen, wie kaltherzig Brandt sich Belle gegenüber verhalten hatte, als sie ihm zum ersten Mal bei einer Soiree begegnet war. Schon allein deswegen hatte sie sofort eine Abneigung gegen ihn gefasst.
„Das ist Vergangenheit. Und du mochtest Justin zunächst auch nicht, doch jetzt scheinst du nichts mehr gegen ihn zu haben. Wenn überhaupt, dann war er derjenige, der die Absicht hatte, mich zu verletzen, während Brandt einzig seinen Cousin beschützen wollte. Genau wie du versucht hast, mich zu beschützen.“
„Ich weiß.“ Ihre Gefühle waren sicherlich unvernünftig. Als Justin nach England zurückgekehrt war, hatte er allen Grund gehabt, zu glauben, dass Belle Luciens Komplizin war. Lucien hatte geplant, Justins Vater zu zerstören, indem er Justin in einem Duell tötete. Stattdessen war Lucien verwundet und Justin auf den Kontinent verbannt worden. Justin war darauf versessen gewesen, sich zu rächen, und hatte sich zum Ziel gesetzt, Belle zu seiner Mätresse zu machen. Wenn überhaupt, hätte sie, Chloe, Justin verabscheuen müssen, doch wie konnte sie das, wenn er Belle und nun Julian so offensichtlich liebte? Außerdem hatte er sie so freundlich bei sich aufgenommen, obwohl er sie ebenso gut hätte hassen können, weil sie Luciens Halbschwester war.
„Es gibt einen weiteren Grund, weshalb ich hoffe, dass du Brandt mit der Zeit besser leiden kannst“, fuhr Belle fort. „Er wird unser Nachbar.“
Resigniert erkannte Chloe, dass Mr. Rushton recht gehabt hatte. „Er hat also Waverly gekauft.“
„Woher weißt du es?“
„Mr. Rushton sprach gestern Abend davon.“ Chloe biss sich auf die Lippe. „Weshalb hast du es mir nicht erzählt?“
„Er bat mich, nichts darüber verlauten zu lassen, da es Ungereimtheiten bei den Eigentumsrechten gab, die erst ausgeräumt werden mussten. Aber er wird den Kaufvertrag heute unterzeichnen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb er das Anwesen haben will! Es ist alt und vernachlässigt und hat keine modernen Annehmlichkeiten. Weshalb kann er nicht in Salcombe House wohnen?“
„Er mag Salcombe House nicht“, sagte Belle freundlich.
„Und woher hat er das Geld, Waverly zu kaufen?“, platzte Chloe heraus und war zutiefst beschämt, als sie den leisen Vorwurf in Belles Gesichtsausdruck sah. „Oh, Belle, es tut mir leid. Ich hätte so etwas Unhöfliches nicht äußern dürfen. Schließlich geht es mich wirklich nichts an.“