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Hochglanz-Girl im Hochhaus-Schick: Die 15-jährige Nele wohnt mit ihrer Familie im schicken Hamburg-Poppenbüttel und führt ein unbeschwertes Leben. Doch plötzlich nimmt ihr Leben eine gravierende Wendung: Neles Vater stirbt und hinterlässt Berge von Schulden! Neles Mutter ist gezwungen, mit ihr und ihrem 14-jährigen Bruder das Villenviertel gegen eine Hochhaussiedlung in Hamburg-Steilshoop einzutauschen. Schnell ist Nele hier die arrogante Zicke vom Dienst und lässt kein Fettnäpfchen aus. Als jedoch der 17-jährige Skater Yannik auftaucht, gelingt es Nele immer besser, sich in ihr neues Umfeld zu integrieren. "Ghetto Bitch" stammt von Wortwitz-Genie Gernot Gricksch, der auch schon Drehbuchautor von "Tatort Münster" und "Das Leben ist nichts für Feiglinge" war.
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Für Emily
»Sich mit wenigem zu begnügen, ist schwer, sich mit vielem zu begnügen unmöglich.«
Marie von Ebner-Eschenbach
Siebte Reihe! Sie waren ganz dicht dran! Nele würde das Gesicht der Bitch ganz genau erkennen können. Nicht so wie die Leute ganz da oben, auf dem zweiten Rang der Arena. Die würden sie nur auf der Videoleinwand sehen, die über der Bühne prangte und auf der momentan der Name Lisa T. in einer Endlosschleife, in immer wechselnden Farben, in immer anderem Design, flimmerte.
Auf der Bühne tat sich noch nichts, dort standen nur die Instrumente, Boxen, Mikrofonständer – das Versprechen einer Show. Nele schaute auf die Uhr. Es war bereits halb neun. Um acht hätte sie eigentlich schon anfangen sollen, doch um so etwas musste sich jemand wie Lisa T. natürlich nicht kümmern. Sie war zu cool dafür. Die Bitch kam, wenn sie es wollte, nicht, wenn man es ihr sagte. Eigentlich war es auch egal, wann genau die beste Rapperin Deutschlands die Bühne betrat, denn Nele saß direkt neben Daniel. Das allein war schon Event genug.
Auf Neles anderer Seite saß Svantje. Ihre beste Freundin. Und neben Svantje saß Max. Die beiden waren jetzt seit vier Monaten zusammen, aber Nele hatte nicht den Eindruck, dass es für die Ewigkeit war. Svantje hatte eine Menge an Max auszusetzen: Er redete zu leise, aber dafür zu viel, er war zu vernünftig, er war ein mittelmäßiger Küsser. Svantje würde Max sofort fallen lassen, wenn Daniel noch auf dem Markt wäre, da hatte Nele keinen Zweifel. Denn alle wollten Daniel. Aber sie hatte ihn gekriegt! Sie war es, der Daniel nun seinen Arm um die Schultern legte – einfach so, ohne dass sie strategisch an ihn heranrücken musste. Sie war es, die er angrinste. Sie war es, die er küsste. Und Daniel küsste alles andere als mittelmäßig! In diesem Moment stand für Nele endgültig fest, dass dies der beste Abend ihres Lebens war.
Es wurde unruhig im Publikum, denn jemand hatte die Bühne betreten. Doch es war nicht Lisa T., es war nicht einmal einer der Musiker. Es war nur irgendein Typ mit langen, fettigen Haaren und einer Hängearsch-Jeans, der zwischen Schlagzeug und Keyboard herumwuselte, irgendwelche Kabel einstöpselte und nacheinander auf alle Mikrofone klopfte, um zu schauen, ob sie eingeschaltet waren. »Macht man so etwas nicht eigentlich beim Soundcheck, wenn noch niemand im Saal ist?«, fragte Nele Daniel.
