Gilas Einsamkeit - Jean Lupo - E-Book

Gilas Einsamkeit E-Book

Jean Lupo

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Beschreibung

Das Kartenspiel ist ein Teufelsspiel, diese Erkenntnis musste Jean nun schon zum zweiten Mal erfahren. Noch im gleichen Jahr wurde die beste Deutsche Elf aller Zeiten Europameister. Zuvor schon wurde das Münchner Olympiastadion eingeweiht. Und am selben Abend, an dem die Russen vernichtend geschlagen das Münchner Feld räumten, fand das Feuerwerk des Geislinger Frühlingsfest statt. Anschließend gab es einen klassischen Knockout. Ein noch sehr junger weiblicher Lehrling musste des Weiteren eine bittere Lehrstunde in Erfahrung bringen. Erst im Nachhinein fand die Aufklärung statt. Es war Gott sei Dank nichts Schlimmes passiert. Im Mittelpunkt des Geschehens steht in der Folge eine wunderschöne Reise an den Vierwaldstätter See, an der auch Gesine, die jüngste Schwester von Gila mit von der Partie war. Im Goldenen Schlüssel in Altdorf erlebten die vier, denn auch das Mädchen Magnolia, die Tochter von Gila und Jean war dabei, wunderbare Stunden und ebenso auf dem herrlichsten See der Alpen. Ein Jahr später erfolgte wieder einmal eine Fahrt in die fantastische Eifel, wo ein alter Freund aus vergangenen Tagen wohnt. Zum Schluss hin gab es wieder einen Umzug, das Paar wird nun in der Skorpion Straße wohnen. Zum ersten Mal überhaupt sind sie im Besitz eines Telefons. Welch ein kostbarer Schatz!

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Vorwort und Dankempfindungen

Zu allererst beginne ich mit wenigen Worten, die ansonsten immer zum Ende hin gepflegt und gutherzig von mir ausgesprochen werden, ich will Versäumtes nachholen. Es ist dies kein bewusst langes auf die Bank schieben und ebenso kein bewusstes Hintansetzen, nein ich habe da ganz einfach was vergessen. Ich will jenen Menschen meinen größten Dank aussprechen, die es mir überhaupt ermöglichen, meine Bücher in dieser Form zu veröffentlichen. Das war weiß Gott schon einmal weitaus schwieriger. Es sind also die Helden der Technik zu loben, die Erfinder und die Wissenschaftler, die durch ihr Intensivieren und Weiterentwickeln dem Internet die notwendigen Impulse gaben und sie mit hochmoderner Technik ausstatteten. Es scheint so, als hätte der Computer in den letzten Jahrzehnten ganz schnelle Beine bekommen. Ich bedanke mich bei all jenen, die zu diesem Aufblühen der Technik beigetragen haben und nicht zuletzt auch gilt ein herzliches Dankeschön an die hochtalentierten und geistreichen Damen und Herren des kreativen Verlages BoD, im hohen Norden der Republik.

Die Familiensaga wird fortgesetzt. Es geht also weiter, auch wenn die Strukturen andere geworden sind. Die Familie, die Großfamilie von der ich einst berichtete ist der Zeit gemäß in viele Einzelteile zerfallen, auch der Jüngste hat nunmehr die Mutter verlassen und es soll sich nun zeigen, ob die Zeit wirklich das mitbringt was ich, der Autor Jean Lupo, sich vor vielen Jahren, als er selbst noch ein Dreikäsehoch war, vorgenommen hat. Niemals werde ich meine Kinder schlagen, so lautete mein feierlich beteuerter Schwur in der Leidensphase, da, wie ich mir sicher war, die meisten Schläge die ich einzustecken hatte ungerechtfertigt waren.

Wie erziehe ich mein Kind? Vor den Achtundsechzigern war es a priori klar, wie die Erziehung in den Arbeiterfamilien vonstattenging. Schläge gab es mehr als Brot zu essen. Nun Magnolia, meine geliebte Tochter, ist im Januar 70 geboren. Da gab es noch nicht so viele Erziehungsstile wie heutzutage, aber immerhin, die Sozialisten und Gutmenschen stellten der autoritären Edukation die antiautoritäre Methode als durchaus vertretbare Variante entgegen. Das war zwar nach meinen persönlichen Plänen noch nicht zu hundert Prozent das Richtige, aber es war ein kostbarer Ansatz, der noch weiterentwickelt werden konnte. Was mir vorschwebte war etwas Flexibles, etwas Dehnbares, etwas das von vernünftigen Eltern in der jeweils entscheidenden Phase geleitet, in die richtigen Bahnen gesteuert werden konnte. Das Großziehen der Kinder ist was Situationsabhängiges, etwas wo es auch mal vorkommen kann, dass in gewissen Situationen ein autoritäres Handeln noch aufblitzt, wo der Beobachter eventuell glauben mag, es sei alles beim Alten geblieben, da klare Regeln noch immer den Alltag bestimmen. Wer die Sache nach solch strikten Momentaufnahmen beurteilt, ohne die Hintergründe und die Details zu sehen, der liegt allerdings falsch. Nein, die gewöhnliche Sachlage ist anders. Von Anfang an wollte ich das oder die Kinder demokratisch erziehen. Bei den meisten Konstellationen muss das Kind zunächst mal aufgeklärt werden, das Nonplusultra steht dem Argumentieren zu. Danach aber, wenn das Kind weiß um welche Handlung es geht oder über welche Gegebenheit gerade verhandelt wird, wenn es, je nach dem begreiflichen Alter, bereit ist die Vor- und Nachteile des zu verhandelnden Objektes richtig einschätzen zu können, dann freilich soll das Kind auch mitreden dürfen, und, es hat eine Stimme im Land- bzw. im Familientag. Das Kind soll beizeiten das Diskutieren, das sachliche Beratschlagen erlernen, um auf diese Weise die Logik, die Vernunft und nicht zuletzt auch die Ethik zu erkennen und es als akkurat zu empfinden, dass der Ton die Musik macht. Es soll also kein strikter, kein rigoroser, sondern ein flexibler Stil angewendet werden. Je nachdem was auf der Tagesordnung steht, bei einem bestehenden Konflikt oder einem verhandlungswürdigen Problem, kann der Erzieher situationsbedingte Maßnahmen ergreifen und so kann es vorkommen, dass die Edukation mal streng anmutet, während bei einer anderen Sachlage das Demokratische den Ausschlag gibt. Ebenso kann es auch sein, dass auf gleichberechtigter Basis Dinge abgestimmt, ausdiskutiert und hernach entschieden werden, wie zum Beispiel das Ziel eines Ausflugs am Sonntagnachmittag. Andererseits wiederum, beispielsweise bei dem Beschluss einen bestimmten Fachmann kommen zu lassen der eine Arbeit zu verrichten hat, da wird das Kind sich von ganz alleine zurückhalten, aber es lernt auf diese Art und Weise hinzu.

Ende der Sechzigerjahre standen viele Familien, ja die ganze Nation bin ich geneigt zu sagen, am Scheideweg. Die Norm- und Wertevorstellungen veränderten sich mit Pauken und Trompeten. Standen gestern noch die Disziplin, die Pflichterfüllung und der Gehorsam im Mittelpunkt, so war es nun plötzlich die Emanzipation, die Autonomie - also die Unabhängigkeit und die persönliche Selbstbestimmung, die grundsätzliche Selbstverwirklichung, die Kritikfähigkeit und Eigenverantwortung und dergleichen.

Und doch war ich mir bewusst, dass es nicht lohnt den Extremen zu folgen, sondern den gesunden Menschenverstand einzusetzen, sein Fingerspitzengefühl und auch sein so genanntes Bauchgefühl (Intuition) zu nutzen und zu sensibilisieren, um auf diese Art dem Kind die bestmögliche Erziehung zukommen zu lassen. Ein einziges Mal bekam meine Tochter Magnolia den Popo verhauen, es war dies gewiss ein Fehler, ein Fehler der noch heute schmerzt, nicht Magnolia spürt diesen Schmerz, o nein ich selbst bin es, dessen Gewissen sich meldet.

Einen von Herzen kommenden Dank will ich noch an meine Mitmenschen richten. Zuvorderst denke ich da an meine Frau Agathe, welche mich so manches Mal entbehren musste. Danke liebe Agathe! Ferner soll ein solcher Dank Stephan von Richthofen zukommen! Voller väterlicher Güte wende ich mich erneut und ganz selbstverständlich auch an meine liebe Tochter Magnolia, sie ist quasi die Hauptperson dieses Buches, um ihr Wohl dreht sich alles. Liebe Grüße und auch einen herzlichen Dank für ihren Mann Malte. Dank auch an die stets Schwung in die Bude bringende Almera und ihren Begleiter Loris Elbert sowie an die Enkelkinder Lena Alisa und Finn. Den Enkel Sandro möchte ich, wie auch den bereits oben schon erwähnten Malte Finnlay besonders hervorheben, sie sind in Computerfragen stets exquisit und unersetzlich gewesen. Einen vorzüglichen Dank gilt auch all den Leserinnen und Lesern, all denen die auf diese Art mich auf meinem Lebensweg ein Stück weit begleitet haben und natürlich soll das Dank sagen letztendlich erst dann seinem Ende entgegengehen, wenn er alle italienischen Freunde von Magnolia und Malte erreicht haben wird. Ich finde es gewissermaßen zauberhaft, wenn solch liebe Personen sich darüber freuen, in meinen Büchern erwähnt zu werden. Deshalb ein wunderschönes Danke, was natürlich allen gilt, Serena Ferro und all den anderen Lieben. Ein weiteres Dankeschön geht an die ehemalige Schwägerin Lissy und all ihren Lieben. Zu guter Letzt gilt ein exklusiver Dank meiner mir schon immer am Nächsten stehenden Lieblings-Nichte Saphira mit ihrem Begleiter Michael Meister und den lieben Kindern Jessica, Rebecca, Luano und Johanna.

