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Helene Elis

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Beschreibung

Sarah liebt ihren Schwiegervater über alles. Sie versteht seinen Pessimismus und seine Andeutungen nicht, bis eines Tages die vernichtende Diagnose "Krebs" über die Familie hereinbricht. Mit allen Mitteln kämpfen die Reinhardts, und in diesem Kampf werden die wirklich wichtigen Dinge des Lebens deutlich. Ein Abschied, verdichtet erzählt von Helene Elis

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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Helene Elis

Geweiht diese Nacht

Eine Erzählung vom Sterben und Leben

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1. Advent

Ludger Reinhardt war zu seinen Lebzeiten das, was wohl von allen, die solche Begriffe noch verwendeten, ein stattlicher Mann genannt wurde. Große Männer gab es überall und jederzeit - daran lag es gewiss nicht. Lange hatte Sarah sich den Kopf zerbrochen, was es eigentlich ausmachte: War es etwa die gepflegte Erscheinung in Kleidung und Schuhwerk, das schwarzgraue Haar mit den tiefen Geheimratsecken, die tadellose Maniküre?

 

Sie hatte dasselbe Urteil gefällt über diesen Mann und kam dabei doch zu dem Schluss, dass es dies alles nicht allein sein konnte. Vielmehr war es der Blick, den dieser schlanke, ja drahtige Mann jedem zukommen ließ. War es Spott in seinem Auge? Nicht wirklich. An der Art, wie er nie den Kopf nach unten neigte, sondern stattdessen die Lider senkte, erkannte jeder, dass der Ernst, der dort ins Gesicht gemeißelt schien, gespielt war. Seine Schritte waren weit ausholend, doch hinkte er ein wenig. Das gab ihm eine ungeheuerliche Wirkung von Volksnähe, ja von Solidarität mit all jenen, die schon einiges mitgemacht hatten im Leben. Kein Wunder, dass sie von weither gekommen waren seinerzeit, um ihn bei Hoesch zum Betriebsrat zu wählen.

 

Sarah war eher klein und hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, obwohl er den Jungen trug. Es war sein Junge, und der Kleine liebte seinen Opa derart, dass Sarah, die den leeren Buggy vor sich her schob, sich nicht selten bei intensiven Anflügen von brennender Eifersucht erwischte. Und sie war zudem verwirrt, da sie manchmal gar nicht einordnen konnte, auf wen von den beiden sie eigentlich eifersüchtiger war: auf den, der eine bedingungslose Liebe ihres Sohnes genoss - oder auf das Kind, das eine standhafte und niemals einbrechende Liebe von seinem Großvater bekam.

 

Sarah hatte eine recht komplizierte und selten liebevolle Kindheit unter einem Alkoholiker und einer ketten-rauchenden Neurotikerin durchlebt; es versetzte ihr immer brennende Stiche, wenn sie nun beobachtete, was sie zuvor selbst nie hatte kennenlernen dürfen.

 

Und obschon dies alles nicht heiter war, ja diese ernsten Themen bei den Schwiegereltern so gut wie nie auf den Tisch kamen, wusste Ludger, wie es um Sarah stand. Dass sie bereits in jungen Jahren sich hatte das Leben nehmen wollen, dass sie manchmal scheinbar grundlos traurig schien. So wie jetzt! Und so nahm er den Dreijährigen, bereits schweren Jungen von seinen Schultern und "flüsterte" ihm ins Ohr - gerade so, dass Sarah neben ihm es hören konnte; dann hielt er das Kind Sarah entgegen, und der Junge spitzte artig die Lippen, um seine Mama zu küssen.

 

Sarahs Mann und ihre Schwiegermutter liefen abseits und schienen zu plaudern. Das Gespräch zwischen den beiden war immer ohne Freude. Hier aber liefen drei, denen der Schalk, oft zum Leidwesen der älteren Frau, nur allzu lose im Nacken saß. Das Herz der grau-blonden Frau tat einen großen Sprung, als sie sah, wie der Kleine mit seiner Mutter schmuste, und sie deutete zu dem Geschehen und sagte zu ihrem Sohn:

"Ach Gott, guck nur, der Junge!"