»Wahrscheinlich ist das alles völlig unnötig, was der da abzieht«, antwortete Daniel. »Vielleicht will der Typ einfach nur gern mal vor zehntausend Menschen auf einer Bühne stehen.«
Nele lachte. Als hätten die Leute im Saal Daniels Spruch gehört, applaudierten nun einige von ihnen dem Hängearsch-Mann scherzhaft, und der machte tatsächlich grinsend eine alberne Verbeugung, bevor er von der Bühne schlurfte.
Dann erlosch das Licht. Für eine Sekunde war alles tiefschwarz, bis Dutzende von Scheinwerfern die Bühne mit gleißender Helligkeit beschossen.
»Who’s the Queen?!«, rief eine Stimme durch die Arena.
Alle sprangen jubelnd auf, es gab kein Halten mehr. Zehntausend Menschen erhoben sich gleichzeitig, als hätten sie es vorher abgesprochen, von ihren Plätzen. Wie ein einziger großer Körper, der sich unter einem Stromschlag aufbäumt.
»Who’s the Queen?!«, ertönte die Stimme erneut.
»Ghetto Bitch!«, schrien Tausende von Menschen zurück.
»Ich kann euch nicht hören!«, schrie Lisa T. »Who’s the Queen?!«
»Ghetto Bitch!!!!«, brüllten nun die Fans so laut, dass es sich anfühlte, als würde die ganze Halle vibrieren. Als würden die Schallwellen von zehntausend jubelnden Menschen über Neles Arme und ihr Gesicht flitzen wie elektromagnetische Wellen. Sie bekam eine Gänsehaut. Nele drehte sich zu Daniel um. Sie blickte direkt in sein Gesicht. Er hatte sie die ganze Zeit angeschaut. Nicht zur Bühne hatte er geguckt, sondern zu ihr! Nele strahlte ihn an.
»Geht es euch gut?!« schrie Lisa T.
»Fucking perfect!«, schrien zehntausend Menschen.
Fucking perfect. Das war einer der größten Hits von Lisa T. Und genau das war auch dieser Abend, dachte Nele: Fucking perfect!
Ein gleißender Blitz zuckte quer durch die Arena und die Musik begann. Ohrenbetäubend laut. Die Band legte los wie ein Gewitter. Und Lisa T. betrat die Bühne.
»Gebt mir eure Liebe, Leute!«, rief sie und Tausende von Handys flackerten auf. Auch Nele hatte ihr iPhone gezückt und fing an, die Show zu filmen.
»Gebt mir eure Liebe!«
Erneuter Jubel. Die Band hämmerte auf ihre Instrumente ein. Jeder Schlag der Bassdrums brachte Neles Körper zum Schwingen. Ein Wahnsinnsgefühl! Svantje holte ihre Ohropax aus der Umhängetasche und stopfte sie sich in die Ohrmuscheln. Das hatte sie ihrer Mutter versprechen müssen, sonst hätte sie nicht mitkommen dürfen. Svantje spielte Klarinette im Jugendkammerorchester, und der Plan war, dass sie später am Musikkonservatorium studieren und danach Mitglied eines berühmten Symphonieorchesters werden sollte. Da wäre ein Tinnitus natürlich tödlich.
Auf der Bühne ging es nun richtig zur Sache. Lisa T. begann zu rappen. Sie spuckte die Wörter aus wie Säuregeschosse. So viel Wut! So viel Power! Nele sang den Refrain begeistert mit.
Sie ist die Queen der Hood
Was sie macht, macht sie good
Sie ist tough, sie ist Street
Sie lebt nach ihrem eigenen Beat.
Siebzig Minuten und zwei Zugaben später war Schluss. Das Licht im Saal ging an und verwandelte die funkelnde Party in eine neonhelle Völkerwanderung. Tausende von Menschen schoben sich auf die Ausgänge zu.
Doch Nele wollte noch nicht, dass der Spaß zu Ende war. Sie und Svantje grölten den Refrain ihres Lieblingssongs wieder und wieder, während sie sich in dem Pulk aus Menschen mühsam vorwärtsbewegten:
Sie ist die Queen der Hood
Was sie macht, macht sie good …
Daniel und Max gingen neben ihnen und verglichen ihre Handyaufnahmen. Daniels Video war schärfer. Max hatte noch das alte S3-Modell, das hatte nur halb so viel Megapixel wie Daniels Smartphone.
