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Im vierten Band der Serie können sich Roland und seine drei Gefährten in letzter Sekunde von einem Todeszug retten, doch der Ort an dem sie ankommen, scheint ausgestorben...
Mit einem neuen Vorwort.
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Seitenzahl: 1340
Dieses Buch ist Julie Eugley und Marsha DiFilippo gewidmet. Sie beantworten die Post, und die meiste Post in den vergangenen Jahren betraf Roland von Gilead – den Revolvermann. Im Grunde genommen haben mich Julie und Marsha durch ihr Nörgeln an den Schreibcomputer zurückgetrieben. Julie, du hast am wirksamsten genörgelt, darum kommt dein Name als erster.
Als ich neunzehn war (eine Zahl, die in den Geschichten, die Sie zu lesen im Begriff sind, von einiger Bedeutung ist), waren Hobbits schwer angesagt.
Während des großen Woodstock-Musikfestivals gab es wahrscheinlich ein halbes Dutzend Merrys und Pippins, die sich dort über Max Yasugars matschiges Farmgelände schleppten, doppelt so viele Frodos und zahllose Hippie-Gandalfs. J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe war in jenen Tagen wahnsinnig beliebt, und wenn ich es auch nicht nach Woodstock schaffte (leider, leider), war ich vermutlich wenigstens ein Hippie-Halbling. Auf jeden Fall Hippie genug, um nach der Lektüre richtig in die Bücher vernarrt gewesen zu sein. Die Bücher um den Dunklen Turm – wie überhaupt die meisten längeren Fantasy-Geschichten von Männern und Frauen meiner Generation (als zwei Beispiele für viele seien hier Die Chroniken von Thomas Covenant von Stephen Donaldson und Das Schwert von Shannara von Terry Brooks genannt) – verdanken ihre Herkunft diesen Büchern Tolkiens.
Obwohl ich die Bücher bereits in den Jahren 1966 und 1967 las, hielt ich mich mit dem Schreiben zurück. Ich war für Tolkiens mitreißenden Einfallsreichtum – die Zielsetzung seiner Geschichte – sehr empfänglich (und zwar mit ergreifender rückhaltloser Hingabe), aber ich wollte meine eigene Geschichte schreiben, und hätte ich damals angefangen, wäre nur wieder seine Geschichte dabei herausgekommen. Und das, wie der inzwischen verstorbene Tricky Dick Nixon so gern sagte, wäre falsch gewesen. Dank Mr. Tolkien hatte das 20. Jahrhundert bereits alle Elfen und Zauberer, die es brauchte.
1967 hatte ich nicht die leiseste Vorstellung, wie meine Geschichte aussehen würde, aber das machte mir nichts aus: Ich war zuversichtlich, dass ich sie schon erkennen würde, wenn sie mir über den Weg lief. Ich war neunzehn und überheblich. Zweifellos überheblich genug, um das Gefühl zu haben, noch ein Weilchen auf meine Muse und mein Meisterwerk (das es mit Sicherheit werden würde) warten zu können. Mit neunzehn, finde ich, hat man alles Recht, überheblich zu sein; die Zeit hat gewöhnlich noch nicht mit ihrer verstohlenen und niederträchtigen Subtraktion begonnen. Sie nimmt einem das Haar und die Sprungkraft, wie es in einem beliebten Countrysong heißt, aber in Wahrheit nimmt sie einem eine ganze Menge mehr als das. 1966/67 habe ich das noch nicht gewusst, und wenn, dann wär’s mir egal gewesen. Ich konnte mir gerade noch vorstellen, vierzig zu sein, aber fünfzig? Nein. Sechzig? Nie! Sechzig war völlig ausgeschlossen. Mit neunzehn ist das eben so. Neunzehn ist das Alter, in dem man sagt: Pass auf, Welt, ich rauche TNT und trinke Dynamit, und wenn dir dein Leben lieb ist, geh mir aus dem Weg – hier kommt Stevie.