 

Sarah schielte dankbar an ihrem Sohn vorbei zu ihrem Schwiegervater, der das Kind noch immer an den Hüften festhielt, damit die junge Mutter nichts heben musste. Sie war solcherlei Aufmerksamkeit, wortlos sogar und daher von noch größerer Bedeutung, nicht gewohnt. Sie lächelte, und der alte Mann erfreute sich daran still. Allein ein halbes Lächeln, das mit nur einem Mundwinkel sich begnügen musste, deutete auf seine Gefühle hin.

 

Weiter ging es entlang des verregneten Weges voller Laub und am Rande stehender kahler Bäume. Der Westfalenpark trotzte dem Spätherbst und beeindruckte mit seiner Allee und den zauberischen Holzbrücken noch immer mit Schönheit. Doch es dämmerte, und die Gesellschaft lockte es zum Ende des Spazierganges, wie immer, in die Wohnung der Reinhardts. Dort warteten frisch gebackene Waffeln mit Rosinen - oder wahlweise mit Anis, weil Sarah keine Rosinen mochte.

 

"Sag, wirst du es nie müde, ihn zu tragen?", himmelte Sarah ihren Schwiegervater an.

Der aber schüttelte nur den Kopf. Sarah sah, dass er schwer ging, dass seine Arme ermüdeten. Doch eher hätte er sie sich abreißen lassen, als den Jungen aus ihnen zu entlassen!

Sie kamen beim Auto an. Hier fanden nun wieder alle zusammen.

"Los, gib mir den Buggy", kommandierte Hans, Sarahs Ehemann.

Sarah wurde aus dem warm-wolligen Gefühl des Umhegtseins gerissen. Es schmerzte sie, und sie konnte den Mund nicht halten:

"Wie redest du mit mir!"

"Kinder! Hört auf zu streiten!"

Diese Worte von Klara, Hans' Mutter, waren die in der Familie wahrscheinlich am meisten gehörten.

"Ja, das war etwas unhöflich", sprang Ludger Sarah zur Seite.

"Wieso? Was hat er denn gemacht? Er will doch nur den Wagen! Was soll das denn? Halt dich doch einfach da raus", zischte Klara.

 

Sofort tat es Sarah leid. Ja, warum hatte sie nicht einfach den Mund gehalten! Aber wie hätte sie anders gekonnt? Seit Jahren stritt sie täglich und mit jedem Tag verzweifelter mit diesem Mann, der sie nicht halb so schätzte, wie ihre Schwiegereltern es taten. Manchmal wünschte ich, ich könnte nur die beiden haben - ohne ihn!, dachte Sarah.

 

Nun schwieg sie und schnallte ihren Sohn im Kindersitz an.

Mutter Reinhardt aber hatte nun den Kampf auf ihre Fahne geschrieben:

"Immer muss es Streit geben! Das arme Kind! Können wir nicht einen einzigen Tag mal verbringen, ohne dass es kracht?"

Sie begann zu weinen.

"Klara, nun lass gut sein", sagte Ludger.

 

Er wurde nie laut, so kannte ihn Sarah nicht. Aber seine Worte waren in Ernst gefasst wie ein Edelstein in die Einfassung eines Ringes oder Amulettes.

Nun schwiegen alle. Still weinte Klara aus Augen, die nicht allein von diesem Moment her so gerötet sein konnten.

 

 

***

 

Oma Lottchen kaute auf der dritten Waffel, und während Klara ihr ein drittes Mal Sahne auftrug, mahnte sie streng:

"Immer so viel Sahne. Muss das sein? Ja? Na denn ..."

 

Wie jeden Sonntag hatte die sehr alte, kleine und dicke Frau sich auch am ersten Advent in den zweiten Stock der Wohnung ihrer Tochter aufgemacht. Sie sah unschuldig drein, während sie den Blick ihrer Tochter suchte:

"Und? Schlimm gez?"

Dann sah sie Sarah an und brach in ein kindliches Kichern aus. Sarah musste unwillkürlich mitlachen, doch der strenge Blick von Klara sprach Bände, und so räusperte sie sich schnell.

"Ja", schimpfte Klara. "Das ist schlimm! Was meinst du, wo die Pfunde auf den Hüften her kommen?!"

 

Doch Oma Lottchen lachte nahezu Tränen in der Manier einer Frau, die ganz genau weiß, wie narrenfrei der bevor stehende Tod macht.