Schließlich lege ich all meinen Lesern eine Gedenkminute für die inzwischen Verstorbenen ans Herz. Es sind dies die oben erwähnte Lissy, der außergewöhnlich hat leiden müssende Vater von Saphira sowie mein zuletzt verstorbener Bruder Adam. Und zuletzt, am 29. 10. 18 verstarb Reinhard Rorentso ein ehemaliger Teamgefährte aus den Altenstädter Tagen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel: Die sieben mageren Jahre sind dahin.

Ne sutur supra crepidam (Schuster bleib bei deinen Leisten) Plinius d. Ä.

Me ipse non noram (Ich kannte mich selbst nicht wieder)

Die andere Seite des Kartenspiels. Das maßlose Verlieren und die Trauer um das verlorene Geld, mit dem folgendem Schwur: Niemals wieder um Geld Karten zu spielen.

Kapitel: Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen (Matthias Claudius)

Mit Zegra-Autos unterwegs. Berggaststätte Bleckenau;

Neuschwanstein; einmal mehr Kempten; mit Berna auf Schloss Kapfenburg; die Benzinpleite auf der Nonnenweiler-Fahrt; das unvergessene Wembley-Spiel 72

Kapitel: Tugend besteht nicht in der Abwesenheit der Leidenschaft, sondern in derer Kontrolle (Josh Billings)

Alles hat seine Zeit; und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit (Bibel-Zitat Prediger 3,1 u. 3,2)

Ein unlustiger Wanderer namens Klaas Hinrich; die Einweihung des Olympia-Stadions in München 72; die anschließende Ohrfeige mit den Schuhen durch Gila; und die daraus entstehenden Folgen auf dem Frühlingsfest anno 72; intensive Freundschaft mit dem Arbeitskollegen Dieter; die viel zu früh verstorbenen Sportkameraden George Harn und Bo Lasse Joannis (Krebs)

Kapitel: Das Gesicht verrät die Stimmung des Herzens

(Dante Alighieri)

Das Geständnis von Gesine; das Aufklären und das Trösten; die Fahrt zum Vierwaldstätter-See

Kapitel: Aus einem Wolf kann kein Lamm werden. Drei Dinge ändern sich geschwind: Weib, Glück und Wind

München- Fürstenfeldbruck-Terrorbruck: Die 20. Olympiade der Neuzeit, die heiteren Spiele von München. Von Donnerstag bis Samstag bin ich für meine Umwelt verschollen; Gasthaus Alfredo; In sechs Minuten 3 Goldmedaillen, die sensationelle Ulrike Meyfahrth; die Organisation „Schwarzer September“; die NWZ berichtet: Häuser in der Gewürzstraße werden abgerissen – somit entsteht erneut eine Wohnungssuche; das Wohnungsangebot der Firma Zentner und Gramm; die Kickschuhe werden an den berühmten Nagel gehängt; der defekte Commodore; der Umzug nach Eislingen; Mutters letzte Frühlingsgefühle; Nach sechseinhalb Jahren Askese endlich mal wieder Autobesitzer; das Christkind und der Puppenwagen in der Ulmer City; Forest und Ilana besuchen uns zum Weihnachtsfest und es wird mir schmackhaft gemacht, ein anderes Auto zu kaufen, schnittiger und sportlicher, es wurde schließlich ein Opel Manta.

Kapitel: Ehre, Glanz und Gloria – Public Relations – Gefühle der Einsamkeit

Mit dem gravitätischen Stolz ein neues Auto zu besitzen, fahren wir zum Knochenspezialisten Dr. Marcello in Stuttgart. Magnolia besucht erstmals einen Kindergarten, es ist dies der evangelische Kindergarten in Eislingen Nord. Magnolia erntet für ihre ungewohnte Bockigkeit erstmals die Bekanntschaft mit den strafenden Händen ihres Vaters. Es soll dies eine Ausnahme sein und fürwahr, es war tatsächlich das einzige Mal in ihrem Leben, dass sie eine körperliche Strafe hinnehmen musste. Der im Rheinland wohnende, etwas ältere Freund Hajo Huspler besucht uns in der Neuschwansteinstraße in Eislingen. Es kommt zum Retourbesuch, ein etwas längeres Wochenende am Rande der Eifel. Und wieder einmal führt mich der Weg zum Unfallarzt Dr. Ehrenfried. Enorme Winterprobleme. Das Aufsuchen diverser Badeseen. Vereinzelte Versuche als Hobbyfußballspieler. Die einmalig tolle Nachbarschaft in der Neuschwansteinstraße Eislingens. Gilas Drängen auf eine neue Wohnung. Neuerlicher Umzug bringt uns in finanzielle Nöte. Die Einsamkeit einer selten schönen Frau. Ein Kinderschänder in der Verwandtschaft?

Gilas Einsamkeit

Der Goldene Schlüssel des Lago dei Quattro Cantoni

(Des Bergmanns Jüngster Nr. 9)

1 Kapitel

Die sieben mageren Jahre sind dahin

Ne sutor supra crepidam

(Schuster bleib bei deinen Leisten)

Me ipse non noram

(Ich kannte mich selbst nicht wieder)

Freude, sagt Spinoza, Freude ist der Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit. Den Christen ist das Wort „Evangelium“ ein großer Begriff mit einer wichtigen Bedeutung, übersetzt heißt Evangelium: Frohe Botschaft! Und im Alten Testament heißt es an bestimmter Stelle: Nun schöpft ihr voll Freude das Wasser“. (Jes. 12,3). Und das Wort Jerusalem wird von Gott „Burg der Freude“ genannt (Jer. 49,25). Freude also ist etwas, was wir auf unserem Weg, hin zum Ziel der Selbstverwirklichung erleben, aber eben nicht nur auf dem einen spezifischen Weg, die Wege die wir zu begehen haben, gleichen einem engmaschigen Netz, man irrt sich auch leicht mal. Wir Menschenkinder nämlich, suchen auch heute noch den ebenen Weg zur Freude, eigentlich das ganze Jahr über, der Eine etwas mehr und der Andere dementsprechend oder nur gelegentlich etwas weniger. Für uns alle aber birgt unser Gregorianischer Kalender eine bestimmte Zeit, wo fast allseits Freude angesagt ist, wenn auch nicht alle daran teilhaben können oder wollen. Die Möglichkeit jedoch besteht oder wird gestattet, in der sogenannten fünften Jahreszeit auf Spaßsuche zu gehen. Und in der Gewürzstraße wohnend, hatten wir quasi eine „Burg der Freude“ nahezu vor der Haustür. Per Luftlinie waren es äußerstenfalls dreihundert Meter, nicht viel mehr als ein Katzensprung also. Auch wenn die Haushaltskasse nie zu weidlich, nie zu sehr geschwulstartig und wuchernd anschwoll, so konnten wir dennoch am Leben genießend teilnehmen, wenn auch nur in einem reduzierten Rahmen. Meist stellte ich mir selbst ganz im Stillen die kritisch unterscheidende, die nicht ängstliche aber doch wählerisch nuancierte Frage: willst du dein Geld lieber hier auf den Faschingsveranstaltungen holterdiepolter rauswerfen, oder willst du exakt hier etwas weniger aktiv sein, damit die Voraussetzungen sich eventuell günstiger präsentieren, um im Sommer vielleicht eine Urlaubsreise anzutreten? Und obwohl ich mich permanent für die letztere Version entschied, so nützten wir dennoch von den vielen Faschingsmöglichkeiten eine oder vielleicht auch zwei, ein gewiss selbstgenügsamer oder bescheidener Anspruch, der im Rahmen der Vernunft sich verhielt, eben genauso wie zuvor schon eingeplant. Wir wollten was von der Welt sehen, wollten den Globus so nach und nach erobern, da ist es nicht förderlich, zu viel in den Turnhallen Fasching zu feiern, aber andererseits erschien es uns auch nicht ratsam, bescheiden wie ein abstinenter Firmling nur das Gebetsbuch in den Händen zu halten.

