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Children and young adults are often viewed as being "difficult" - and also violent. Both teachers and parents are pushed to their limits and feel uncertain about how to respond nonviolently. This book explains new strategies for action and innovative practical models for preventing violence, instead of applying punishments and humiliation, and shows how early and targeted action can promote social competences and prevention of violence through respect, esteem and transparent firmness. This approach allows new and successfully tested action skills to be acquired. The concepts involved are explained and supplemented with practical examples, exercises and working materials.
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Seitenzahl: 243
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1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-032711-5
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-032712-2
epub: ISBN 978-3-17-032713-9
mobi: ISBN 978-3-17-032714-6
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1 Einleitung oder zum Anlass dieses Buches
2 Vermittlung von sozialen Kompetenzen und Gewaltprävention als Aufgaben in der Schule
2.1 Kinder und Jugendliche mit Problemen, die Probleme in pädagogischen Institutionen verursachen
2.2 Strafen und Ausgrenzung als Reaktion auf unerwünschtes bzw. abweichendes Verhalten
2.3 Professionelle Kompetenzen, um handlungsfähig zu bleiben
2.4 Umgang mit Scham und Beschämung in der Schule
2.5 Ziele einer Neuorientierung in der Schule
2.6 Methoden und Methodenbausteine zur Vermittlung von sozialen Kompetenzen und Gewaltprävention
3 Trainingsraum-Methode – ein Programm zur Stärkung der Eigenverantwortung
3.1 Ausgangslage
3.2 Konzeption
3.3 Voraussetzungen und Umsetzung des Programms
3.3.1 Aufstellung und wertschätzende Anwendung von Regeln
3.3.2 Wie reagieren Lehrkräfte auf Regelverstöße?
3.3.3 Sozialer Trainingsraum
3.3.4 Zusammenarbeit und Beratungsgespräche mit Eltern
3.3.5 Grenzen des Trainingsraumkonzepts
3.4 Schritte der Implementierung
3.5 Beispiele, Übungen und Arbeitsmaterialien
4 Konfrontatives Sozial-Kompetenz-Training
4.1 Braucht Pädagogik Konfrontation und wie kann diese gerechtfertigt werden?
4.2 Ausgangssituation in Hinblick auf den Bedarf des Sozial-Kompetenz-Trainings
4.3 Konzeption des Konfrontativen Sozial-Kompetenz-Trainings
4.3.1 Theoretische und praktische Grundlagen
4.3.2 Methodenaufbau und Durchführung
4.4 Voraussetzung und Umsetzung
4.4.1 Rahmenbedingungen, Grundsätze und fachliche Prinzipien
4.4.2 Verhalten als PädagogIn/TrainerIn – Welche Haltung ist förderlich?
4.4.3 Methodenbausteine
4.4.4 Aufbau einer KSK-Trainingssitzung
4.4.5 Auswertung und Transfer
4.4.6 Mögliche Themen und Trainingsmodule
4.4.7 Wirkungs- und Erfolgskontrolle
4.4.8 Vorteile und Chancen
4.5 Schritte der Implementierung
4.6 Beispiele, Übungen, Arbeitsmaterialien
4.7 Weitere Interventionsmöglichkeiten
5 Mediation und Streitschlichtung
5.1 Was ist Mediation?
5.2 Welche Bedeutung kommt konfrontierenden Haltungs- und Handlungsaspekten in der Mediation zu?
5.2.1 Freiwilligkeit
5.2.2 Neutralität und Allparteilichkeit
5.2.3 Schweigepflicht
5.3 Konzeption der Mediation
5.3.1 Vorphase und Vorbereitung
5.3.2 Mediationsgespräch
5.3.3 Wichtigste Methoden der Mediation
5.3.4 Möglichkeiten und Grenzen der Mediation
5.4 Voraussetzungen und Umsetzung
5.5 Streitschlichtung
5.5.1 Ablauf der Streitschlichtung
5.5.2 Voraussetzungen und Umsetzung
5.6 Beispiele, Übungen und Arbeitsmaterialien
6 Neue Autorität und gewaltloser Widerstand in der Erziehung
6.1 Konzept der Autorität durch Beziehung nach Haim Omer
6.1.1 Begriff der Autorität und seine Verwendung in der deutschsprachigen Pädagogik
6.1.2 Neudefinition der Autorität durch Haim Omer im Kontext von gewaltlosem Widerstand in der Erziehung
6.2 Voraussetzungen und Umsetzung
6.3 Beispiele und Übungen
7 Wiedergutmachung im Kontext der Schule
7.1 Ausgangslage
7.2 Konzept der Wiedergutmachung als Verfahren
7.3 Voraussetzungen und Umsetzung
7.4 Beispiele, Übungen und Arbeitsmaterialien
8 Ausblick
Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis
