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An einem düsteren Oktoberabend, den kalten Regen im Gesicht, bricht der achtundsechzigjährige Georg Fiedler zu einer seiner üblichen Wanderungen auf. Doch was als gewöhnlicher Spaziergang beginnt, endet in einem Albtraum, als er Zeuge eines tödlichen Vorfalls wird. Eine junge Frau stürzt von einem Felsplateau in die Tiefe, und Fiedler steht fassungslos vor der zerbrochenen Leiche. Wer war die geheimnisvolle Gestalt, die sie in den Tod gestoßen hat? Oberleutnant Bothe und sein Team nehmen die Ermittlungen auf und tauchen tief in ein Netz aus Lügen, Verrat und dunklen Geheimnissen ein. Als die Wahrheit ans Licht kommt, wird klar: Nicht jeder, der unschuldig scheint, ist es auch. Werden sie den Täter rechtzeitig fassen, bevor er erneut zuschlägt?
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Seitenzahl: 81
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Klaus Möckel
Gesucht: Person mit Schirm
Kriminalerzählung
ISBN 978-3-68912-132-7 (E-Book)
Das Buch erschien das erste Mal im Jahr 1972 im Verlag Das Neue Berlin (Heft 136 der Blaulichtserie).
Das Titelbild wurde mit KI erstellt.
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Der Mann, der am Abend des sechsten Oktober, einem kalten, regnerischen Dienstagabend, von Cohnsdorf aus durch die Wälder zur Kreisstadt ging, hieß Georg Fiedler und gehörte zu jenen selten gewordenen Menschen, die mindestens einmal in der Woche einen langen Fußmarsch unternehmen. Rentner, achtundsechzigjährig, schien er schon etwas klapprig, aber der Schein täuschte. Wanderungen von dreißig bis vierzig Kilometern am Tag machten ihm nichts aus, und er hätte es entrüstet zurückgewiesen, sich etwa unterwegs von einem Auto mitnehmen zu lassen. Auch an diesem Abend wäre er zur vorgesehenen Zeit am Ziel angekommen, hätte ihn nicht ein unerwarteter Vorfall daran gehindert.
Es geschah gegen neunzehn Uhr, in einem Augenblick, als Fiedler gerade eine Ruhepause einlegte. Er hatte die Strecke zur Wassermühle und den Weg durch den Ahlener Forst ziemlich schnell hinter sich gebracht und machte nun an einer etwas erhöhten Stelle halt. Umständlich holte er seine altmodische goldene Taschenuhr hervor, um nach der Zeit zu sehen, als ihn einige unverständliche Gesprächsfetzen aufhorchen ließen. Da scheinen sich zwei zu streiten, dachte er und wunderte sich über den abgelegenen Ort, den sich diese Leute für ihre Auseinandersetzung ausgesucht hatten. Der Alte versuchte das Dunkel mit den Blicken zu durchdringen, und da es in diesem Moment aufklarte, bemerkte er tatsächlich in einiger Entfernung die Konturen zweier Gestalten, die auf einem Felsplateau standen. Die eine von ihnen schien sehr erregt zu sein: Sie fuchtelte mit den Armen oder mit irgendeinem Stock in der Luft herum. Der Alte staunte, mit welchem Leichtsinn sich die beiden da oben bewegten, als plötzlich die eine Gestalt auf die andere eindrang und ihr einen Stoß versetzte. Die zweite Person taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht, versuchte sich vergeblich irgendwo festzuhalten. Mit einem Schrei, der Fiedler noch lange in den Ohren hallte, stürzte sie über das niedrige Geländer, das den Aussichtsplatz vom Abgrund trennte, in die Tiefe. Der Alte sah sekundenlang die vor Entsetzen wie versteinerte Gestalt der ersten Person, dann schoben sich erneut Wolken vor den Mond, und die Landschaft lag wieder so stumm und finster da wie zuvor.
Georg Fiedler war nicht schreckhaft, er hatte sich in seinem Leben schon mancher fatalen Situation gegenübergesehen.
Aber die Szene, die er soeben ungewollt miterlebt hatte, versetzte ihm doch einen Schock. Für Bruchteile von Sekunden war er wie gelähmt; er horchte in die Nacht hinaus, starrte ins Dunkel. Als jedoch alles still blieb, rannte er los. Mit großen Schritten einen Abhang hinunter, auf die Stelle zu, wo der Abgestürzte nach seiner Meinung aufgeschlagen war.