Neunzehn ist ein selbstsüchtiges Alter, in dem man seine Interessen fest umrissen sieht. Ich wollte hoch hinaus, das war mir wichtig. Ich hatte jede Menge Ehrgeiz, das war mir wichtig. Ich besaß eine Schreibmaschine, die ich von einem Rattenloch zum nächsten schleppte, immer ein Briefchen Dope in der Tasche und ein Lächeln im Gesicht. Die Kompromisse des mittleren Alters waren in weiter Ferne, die Würdelosigkeit des Greisenalters jenseits des Horizonts. Wie der Protagonist in jenem Bob-Seger-Song, der inzwischen in der Werbung für Trucks verwendet wird, fühlte ich mich unendlich stark und unendlich optimistisch; meine Taschen waren leer, aber ich hatte den Kopf voller Dinge, die ich mitteilen wollte, und das Herz voller Geschichten, die ich erzählen wollte. Klingt heute abgedroschen, fühlte sich damals aber wunderbar an. Richtig cool. Mehr als alles wollte ich hinter die Abwehr der Leser gelangen, wollte sie aufmischen und einsacken, um sie mit nichts als einer Geschichte für immer zu verändern. Und ich spürte, dass ich dazu in der Lage war. Ich spürte, dass ich dafür geradezu geschaffen war.
Wie eingebildet klingt das? Ganz schön oder nur ein bisschen? So oder so, ich entschuldige mich für nichts. Ich war neunzehn. Mein Bart wies nicht eine einzige graue Strähne auf. Ich besaß drei Paar Jeans, ein Paar Schuhe, die Vorstellung, dass mir die Welt zu Füßen lag; und nichts, was die nächsten zwanzig Jahre passieren sollte, konnte mich widerlegen. Schließlich, so um die neununddreißig, fingen meine Sorgen an: Alkohol, Drogen, ein Straßenunfall, der meine Gangart (unter anderem) verändern sollte. Ich habe über diese Dinge bereits ausführlich geschrieben und brauche mich hier nicht zu wiederholen. Außerdem geht es Ihnen doch auch nicht anders, oder? Irgendwann schickt einem die Welt einen fiesen Verkehrspolizisten, der einen runterbremst, um einem zu zeigen, wer das Sagen hat. Wer das hier liest, ist seinem bestimmt schon begegnet (oder wird das tun); mir ist das jedenfalls so gegangen, und dass es sich wiederholen wird, ist so sicher wie nur was. Meine Adresse hat er ja jetzt. Er ist ein übler Bursche, dieser »Bad Lieutenant«, ein eingeschworener Gegner von Verfehlungen, Patzern, Hochmut, Ambition, lauter Musik und aller Dinge, die neunzehn sind.
Trotzdem halte ich es für ein tolles Alter. Vielleicht sogar für das beste von allen. Rock and Roll die ganze Nacht, und wenn die Musik verebbt und das Bier zur Neige geht, kommen die Gedanken. Träumt man seine großen Träume. Irgendwann kommt dann dieser fiese Verkehrspolizist und stutzt einen zusammen, und wenn man eh schon klein anfängt, na ja, dann stehen die Hosenbeine sozusagen von allein da, sobald er mit einem fertig ist. »Und jetzt zum nächsten Übeltäter!«, ruft er, guckt in sein Vorladungsbüchlein und macht sich auf den Weg. Ein bisschen Überheblichkeit (oder sogar große) ist also gar nicht so schlecht, obwohl einem Muttern höchstwahrscheinlich etwas anderes erzählt hat. Meine hat das. Hochmut kommt vor dem Fall, Stephen, hat sie gesagt … und schließlich hat sich irgendwie herausgestellt – genau in dem Alter, das 19 × 2 entspricht –, dass man zu guter Letzt tatsächlich fällt. Oder in den Graben geschubst wird. Wenn man neunzehn ist, können sie in den Bars von einem einen Ausweis verlangen, um einem dann zu bescheiden, man solle sich verpissen und seine erbärmliche Erscheinung (und seinen noch erbärmlicheren Arsch) wieder auf die Straße verpflanzen, aber keiner kann einen Ausweis verlangen, wenn man sich hinsetzt, um ein Bild zu malen, ein Gedicht zu schreiben oder eine Geschichte zu erzählen, wirklich nicht; und solltet ihr Leser noch sehr jung sein, dann lasst euch von Älteren mit vermeintlich mehr Lebenserfahrung bloß nichts anderes erzählen. Klar, ihr wart noch nicht in Paris. Auch seid ihr noch nicht mit den Stieren durch Pamplona gerannt. Natürlich seid ihr Nobodys, die vor drei Jahren noch nicht einmal Achselhaare hatten – na und? Wenn man nicht großspurig anfängt, wie will man es dann als Erwachsener je schaffen, auf der Bahn zu bleiben? Gebt Gas, egal, wer immer auch anderes erzählt, sage ich da nur. Setzt euch hin und lasst es krachen.