Sie ist die Bitch im Ghetto
Sie hat alle Tricks in petto
She’s nobody’s fool
The bitch is fucking cool!
Die letzte Zeile schrien Nele und ihre Freundin genau so, wie Lisa T. sie auf der Bühne geschrien hatte. Mit sich fast überschlagender Stimme, mit all der Wut der Straße drin. Sie ballten die Hände zu Fäusten – THE BITCH IS FUCKING COOL! – und rissen dabei die Arme in die Höhe.
»Hey!«, protestierte ein Mädchen. »Pass doch auf!«
Nele drehte sich um und sah, dass Svantje dem Mädchen versehentlich das Handy aus der Hand geschlagen hatte.
»Oh. Entschuldigung. Das war keine Absicht«, sagte Svantje.
Das Mädchen bückte sich und hob ihr Handy auf. Ein Junge – ihr Freund offenbar – schob die Leute, die von hinten weiterdrängelten, grob zur Seite. Das Mädchen untersuchte ihr Telefon. Das Display war zersplittert.
»Oh nein!«, rief sie entsetzt.
»Fuck«, sagte der Junge, der eigentlich kein Junge mehr war, sondern schon ein Mann. Neunzehn, zwanzig Jahre alt vielleicht. Sein Schädel war bis auf ein paar kurze Stoppeln kahl rasiert und er trug ein Tattoo am Hals. Wer auch immer dieses Tattoo gestochen hatte, war kein Meister seines Fachs. Es sollte wohl eine Schlange sein, doch für Nele sah es eher aus wie die Abbildung des Zwölffingerdarms in ihrem Biologiebuch. Das war das Thema ihrer letzten Bioarbeit gewesen: Aufbau und Funktion des menschlichen Verdauungstraktes.
»Das bezahlt ihr, ihr Fotzen«, sagte der Mann.
»Hey!«, protestierte Daniel.
»Das war ein Versehen!«, beteuerte Svantje noch einmal.
»Ihr bezahlt das!«, wiederholte der Typ mit dem Verdauungsorgan am Hals. Er drückte sich näher an Svantje heran, während der Pulk von Leuten die Gruppe nun wieder in Richtung Ausgang schob. Der Typ wirkte bedrohlich. Svantje zitterte.
Nele schaute zu Max. Er war Svantjes Freund. Es war seine Aufgabe, sie jetzt zu beschützen, doch Max schaute nur nervös zu, ohne etwas zu unternehmen. Der Zwölffingerdarm-Typ war locker einen Kopf größer als Max und würde ihn mühelos plattmachen können, aber das dürfte Max nicht daran hindern, sich einzumischen. Es gab Regeln. Jungs durften nicht einfach nur zuschauen, wenn ihre Freundin bedroht wurde. Auch Svantje sah Max nun Hilfe suchend an.
»Deine Eltern haben doch bestimmt eine Haftpflichtversicherung«, sagte Max leise zu ihr und wandte sich dann dem kahl geschorenen Zwölffingerdarm zu: »Lass uns das draußen regeln.«
Der Darm lachte ungläubig: »Du willst das draußen regeln?! Du?! Digga, du bist tot!«
Max erschrak, als er das Missverständnis begriff. »Oh Gott, nein! Ich meine nicht: ›Lass uns das draußen regeln‹, als ob wir uns da schlagen wollen, draußen. Natürlich nicht. Also, so was … das ist ja gar nicht mein … Stil, äh …«
Max war knallrot, und dass ihm nun der Schweiß die Stirn herunterlief, hatte nichts mit der Hitze im Saal zu tun.
»Ich meine, wir können das draußen in Ruhe klären. Vernünftig. Zivilisiert«, beeilte er sich zu versichern.