Eine Fastnachtsveranstaltung gab’s zumeist draußen beim Glück Auf Altenstadt. Draußen an der Knappschaftsstraße wo das Vereinsheim seinerzeit noch stand. Ach wie oft schon habe ich es erwähnt, dass unser Vater der Gründer des Vereins war, damals nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahre 46. Die andere Veranstaltung, an die ich mich noch exzellent erinnern kann, fand in der Turnhalle des TV Altenstadt statt, unweit der Gewürzstraße nur, wie soeben schon erwähnt, als ich auf die Burg der Freude hinwies. Und irgendwie musste auch in diesem Jahr, anno 1972, eine Lösung gefunden werden, denn nie und nimmer wäre Gila auf den abwegigen Gedanken gekommen, die kleine Magnolia unbeaufsichtigt in der Wohnung zurückzulassen, war sie doch eben erst zwei Jahre alt geworden. Wie gut, dass es da noch Gilas jüngste Schwester Gesine gibt oder gab, Gesine, die nach wie vor ihre eigenen Ansprüche ausnahmslos zurückstellte. Immerhin war Gesine im Februar 72 fast schon so alt, wie dies zuvor ihre Schwester Iliana gewesen war, als sie das erste Mal von ihrem Freund Forest geschwängert wurde, damals im Hochsommer achtundsechzig. Auf die rücksichtsvollen Babysitter-Dienste von Gesine war immer und jedes Mal Verlass, es war nicht nur ein liebloses Coachen, o nein es war viel mehr, es war ein ungewöhnliches ein würdevolles Sich-Annehmen, ein lieblich und entzückendes „Sich-Kümmern“, ein Umhegen, ein Umsorgen und Versorgen und es war auf signifikante Weise zu spüren, sie mag Kinder, sie mag Kinder in vollem Umfang und Magnolia besonders, nicht zuletzt auch weil die Kleine nie Probleme bereitete. Und ich versprach Gesine mich alsbald zu revanchieren, sobald wir nämlich uns wieder allein auf Reisen begeben werden. Bei unserer nächsten Reise werden wir dich mitnehmen, du wirst mitfahren dürfen, so sprach ich sie direkt an, es ist dies so sicher und wahr, so sicher wie ich Jean heiße.

„Ja aber nur wenn mein Vater zustimmt, ich bin mir da nicht so sicher!“

„Du zweifelst Gesine? Ganz im Ernst Gesine, du kannst dir ruhig sicher sein, ich gebe meine Garantie darauf. Ich selbst werde es ihm klarmachen und notfalls werde ich ihn weichkochen, du hast mein Wort Gesine. Noch in diesem Jahr wirst du dabei sein, wir gehen gemeinsam auf Tour. Da kann dein Vater wegen mir vielleicht den Kopfstand machen und lebhaft mit den Füßen wedeln, es wird ihm nichts nützen, du wirst mitfahren, insofern du es willst!“

Nie und nimmer hätte mein Schwager Adamo davon erfahren dürfen, so sah die Meinung meiner Schwester Berna aus, denn es begleitete uns ihr neuer Freund Icke Gandolf zum Fasching. Alle nannten ihn Icke und bis heute weiß ich nichts Genaueres. Das „Icke“ verratet es gewissermaßen schon, es handelte sich um einen in Berlin geborenen Bürger. Allerdings gingen Adamo und Berna zu diesem Zeitpunkt getrennte Wege, freilich nicht geschieden, wohl aber getrennt. Ich meine es in meinem letzten Buch erwähnt zu haben, dass Berna wieder bei der Familie Schüring in der Knappschaftsstraße wohnte, während Adamo immer noch im eigenen Haus in Karlau seine Herberge hatte. Zur Verheimlichung also gab es nahezu oder nicht wirklich einen Grund, was in Gottes Namen soll man verheimlichen, wo ja ohnehin jeder Bewohner Bescheid wusste. So aber ist nun mal Berna. Sie war damals siebenunddreißig, gewiss ein Alter in dem man sich noch wohlfühlen kann in seiner Haut und sie hatte ja bildlich gesehen auch ihren zweiten Frühling am Arm hängen, einen Berliner Frühling, es ging ihr in der Tat gut. Ebenso natürlich, ging es auch uns recht gut, alle Vorzeichen waren gegeben, um den Frohsinn der närrischen Zeit in vollen Zügen zu genießen. Und es ist ja auf Tatsachen beruhend und bei Gott auch so, dass, wie die Schiffe auch der Mensch nicht ausschließlich dazu geschaffen ist, nur genügsam im heimatlichen Hafen zu liegen. Er muss unter anderem auch die Weite des Lebens erkunden, muss auch mal was wagen, damit sein Dasein nicht zu stickig, seine Atemluft nicht zu verbraucht wird. Obschon, wie gesagt, ich glücklich verheiratet war und den Fasching nicht unbedingt zum Leben benötigte, denn froh gelaunt war ich eigentlich das ganze Jahr über. Nichtsdestotrotz hatte auch ich manchmal das überschäumende Bedürfnis um das Ankertau hochzuziehen, um auslaufen zu können, hin und wieder jedenfalls. Zudem bietet die Fastnacht noch weit mehr. So wie wir selbst täglich im Spiegel überprüfen, ob unser Aussehen unseren Vorstellungen entspricht und wir dann zufrieden sind, wenn wir uns als unverwechselbar, einzigartig und verführerisch schön akzeptieren, so schauen auch alle anderen in den Spiegel hinein und begeben sich dann zum Fasching. Und selbst wenn sie sich zum Maskenball hin orientieren, muss das darunter sich verbergende Erscheinungsbild optimal gerichtet sein. Und es ist ja in der Tat auch so, dass wir beim Anblick eines schönen Menschen, meist des anderen Geschlechtes, augenblicklich in ein Hochgefühl versetzt sind, denn Schönheit aktiviert nun mal das Beobachtungszentrum im Gehirn, es schüttet umgehend Glücksbotenstoffe aus. Überdies bringt uns der Anblick von außergewöhnlicher, oft auch von exotischer Schönheit sofort in eine rasante Bewegung, denn dasselbe System im Gehirn, das auf Anmut, auf Attraktivität und Eleganz reagiert, das motiviert uns auch zum Handeln und so findet man sich selbst, schneller als je zuvor gedacht, an der Bar wieder, Seite an Seite mit einer Rivalin der eigenen Ehefrau, gleichwohl man selbst die Lage als völlig unkritisch sieht. Wie gesagt befand ich mich im sicheren Ehehafen, doch erstmals zweiundsiebzig schien es mir, als wolle ich für kurze Zeit nur, aus meinem Gefängnis der alten Gewohnheiten mich befreien, um für den freudetrunkenen Trubel des Faschings und bezüglich auch auf das Vergnügen eines Mannes, auf den Genuss der ihn hinzieht zum anderen Geschlecht, offen sein zu können. Natürlich war ich mir felsenfest sicher, auf akkurate Weise zu wissen, wie weit ich gehen darf und wie weit ich meine Flirtkünste ausweiten kann. An einen echten Seitensprung hatte ich nie im Geringsten gedacht, aber immer nur im selben Hafen vor Anker zu liegen macht irgendwie mürbe und matt mit der Zeit, daher kann es keinesfalls schaden, den Appetit sich auf scherzhafte Weise gewinnbringend anzueignen, um dann zu Hause fürstlich speisen zu können. Und sie war ja tatsächlich auch da, die seltsame Sehnsucht nach dem Sturm, nach den Gezeiten und den starken Winden des weiten Meeres. Ich war bereit meine Stimme notfalls zu erheben, damit sie den brausenden Sturm übertönt, um die Mannen an den Rudern anzutreiben. Ich träumte von dem Getöse der rauschenden Wellen und war bemüht, den Wirbelsturm gegenüber dem Stillen Ozean vorzuziehen, bis plötzlich meine Schwester mit ihrem Berliner Frühling an der Bar erschien und schon war das gewinnorientierte Flirterlebnis beendet, obschon faktisch und wirklich noch nichts geschehen war. Der Ärger hinterher war aus meiner Sicht völlig unangemessen, war ungleich höher als der reelle Tatbestand und ich wunderte mich sehr, dass wieder mal ausgerechnet Berna den Moralapostel abgab. Doch bei allem Ärger war ich gefühlt auch ein bisschen auf der Siegerstraße, in meinen Hirnzellen etwas verschleiert gewiss, denn es hat ja funktioniert was ich wissen wollte, nämlich ob ich selbst noch attraktiv genug bin, um so manche Schönheit ins Wanken zu bringen. Aber dennoch, Berna als Gralshüterin der Sittsamkeit und der Ethik zu wissen, das gibt nun mal partout zum Denken Anlass! Der Mensch benötigt sein ganzes Leben um geistig zu reifen, doch er kann sich zuweilen dabei auch verlieren, er kann zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung aufhören zu wachsen, mehr will ich dazu eigentlich nicht sagen. Berna und Gila, mal stritten sie sich und entzweiten sich, um danach sich wieder zu versöhnen und verschmelzen und sich wieder einig zu sein, doch lieber stehe ich im Schatten als geistig verarmt zu sein. Wie sagt der Schwabe: Man sollte lieber mal vor der eigenen Haustür kehren.