Sarah wandte sich schmunzelnd ihrem leeren Teller zu, den sie wegzubringen gedachte; doch da landete eine weitere Waffel darauf.

"Oder nich?", fragte Klara unsicher, obschon sie bereits nach der Sahne langte.

"Du, ich bin satt", seufzte Sarah, die das Spiel bereits kannte. "Denke mal an meine Hüften, da ist auch schon genug Speck drauf."

"Du und Speck?", lachte Klara. "Du bist noch jung, du kannst das schon noch. Sahne?"

 

Und ohne die Antwort abzuwarten, landete ein dicker Klacks davon auf Sarahs Waffel. Oma Lottchen lachte nun lauthals und kommentierte:

"Tja, da machse nix!"

"Nee", sagte Ludger, der an der Schwelle zur winzigen Küche stand, "Da machse nix."

Ein breites Grinsen zog sich von einem seiner Ohren zum anderen.

Sarah grinste nun auch. Sein Grinsen war ansteckend, fand sie.

"Ludger - noch ne Waffel?"

 

Ludger machte mit der Hand eine Geste, seine Miene war sofort wie eingefroren - das war ein Nein, in Stein gemeißelt. Sarah wünschte, sie hätte nur die Hälfte seiner Autorität. Denn Klara legte die bereits mit der Löffelzange gepackte Waffel tatsächlich zurück auf den Teller. Wahrscheinlich war Ludger der einzige, der ihr überhaupt etwas sagen konnte.

 

"Ich geh jetzt mal zu dem Kleinen, ja?", zwinkerte Oma Lottchen.

"Mutti", fragte Klara - aber es war gar keine Frage, es war eine Ermahnung:

"Mutti, du gibst doch dem Kleinen nicht auch noch Waffel?"

"Nicht?", fragte Oma Lottchen in gespielter Verwunderung. Es brachte ihre Tochter auf die Palme, und sie wusste das ganz genau - sie genoss es augenscheinlich.

"Nein! Der hatte schon drei Stück! Der kriegt Bauchweh! Mutti! Bitte!"

"Och", lächelte die weißhaarige Frau, "schade. Drei Stück schon, wonnich? Der hat einen Appetit - wie die Mama!"

 

Dabei sah sie nun Sarah an und kicherte wieder unverhohlen. Sarah sah, wie sie ein kleines Waffelherzchen in der Hand verschwinden ließ und damit an Ludger vorbei aus der Küche in die Diele und dann ins Wohnzimmer humpelte. Sarah schüttelte den Kopf, grinste aber gleichzeitig. Was Oma Lottchen sich in den Kopf gesetzt hatte, daran war einfach nichts mehr zu machen!

Klara schien den Braten gerochen zu haben und folgte der Alten - sicherheitshalber! Das Zimmer leerte sich angenehm.

 

Die Küche war so klein, dass auf den gerade mal sechs Quadratmetern eine zusammengestellte Küchenzeile mit Gasherd und Mini-Kühlschrank passte, davor ein kleiner Küchentisch mit drei Stühlen. Ein großes Fenster zum Hof ließ das schwindende Licht von einem grau verhangenen Himmel ein. An der grün gemusterten Küchentapete hing über dem Tisch eine tickende Wanduhr.

 

Ludger hatte nicht wenige Steckenpferde und Hobbys. Dazu zählten nicht nur Kalligraphie und das Sammeln von kleinen gelben Eiern mit spannendem Inhalt, sondern auch tickende alte Wanduhren und Regulatoren, deren Innenleben er mit Begeisterung studierte. Über jener nun hing eine Schnitzerei, die in geschwungener Aufschrift verkündete:

"Tempus fugit."

Ludger setzte sich auf den leeren Stuhl Sarah gegenüber und nahm wahr, dass sie die Uhr betrachtete.

"Und?", fragte er.

"Was?", erwiderte Sarah. Nicht immer verstand sie seinen komplizierten nonverbalen Kodex aus Mimik und knappen Gesten.

"Weißt du, was es heißt?"

 

Sarah sah die Inschrift erneut an. Sie hatte Latein gehabt in der Oberstufe. Tempus, die Zeit ... aber "fugit"? Sie überlegte ... "fugare" - fliehen? Nein, das konnte nicht passen ...