Der tätowierte Mann schien sich nicht entscheiden zu können, ob er sich über Max amüsieren oder ihm die Nase brechen sollte. Max hob entschuldigend beide Hände. »Wir wollen doch alle keinen Ärger. Lass uns das draußen ganz in Ruhe besprechen. Es war ein unglücklicher Unfall, dafür gibt es doch Versicherungen, das kann man alles regeln.«
Svantje sah enttäuscht aus. Was Max sagte, machte Sinn. Es war vernünftig. Sehr männlich war es aber nicht.
Das Mädchen musterte verzweifelt das zersplitterte Handy in ihrer Hand. »Mein Alter schlägt mich grün und blau, wenn er das sieht«, wimmerte sie und schaute ihren Freund an.
»Muss der gar nicht mitkriegen. Du kriegst ein neues. Die Fotzen zahlen das, verlass dich drauf«, versicherte er ihr.
»He«, protestierte Nele. »Es gibt keinen Grund, uns die ganze Zeit zu beleidigen. Wir haben doch gesagt, dass es uns leidtut. Und dass es ein Versehen war. Meine Mutter wartet draußen auf dem Parkplatz. Da können wir das alles regeln, mit der Versicherung und so.«
»Da können wir das alles regeln, mit der Versicherung und so«, quakte der Darm in einem albernen Singsang, um sich über Nele lustig zu machen.
»Ist doch keine große Sache«, fand Svantje. »Das ist doch nur so ein Billighandy.«
Das Mädchen und der Darm funkelten sie wütend an. Svantje biss sich auf die Lippe.
»Kommt einfach mit«, sagte Daniel. Seine Stimme war kühl und tief und selbstbewusst. Er legte seinen Arm demonstrativ um Neles Schultern und würdigte den Darm und seine Freundin keines weiteren Blickes. Er ging vor, die beiden hatten ihm zu folgen. Nele lächelte. DAS war cool. DAS war männlich.
»Ey, wo latscht ihr denn hin?«, nölte der Stoppelkopf.
»Meine Mutter steht dahinten, auf D4«, erklärte Nele. Der Parkplatz vor der Arena war riesig.
»Ja, denn mal los. Wir haben nicht ewig Zeit«, knurrte der Mann.
Die Wut des Glatzkopfs war verraucht, inzwischen war es Business. Der Typ sagte kein Wort, seine Freundin ging stumm neben ihm. Max und Svantje schauten die ganze Zeit zu Boden und vermieden jeden Blickkontakt. Nele dagegen sah einmal kurz zu dem Darm und seiner Tussi hinüber. Sie erschrak ein wenig, als der Kerl ihr direkt in die Augen schaute. Und er grinste. Ein fieses Grinsen. Nele guckte schnell wieder weg.
Nele, Svantje, Max und Daniel gingen zu Neles Mutter, die vor ihrem SUV wartete und sich offenbar ziemlich wunderte, dass ihre Tochter nicht nur ihre Freunde dabeihatte, sondern auch noch zwei Gestalten, die aussahen, als wären sie aus einem Fernsehkrimi über Drogendealer und minderjährige Prostituierte entlaufen.
Neles Mutter hörte sich kurz an, was passiert war. Svantje hatte inzwischen Nachforschungen angestellt: »Hier steht’s, Henriette«, sagte sie zu Neles Mutter und hielt ihr Smartphone hoch, auf dem die Seite eines Online-Shops zu sehen war: »Neupreis dieses Modells: 179 Euro.«
Neles Mutter griff in ihre Handtasche, holte ihr Portemonnaie hervor, gab dem grimmig dreinblickenden Zwölffingerdarm drei 50 Euro-Scheine und sagte: »Es ist ja schließlich nicht mehr neu. Und für 30 Euro könnten Sie auch das Display reparieren lassen. Dann haben Sie noch ein richtig gutes Geschäft gemacht.«
Sie drehte sich um, ohne seine Reaktion abzuwarten, und öffnete die Fahrertür ihres SUV. Der Darm gab sich knurrend zufrieden und ging mit seiner Freundin davon. Henriette stieg ein. Nele und Daniel machten es sich auf dem Rücksitz bequem, während Svantje auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Sie würdigte Max, der kurz zögerte und sich dann neben Daniel auf die Rückbank quetschte, keines Blickes.