Immer wieder werden Kinder und Jugendliche von LehrerInnen sowie Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe als »schwierig«, »auffällig« und auch gewaltbereit erlebt. Dabei handelt es sich vor allem um als »auffällig« erlebtes Sozial-, Lern- und Arbeitsverhalten, das einen Unterricht lahmlegen und das soziale Klima einer ganzen Schule belasten kann. Manche Kinder und Jugendlichen mit diesen Verhaltensweisen, entlang der verschiedenen Schulformen, geraten in eine Spirale von Schulschwänzen, Schulverweigerung, psychischen Problemen, Ausbildungsabbruch, Integrations- und Selbstausgrenzungsproblemen sowie Gewalt und Kriminalität. Diese jungen Menschen fordern nicht nur LehrerInnen, sondern auch die Fachkräfte der Schulsozialarbeit in ihrer fachlichen Kompetenz und oft genug der ganzen Persönlichkeit heraus und machen sie immer wieder ratlos. Sie fühlen sich überfordert und sind unsicher, wie auf die komplexen Erscheinungsformen von abweichendem Verhalten zu reagieren ist. Die Erfahrung zeigt, dass einerseits entgegen mancher Erwartungen viele dieser Kinder und Jugendlichen trotz zeitweiliger Probleme und dem Ausprobieren von Grenzen letztlich doch so viele Ressourcen entwickeln und mobilisieren, dass sie gut integriert in das Erwachsenenleben starten, andererseits aber auch bei einigen wenigen allein mit »herkömmlichen« Mitteln im Sinne von schulischen »Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen« sowie polizeilichem Eingreifen und juristischen Sanktionen heute keine dauerhaften pro-sozialen Verhaltensänderungen erreicht werden. Diese wenigen dürfen aber nicht aufgegeben werden – um ihrer selbst willen nicht, weil sie die Arbeits- und Lernbedingungen anderer stören und auch um späteren Gewalteskalationen vorzubeugen. Die Institution Schule und ihre LehrerInnen selbst müssen lernen, dass sich ihre Rolle insbesondere im Verhältnis zu den Eltern geändert hat.
In der Fachliteratur gibt es dazu viele Klagen, Vorschläge, Konzepte und Programme für alle Zielgruppen in der Schule, doch wenige sind erprobt. Der Informationsstand und die Kompetenzen der Nutzung dieser Konzepte und Programme sind aber insbesondere bei den Lehrkräften gering, weil sie wenig Hoffnung haben, dass sich an ihrer Alltagssituation etwas ändern wird.
Wenn die Schule ihre Rolle und Aufgabe als Ort der Förderung von sozialer und interkultureller Kompetenz sowie Gewaltprävention wahrnehmen soll, dann darf die Zielgruppe der Maßnahmen und Programme nicht mehr nur die Schülerschaft sein – wie bei der ganz überwiegenden Zahl der auf dem Markt vorhandenen Konzepte und Modelle –, sondern dann müssen auch die anderen in der und für die Schule Verantwortlichen zu Zielgruppen werden, insbesondere die Lehrkräfte, Schulleitung und Schulaufsicht, aber auch die Eltern, die jeweiligen Gemeinden (»Unterstützungssysteme«) und nicht zuletzt die Schulpolitik.1
In diesem Buch geht es nicht um eine Skandalisierung von Gewalt in der Schule, sondern um neue Handlungsstrategien und innovative Praxismodelle sowie eine sachliche Verständigung darüber, wie durch frühzeitiges und gezieltes Handeln ein kompetentes »Fallverständnis« und abgestimmte Interventionen zur Förderung der sozialen Kompetenz, Verhinderung und Reduzierung von Gewalt, schwierige Schulkarrieren sowie ›Opfer‹ vermieden werden können und nicht am Ende das »Warten auf die Jugendhilfe, Polizei oder Justiz« steht. Mit »Strategien« sind innovative Handlungskonzepte und Praxismodelle gemeint, die in der Praxis der Schule erfolgreich erprobt wurden und von den Lehrpersonen mit Unterstützung der Fachkräfte der Schulsozialarbeit überwiegend selbst realisiert werden können. Damit können sie – unabhängig von möglichen wünschenswerten Kooperationen – den Lernort Schule positiv verändern und sind dabei nicht vorrangig auf externe Hilfen von Fachkräften der öffentlichen und freien Jugendhilfe (Jugendamt, speziell Jugendgerichtshilfe, Erziehungsberatung, Jugendberatung, Jugendberufshilfe, Jugendmigrationsdienste etc.), der Schulpsychologie oder gar der Polizei angewiesen.
Allerdings bestehen die vorliegenden Handlungsansätze nicht aus sofort umsetzbaren Rezepten mit Erfolgsgarantie. Dieses Buch kann zum einen Informationen und Wissen vermitteln und damit eine Grundlage für das Handeln schaffen. Aber das Handeln selbst erfordert häufig mehr als Handlungswissen. Es erfordert Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und gute Planung, zuweilen auch hilfreiche BeobachterInnen und nicht zuletzt: üben, üben, üben! Entsprechend werden in diesem Band nicht nur Theorien und Konzeptionen präsentiert, sondern auch Übungen, Beispiele und Arbeitsmittel. Und wer darüber hinaus vertiefend gemeinsam üben, Problemsituationen analysieren und Lösungskonzeptionen diskutieren will, der kann dies in entsprechenden Weiterbildungsveranstaltungen tun.2 Niemand kann einen plötzlichen Wandel insbesondere bei ungünstigen, seit langem eingefahrenen Konfliktkonstellationen garantieren – aber wir können von hunderten positiven Erfahrungen berichten.