Ist es nicht so, dass wir uns alle zuweilen unzuverlässig erleben? Oft sind wir uns selbst nicht treu, haben uns allerhand vorgenommen und spüren, dass wir trotz bester Vorsätze immer wieder in alte, gelegentlich auch in neue, Fehler verfallen. Immer wieder kommt es vor, dass wir mehr versprochen haben als wir hielten, nicht immer können wir uns auf unsere eigenen Kräfte verlassen und dennoch war ich mir absolut sicher, alleine und vor allem auch ohne meine ältere Schwester Berna, mit der Situation zurechtzukommen. Im Gegenteil, ich fand das Spiel sehr reizend, wohlwissend, nicht über die erlaubten Grenzen hinauszugehen. Ich habe mich nicht in einen sprechenden Frosch verguckt, aber ich habe dennoch eine wertvolle Erfahrung gemacht, das Prickelnde kann bewundernswert fesselnd und schön sein, wenn man seine Hände weit genug vom gefährlichen Feuer fernhält. Und ich war mir dessen bewusst, dass ich noch immer anziehend auf die weibliche Welt wirke, ja auch ich habe ein Ego. Und doch zweifelte ich keine Sekunde daran, Gila eventuell nicht mehr zu lieben. Alles andere wäre völliger Quatsch. Trotz allem konnte ich auch Berna ein bisschen verstehen. Sie selbst ist momentan auf Abwegen, ist ausgezogen, weg von ihrem Ehemann und das was sie durch ihr schlechtes Gewissen zu spüren bekommt, gerade in diesen Tagen, das möchte sie keinem anderen und schon gar nicht dem Bruder zumuten. Und noch weniger möchte sie Gila in Trauer sehen. Sie bewunderte Gilas Schönheit, auch wenn sie um den Makel ihres Beines Bescheid wusste, das ja ohnehin gut verdeckt stets war.

Ein Mensch gibt dem anderen dann am meisten, wenn er von sich selbst, also von dem Kostbarsten was er besitzt, von seinem Leben gibt. Er gibt von seiner Freude, von seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen und natürlich auch von seinem Humor und von seiner Traurigkeit, kurzum von allem, was in ihm lebendig ist, er muss, falls er es noch nicht gelernt hat, sich selbst schenken. Und man muss den Partner so annehmen, wie man ihn liebgewonnen hat, da gibt es noch für so Manchen was nachzuholen.

Wer seine Leidenschaften ausspäht, kann ihren ungestümen Lauf verlangsamen, so Montaigne. Ich war kein Greenhorn mehr, mich musste man nicht Babysitten und auch der nächstfolgende Montaigne-Spruch war mir vertraut: So regen unterm ersten Windhauch sich die Wellen kaum, doch langsam sie zu hohen Wogen, weiß vom Schaum, und schießen aus der Tiefe plötzlich in den Himmelsraum!

Ich war gewappnet und wusste was ich tat, war weit entfernt noch von der Sünde, die andere mir unterstellen wollten. Ich wusste und weiß zu unterscheiden, was a priori ein Flirt ist und woraus sich eine Liebe entwickeln kann.

Aber es gab leider Gottes auch andere Gebiete, Gebiete wo ich längst nicht ausgelernt hatte. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer, heißt ein altes Sprichwort. Ich hätte es ahnen können, dass nichts Gutes dabei rauskommt, und doch tappte ich lautlos in die Falle. Das Schicksal straft die Gerechten!

Der Fasching war vorbei, womit auch alsbald die Fußball-Winterpause ihr Ende gefunden hatte. Aschermittwoch war am sechzehnten Februar, demgemäß muss es Samstag der neunzehnte, oder, was mir noch wahrscheinlicher dünkt, Samstag der sechsundzwanzigste Februar gewesen sein, als ich mich mit meiner Sporttasche, auf welcher schon immer, auch schon im Jugendfußball, selbstverständlich ein FCK-Wappen angebracht oder aufgenäht war, aufmachte, um zum Glück-Auf-Platz hinaus zu marschieren. Es war ein Pflichtspiel angesagt, wobei ich mir nicht mehr vollständig darüber im Klaren bin, welche Mannschaft an diesem Tag unser Gegner sein sollte. Über Nacht hatte es, zum Erstaunen und zum Entsetzen der Terminplaner des Württembergischen Fußballverbandes, überraschenderweise wieder spektakulär und sondergleichen zu schneien begonnen und es war demnach mehr als fraglich, ob das für den Nachmittag angesetzte Spiel wird stattfinden können. Mit gemischten Gefühlen also war, oder, um es aus der Gegenwarts-Perspektive zu betrachten und zu schreiben, bin ich freudig unterwegs, aber auch mit der brennenden und neugierigen Frage ausgestattet, wie wird unser Sportplatz realiter aussehen? Auf den Straßen war der Schnee fast wieder weg, doch was heißt das schon? Heute Morgen jedenfalls, waren es bestimmt mehr als zwanzig Zentimeter Neuschnee, die ich von den Fußwegen rund ums Haus wegzuschieben und schippen hatte und in den Gärten sehe ich jetzt im Moment, da ich mich auf dem Weg zum Sportplatz befinde, ein völlig ungeordnetes und chaotisches Bild das mir sehr obskur vorkommt und mich mehr als bedenklich macht. Die Reservemannschaften, die für gewöhnlich das Vorspiel auszutragen haben, spielten jedenfalls nicht, das Spiel war kurzfristig, am späten Vormittag abgesagt worden. Und nun also stehen wir, die Spieler beider Vereine, da, und warten auf den Schiedsrichter der Partie, denn allein von seiner Entscheidung hängt es schließlich ab, ob das Spiel nun stattfindet oder ebenfalls abgesagt wird, so wie zuvor schon das Spiel der Reservemannschaften. Es ist zwar in der Zwischenzeit ein ansehnlicher Teil der weißen Pracht abgetaut, aber die Restmenge ist natürlich durch den Tauprozess ziemlich verdichtet und somit logischerweise auch sehr schwer. Und trotz der Plusgrade, jetzt in den Mittagsstunden, sind es noch immer gut zehn bis fünfzehn Zentimeter Schnee, der den Rasen einheitlich bedeckt. Die Wintersportler würden sich riesig darüber freuen, insofern er pulvrig wäre. Der Schiedsrichter kommt dann auch hinzu. Er betretet das Spielfeld hier und da mit dem Zollstock in der Hand, gleichwohl jeder der zweiundzwanzig Protagonisten es genauso gut weiß wie die wenigen fußballbegeisterten Menschen die sich wie immer die Mühe gemacht haben, um zum Sportplatz an der Knappschaftsstraße zu kommen. Jeder der Anwesenden konnte es selbstverständlich voraussehen und nun auch aus dem Munde des Schiedsrichters hören: „Ein Fußballspiel, meine Damen und Herren, ein Spiel den allgemeingültigen Regeln gemäß hier auszutragen ist unmöglich. Liebe Sportkameraden, es ist somit amtlich und auch dokumentarisch nachgewiesen, das auf heute angesetzte Spiel fällt wegen Unbespielbarkeit des Platzes definitiv aus!“

Nun standen wir da, obschon wir ja damit gerechnet hatten, nahmen die Entscheidung hin und sie löste dennoch etwas Befremdendes in uns aus! Frappant exaltiert sahen wir in etwa so aus wie die begossenen Pudel und wir fragten uns gegenseitig: und nun? Was machen wir jetzt? Wir wussten nicht so recht was tun und aus so manchem Munde kamen verschiedenartige Vorschläge. Mein alter Schulfreund Thilo Harn, mit dem ich auch zum gleichen Tag hin den Führerschein erworben habe, beide hatten wir uns damals in der Fahrschule gleichzeitig angemeldet und auch die Prüfung legten wir seinerzeit, wie eben gesagt am selben Tag ebenso erfolgreich wie auch gemeinsam ab, der alte Freund Thilo Harn also, der sagte schlicht und einfach: „Na dann geh ich wieder nach Hause!“