»Vielen Dank, Henriette«, sagte Svantje, nachdem sie sich angeschnallt hatte. »Es tut mir echt leid. Meine Eltern geben dir das natürlich wieder.«
Henriette lächelte nur freundlich, um Svantje zu signalisieren, dass das keine große Sache sei.
»Wo hatten die Assis überhaupt das Geld für die Eintrittskarten her?«, wunderte sich Nele.
»Ja, genau. Die Karten in unserer Sitzplatzgruppe haben 90 Euro gekostet!«, erinnerte sich Svantje.
»Ganz schön teuer eigentlich für siebzig Minuten Ghetto«, sagte Daniel. Svantje und Nele kicherten.
»Lisa T. ist eben Luxusghetto«, sagte Nele. »Sie ist eine echte Platin-Bitch.«
Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich von dem überfüllten Parkplatz herunter in den Straßenverkehr einfädeln konnten, doch jetzt fuhren sie die Ringstraße entlang nach Hause.
Nele reichte ihren iPod nach vorn zu Svantje und sagte: »Das zweite Album, okay?«
Svantje schloss das Gerät an die Anlage an und Henriette wählte mit den Tasten am Lenkrad die richtigen Tracks aus. Lisa T. rockte den Wagen und Svantje und Nele sangen mit:
Ich scheiß auf eure Vorschriften,
ich will lieber abdriften, umshiften,
abhauen, zuhauen,
Hauptsache, nicht nur zuschauen,
ich will nicht bloß abnicken,
irgendwann abkacken,
vor der verdammten Glotze
jeden Abend absacken,
ich will ein Leben ohne Grenzen,
täglich dancen, die Scheiße dafür schwänzen,
living straight, getting laid,
getting out of the shade,
getting fucking paid
alles, was ich will, alles, was ich tu,
wird
Fucking perfect!
Daniel nahm Neles Hand.
Fucking perfect!
Nele küsste ihn. Henriette schaute in den Rückspiegel und lächelte ihre Tochter an. Nele zwinkerte ihr zu. Ihre Mutter war cool. Daniel war ein verdammt guter Küsser. Alles war, wie es sein sollte.
Fucking perfect!
Zuerst hatten sie Max zu Hause abgesetzt. Svantje hatte den Kopf weggedreht, als Max ihr beim Aussteigen einen Gutenachtkuss geben wollte. Svantje konnte echt tough sein. Max würde sich ganz schön abstrampeln müssen, um bei ihr wieder ein paar Punkte zu sammeln.
Zwei Minuten später waren sie an Svantjes Haus angekommen. Svantje hatte ihrer Mutter, eine Minute bevor sie eintrafen, eine WhatsApp-Nachricht geschickt, und so öffnete sich das Tor zu ihrer Auffahrt bereits wie von Geisterhand, als Henriettes SUV davor einbog.
Svantje umarmte Nele und flüsterte: »Lass uns nachher noch chatten.« Sie lächelte Daniel kurz zu, bedankte sich bei Henriette noch einmal für deren Hilfe und stieg aus dem Wagen. Henriette wartete noch, bis Svantje den Weg durch den fast parkähnlichen Garten bis zur Haustür ihrer Villa sicher zurückgelegt hatte, bevor sie wieder losfuhr.
Schließlich wurde Daniel abgesetzt. Er wohnte nur eine Straße von Nele entfernt. Daniel legte ganz sanft seine Hand auf Neles Wange und gab ihr einen letzten Kuss. Dann waren Henriette und Nele allein im Wagen.
»Toller Abend, hm?« Henriette lächelte.
»Ja.« Nele lächelte zurück.
»Und das Konzert war richtig gut?«
»Hammer.«
Nele tippte bereits eine Message an Daniel, während sie mit ihrer Mutter sprach: Träum von mir ;-)
Kurz darauf, als der SUV gerade im Carport zum Stehen kam, ploppte Daniels Antwort auf Neles iPhone auf: Na klar. Mach ich doch jede Nacht!