Das Anliegen der Verfasser ist die Erweiterung der individuellen Handlungskompetenz und (Wieder-)Herstellung der professionellen Präsenz im Umgang mit herausfordernden und als »auffällig« erlebten Kindern und Jugendlichen vor allem in der Schule. Obwohl die meisten Methodenbausteine im Kontext der pädagogischen Alltagsarbeit der Schulen entstanden und zuerst erprobt wurden, haben inzwischen viele Fachkräfte der Jugendhilfe sie auch in offenen Jugendtreffs, in der Heimerziehung und im betreuten Wohnen erfolgreich implementiert und angewendet. Dass sie dabei kreativ, situations- und institutionsangemessen vorgehen mussten, zeichnet Pädagogen und Pädagoginnen aus und grundsätzlich ist die Übertragung von erfolgreichen Arbeitsansätzen auf andere Berufsfelder oft vielversprechend.
Jenseits konkreter Problemlösungen bei Unterrichtsstörungen, Konflikten und Gewaltvorfällen ist die Schule aber ohnehin für die Vermittlung sozialer Kompetenzen und für die Gewaltprävention ein idealer Ort, weil er von allen Kindern und Jugendlichen aufgesucht wird und Hilfe ohne Stigmatisierung als »Fall« geleistet werden kann. Es mag von Jahr zu Jahr schwerer werden – aber zunächst sind die Kinder und Jugendlichen tatsächlich Tag für Tag da, können angesprochen und ihr Verhalten thematisiert werden. Dies stellt einen nicht zu unterschätzenden Vorsprung gegenüber solchen Jugendhilfemaßnahmen dar, die den jungen Menschen erst zur Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit motivieren müssen und ihn dazu als »Fall nach Vorkommnissen« oder gar Delinquenz definieren mit häufig zusätzlichen Problemen und Konflikten im Verhältnis zu den Sorgeberechtigten.
Heute sind ein neues Selbstverständnis und Veränderungen in der Haltung und Zusammenarbeit von Lehrkräften ebenso gefragt, wie moderne schulische Organisationsstrukturen, um eine positive und aggressionsfreie Lernumgebung gemeinsam mit den SchülerInnen zu gestalten. Der Umgang miteinander muss hinsichtlich Sozialkompetenz fördernder und gewaltpräventiver Maßnahmen ebenso kritisch reflektiert werden, wie die eigene Organisationsstruktur der Schule.3 Daher geht es in diesem Buch um ein erweitertes Leitbild aller in der Schule Beteiligten und in diesem Zusammenhang vorrangig um ein neues Selbstverständnis, ein Umdenken der LehrerInnen sowie um die Erweiterung des Methodenspektrums im Umgang mit »auffällig« und gewaltbereit erlebten Kindern und Jugendlichen.
Um diese Ziele für Sie, die Leser und Leserinnen zu erreichen, werden wir im zweiten Kapitel dieses Buches zunächst die Vermittlung von sozialen Kompetenzen und Gewaltprävention als Aufgabe der Schule definieren, diese Zielstellungen ausbreiten und vor dem Hintergrund zeitgemäßer Erziehungsmittel Methodenbausteine zur Vermittlung vorstellen. Diese Methodenbausteine werden dann in den folgenden fünf Kapiteln praxisnah konzeptionell beschrieben und mit vielen Beispielen, Übungen und Arbeitsmaterialien den Lesern und Leserinnen zur Verfügung gestellt. Abschließend geben wir in zwölf Punkten einen Ausblick.
1 Steffen 2004, S. 354; zur Notwendigkeit einer »systemischen Gewaltprävention/-intervention« siehe Schubarth 2004, S. 243–253; Hanke 2007, S. 104–130
2 Informationen zum Interventions- und Weiterbildungsprogramm »Selbstwertstärkende konfrontierende Pädagogik und Neue Autorität in der Schule & Jugendhilfe« im Internet unter www.soziales-training.de sowie zum Weiterbildungszertifikatskurs »Pädagogik für Vermittlung sozialer Kompetenzen und Gewaltprävention« unter www.ash-berlin.eu/weiterbildung
3 Schubarth/Niproschke/Wachs 2016, S. 355 und Büchner 2003, S. 178
In diesem Kapitel wollen wir erläutern, was die Vermittlung von sozialen Kompetenzen und Gewaltprävention als eine Aufgabe der Schule meint, wie wir das Problem definieren, welche Erziehungsmittel uns zur Verfügung stehen und welche Ziele einer Neuorientierung wir mit welchen Methoden verwirklichen wollen.