Ja so war er halt, immer anständig und gut erzogen, wie Maria die Unbefleckte bin ich fast geneigt zu sagen, wobei ich es nicht ernsthaft geltend machen kann, ob sein Vater annähernd so streng war wie unser Vater. Schon als Schuljunge war ich des Öfteren bei Thilo zu Hause und insbesondere die Mutter war für mich erwähnenswert, sie war permanent human und barmherzig, und es kam mir weiß Gott nicht vor, als seien die Kinder mit der Peitsche erzogen worden. Auch später waren wir noch zusammen, machten wie erwähnt im Frühjahr sechsundsechzig nebeneinandersitzend den Führerschein beim Lehrmeister Otfried Neumann, selbst bei der theoretischen und anschließend auch vor und nach der praktischen Prüfung waren wir untrennbar. Es war damals der achte März im Jahre sechsundsechzig. Vormittags wurde die theoretische Prüfung abgelegt und am Nachmittag mussten wir unser Können auf der Straße beweisen. Zum gemütlichen Abend dann, der im Gasthaus Olga stattfand, war er aber nicht zu sehen, den Weg musste ich allein gehen. Und überhaupt, spätabends in der Kneipe mal ein Bier trinken, sei es im Gasthaus Olgabad oder in der Knappenstube, sich ganz belanglos am Stammtisch zu unterhalten oder über wesentliche Dinge, dafür schien er nicht geboren. Nur im Clubhaus sah man ihn, am Donnerstagabend, hier blieb er ein Spezi oder ein Apfelsaftschorle trinkend sitzen, um das Ende der Spielerversammlung herbeizusehnen. Dann aber ging’s nach Hause, ich weiß nicht warum. Bezüglich dessen war er aus einem ganz anderen Holz geschnitzt als ich, es wäre mir arg gewesen, eine so fade und ennuyante Burschenzeit hinter mich gebracht zu haben. Es waren weiß Gott andere Wurzeln, aus denen er hervorging und es war ein ganz anderes Elternhaus, welches mein Fühlen und Denken prägte. Als wir zwölf Jahre waren passte noch viel zusammen, doch die Wege trennten sich grundlegend und profiliert differenziert, obschon wir Woche für Woche im selben Team spielten. Jeder muss irgendwie den korrekten Weg und dem Alter gemäß dazu fähig sein oder werden, um sein eigenes Leben zu leben, damit es zu einer inspirierenden Quelle für jene wird, die mit dir Seite an Seite leben. Sein Leben war nach der Pubertät ein anderes als das meinige, denn ich war, durch meinen verstorbenen Bruder Cosimo und seine Konsorten verleitet, der Meinung, dass ein junger Mensch auch mal in einer heiteren Gemütsverfassung und durchaus auch in einem Lokal mal sein darf. Warum auch nicht? Ich glaube irgendwo gelesen zu haben, dass das Lachen glücklich machen soll. Gut, dies freilich tat auch Thilo, aber eben anders. Ein junger Mann muss oder soll auch mal herumalbern können. Er muss auch mal gewaltig über die Stränge schlagen dürfen, darf eine Euphorie oder gar etwas Psychedelisches an sich haben. Gerade diese Zeiten in diversen Spelunken möchte ich nicht missen, auch die fragwürdige, die anrüchige und die schummrige Zeit darf nicht fehlen in meinem pulsierenden Leben, nichts davon möchte ich missen, nicht die wilde Epoche vor Gila, als ich in obskuren Spelunken scheinbar unbelehrbar die Zeit vertrieb, die Zeit als ich beim Alkoholexzess meine Tischgefährten an Stärke und Ausdauer zu übertreffen versuchte und ich möchte diese gar lustige Zeitspanne deshalb nicht missen, weil ich zumeist bei den glorreichen Siegern mich befand. Ja ich war bisweilen auch mal, insofern es der Sport oder der sportliche Terminkalender erlaubte, ein richtiger geeichter Säufer, einer, für den der Wirt separat eine Kiste Bier mehr herbeischaffen musste. Auch beim Armdrücken, ein immer wieder belebendes Kräftemessen auf dem Wirtshaustisch, fand ich kaum einen ernsthaften Gegner, zumindest in der Kampf-Bier-Stube war dies so der Fall, obgleich ich eher einer von jenen Konsorten war, der oder die über die vergleichsweise schwächsten Armgelenke verfügte. Was mir der Herr nicht mit auf den Weg mitgegeben hat, das habe ich schlicht und ergreifend auch nicht. Jedoch hatte ich einen regen Verstand mitbekommen, welcher mir sagte, mit Schaffenslust und strebsamer Bereitwilligkeit kannst du Etliches ausgleichen. Und so ging ich permanent mit hochgesteckten Ambitionen ans Werk, steigerte meine Aktivitäten und wurde infolgedessen auch belohnt, mein persönliches Potenzial wurde intensiviert und unsichtbar hochgeschraubt. Im Clubhaus oder in der Knappenstube würde das Bild freilich anders ausgesehen haben. Ein Bo Lasse Joannis zum Beispiel oder ein Eddi Polycarp waren Riesen gemessen an mir, es waren durchtrainierte Giganten, die selbstverständlich in einer ganz anderen, einer separaten Gewichtsklasse zu Hause waren. Aber auch solche Dinge müssen irgendwann mal gelebt sein, aber nicht erst mit sechzig oder siebzig, da wird dieser Zug nicht mehr auf den Gleisen deines Privatbahnhofs zu finden sein. Deine Biographie fährt immer auf oder in der analogen Zeit ab, da gilt es stets zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und einzusteigen, da gilt es nichts zu verschlafen, man muss auf der Höhe der Zeit sich bewegen. Auch sakrilegische Gelage, schon aus so manchem wissenschaftlich themengebundenem Symposium wurde eine skandalöse Orgie und der alte oder junge Grieche der dabei war, der war eben dabei und hat es genossen, hat die Zeit nicht verschlafen. Da war der alte Sokrates froh seine Xanthippe weit von sich zu wissen, da ist ein Die-Welt-Verschlafen kein ruhmreiches Blatt. Da fehlt was in deiner Biographie. Sowohl ausschweifende als auch mal hemmungslose, übertrieben lasterhafte Orgien dürfen es bei dem einen oder anderen gerne mal sein. Der Eine sieht einen Vorgang, wo von sittenlosen, von unbeherrscht orgiastischen Sittenbefriedigungen gesprochen wird als ein herausragendes Erlebnis an, der Andere dagegen sieht es als beschämend, als verroht und undiszipliniert, er distanziert sich von solch einem Treiben, weil es ihm abstoßend vorkommt, weil er es im Grunde genommen für frevelhaft und obszön hält, die Sache ist ihm auf gut Deutsch zu schmutzig, man tut es einfach nicht. Gut, eine solche Tür hat sich mir niemals geöffnet, ich musste nicht überlegen, ob ich beim Gruppensex mitmachen soll oder will. Ich weiß es nicht sicher, aber wahrscheinlich hätte ich nicht die Flucht ergriffen, wenn sich vor der Ehe, besser gesagt vor Gila, etwas Derartiges präsentiert hätte. Schließlich gehörte oder gehöre ich zu den Achtundsechzigern. Doch wie heißt es in der Bibel? Alles hat seine Zeit! Wenn man nirgends mitmacht und die süßen Stunden des Lebens allesamt versäumt, bewusst versäumt, dann braucht man sich bei Gott nicht wundern, wenn man bei den meisten Debatten keine Stimme erheben kann. Garnichts mitzumachen und sich seine Lehrstunden nur am Fernseher reinzuziehen und die Augsburger Puppenkiste womöglich glorifizieren, o nein das ist nicht meine Vorstellung des Lebens, da fehlt auf der ganzen Strecke das gewisse Aroma. In der Jugend, in der Blüte deines Lebens musst du solche Dinge erleben und du oder wer auch immer, muss durch die eigene Erfahrung zu dem Schluss kommen, dass es letztendlich dann doch besser ist, sich von solchen Tendenzen fernzuhalten und die Sauerei zu unterlassen. Aus eigener Erfahrung und aus sich angeeigneter Überzeugung muss schließlich der Mensch, der in einer festen Bindung steht, es nicht mehr wollen. Es ist gewiss ein großer Unterschied, so ließ es uns Montaigne einst wissen: ob einer nicht sündigen will, oder ob er es deshalb nicht tut, weil er nicht richtig weiß, wie das Praktizieren des Sündigens aussieht.

Oft habe ich das erstaunliche Naturell des Alkibades bewundert, der sich ohne Beeinträchtigung seiner Gesundheit sofort den unterschiedlichsten Lebensweisen anpassen konnte. Doch lasst mich von dem alten Athener, der immer und allseits bemüht war, Athen und Sparta gegeneinander auszuspielen, wieder zurückspringen zum ursprünglichen Thema. Ein junger Mensch, so mein Motto, muss seine ordnungsgemäßen Verhaltensregeln zuweilen durchbrechen können, um seine Kräfte wachzurütteln und sie vorm Verschlaffen und Verschimmeln zu bewahren. Kein Lebenswandel ist so stumpf- und schwachsinnig wie einer, der sich von Vorschriften und Anleitungen ans Gängelband nehmen lässt. Aus empirischer Sichtweise muss man jeweils die Unterschiede erkennen und wissen, wie zwischen Mäßigung und Gerechtigkeit beispielsweise die Justitia urteilen würde und man muss ebenso gut den Unterschied zwischen Ehrgeiz und Habsucht, zwischen Knechtschaft und Gehorsam und zwischen Zügellosigkeit und Freiheit kennen, da gibt es logischerweise feine Unterschiede.

Zurück zum Sportplatz und zurück ins Clubhaus. Der aufmerksame Leser kann sich bestimmt noch daran erinnern, als mit der November-Abrechnung des Jahres 65 das Weihnachtsgeld bei der Heizungsbaufirma Kurtus ausbezahlt wurde. Als ich im Saalbau mich dem Kartenspiel verschrieb, dem Hoppeln oder dem Zwicken, wie dieses Glücksspiel anderswo betitelt wurde. Als dann dieser Jamschied mich nicht nur betrogen, sondern überdies mir noch Schläge angedroht hatte, weil ich versuchte, verbal um mein Recht zu kämpfen, es aber nicht zugestanden bekam, weil er das ergaunerte Geld einfach nicht mehr herausrückte, da war mein Stolz bis ins Innerste ehrenrührig verletzt und aus dieser Kränkung heraus geriet ich derartig in Rage, dass ich wutentbrannt angekündigt hatte: guter Freund wir werden es früh genug sehen, wer da wem die Fresse poliert!

Schon allein das Benützen einer solch zotigen Sprachfärbung lässt beziehungsweise ließ jeden Außenstehenden deutlich erkennen, wie aufgebracht und grimmig entrüstet ich seinerzeit war.