Nele strahlte.
»Gute Nachrichten?«, fragte Henriette.
Nele nickte nur. Sie hatte ein supergutes Verhältnis zu ihrer Mutter, sie waren fast wie Freundinnen, aber alles musste Henriette auch nicht wissen.
Als sie die Haustür aufschlossen, schlug ihnen ohrenbetäubend laute Musik entgegen. Nicht Lisa T., sondern die grellen und brutalen Death-Metal-Klänge, auf die Neles Bruder Timo stand. Henriette seufzte, und Nele hielt sich die Ohren zu, als sie ins Wohnzimmer ging. Timo saß auf dem Sofa. Auf dem Großbildfernseher schrie sich gerade ein bizarr bemalter und tätowierter Typ die Seele aus dem Leib, fuchtelte mit den Armen herum, als hätte er einen schweren epileptischen Anfall, und schleuderte seine blonde Mähne durch die Luft. Es war die Live-Blu-ray vom »Wacken«-Festival, die Timo sich mindestens einmal die Woche ansah. Nele konnte den Schreihals auf dem Bildschirm nur verschwommen erkennen, denn der Konzertmitschnitt war in 3-D. Timo hatte die entsprechende Brille auf der Nase, eine große Literflasche Cola vor sich auf dem Tisch und eine Tüte Kartoffelchips auf dem Schoß. Nele nahm sich die Fernbedienung und schaltete auf Stumm. Timo schaute erstaunt auf. Er hatte Nele erst jetzt bemerkt.
»Oh. Hi«, sagte er. »Schon zurück? War’s gut?«
»Besser als die Scheiße da auf jeden Fall«, sagte Nele und zeigte auf den Bildschirm, auf dem der Sänger gerade einen Schwall Kunstblut auskotzte. Nele schaute Timo nur kopfschüttelnd an. Kaum zu glauben, dass sie mit ihm verwandt war. Timo war vierzehn, ein Jahr jünger als sie, und bis auf den Nachnamen hatten sie rein gar nichts gemeinsam. Timo war ein Außenseiter. Er war ein Nerd. Seine langen, oft fettigen Haare hingen ihm wie Spaghetti auf die teigigen Schultern. Er war ziemlich klein für sein Alter, hatte dafür aber locker zehn Kilo Übergewicht. Das war kein Wunder, wenn man die meiste Zeit auf dem Sofa rumsaß und mit der PlayStation spielte. Er war ein echter Loser. Nele hatte ihrem Bruder verboten, sie anzusprechen, wenn sie sich auf dem Schulhof über den Weg liefen.
Früher einmal hatten sie sich ziemlich gut verstanden. Da war Nele die fürsorgliche große Schwester gewesen und Timo ihr pummeliger, liebenswerter Anhang, den all ihre Freundinnen total süß fanden. Timo war knuffig gewesen, ein freundlicher, gutmütiger Baby-Teddybär. Doch dann war er immer dicker geworden, immer ungepflegter und hatte seine Leidenschaft für Metal entdeckt. Freunde hatte er schon damals wenige gehabt, aber inzwischen hatte er – soweit Nele es beurteilen konnte – überhaupt keine mehr. In den Schulpausen saß Timo meistens in der Bibliothek oder der Kantine und las Mangas.
Henriette kam ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher aus. Sie klatschte in die Hände: »So, ihr Süßen, Feierabend. Ab ins Bett! Zügig! Morgen ist Schule.«
»Papa hat vorhin angerufen«, sagte Timo. »Er hat dich auf dem Handy nicht erreicht. Er hat sich doch kein Hotelzimmer genommen, sondern kommt heute Nacht noch nach Hause. Er ist schon auf dem Weg.«
»Oh, gut«, sagte Henriette.
Neles und Timos Vater Ingo war Architekt. Er fuhr ständig durch ganz Deutschland, beaufsichtigte Bauarbeiten, schaute sich Grundstücke an, hatte unentwegt irgendwelche Meetings. Nele hatte keine Ahnung, in welcher Stadt ihr Vater gerade war. Sie redeten nicht mehr sehr viel miteinander in letzter Zeit.