Der Gewalt vorzubeugen ist ein unumstrittenes Ziel der Schule in zweifacher, kurz- und langfristiger Hinsicht: Ein gemeinsames Lernen im Unterricht ist nur in einem Klima möglich, das in einem weiten Sinne gewaltfrei ist, nämlich frei von körperlichen Angriffen, Mobbing, Beleidigungen und sonstigen persönlichen Verletzungen. Deshalb ist der Unterricht, sind die Umgangsformen in der Klasse und die Schulregeln so zu gestalten, dass diese genannten Störungen möglichst selten vorkommen und Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen vor ihnen geschützt werden. Der Erziehungsauftrag der Schule geht aber weiter und so soll auch die Gewaltprävention in der Schule späterer Gewaltdelinquenz vorbeugen. Es ist in der Kriminologie bekannt, dass einerseits gewalttätiges Verhalten erlernt wird und andererseits bereits in Familie, Kindertagesstätte und Schule durch Bindungen, Vorbilder im Umgang mit Konflikten und Vermittlung von Werten Gewaltprävention betrieben werden kann, was hinsichtlich der Gewaltkriminalität bei mehr als 98% aller Menschen auch gelingt: Sie werden von Polizei und Justiz nicht als gewalttätig registriert. Gewaltprävention sollte sich im Übrigen nicht nur auf die eigenhändig ausgeübte Gewalt beziehen, sondern auch auf Gewaltakzeptanz, Androhung von Gewalt, Propagierung von Gewalt und Gewaltbereitschaft. Dass dies in Elternhaus und Schule unterschiedlich gut gelingt, zeigen allein schon die verschiedenen Anteile von Jungen und Mädchen.4 Und das ist sicherlich keine zufällige Verteilung. Es muss bedacht werden, dass im 20. Jahrhundert »die Fähigkeit und Bereitschaft zur Gewaltausübung als positiv bewertete Eigenschaft von Männern galten, Wehrhaftigkeit und Kampfesmut als männliche Tugenden gesehen wurden.«5 Zwar haben sich gerade in Deutschland die Männlichkeitsideale seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts verändert – aber das gilt nicht für alle Bevölkerungsgruppen und es gibt gesellschaftliche Bereiche mit großer Gewaltverherrlichung, die regelmäßig mit Männlichkeit assoziiert werden. Das geht nicht an allen Schülern vorbei.
Viele Schulgesetze der Länder nennen als Bildungs- und Erziehungsziele die Entwicklung eines aktiven sozialen Handelns, die Fähigkeit Konflikte gewaltfrei zu lösen und als Grundsätze unter anderem die Förderung auch der sozialen Fähigkeiten und die Prävention von Beeinträchtigungen der sozialen und emotionalen Entwicklung.6 Es ist also völlig unbestritten, dass die Schule nicht nur einen Auftrag zur Wissensvermittlung hat, sondern auch soziale Kompetenzen fördern soll.7
Soziale Kompetenzen bereiten auf das Arbeitsleben vor, sind Schutzfaktoren gegenüber psychischen Erkrankungen oder Verhaltensauffälligkeiten und eine Voraussetzung für prosoziales Verhalten.8 Unter sozialen Kompetenzen wird »die Verfügbarkeit und Anwendung kognitiver, emotionaler und motorischer Verhaltensweisen verstanden, die zu einem langfristig günstigen Verhältnis positiver und negativer Konsequenzen in sozialen Situationen führen«.9 Der Begriff der sozialen Kompetenz hat in der Psychologie unterschiedliche Bedeutungen. Er bezeichnet in der klinischen Psychologie die Fähigkeit, sich gegenüber anderen auf angemessene Weise durchzusetzen und in der Entwicklungspsychologie die Anpassung des Individuums an seine Umwelt mit ihren Normen und Werten, um einen möglichst optimalen Entwicklungsverlauf zu garantieren.10 Für unseren Sprachgebrauch im Kontext der Schule müssen diese Unterschiede aber genauso wenig interessieren, wie die verschiedenen Dimensionen sozialer Kompetenz.11
Schule soll dabei Team- oder Kommunikationsfähigkeiten vermitteln und frühzeitig Prävention von Risikoentwicklungen wie Gewalt, Delinquenz und Drogenmissbrauch leisten sowie die demokratische Teilhabe im Gemeinwesen fördern.12 In der Schule findet dieser Erwerb sozialer Kompetenzen meist informell und ohne didaktisches Konzept statt, wobei die Beziehungen zu den Mitschülern und Mitschülerinnen im Mittelpunkt stehen.13 Wir werden in diesem Buch Methoden vorstellen, wie dieser Lernprozess strukturiert und unterstützt werden kann. Letztlich geht es bei den sozialen Kompetenzen um ein ganzes Bündel von Fähigkeiten zur Bildung positiver Beziehungen zu Gleichaltrigen und Perspektivenübernahme, der Konfliktfähigkeit und Kenntnis von Problemlösungsstrategien sowie um die Fähigkeit, Gespräche zu initiieren und Freundschaften schließen zu können, aber auch Regeln anzuerkennen und angemessen auf konstruktive Kritik zu reagieren und den Instruktionen des Lehrers oder der Lehrerin zuzuhören, ihnen – gegebenenfalls nach kritischen Rückfragen – nachzukommen und, falls notwendig, um Hilfe zu bitten.14
Was sind die Bedingungen, unter denen in der Schule soziale Kompetenzen und Gewaltprävention vermittelt werden oder werden sollen? Das ist das Thema der folgenden Unterpunkte.