Nun aber kam wieder jemand auf die Idee, man könne ja ein Weilchen zocken und wieder war die gleiche Spielmethode damit gemeint, so wie einst im Saalbau oder jenes Mal im Eislinger Schwabenstüble, als wir, der Dicke und ich dem Wirt quasi das Fell über die Ohren zogen. Überwiegend hatte ich sogar, abgesehen von fünfundsechzig im Gasthaus zum Saalbau, sehr gute Erinnerungen was dieses Spiel anbetraf, habe in der Vergangenheit schon so manches Sümmchen eingestrichen, wovon im Nachhinein, eigentlich die ganze Familie profitiert hatte. Warum also nicht? Lasst uns unser Glück probieren! Lasst uns ein frohes Leben führen und lasst uns was wagen. Holt also beim Wirt die Spielkarten herbei und lasst uns endlich damit beginnen. Die Sporttaschen fanden wendig und geschmeidig den Weg in die nächste Ecke und sogleich kam das zwischenzeitlich bestellte Trinken und schon konnte das Abenteuer beginnen. Frei nach meinem alten Freund Sokrates der meinte: Am Rand der Furt verharren wollen, bis die Flut versiegt, ist Wahn. Die Wogen rollen, und sie rollen bis ans Ende aller Tage!

Aber hätte ich lieber mal an der Furt verharrt und die Wogen ohne mein Zutun rollen lassen, oder so wie der Sportfreund Thilo wieder den Heimweg vorschnell auserwählt, denn es war gewiss nicht mein Tag. Es schien mir, als sei ich im Purpurmantel gekommen und als sei ich auf dem Nachhauseweg in Lumpen und Fetzen unterwegs gewesen.

Es waren anfangs fünf Spieler, die sich mutig dazu entschieden hatten ihr Glück zu versuchen oder aber das Schicksal unbedacht und bedenkenlos herauszufordern. Nach zwei Stunden waren wir nur noch zu dritt, zwei Spieler hatten kapituliert, sie hatten keinen Groschen mehr. Aber auch mir waren schon fünfzig Mark abhanden gekommen und nach einer weiteren Stunde legten wir die Karten zur Seite, es war an der Zeit wieder heimwärts zu ziehen. Mein Verdruss war enorm, denn noch immer waren fünfzig Mark futsch, einfach so. Zwischendurch ging es zwar immer wieder mal etwas bergauf, doch dieses hoffnungsverheißende Aufblitzen des Glücks war nur temporär, ein kurz aufloderndes Strohfeuer, das ausgeblasen wurde durch weitere Rückschläge.

Als wir schon unterwegs waren, fuchste mich der unerwartete Verlust noch immer und so forderte ich meine zwei Mitspieler auf unserem Fußmarsch erneut auf, mir in der Knappenstube noch einmal die Gelegenheit zu geben, um Revanche nehmen zu können. Getragen vom einstweiligen Erfolg stimmten die Beiden freilich gleich zu und so kam es, dass mein Heimweg bis auf Weiteres nur zur Hälfte absolviert worden war, die andere Hälfte, so glaubte ich, werde ich nachher zurücklegen, nachdem ich mein Geld wieder zurückerobert habe. Und so setzten wir in der Knappenstube jenes fort, was wir im Clubhaus begonnen hatten. Und es stiegen wieder andere Spieler in das Geschehen ein, während andere wieder entnervt die Waffen streckten im Laufe der Zeit und so waren Eddi und ich die Einzigen, die die Tour vom Anfang bis zum Schluss durchstanden. Die Spieler die nach geraumer Zeit den Kartentisch verließen hatten natürlich nicht alle nur Geld verloren, nein es gab freilich auch welche die sich hämisch sagten, ich habe jetzt einen akzeptablen Gewinn erspielt und ich steige aus, bevor sich das Blatt wieder wendet. Gegen dreiundzwanzig Uhr musste ich völlig demoralisiert aufgeben, ich hatte circa einhundertzwanzig Mark verspielt und hatte gerade noch so viel im Portemonnaie, um meine zehn oder noch mehr Gläser Bier zu bezahlen.

Immer wieder hatte ich Erfolgsmomente verzeichnen können, Erfolg versprechende Effekte registriert, die wie ein Regenbogen eine plötzliche Veränderung der Großwetterlage mir verkündeten und es blitzte hie und da die Sonne des Spielerhimmels auf und ich hatte in diesen Momenten tatsächlich daran geglaubt, jetzt kommt die Gelüste wachrufende und weithin bekannte Glückssträhne und oft auch wollte ich im Anschluss das Glück erzwingen. Jedoch den ad interim auftretenden Errungenschaften folgte keineswegs der sehnsüchtig erwartete Durchbruch. Nein das brachiale Erzwingen-Wollen des Gedeihens ist verdammt zum Fehlschlagen, solch ein Gebaren kann ja allegorisch gesehen nur in die Hose gehen. Das Glück lässt sich auf diese Weise nicht erzwingen, auch wenn es im Volksmund heißt, der Tüchtige hat auch Fortüne. Der Tüchtige vielleicht ja, nicht aber der Unbesonnene, nicht der Unverantwortliche und der fahrlässig Handelnde, welcher aus der verzweifelten Lage heraus eventuell dem falschen Glauben verfällt, die Aussichtslosigkeit seines Blattes sei am Ende doch chancenreich. Der Dusel der Anderen muss doch mal ein Ende haben und die Fügung des Schicksals wird sich drehen. Aber nein, der Glücksstern glühte heute über den Köpfen anderer, da war ich eben machtlos und wusste sogleich, dass ich mich stümperhaft angestellt habe, wie nur um Gottes Willen, konnte ausgerechnet mir das passieren, ausgerechnet mir, der so viele Schlachten schon gewonnen hat. Einer meiner Mitspieler, nämlich Eddi Polycarp, der nicht mal so überragend viel gewonnen hatte, zwischen fünfzig und hundert Mark etwa, zahlte mir noch ein weiteres Bier, damit ich meinen aufgestauten Ärger runterspülen konnte, doch allein davon wurde mein bedenklicher Zustand auch nicht besser. Darüber hinaus schmeichelt das Bier in effectu auch dann dem Gaumen mehr, wenn man es mit heiterem Gemüt sich munden lässt, als wenn man missmutig und verdrossen sich fühlt und doch fand ich es als die verträglichste Möglichkeit, den Abend so nolens volens ausklingen zu lassen. Und so nahm ich es als eine stille Genugtuung hin, dass sich aufgrund meiner Fußball Meriten, noch ein Bierchen-Spender für weitere Füllungen meines Glases fand und so zog ich das Gelage bis hin zur Sperrstunde. Letztendlich war es schon weit nach ein Uhr morgens, als ich in Begleitung meines Freundes Eddi in Richtung Heimat schwerfällig, so als hätte ich bleierne Beine, temperamentlos und unwillig dahin zockelte. Bis zum TVA-Platz hatten wir denselben Weg und nach dem TVA-Platz dann, wo rechts der Altenstädter Friedhof sich befindet, hatte ich dann nach links abzubiegen, über den Übungssportplatz der Lindenschule hinweg in Richtung Westen über die Filsbrücke zur Gewürzstraße, während Eddi weiterhin am Friedhof entlang in Richtung Nordosten zu gehen hatte, er hatte noch ein paar Meter mehr zurückzulegen als ich, denn er wohnte in diesen Tagen in der Nähe des Wölkbades.

Aber bereits vorher, als wir die Lindenalle betreten hatten, spätestens aber an dem Ort, wo die Lindenalle die Medizinstraße kreuzt, überkamen mich recht eigenartige Emotionen. Was sich in den letzten Stunden sukzessive aufgebaut hatte, das brach jetzt wie ein Vulkan aus. Mehr und mehr wurde aus dem Spitzensportler Jean Lupo ein gebrochener Mann und es war mir, mit jedem Schritt der Zuhause-Annäherung, zum Heulen zumute. Die Schritte wurden umso beklemmender und bleierner, je näher ich der Heimat kam. Ich war untröstlich, gleichwohl ich mit Eddi einen feinfühligen Kumpel zur Seite hatte, ein wahrlich Anteil nehmender Freund, der mit all seiner ritterlichen und sinnenhaften Empathie versuchte, Schlimmeres zu vermeiden. Am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken, doch Eddi spielte auf beeindruckende Weise die Rolle des Psychologen, er wollte mir unbedingt helfen.