»Also: Macht euch bettklar, Kinder«, forderte Henriette noch einmal und Timo und Nele gingen in ihre Badezimmer. Nele und ihre Mutter teilten sich das luxuriöse Bad im Obergeschoss, während Timo und sein Vater ein eigenes Badezimmer im Souterrain hatten, direkt neben dem Pool und der Sauna. Dieses Badezimmer war etwas kleiner und nicht ganz so edel, aber sie waren ja auch Jungs. Da war der kosmetische und hygienische Aufwand deutlich geringer als bei den Mädels – in Timos Fall, fand Nele, war der Hygienefaktor sogar an der Grenze zur Nichtexistenz.
Eine halbe Stunde später lag Nele im Bett und tauschte WhatsApp-Nachrichten mit Svantje aus.
SVANTJE: Ich fand’s total peinlich, wie feige Max vorhin war.
NELE: Aber was hätte er denn tun sollen? Der andere Typ war voll der Schläger.
SVANTJE: Kennst du Bennett?
NELE: Aus der Oberstufe?
SVANTJE: Der ist süß, oder?
Es klopfte an der Tür, die Henriette öffnete, bevor Nele das Handy verstecken konnte. Henriette schaute ihre Tochter halb amüsiert, halb vorwurfsvoll an. Jetzt war der Moment gekommen, wo Nele wirklich Feierabend machen musste. Sonst gab es doch noch Ärger. Irgendwann reichte es auch der coolsten Mutter.
Nele tippte: Muss aufhören. Bis morgen, und legte das Handy auf den Tisch neben dem Bett. Henriette nickte ihrer Tochter noch einmal zu und schloss die Tür wieder.
Nele schaltete das Licht aus.
Es klingelte. Nele brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie richtete sich auf. Es war das Telefon unten im Flur, das hartnäckig weiterklingelte. Sie schaute auf den Digitalwecker neben ihrem Bett: 2:12 Uhr. Wer rief so spät noch an? Das Klingeln hatte aufgehört. Nele schaltete das Licht an und stieg aus dem Bett. Sie trat in den Flur, doch es war nichts zu hören. Nele ging ein paar Stufen die Treppe hinunter und sah, dass ihre Mutter in der Diele stand, das Telefon am Ohr, und ungläubig ins Leere starrte. Sie sagte nichts. Sie lauschte nur. Und dann ließ Henriette das Telefon fallen. Es rutschte ihr einfach aus der Hand und plumpste auf den Parkettboden. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihr Mund ebenfalls. So als wollte sie schreien, könnte es aber nicht.
»Mama?«, fragte Nele. Sie hatte Angst.
Henriette drehte ihren Kopf langsam in Neles Richtung, starrte sie aber nur stumm an.
»Mama?« Neles Stimme zitterte. Erst jetzt bemerkte sie, dass Timo neben ihr stand.
»Was ist los? Wer war das?«, fragte ihr Bruder.
»Papa«, flüsterte Henriette.
»Was wollte er?! Was ist denn?«, rief Nele.
»Papa ist tot«, sagte Henriette tonlos. »Er ist tot.«
Ingo Brüggemann
(1971–2015)
Die Spuren Deines Lebens
Deiner Hände Werk
und die Zeit mit Dir
wird stets in uns lebendig sein.
Den Text der Traueranzeige im Hamburger Abendblatt hatte Neles Mutter gemeinsam mit dem Mann vom Bestattungsinstitut ausgesucht. Nele fand das, was da schwarz umrahmt stand, irgendwie beliebig. Austauschbar. Eine Trauerfloskel aus einem Katalog. Sie konnte ihren Vater in diesem Satz nicht wiedererkennen.
Insgesamt waren drei Traueranzeigen erschienen. Die von der Familie, eine kleinere von den Angestellten im Architekturbüro ihres Vaters und eine richtig große von einem Architekturverband, in dem er zweiter Vorsitzender gewesen war. In der letzten hatte gestanden:
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