Wenn Erziehungsverantwortliche Kinder und Jugendliche als vermehrt auffällig und gewalttätig erleben und sich dadurch überfordert fühlen, dann wollen wir im Interesse der Handlungsfähigkeit der Erziehenden, der Förderung guter Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen uns einleitend mit drei Aspekten bzw. Fragen kurz beschäftigen:
1. Was wissen wir über diese Kinder und Jugendlichen, Schüler und Schülerinnen?
2. Was beeinflusst die Wahrnehmung der Lehrer und Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen und führt zu Überforderung, Ohnmacht und Hilflosigkeit?
3. Steigt die Gewalttätigkeit an den Schulen tatsächlich, wird die Situation also tatsächlich immer schlimmer?
Störungen im Unterricht, Mobbing und Gewalttätigkeiten in der Schule sind ein großes Thema, aber kein Lehrer und keine Lehrerin, kein Sozialarbeiter und keine Sozialarbeiterin behauptet, dass die Mehrzahl daran mehrfach beteiligt ist. Jeder Schüler und jede Schülerin zeigt einmal Verhalten, das von den Regelungen und Erwartungen abweicht (wie das auch Erwachsene tun), aber Probleme verursacht ein kleiner Teil, der immer wieder auffällt, wobei dieses Auffallen auch dazu führt, dass ihr Verhalten ganz besonders in den Blick gerät. Ohne dass das hier an dieser Stelle vertieft werden kann, weiß jede pädagogische Fachkraft heute, dass dies keine von Geburt aus schlechten Kinder sind, sondern dass sie bisher etwas in Elternhaus, KiTa und Schule noch nicht gelernt haben, was für andere längst selbstverständlich ist.
Von Hermann Nohl stammt der Hinweis, dass sich die Sozialpädagogik nicht so sehr um die Probleme kümmern solle, die Kinder und Jugendliche verursachen, sondern vielmehr um die, die diese haben. Es geht dabei nicht darum, diese Aspekte gegeneinander auszuschließen, sondern um den Zugang der Pädagogik: Indem wir uns um die Probleme der Kinder und Jugendlichen kümmern, um die Ursachen und Hintergründe ihrer Verhaltensweisen, können wir angemessen auf sie einwirken und damit auch dabei mitwirken, dass sie weniger Probleme verursachen – aktuell beispielsweise im Unterricht, aber auch langfristig im Sinne von Integration und Gewaltprävention. Die Konsequenz daraus muss sein, dass wir mehr über diese Schüler und Schülerinnen und ihre Probleme wissen und mit den Personen und Institutionen kooperieren, die über dieses Wissen verfügen.
Die Wahrnehmung der Probleme als Überforderung, Ohnmacht und Hilflosigkeit entspringt nicht einem direkten Abbild des SchülerInnenverhaltens, sondern setzt dieses in das Verhältnis zu den eigenen Möglichkeiten der Gestaltung des Unterrichts, Vermittlung von Bildung und Erziehung. Indem wir in diesem Buch praxisnahe Handlungsstrategien und innovative Praxismodelle vermitteln, wollen wir nicht nur der Überforderung, Ohnmacht und Hilflosigkeit entgegenwirken, sondern die Wahrnehmung selbst beeinflussen. Palmowski spricht von der »Fragwürdigkeit unserer Wahrnehmungen« und dem Herstellen von Unterschieden durch Versorgung mit Informationen.15 Wer auch auf abweichendes SchülerInnenverhalten, auf Störungen und Interessenverletzungen vorbereitet ist und ein Repertoire von Reaktionsmöglichkeiten kennt, der kann gelassener reagieren und damit wirksamer und erfolgreicher.
Gegenwärtig herrscht die Meinung vor, dass die SchülerInnen gewalttätiger als früher seien und dass auch die Schwere der Gewalt zunehme. Empirische Studien belegen aber Folgendes:
»Der Lebensraum Schule ist für Kinder und Jugendliche ein verhältnismäßig sicherer Ort. Die empirisch nachgewiesenen Viktimisierungsraten von Jugendlichen sind im Elternhaus deutlich höher als durch Gleichaltrige. Auch die Akzeptanz von Gewalt unter Jugendlichen sinkt … Jugendgewalt ist bundesweit rückläufig …«.16
Ein Anstieg der Gewalt von Kindern und Jugendlichen ist nicht belegt und oft finden Pauschalisierungen statt.17 Seit der Jahrtausendwende kann keine Zunahme schulischer Gewalt festgestellt werden, in einigen Studien wird sogar von einem leichten Rückgang berichtet.18 Insgesamt ist ein langfristiger Vergleich auch schwierig, weil Gewalttätigkeiten nicht immer gleich wahrgenommen und registriert wurden, so dass längere Zeitreihen kaum bestehen. Während es heute praktisch für alle Schulen verbindliche Vorgaben hinsichtlich des Meldens von Gewaltvorfällen gibt, war das noch vor 50 Jahren nicht einmal auf Schulebene üblich. Auch ist die gesellschaftliche Sensibilität in vielfacher Hinsicht gewachsen: Raufereien unter Jungs wurden damals als sozial adäquat wahrgenommen und nicht als Körperverletzung und für Mobbing-Handlungen hatte man nicht einmal einen Begriff.