Er brauchte nicht weit zu laufen. Plötzlich wurde das Gelände eben, und der Alte sah wenige Meter vor sich eine Felswand aufragen. Der Salzstein, dachte er, denn nun erkannte er ihn wieder. Da, auf dem sandigen Grund, ein dunkler Fleck, eine menschliche Gestalt, die sonderbar verzerrt am Boden lag. Es war eine Frau, und selbst wenn Fiedler früher nicht Krankenpfleger gewesen wäre, hätte er gesehen, dass es in diesem Fall keine Hilfe mehr gab. Das vom Sturz zerschlagene Gesicht, der nach hinten gebogene Kopf, die weit aufgerissenen, starren Augen ließen vermuten, dass sie sofort tot gewesen war. Jung ist sie noch, dachte der Mann, und der Gedanke an die andere Gestalt da oben kam ihm, die nichts von sich hören oder sehen ließ, die wohl einfach weggelaufen war, und er ballte wütend die Fäuste. Dann jedoch zögerte er nicht länger, sondern rannte erneut los, um von der nächstgelegenen Gaststätte aus die Polizei zu verständigen.
Wenig später, es hatte stark zu regnen angefangen, belebte sich die Gegend am Fuß des Salzsteins. Mehrere Polizeiwagen, ein Krankenauto, Männer, die Aufnahmen machten bei grellem Scheinwerferlicht und mit Handlampen das Gelände nach Spuren absuchten. Oberleutnant Bothe von der Morduntersuchungskommission, ein untersetzter Mann Mitte der Vierzig, stand mit seinem engsten Mitarbeiter, dem jungen Leutnant Kielstein, bei der Toten. „Das passende Wetter für eine solche Geschichte“, sagte er. „Hast du mit diesem Fiedler gesprochen? Was macht er für einen Eindruck?“
Kielstein, lang aufgeschossen und mit einem Gesicht, als könne ihn niemand und nichts bekümmern, zuckte die Achseln. „Einen ganz guten. Was er erzählt, scheint zu stimmen. Zwar konnten wir bei dieser Finsternis nicht überprüfen, ob die Ereignisse von dem Platz aus, wo er gestanden haben will, tatsächlich so genau zu verfolgen waren, aber der Abschnittsbevollmächtigte, der sich hier auskennt, hält es durchaus für möglich. Ein Zufall, mit dem der Täter nicht gerechnet hat.“
„Der Täter?“, brummte Bothe. „Wer sagt dir, dass es ein Mann war und dass die Person, die das Mädchen runterstieß, überhaupt etwas berechnete? Halten wir uns lieber an die Fakten. Der Alte sprach von einem Streit, von zwei schattenhaften Gestalten. Die eine war nach seiner Aussage sehr erregt und fuchtelte mit einem länglichen Gegenstand in der Luft herum. Die Handtasche, die wir mit Geld und Papieren bei der Frau fanden, wird das kaum gewesen sein. Eher könnte es sich um einen Stock handeln oder um ein Gerät, das man bei solchem Wetter im Allgemeinen mit sich führt.“
„Um einen Schirm?“, fragte Kielstein.
Bothe beugte sich über die Tote und sagte: „Hier, sieh dir die beschädigten Fingernägel an und das, was daruntersitzt. Na, was vermutest du?“
„Stoffreste“, erwiderte der Leutnant, dem der Anblick des toten Mädchens nicht sehr angenehm war, „sie wird sich im letzten Moment irgendwo festzuhalten versucht haben. Vielleicht an der Kleidung der anderen Person.“
Bothe schüttelte den Kopf. „An der Kleidung – das wäre für die Ermittlungen natürlich günstig. Aber schau dir dieses Faserzeug mal genau an. Ich vermute, es war etwas anderes.“ Diesmal hockte sich Kielstein hin und unterzog die Fingernägel der Frau einer längeren Prüfung.
„Sieht aus wie Seide, graue Seide“, bemerkte er schließlich, „vielleicht …“
„Vielleicht von einem Schirm“, ergänzte der Oberleutnant und fügte dann hinzu: „Aber das wird die kriminaltechnische Untersuchung ergeben.“
Der Arzt war mit seiner Arbeit schon fertig, er wartete bei seinem Wagen. „Nichts Ungewöhnliches bei so einem Fall“, erklärte er. „Fraktur des Halswirbels, des linken Oberschenkel- und Oberarmknochens, Rippenbrüche, Platz- und Schürfwunden, Quetschungen, Prellungen. Sie bekommen das alles schriftlich.“
„Stimmt der Zeitpunkt, den uns dieser Georg Fiedler angab, in etwa mit dem des Todes überein?“, wollte der Oberleutnant wissen.