Ludger genoss es, Sarah beim Denken zuzusehen. Nun sah er listig aus. Seine dunkelbraunen Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. Ein leises Grinsen ersetzte das zuvor einfach nur amüsierte.

"Ich könnte nur raten", schloss Sarah ehrlich. "Die Zeit flieht?"

Ludgers Gesicht zeigte keine Veränderung, als er die Lösung preisgab:

"Die Zeit schreitet voran."

 

Das Ticken der Uhr wurde sofort lauter, fand Sarah. Sie überlegte kurz, denn es schien ihrem Schwiegervater recht wichtig zu sein:

"Die Zeit schreitet voran ..."

Sarah war 27 Jahre alt. Am Voranschreiten der Zeit fand sie nichts ungewöhnlich ...

"Ja, das tut sie wohl", schloss sie daher taktvoll.

 

Ludger sah Sarah nun ohne Lächeln an. So lange, dass Sarah sich etwas unangenehm beobachtet fühlte. Dann stand er auf, mühsam, und hinkte zur Tür, lehnte sich dort wieder an die Zarge, ein typisches Bild.

 

"Das klingt so ... düster", sagte Sarah und stellte ihren leeren Teller in das Spülbecken der Küchenzeile.

"Hm", brummte Ludger nur.

"Ja", überlegte Sarah weiter, "Es klingt fast so, als würdest du dich mit dem Sterben schon beschäftigen!"

 

Sie sah ihm nun offen ins Gesicht. Ja, er war stattlich; jedoch Sarah empfand das nicht als hinreichenden grund, alles kommentarlos hinzunehmen. Sie fühlte eine Bedrohung, und sie hatte überhaupt keine Lust auf zynische Spielchen!

 

Ludger zuckte mit den Schultern.

Aus dem Wohnzimmer tönte Klaras Stimme:

"Mutti! Der hatte doch schon! Du machst aber auch, was du wills, wonnich!"

 

"Ludger?"

Sarahs Blick war eine offene Forderung. Ludger schätzte dies an Sarah sehr. Sie sagte, was sie dachte, und sie forderte ein, was sie brauchte.

 

"Ich mache eh nur noch zwei Jahre. Dann bin ich weg hier!"

"Ludger!"

 

In blankem Entsetzen starrte Sarah ihren Schwiegervater an und jappste nach Luft. Allein der Gedanke war derart erschreckend, derart verletzend, dass ihr Gesicht sich in Kummer und Schmerz verzerrte:

"Wo, hier?!"

Ludger lächelte sanft:

"Auf dieser Erde!"

"Wie kannst du so etwas auch nur denken!"

 

Ludger zuckte mit den Schultern. Seine Miene war steinern - er meinte es ernst.

"Weißt du denn nicht, was passiert, wenn man sich so etwas einredet?"

Sarah schrie fast. Durch die Wohnzimmertür rief Klara:

"Was ist denn da drüben los? Ludger?"

"Nichts, alles in Ordnung!", rief Ludger über die Schulter.

 

Sarah musterte ihn in banger Erwartung. Was war das hier? Was wusste er, was sie nicht wusste?

"Ludger - ist da irgend etwas? Bist du krank?"

"Nein." Ludger schüttelte den Kopf. "Es ist ..."

Er sah zu Boden, überlegte kurz:

"Es ist nur so ein Gefühl. Zwei Jahre. Mehr nicht."

"Ludger! Ich will davon nichts hören!"

 

Sarah ging auf den großen Mann zu; doch als sie vor ihm stand, wusste sie plötzlich nicht mehr, was sie tun sollte. Ihn in den Arm nehmen? Er sah so gefasst aus. Ihn besänftigen? Er war klar und ruhig in einer Weise, die sie nie erreichen würde. Was sollte sie tun? So legte sie einfach ihre Hand auf einen seiner verschränkten Arme und flüsterte:

"Das ist gefährlich! Hast du schon gehört von der selbst erfüllenden Prophezeiung?"

 

Ludger nahm die liebe Geste seiner Schwiegertochter wahr und tätschelte ihr unbeholfen die Hand. Auch er schien eine Nähe dieser Art nicht wirklich gewohnt zu sein:

"Ja. Mach dir keinen Kopf. Es ist nur ein Gefühl."