Klagen über die immer brutalere, aggressivere Welt gibt es aber schon lange. Friedrich Hacker schrieb sein Buch »Aggression – die Brutalisierung der modernen Welt« 1971 und bezog sich auf empirische Fälle der 1960er Jahre19 – da waren die Großeltern der jetzigen Schüler und Schülerinnen Jugendliche und junge Heranwachsende.
Kerner weist darauf hin, dass in Deutschland zum einen die Gewaltkriminalität im Vergleich zu früheren Jahrhunderten gesunken ist und zum anderen, dass Deutschland eher zu den gering belasteten Staaten gehört.20 2015 gab es nach der polizeilichen Kriminalstatistik etwa 180.000 Fälle der Gewaltkriminalität und 2116 Fälle von Mord und Totschlag. 20 Jahre vorher (1995; vorher sind die gesamtdeutschen Zahlen unzuverlässig) gab es etwa 170.000 Fälle von Gewaltkriminalität und 3928 Fälle von Mord und Totschlag. Knapp 6% mehr Gewaltkriminalität (im Vergleich zum Jahr 1999 ging die Gewaltkriminalität allerdings seither zurück) und 46% weniger Mord und Totschlag (in den letzten drei Jahren verzeichnen wir die niedrigsten Fallzahlen der Geschichte) – das ist kein Beleg für die Zunahme der Gewaltdelinquenz in unserer Gesellschaft, zumal subjektiv ein Anstieg von 6% so wenig im Alltag wahrnehmbar ist, wie ein Rückgang von Mord und Totschlag auf knapp die Hälfte.21 Die Anzahl der Verurteilungen wegen vollendeten Mordes sind heute deutlich geringer als vor 50 Jahren – obwohl die Bevölkerungszahl unter anderem durch die Vereinigung heute deutlich höher ist.22 Insgesamt geht die Anzahl der rechtskräftig verurteilten Personen seit vielen Jahren in Deutschland zurück. Im Jahr 2015 waren es 739 500 Personen23 – das waren weniger als 1% der Bevölkerung und damit wurde pro Kopf der Bevölkerung der niedrigste Wert der letzten 50 Jahre erreicht. Allein in den letzten acht Jahren ging die Verurteiltenzahl um fast 20% zurück.
Nun könnte man einwenden, dass diese Daten nur die registrierte Kriminalität widerspiegeln und die Realität im Dunkelfeld ganz anders aussehe. Aber auch das ist gut erforscht, weil es nicht nur polizeiliche Kriminalstatistiken und Aufstellungen der Schulbehörden und Ministerialverwaltungen gibt, sondern die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung unter anderem alle Raufunfälle an Schulen registriert (und versichert). Hier kann man von einer stabilen, regelmäßigen, weitgehend vollständigen Erfassung aller schwerwiegenden Fälle ausgehen, soweit eine ärztliche Behandlung notwendig ist. Betrachtet man die Daten der letzten 20 Jahre, so zeigt sich ein Rückgang von mehr als 50% und auch in den Hauptschulen sind die Raufunfälle pro 1000 Schüler und Schülerinnen um mehr als 40% seit 1993 zurückgegangen. 99% aller Schüler und Schülerinnen wurde nach diesen Daten in dieser Zeit Jahr für Jahr nicht Opfer eines Raufunfalls und insgesamt jeder 1000. Opfer eines Raufunfalls mit einer Fraktur.24 Dabei sind unterschiedliche Jahrgänge und Schultypen natürlich verschieden stark repräsentiert – Grundschulen weniger als weiterführende Schulen und Gymnasien weniger als Hauptschulen.25
»Verlaufsforschungen anhand von Selbstberichten zeigen auf, dass Gewaltdelikte unter Kindern und Jugendlichen im Dunkelfeld bereits um das 15. Lebensjahr herum ihren Spitzenwert erreichen und danach rasch abfallen, im Grundlegenden bei Mädchen ähnlich wie bei Jungen und bei Migranten ähnlich wie bei Einheimischen.«26
Möglicherweise hat sich nur die Wahrnehmung von Gewalt und Störungen verändert, es geschieht weniger im Verborgenen, in Anstalten und wegsperrenden Institutionen. Vielleicht sind wir auch sensibler geworden für Kinderrechte27 und Gewaltlosigkeit einerseits und Störungen sowie angemessene, verhältnismäßige Reaktionen darauf andererseits. Der schlagende Lehrer der zwanziger, dreißiger und fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts und der Lehrer oder die Lehrerin, der oder die in den sechziger und siebziger Jahren auf Ungehorsam der SchülerInnen mit Strafarbeiten und beschämender Verächtlichmachung vor der Klasse reagierte, hat weder das Schülerverhalten noch sein eigenes statistisch erfasst noch an die Schulleitung oder das Bildungsministerium gemeldet.