„Ich bin nahe dran“, so sagte ich zu ihm, „mich dafür zu entscheiden, gleich da drüben in die Fils zu springen. Sie führt gerade das tauende Nass vom oberen Filstal hier durch, sobald ich da drüben auf der Brücke stehe, werde ich, so glaube ich jedenfalls, mich unerschrocken in die Tiefe stürzen. In den eiskalten Fluten ist es dann schnell geschehen um mich!“

Mein Freund glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können, was redet der Jean für einen Blödsinn Und so hörte ich meinen Freund Eddi sprechen: „Du bist verrückt Jean, das darfst du auf keinen Fall tun! Denke an deine Frau und an dein Kind Junge! Was betrübt dich denn so? Das verlorene Geld ist das nicht wert! Jean, hörst du, lass diesen Blödsinn. Schlag dir diesen Quatsch aus dem Kopf, Jean, hörst du mich?“

„Ach Eddi, was soll ich dir sagen? Wie kann ich nur so borniert sein, so fahrlässig, so leichtsinnig und pflichtvergessen? Nein ich bin es nicht wert, eine so liebe Familie zu haben. Mein Verhalten ist dermaßen unverantwortlich, o nein Eddi, ich bin weiß Gott ein schlechter, ein geringwertiger Ehemann, so schludrig wie ich mich benehme oder heute mich benommen habe, nein es ist geradezu haarsträubend und unerträglich für meine lieben Mitmenschen. Sag mal ganz ehrlich Eddi, habe ich es überhaupt verdient, ein solches Eheleben führen zu dürfen? Nein Eddi, nichts habe ich verdient, nichts und nochmal nichts!“

Es waren weiß Gott gespenstige Szenen, die sich ein paar Meter vom TVA-Platz entfernt abspielten, bemerkenswerter Weise unmittelbar neben dem Altenstädter Friedhof, wo unser Vater und die beiden Brüder Hans und Cosimo, sowie auch die bereits in den Vierzigerjahren schon verstorbenen Geschwister Erika und Bernhard liegen. Und immer wieder versuchte Eddi mich mit viel Geduld aufzurichten und mir einzureden, dass jeder mal auf der Verliererstraße sich wiederfinden könne, dass dies nicht nur ein Jean – spezifisches Attribut sei. Es würden noch ganz andere Typen herumlaufen, mit weitaus haltloseren Charakterzügen und dass ich ansonsten ja, übers ganze Jahr verteilt, ein liebenswerter und netter Junge sei.

„Was zum Beispiel soll Viktor von mir denken? Es ist noch nicht allzu lange her, da kam ich auf ihn zu und teilte ihm mit, dass ich aufhören müsse Fußball zu spielen, insofern sich niemand finden ließe, welcher mir Kickschuhe spendiert. Und was Eddi, soll der Viehhändler Anton Altweng aus dem oberen Filstal von mir denken, der mir meine neuen Kickschuhe bezahlt hat? Da hat der Kerl kein Geld um sich Fußballschuhe zu kaufen und dann hockt er ganz locker, ganz ungezwungen und nonchalant in der Wirtschaft und verspielt eben mal über hundert Mark! Aber das ist längst noch nicht alles Eddi, kannst du dir vorstellen was heute passiert ist?“

„Nein aber spreche weiter mein Junge ich höre dir ganz aufmerksam zu!“

„Also pass auf Eddi, die ganze Woche über haben wir darauf hingearbeitet und wir haben uns voller Konzentration überlegt, wie wir noch ausführlicher, noch extremer und intensiver sparen können, um wirklich erfolgreich über die Runden zu kommen. Und demzufolge sind wir heute in aller Frühe aufgestanden, haben uns wie immer gewaschen und hergerichtet und darauf gewartet, bis, wie abgesprochen meine Schwester uns abholen wird. Und dann kam sie auch schon, meine Schwester Berna, ganz und gar so wie vereinbart kam oder fuhr sie vors Haus, zusammen nämlich wollten wir unseren Einkauf besorgen. Wir begaben uns also aufs Gelände der alten Grube Karl, wo jetzt oder neuerdings dieses Discountgeschäft seine Pforten geöffnet hat. Es war dies der Einkauf für die ganze Woche. Und es ist nicht zu fassen, verstehst du mich, es ist himmelsschreiend, da bewegen wir uns auf den Pfaden zwischen den Regalen und vergleichen mühsam die Preise, achten auf jeden einzelnen Pfennig, den wir durch gezieltes Einkaufen sparen können und sind stolz auf unser Tun und beschließen, diesen Vorgang nach Bedarf zu wiederholen, vielleicht nächste Woche schon und dann geht dieser verantwortungslose Jean her und verspielt ganz entkrampft und völlig ungeniert hundertzwanzig Mark. Als ich heute Mittag zum Sportplatz ging hatte ich noch hundertfünfzig Mark im Portemonnaie und jetzt kann ich wie am Aschermittwoch meinen Geldbeutel in der Fils waschen. Hast du je solch ein verantwortungsloses Wesen gesehen? Da legt meine Frau ein Päckchen Spaghetti, welches sie schon im Einkaufswagen hatte, zurück ins Regal und greift zu einer anderen Sorte, die ein paar Pfennige nur billiger ist, um für die Familie zu sparen und nun, am frühen Nachmittag geht der Häuptling der Familie aus und wirft das Geld quasi zum Fenster raus! Wie nur kann ein Mensch so bescheuert sein? Ich kann meiner Frau nicht mehr in die Augen schauen, ich bin zerstört Eddi, bin am Boden zerstört, bin am Ende, es geht nicht mehr weiter. Es ist aus Eddi, aus und vorbei!“

„Weißt du was Jean, jetzt gehst du nach Hause und sprichst mit deiner Frau. Ehrlich währt am Längsten. Bestell ihr einen schönen Gruß von mir und dann sagst du ihr, dass ihr morgen beide herzlich eingeladen seid zum Mittagessen!“

„Waaas? Was ist das denn für ein Friedensangebot?“

„Ja Jean, das ist mein voller Ernst!“

„Aber Eddi, ich weiß nicht was ich sagen soll, ich bin in der Tat sprachlos!“

„Ja Jean, das Geld das ich gewonnen habe kann ich dir leider nicht zurückgeben. So wie Spielschulden Ehrenschulden sind, so sind auch Spielverluste Ehrenverluste. Aber jetzt zeig mal, zeig dass deine Ehre noch existiert, dass du das Geschehene mit Würde ertragen kannst. Zeig dass du ein richtiger Mann bist, so wie du es auf dem Fußballplatz immer zeigst, Woche für Woche. Zeige mir, dass du eine reife Selbstachtung hast. Mensch Jean, du bist und warst immer ein Kerl der ehrgeizig ist, ich kenne dich so wie ich es sage, das dreckige Filswasser passt nicht zu dir, zeig mir Anstand und Würde. Nur so wie ich dich kenne wird deine Tochter später einen berechtigten Grund haben, um mit erhabenen Stolz auf ihren Vater zu blicken. Wach auf Jean, hörst du mich mein Junge, hörst du mich Jean, wache auf!“

„Ja Eddi, ja ich höre dich!“

„Morgen um zwölf Uhr möchte ich dich und deine Familie sehen. Es gibt Hasenbraten, ich selbst werde ihn zubereiten, dir und deiner Familie zu Ehren. Hast du mich verstanden mein Junge?“

Nun aber war ich so was von perplex, war völlig verwundert und sprachlos, mit einem Schlag hat Eddi mich sozusagen sinnbildlich ins Leben zurückgeholt. War ich gerade noch von der tiefen und fürchterlichen Scham gezeichnet, die ich vor Gila und der kleinen Magnolia empfand, so war es nun eine skurrile Ergriffenheit, das Heldenhafte und das Unerschrockene war plötzlich zurückgekehrt, die beherzte Tapferkeit hat mich wieder heimgesucht, ich war sichtlich bewegt und gerührt, aber nicht nur weil er mein Ehrgefühl aus dem Tiefschlaf wachrüttelte, dies freilich auch, aber da war noch was Anderes, was ungeheuer Menschliches, was mich zutiefst bewegte. Weil so etwas Großmütiges war mir noch nie widerfahren. Es war selbst für die ritterlichen und nach Gerechtigkeit suchenden Knappen und deren Siedlungsgewohnheiten atypisch, etwas Befremdendes. Und trotzdem war es etwas über die Gebühr hinweg Gutes, äußerst ungewöhnlich jedenfalls. Und in meiner profunden Rührung stimmte ich selbstverständlich zu. Aber nicht um was zu ersparen oder weil ich etwa Lust auf Hasenbraten hatte, nein weil ich so eine Kollegialität noch nie in meinem Leben erfahren durfte. Es hatte einen Hauch von echt französischer Brüderlichkeit, so was bietet man nur einem erlesenen Freund an. Eddi war in meinen Augen schon immer ein Riese, doch in diesen nächtlichen Minuten ist er in meinen Augen zur erbarmungsvollen Monstrosität gewachsen. Niemals in meinem Leben, da bin ich mir so sicher wie auf jeden einzelnen Tag eine Nacht folgt, werde ich diese Menschlichkeit vergessen können.

Und so nach und nach, als ich eminent und tatkräftig mein letztes Stück Heimweg anging, da traten die alten Bilder vor mein geistiges Auge. Ja es waren immer schon die Polycarps, die mich mit ihrer Art faszinierten. Welch schöne Zeiten durfte ich mit Hildeger erleben? Er war es auch, also Hildeger Polycarp, der selbst vor einem wichtigen Spiel, als ich schon wie alle meine Sportkameraden in der kompletten Sportbekleidung auf dem Sportplatz stand, noch Zeit für mich fand und mich beim Warmmachen aufmunternd ansprach und anspornte. Dieses echt Humanitäre, das permanent herzlich Entgegenkommende und die achtungsgebietende Zuwendung praktizierte niemand so gut wie die Polycarps. Ob dies nun Edinaldo oder Hildeger oder auch Gebhard war, eigentlich waren alle drei Polycarp Brüder stets bemüht und ehrlich, aufrichtig und pietätsvoll zu mir, hatten stets auch eine erquickende und auch soziale Ader, und eine zuvorkommende Freundlichkeit steckte ihnen scheinbar schon in den Genen. Sie hatten diese Güte intus, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickten. Ich danke heute noch Gott dafür, dass ich mit den Polycarps Brüdern eine gewisse Wegstrecke meines Lebens gehen durfte und bekenne mit aufrichtiger Wahrheitsliebe, mit Fairness und gemäßer Offenheit, die Welt wäre um Einiges reicher, würde es mehr Polycarps geben. Noch heute denke ich gerne an die drei Polycarp-Brüder zurück und ich wäre jederzeit bereit, noch heute eine feierliche Laudatio zu ihren Ehren zu schreiben und auch zu interpretieren. Bessere Repräsentanten kann sich unser verstorbener Vater, der nur wenige Meter von jener Stelle der Einladung Eddies, drüben auf dem Altenstädter Friedhof liegt, für seinen Verein nicht erträumen. Sie gehören für meinen Geschmack zur gehobenen und gesellschaftlichen Elite, was Anstandsgefühl und Schicklichkeit betrifft.