 

Er räusperte sich, entfernte vorsichtig ihre Hand von seinem Arm und wandte sich zur Diele.

"Du tust mir weh", rief Sarah.

Er hielt kurz inne und griff sich ans Herz. Doch dann ging er weiter und öffnete die verglaste Wohnzimmertür. Lachen von Oma Lottchen und Klara erhellten zusammen mit dem Licht des Kerzenleuchters und dem fröhlichen Quieken des Dreijährigen die Diele.

 

Sarah blieb allein in der Küche. Sie war verwirrt und bestürzt. Sie liebte ihren Schwiegervater wie ... ja, wie? Wie ihren eigenen? Doch zu ihrem leiblichen Vater hatte sie nie wirklich eine Beziehung aufbauen können. Also liebte sie ihn wahrscheinlich so, wie man einen Vater hätte lieben sollen. Nur eines war ihr klar: Sie wollte ihn nicht verlieren!

2. Advent

Es begann eine unruhige Zeit, als deutlich wurde, dass die Befürchtungen des alten Mannes nicht aus der Luft gegriffen schienen, wenn es auch dauerte. Befürchtungen wuchsen an zum Verdacht, doch weigerte sich Ludger lange und mit ihm eigener Hartnäckigkeit, einen Arzt aufzusuchen. So verstrichen gut zwei Jahre, bis Klara ihren Mann derart antrieb, dass dieser den Gang zum Arzt nicht mehr verweigern konnte.

 

Als es so an einem Sonntag im Dezember in der Wohnung der Reinhardts klingelte, waren zum ersten Mal die Kinder nicht dabei, seit sie auf der Welt waren. Hans und Sarah betraten die kleine Diele mit ihrer gelblich leuchtenden, gusseisernen Lampe. Klara war so verweint, dass es anscheinend für sie keinen Sinn mehr machte, die Tränen noch zurückzuhalten; sie konnten nichts mehr schlimmer machen.

 

Hans und Sarah begegneten dem ganzen, wie immer, mit grundsätzlich unterschiedlicher Haltung. Während Hans kaum den Kopf hob und Mühe hatte, seinen Eltern ins Gesicht zu sehen, saß Sarah aufrecht und gefasst da, nicht ergeben in ein Schicksal, sondern alle Kraft aufbringend, jenem fatalen Weg so fest wie möglich entgegenzutreten!

 

"Und?", fragte sie, als alle am ovalen Holztisch im Wohnzimmer saßen. "Was ist jetzt? Ist es ein Magengeschwür?"

"Schlimmer!"

 

Es schoss aus Klara heraus wie die Kugel aus einem Gewehr, schnell, gerade heraus, unaufhaltsam. Seit drei Tagen trug sie es mit sich herum und hatte sich keiner Seele anvertrauen können. Und am Telefon sagt man solcherlei Dinge nicht einfach in den Hörer!

"Das Schlimmste! Es ist das Schlimmste!"

 

Und dann schüttelte es sie so vor Schluchzen, dass Hans kaum noch still sitzen konnte. Ludger saß gefasst und sagte kein Wort, hielt das kleine Weiblein an seiner Seite fest und versuchte in aller Tapferkeit, ein Fels in der Brandung zu sein.

 

Sarah betrachtete die drei und schüttelte den Kopf:

"Na na! Noch ist er nicht tot."

Sofort hörte die alte Frau auf zu weinen, schoss hoch und keifte:

"Reicht es dir nicht? Was muss denn passieren! Was muss passieren, sag es mir!"

 

Sarah hatte durchaus Mitleid mit der kleinen Frau. Solange sie sie kannte, hatte sie über ihren Mann gewettert; doch Sarah war nicht entgangen, wie stolz sie ihn immer ansah mit einem heimlichen Blick, den Ludger anscheinend nicht bemerken sollte.

"Klara, ich verstehe, dass du Angst hast."

Nun schrie Klara:

"Angst, was meinst du mit Angst? Es geht um Leben und Tod!"

Und wieder brach sie zusammen und weinte in den Armen ihres Mannes.