Wenn wir uns frei machen von den – nicht haltbaren – Vorstellungen, dass immer alles schlechter und schlimmer wird mit der Gewalt, dann gewinnen wir zweierlei Erkenntnisse:
1. Zum einen können wir in großer Ruhe und Selbstverständlichkeit feststellen, dass dies überhaupt nicht bedeutet, dass die Problematik weniger dringend ist. Der Vergleich zu der angeblich guten alten Zeit ist gar nicht nötig, um die Dringlichkeit von Lösungen zu begreifen.28 Wir wollen Gewaltprävention, weil jedes Opfer eines zu viel ist und weil schon die Angst vor Gewalt nicht hingenommen werden soll, denn sie schränkt Menschen in ihrer Handlungsfreiheit ein.
2. Zum zweiten stehen wir nicht hoffnungslos an der Wand mit der traurigen Erkenntnis, dass es alle Lehrergenerationen vorher besser hatten und ihnen disziplinierte, anständige, wohlerzogene, respektvolle Schülern und Schülerinnen gegenüberstanden.
Diese Bemerkungen sollen das Problem nicht verniedlichen – wollten wir das, würden wir dazu nicht dieses Buch vorlegen. Aber handlungsfähig ist man nur auf der Basis einer sachlichen Analyse. Und diese kommt zu dem Ergebnis, dass der Schule natürlich eine besondere Bedeutung zukommt.
»Der Institution Schule fällt notwendigerweise in den Betrachtungen zu gewalttätigen Handlungen von Kindern und Jugendlichen eine besondere Rolle zu: Einerseits verbringen die Schülerinnen und Schüler einen großen Teil ihrer Zeit in der Schule und somit ist es auch nicht verwunderlich, dass ein erheblicher Anteil der Gewalt in ihr oder zumindest in Randbereichen wie zum Beispiel auf dem Schulweg stattfindet. Andererseits wirkt Schule selbst, zum Beispiel durch die Zwänge, die sie ausüben kann, Gewalt erzeugend bzw. verstärkend. Begründet durch den obligatorischen Schulbesuch liegen in dieser Institution aber auch gleichermaßen Potenziale zur Gewaltprävention und -intervention.«29
Es kann heute als ein gesicherter Kenntnisstand angesehen werden, dass ca. 3–5% der Schülerinnen und Schüler unter Mobbing leiden. D. h. auch, dass psychische und verbale Aggressionen überwiegen und körperliche Gewalt gegen Mitschülerinnen und Mitschüler nur einen kleinen Teil ausmacht. Die Gewaltschwerpunkte liegen meist in der achten Jahrgangsklasse, also mit etwa 15 Jahren. Danach ist eine Abnahme körperlicher Übergriffe festzustellen. Meist sind die ›Täter‹ älter als die ›Opfer‹.30
Dramatisierungen der SchülerInnengewalt – oft verbunden mit Aufforderungen zur Kehrtwendung hin zu mehr Disziplin und harten Strafen sowie einer Glorifizierung alter Erziehungsstile – finden keine empirische Rechtfertigung. Es gibt keine seriösen Daten, die ein quantitatives und qualitatives Anwachsen der Gewalt belegen. Wir sind zum Glück sensibler geworden gegenüber verschiedenen Formen der Gewalt, einschließlich Mobbing, und sondern diejenigen, die durch Gewalttätigkeiten auffallen, nicht mehr so schnell in Sondereinrichtungen aus. Lange Zeit hatte man das in Sonderschulen, Fürsorgeheimen und in der Jugendpsychiatrie in hohem Maße getan mit der Folge, dass sie einerseits in den allgemeinbildenden Schulen weniger sichtbar, andererseits aber später viel schwerer integrierbar waren.
Es gibt keinen Anlass sich zu wünschen, dass die Pädagogik sich zurückentwickeln solle zu ihren autoritären, rücksichtslosen stark stigmatisierenden Methoden im Umgang mit jungen Menschen, die Schwierigkeiten haben, die Anforderungen der Gesellschaft so schnell und gut zu erfüllen, wie ihre gleichaltrigen Mitschüler oder Mitschülerinnen, deren Sozialisationsbedingungen in der Regel besser waren und sind. Die polizeilich registrierte Gewaltkriminalität, Mord und Totschlag, vor allem aber häusliche Gewalt, waren damals nicht geringer. Das heißt nicht, dass nicht immer wieder Erziehungsstile, Erziehungsziele und Erziehungsmethoden auf den Prüfstand gehören – diese Publikation hat sich zum Ziel gesetzt, die Praxis der Gewaltprävention und Förderung sozialer Kompetenzen zu verbessern. Dazu ist ein Blick auf die gegenwärtige Praxis und in die Zukunft nötig und angemessen – nicht eine Glorifizierung der Vergangenheit, die durchaus in vielfacher Hinsicht gewalttätig war. Auf der Basis dieses analytischen Blicks auf die Praxis der Gegenwart lässt sich das Verhältnis von Verstehen und der Rekonstruktion des abweichenden Verhaltens Jugendlicher zur Vermittlung der gesellschaftlichen Erwartungen durchaus neu austarieren – dazu bedarf es Kenntnisse über die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen, nicht aber einer Dramatisierung und Rückwärtsgewandtheit.