Und in der Tat, alles lief reibungslos und ohne Schwierigkeit plangemäß ab. Sicherlich war auch ich nach meiner Ankunft zu Hause noch ziemlich geschlagen, auch wenn das Herz wie sonst und wie gewohnt immer ehrenvoll weiterschlagen mochte, so war das Portemonnaie trotzdem leer und ich sah mich, zumindest anfangs, einer enttäuschten Gila gegenüber. Aber wie durch ein himmlisches Wunder dünkte es mir, die Wutanfälle nämlich waren nur von kurzer Dauer. Verhältnismäßig bald schon brachte es Gila dann zum Ausdruck, so als hätte tatsächlich in ihrem Innern ein Wunder stattgefunden, ein weitherziges Verständnis und ein einfühlsames Mitleid. Auch sie war schnell bemüht mich schonungsvoll aufzurichten, was gewiss ein Novum ihrerseits war und sie hat sich heimlich was vorgenommen in diesen nächtlichen Stunden, was ich mit der Zeit erst so allmählich, so peu a peu bemerkte, denn sie warf mir diesen Akt der Fahrlässigkeit nie vor, was ich ihr hoch anrechnete. Sie warf mir freilich viele andere Dinge vor, dass ich den Fußball beispielsweise mehr lieben würde als sie und so Manches, oder Vieles gar mehr, aber diesen Kartenabend, welcher so verhängnisvoll und desaströs verlaufen war und schließlich mit einer Katastrophe hätte enden können, wäre da nicht ein gestandenes Mannsbild wie Edinaldo an meiner Seite gewesen, diese Fahrlässigkeit erwähnte sie nie, da zeigte sie endlich mal welch ein Feingefühl sie imstande ist an den Tag zu legen, das ich gemäß der gemeinsamen Vergangenheit nie hinter ihr vermutet hätte.

Am Sonntagmittag trafen wir bei der Familie Polycarp ein. Das Essen war noch nicht fertig, der Tisch aber schon recht nobel gedeckt. „Na, wollt ihr den Braten sehen“, so Eddi. Und da machte er auch schon den Backofen auf und da lag das arme Tier, in seinen Einzelteilen zerlegt schmorte es vor sich hin. „Er ist gleich so weit und dann lasst es Euch schmecken!“

Ja er war dann gleich so weit, also der Braten und so aßen wir gemeinsam am Tisch bei den Polycarps und es war mir, als würde ich von meinem Innern heraus vor lauter Dankbarkeit durchgeschüttelt. Niemals mehr möchte ich diese Herzlichkeit vergessen, diese überwältigende Galanterie der Gastgeber missen. Es war mir wie ein Fingerzeig Gottes, du mein lieber Jean, ja genau du musst diese Begegnung einmal in deinem Leben gespürt haben. Lass das Wasser der Fils fließen und versuche es nicht dort hinein zu springen. Der Tod hat dich auf die Probe gestellt und du hast wie einst Jesus widersagt. Und ist es am Ende ein weiterer Zufall oder ein reizendes Indiz, dass die Frau des Edinaldo ihr ganzes Leben lang den himmlischen Namen Maria tragen darf?

Und noch was stellte ich fest, nämlich, dass Eddies Frau, eine gebürtige Rumänin, ebenfalls eine charakterlich starke Person ist. Ich hatte da in der Knappenstube schon andere Meinungsbilder wahrgenommen, doch die stimmten so nicht, das hatte ich schnell erkannt. Ganz leise machte sich in mir der Wunsch breit, ach könnte ich doch diese herzlichen Menschen hier zu meinen engsten Freunden zählen, ach wäre ich doch etwas näher dran an den Polycarps. Und an diesem Tag hatte ich die leise Hoffnung, dass sich in diese Richtung noch was bewegen ließe. Doch leider kommt es im Leben erstens immer anders, als man dies zweitens immer denkt.

Aber ich hatte auch noch was anderes auf dem Herzen. Nachdem wir nochmal alle Einzelheiten des gestrigen Tages aufgearbeitet hatten und eigentlich der Ernst schon bald den humoristischen Einlagen Platz machte, meldete ich mich im penetranten Stil zu Wort, ganz anders als dies meinem Geschmack entspricht und meine übliche Darstellungsweise ist, nun doch nochmal ernsthaft: „Ich möchte Euch nun einschneidend und kniefällig verkünden, was ich mir heute Nacht bei Gott schwor, niemals mehr im Leben werde ich Karten in die Hand nehmen. Gerne möchte ich es noch etwas genauer formulieren, ich nehme konsequenterweise dann keine Spielkarten mehr in die Hand, sobald die Entscheidung getroffen wird, dass man geneigt ist um Geld zu spielen. Mein Vater hatte Recht, als er vor vielen Jahren schon sagte, dass das Kartenspiel um Geld ein Spiel des Teufels sei!“

Worte denen Taten folgen, haben wesentlich und grundsätzlich mehr Gewicht und Überzeugungskraft, sprach einst mein Freund Eudamidas, diesmal kein Athener sonder ein Spartaner, und nach dem Vorbild des Spartaners und dem Vorbild Eddi, hielt auch ich mich dran, auch ich hielt mein Versprechen, bis zum heutigen Tag. Kein Wunder, hatten doch meine Ohren, in dieser mehr als denkwürdigen Nacht am Altenstädter Friedhof, das Schmettern der warnenden Trompeten, die sieben Posaunen der Offenbarung mehr als deutlich und überzeugend vernommen. Es war in der Tat eine signifikante Warnung! In meinen Lebenswandel kam auf diese Weise, Dank Edinaldo und Maria, so, wenigstens sagt mir mein Erinnerungsvermögen, dass ihr Vorname lautet, noch mehr Tugend und Gerechtigkeitssinn und in mein Haushalten eine noch größere Ordnungsliebe.

Ja, auch wenn es wie eine übertriebene Hommage für Edinaldo, für seine Frau und seine Brüder hier klingen mag, nichts geht mir in Wirklichkeit leichter über die Lippen und über mein Schreibinstrument, als eine solch ehrlich gemeinte Huldigung ihnen zukommen zu lassen und ich bin mir zudem sicher, dass diese wohlgemeinte Hommage bei Gott nicht an die falsche Adresse geht. Ich habe mich nicht verirrt in meinem Schreiben, die Adresse geht gewiss nicht in eine falsche Richtung und es freut mich gewissermaßen mächtig, dass ich diese wahrheitsgemäße Sentenzen der Ehre für meinen Sportsfreund Eddi hier auf die Reise schicken kann, in der Hoffnung freilich, dass er dieses Buch noch irgendwann in seinem Leben lesen kann. Es sind dies allesamt Wörter, Wörter die ich lange Zeit schon mit mir herumtrage und die hiermit den krönenden Abschluss dieses Kapitels zieren.

2. Kapitel

Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen

( Matthias Claudius)

Ein paar Wochen später schon, es war sodann am Samstag des siebzehnten Märzes neunzehnhundertzweiundsiebzig, wie ich fast sicher meine, stand ich wieder mal zu Diensten von Mutter bereit. Wieder fühlte sie sich vom Fernweh geplagt und fast schon sah es andererseits so aus, als sei sie gequält, geplagt und leidgeprüft von der Langweiligkeit an Onkel Pablos Seite und daher genötigt, um Geislingen abermals zu verlassen. Neben Onkel Pablo, der, ich sagte es schon öfters Mal, wahrscheinlich des Krieges wegen nicht ganz zurechnungsfähig war und er fiel einem mehr zur Last als er nützlich sein konnte, wollte Mutter keine Zeit verlieren und es ergab aus ihrer Sicht weder Sinn noch Zweck, im Alltag der Rente nur dahinzuvegetieren. Das, so unsere Mutter Anjuscha Alisa, kann auf Dauer nicht der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens sein, auch wenn sie am zwölften Juli des laufenden Jahres, also anno zweiundsiebzig: fünfundsechzig Jahre alt wird. Zum einen wollte sie noch was sehen von der Welt und zum anderen wollte sie sich längst noch nicht aufs Abstellgleis stellen lassen. So abgenutzt und verlottert fühlte sie sich keinesfalls. Nie konnte sie es dem Deutschen Bundestag, den Gesetzeshütern oder den Verantwortlichen der Regierung in Bonn verzeihen, dass sie altersmäßig