 

Sarah sah Ludger an. Der hatte bislang diesen Blick vermieden; jedoch vorsichtig nun, mit einer klaren Nuance von Verbitterung, richtete er sein Augenmerk auf die Schwiegertochter. Es mochte ihn erstaunen, was er sah; denn Sarah zeigte weder den befürchteten Gefühlsausbruch, noch war sie in einer desolaten Stimmung.

 

"Ludger! Das ist eine Diagnose, nichts weiter. Wir nehmen das wahr. Und kämpfen jetzt!"

Ludgers zerzauste schwarzgraue Brauen gingen in die Höhe. Etwas schien ihn zu packen - empfand er diese Worte als Reißleine?

"So ist es!", donnerte er nun und schüttelte seine Frau ungewollt heftig in aufkeimendem Trost und zupackender Tatkraft.

"Wir packen das an! Das hat die Sarah gut gesagt: Ich bin noch nicht tot! Wir kämpfen!"

Und trotzend hob er eine Faust gen Zimmerdecke - Sarah lachte ob dieser ungewollt komischen Aktion.

 

Klara schnäuzte in ihr Taschentuch:

"Natürlich kämpfen wir! Aber das eine sage ich euch: Das wird kein Zuckerschlecken!"

Und damit verschwand sie in ihre kleine Küche. Würde sie ins Bad verschwinden, dann würde sie den Wasserhahn aufdrehen und gewaltig fluchen, so dass es niemand im Hause mitbekäme trotz aller Hellhörigkeit der Wände.

 

Ludger seufzte. Hans schüttelte den Kopf:

"Hat es bereits metastasiert?"

"Nein", antwortete Ludger, "es ist so groß wie ein Fünfmarkstück. So groß!"

Und er zeigte mit Daumen und Zeigefinger, was er auf dem Röntgenbild gesehen hatte.

 

"Sarah, kommst du kurz?", rief Klara aus der Küche.

Und Sarah kam. Herzlich umarmte Klara die jüngere Frau bereits an der Schwelle zur Küche.

"Es tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien!"

Nun hielt Sarah das weinende Bündel fest, und sie flüsterte:

"Kein Problem. Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle sagen oder tun würde. Ist ja alles nicht einfach."

 

Die Augen der Hausfrau waren bereits so angeschwollen, dass sie sie nicht mehr ohne Anstrengung auf bekam.

"Nur sag mir eines: Wenn man wochenlang beim Aufstoßen nach Käse riecht - nach Käse, verstehst du? - wie kann man da verweigern, zum Arzt zu gehen?"

Sarah kam nicht umhin, an das Gespräch zu denken, dass sie beinahe auf den Tag vor zwei Jahren zuvor mit ihrem Schwiegervater geführt hatte. Ihr Blick fiel auf die tickende Küchenuhr. Die Aufschrift "Tempus fugit." hämmerte sich mit jedem Ticken in Augen und Ohren.

 

"Er wollte nicht zum Arzt?"

"Nein!"

Klara war wirklich außer sich.

"Er hat gesagt, das wäre eh zwecklos!"

"Dann hat er es gewusst, irgendwie!"

Der Satz war so staubtrocken, dass Sarah husten musste.

"Warte, ich hole dir etwas zu trinken!", rief Klara und holte schnell Glas und Mineralwasser herbei.

 

Tick, tack, machte die Küchenuhr. Sarah kämpfte nun doch mit den Tränen; aber sie gewann wieder an Stärke, sobald Klara auftauchte. Still saßen sie eine Weile beieinander und tranken Wasser, jede mit eigenen, bangen Gedanken. Sarah allerdings hatte schon vieles überlebt und daher keine Lust, dem Teufel zuzuspielen!

 

"Er schafft das! Er ist doch so stur! Der springt dem Deibel noch hundertmal von der Schippe, Klara! Wirst sehen!"

"Wie geht es den Kindern?", fragte Klara, obwohl sie nur eine Stunde zuvor mit beiden telefoniert hatte.

"Meine Freundinnen passen gut auf. Bettina ist ja Erzieherin, die machen das schon."

"Gott, jetzt vermisse ich sie doch. Hättest sie vielleicht besser mitgebracht? Allein schon wegen ihm?"

"Nein nein", beeilte sich Sarah, "Besser, wenn ihr beide wieder etwas gefasster seid. Was sagt denn Oma Lottchen?"