Zielsetzung und Aufgabenstellung der Sozialisation werden komplexer – wir wollen Individuen und Gesellschaftsmitglieder erziehen, die sich selbst steuern können, verantwortlich und demokratisch handeln in einer pluralistischen, diversen Gesellschaft. Wir wollen aus guten Gründen einerseits Vielfalt und andererseits kein Aussortieren und Wegsperren, wie es noch bis vor zwei Generationen üblich war. Allein in der alten Bundesrepublik Deutschland West waren zehntausende Kinder in geschlossenen Fürsorgeanstalten untergebracht – oft vergittert und mit regelmäßigen Schlägen. Und noch weit bis in die Sechzigerjahre hinein war der schlagende Lehrer oder die schlagende Lehrerin keine Seltenheit – auch das war Gewalt in der Schule. Und von den fünfziger bis in die neunziger Jahre wurde die Gewalt delegiert – die Mitteilung an die Eltern über schlechte Leistungen, Regelverletzungen und Disziplinlosigkeiten, der sogenannte Blaue Brief, informierte nicht nur die Personensorgeberechtigten, um das Erziehungsverhalten zwischen Elternhaus und Schule abzustimmen, sondern verlagerte die häufig körperlichen Strafen nur aus der Schule heraus. Selbst in den neunziger Jahren taten sich hunderte Bundestagsabgeordnete schwer, die körperliche Gewalt gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft zu verbieten. Obwohl seit dem 2. September 1990 die Kinderrechtskonvention durch Art. 19 Schutz vor jeder Form der körperlichen oder geistigen Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung schützen soll, stimmten am 6. Juli 2000 die 245 Mitglieder der CDU/CSU Fraktion gegen das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung. Schon vorher waren mehrere Anträge mit diesem Ziel im Bundestag gescheitert. Der Wandel zur Gewaltlosigkeit in der Erziehung ist ein zäher Prozess, gerade weil er an scheinbaren Gewissheiten rütteln muss, die von früheren Generationen übermittelt wurden.
Die Vermittlung von sozialen Kompetenzen und Gewaltprävention ist als Aufgabe in der Schule also auf Basis der Kenntnis der Lebenswelt der jungen Menschen mit ihren Problemen, sowie der in diesem Buch entwickelten und vorgestellten Methoden zu leisten, die auf Erfahrungen gegründet sind und Lösungen für heutige Probleme bieten. Dies ist in dem Bewusstsein möglich, dass Regelbrüche, Verletzungen und Beleidigungen in der Schule zum Alltag gehören, nicht aber ein neues Phänomen in einer neuen Dimension darstellen, die es geboten sein lässt, zu alten Erziehungsmitteln und Erziehungszielen des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Wir wollen uns deshalb im folgenden Abschnitt mit dem Charakter der Reaktionen auf unerwünschtes und abweichendes Verhalten beschäftigen.
Strafen haben in der Erziehung der nachwachsenden Generation eine lange Tradition – über deren Legitimation machte man sich lange keine großen Gedanken, allein das Machtgefälle zwischen Eltern, PfarrerInnen, LehrerInnen einerseits und Kindern andererseits reichte aus, zumal von einem intentionalen erzieherischen Handeln in der Praxis bis in das 19. Jahrhundert hinein oft kaum gesprochen werden kann.
»Und so ging es fort, ›Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben‹, hiess es schon im Alten Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleissig die Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser wirklich ›verdorbenen Knaben‹, von denen es zur Zeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder?
Dem sollte man einmal nachgehen.
Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stossen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Blossstellen, Angstmachen bestand.«31
Die Beantwortung der Frage, welche Rolle die Strafe in der Erziehung spielen sollte und ob Erziehung ohne Strafandrohung und Strafanwendung möglich ist, lässt sich leicht durch die Wahl eines entsprechenden Strafbegriffes umgehen:
»Begreift man Strafe als rein metaphysisch begründete Reaktion, als kategorischen Imperativ, mit dem sie auf die Tat folgen muss, dann hat sie in der Erziehung – darüber wird sich heute schnell ein breiter Konsens finden lassen – nichts zu suchen. Ernsthaft diskutiert und schmerzhaft praktiziert wird sie nur als Erziehungsmittel – wobei die Nähe von Erziehungsmittel und Kriminalstrafe schon erschreckend ist. Unter Strafe wird zunächst ganz allgemein jedes Übel, das für ein begangenes Unrecht auferlegt wird, verstanden, wobei sie in der Entziehung eines Gutes oder in der Zufügung eines Leides bestehen kann.« 32
Geißler unterscheidet in seinem Lehrbuch zu den ›Erziehungsmitteln‹ in der 6. Auflage 1982 zwischen der Strafe als moralischem Begriff im Zusammenhang mit Gewissen, Schuld und Sühne und der Strafe als Lenkungsmittel nach Art des Stimulus im bedingten Reflex.33