„In etwa schon. Genaues wird aber erst die Obduktion ergeben.“
„Und die Verletzungen sind alle auf den Sturz zurückzuführen? Ich meine, kein Schlag auf den Kopf, ins Gesicht oder so was?“
„Anscheinend nicht, obwohl ich mich auch hier noch nicht festlegen möchte.“
Bothe nickte; es war klar, dass er vorläufig nicht mehr erwarten konnte. Während sich der Arzt verabschiedete und die Tote für den Abtransport fertiggemacht wurde, kletterte er zusammen mit Kielstein zur Absturzstelle hinauf. Sie mussten einen großen Umweg machen, erreichten den Gipfel aber noch, bevor der Spurensicherungsdienst seine Arbeit beendet hatte.
„Hier muss es geschehen sein“, sagte einer der Männer und deutete auf eine Stelle, die etwas abschüssig war.
„Hier? Woraus ersehen Sie das so genau?“, fragte der Leutnant.
„Der Fallwinkel, die winzigen Abschürfungen an der Barriere“, antwortete der Mann.
Oberleutnant Bothe trat an das Geländer und warf einen Blick nach unten. Kaum eine Chance, da lebend davonzukommen, dachte er. „Haben Sie sonst etwas Wichtiges festgestellt?“, wollte er wissen.
„Ein paar Fußspuren; sie können natürlich von irgendwelchen Spaziergängern stammen, die heute hier durchgekommen sind. Die Abdrücke haben wir jedenfalls genommen.“
Bothe sah missmutig in die Runde. Die Dunkelheit, der Regen, der nicht aufhören wollte – das alles war ziemlich störend. „Wir müssen die Gegend nochmals am Tage und bei anderem Wetter unter die Lupe nehmen“, sagte er. Dennoch blieb er eine Weile stehen, schaute sich zusammen mit Kielstein die Absturzstelle, den Weg davor und dahinter genau an. Aber er konnte nichts Neues entdecken. So stiegen sie schließlich wieder nach unten und setzten sich in ihren Wagen. Als sie zur Dienststelle zurückfuhren, ging es bereits auf Mitternacht.
Die Tote hieß Ines Richter, war ledig gewesen und hatte als wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut der Universität gearbeitet. Einen engen Kontakt zu ihren Kollegen schien sie nicht gehabt zu haben: Die Kriminalisten konnten dort nur wenig über sie erfahren. Anfangs hatte Bothe gedacht, dass es nicht schwer sein würde, herauszufinden, mit wem die junge Frau am Abend des sechsten Oktober unterwegs gewesen war, aber diese Hoffnung trog. Niemand wollte sie an dem betreffenden Tag nach Arbeitsschluss gesehen oder gar gesprochen haben, niemand wagte auch nur eine Vermutung.
Auch bei der Beschreibung der zweiten, ominösen Gestalt tappten sie im Dunkeln. Zwar meinte der Zeuge Georg Fiedler, dass es sich um einen Mann handeln müsse, aber begründen konnte er seine Ansicht nicht. „Die zweite Person war etwas größer“, sagte er, und: „Sie trug einen Regenmantel, einen Hut.“ Genauer befragt, konnte er sich jedoch selbst für diese Angaben nicht verbürgen. Nur, dass sie auf die Frau eingedrungen war, ihr einen Stoß versetzt hatte, behauptete er nach wie vor.
Blieben die am Tatort gefundenen Fußspuren, die Fingerabdrücke auf der Handtasche, die Stoffreste unter den Nägeln der Frau. Was die erstgenannten Dinge anging, so brachte die Auswertung gleichfalls nichts Neues. Die Handtasche hatte Ines Richter anscheinend nur selbst berührt, und Schuhabdrücke gab es auf dem Salzstein von verschiedenen Männern und Frauen. Die Stoffreste allerdings bedeuteten für die beiden Kriminalisten einen Hoffnungsschimmer, denn sie stellten sich tatsächlich als Schirmseide heraus. Als graue Seide, wie sie zur Anfertigung von Herrenknirpsen verwendet wurde.
„Demnach doch ein Mann“, sagte Leutnant Kielstein, als sie das Ergebnis in der Hand hielten.
Seine Vermutung schien sich durch die Obduktion zu bestätigen. Ines Richter war im dritten Monat schwanger gewesen.
Doch Bothe, mit gerunzelter Stirn, denn er hielt die Tat in einem solchen Fall für besonders verwerflich, stoppte seinen jungen Kollegen: „Alles deutet darauf hin, gewiss. Aber manchmal schleppen auch Frauen Männerschirme mit sich herum, und die Schwangerschaft braucht nicht unbedingt der Grund für die Auseinandersetzung gewesen zu sein. Halten wir uns deshalb mit Prognosen noch zurück. In Kürze werden wir klarer sehen.“