Meiner Meinung nach gibt es zwei Typen von Romanautoren, und das schließt die Art von Jungautor ein, die ich 1970 inzwischen selbst darstellte. Jene, die auf dem Weg sind, sich der mehr literarischen beziehungsweise »ernsteren« Seite dieser Sache zu widmen, prüfen jedwedes Thema vor dem Hintergrund folgender Frage: Was könnte das Schreiben einer solchen Geschichte für mich bedeuten? Jene aber, deren Schicksal es ist (oder Ka, wenn’s beliebt), das Schreiben von Unterhaltungsromanen nicht außer Acht zu lassen, neigen dazu, eine ganz andere Frage zu stellen: Was könnte das Schreiben einer solchen Geschichte für andere bedeuten? Der »ernste Romanautor« sucht Antworten und Schlüssel zu seinem Selbst; der »Unterhaltungsschriftsteller« sucht ein Publikum. Beide Typen von Autoren sind dabei aber in gleicher Weise selbstsüchtig. Darauf verwette ich meine Uhr und Urkunde, denn mir sind von beiden reichlich über den Weg gelaufen.
Wie dem auch sei, schon im Alter von neunzehn habe ich die Geschichte von Frodo und seinen Bestrebungen, den Einen Großen Ring loszuwerden, irgendwie immer der zweiten Gruppe zugeschlagen. Sie handelte von den Abenteuern einer im Grunde britischen Pilgerschar vor dem verschwommenen Hintergrund nordischer Mythologie. Mir gefiel die Vorstellung mit der abenteuerlichen Suche – war sogar überaus angetan davon –, aber mich interessierten weder Tolkiens unerschütterliche bäuerliche Figuren (was nicht heißt, dass ich sie nicht mochte, im Gegenteil) noch seine waldreichen altnordischen Schauplätze. Sollte ich mich in dieser Richtung versuchen, würde ich nur alles falsch machen.
Also wartete ich ab. 1970 war ich zweiundzwanzig, schon zeigten sich die ersten grauen Bartsträhnen (wahrscheinlich hatte der Verbrauch von zweieinhalb Päckchen Pall Mall am Tag irgendwie damit zu tun), aber selbst noch mit zweiundzwanzig kann man sich das Abwarten leisten. Mit zweiundzwanzig hat man noch alle Zeit der Welt, obwohl der fiese Verkehrspolizist in der Nachbarschaft schon Fragen stellt.
Eines Tages sah ich mir dann in einem fast leeren Kino (dem Bijou in Bangor, Maine, wen’s interessiert) einen Film des Regisseurs Sergio Leone an. Er hieß Zwei glorreiche Halunken, und bevor der Film noch zur Hälfte um war, wurde mir klar, dass ich einen Roman schreiben wollte, der zwar Tolkiens Gespür für abenteuerliches Suchen und Magie nachvollzog, aber vor Leones fast schon absurd majestätischem Westernhintergrund spielte. Wenn man diesen exzentrischen Western nur im Fernsehen gesehen hat, wird man kaum verstehen, worüber ich rede – erflehe Eure Vergebung, aber es ist wahr. Mit dem richtigen Panavision-Vorführgerät auf eine Kinoleinwand projiziert, kann Zwei glorreiche Halunken es als Filmepos mit Ben Hur aufnehmen. Clint Eastwood erscheint ungefähr fünf Meter groß, wobei jede drahtig vorsprießende Bartstoppel ungefähr vom Ausmaß eines jungen Mammutbaums ist. Die Furchen, die Lee Van Cleefs Mund umspielen, sind so tief wie Canyons, an deren Sohle sich gut Schwachstellen (siehe Glas) befinden könnten. Die Wüstenschauplätze scheinen sich mindestens bis zur Umlaufbahn des Neptuns zu erstrecken. Und die Läufe der Revolver wirken ungefähr so groß wie der Holland Tunnel.
Mehr noch als nach dem Schauplatz verlangte es mich nach jener epischen, apokalyptischen Größe. Dass Leone einen Scheiß über amerikanische Geografie wusste (laut einer der Figuren liegt Chicago irgendwo in der Nähe von Phoenix, Arizona), trug nur noch zur Stimmung des Films hinsichtlich einer herrlichen Verrückung des Schauplatzes bei. Und in meinem ganzen Enthusiasmus – von der Art, wie sie vermutlich nur ein junger Mensch aufbieten kann – wollte ich nicht nur ein langes Buch schreiben, sondern den längsten Unterhaltungsroman der Geschichte. Das ist mir dann zwar nicht gelungen, aber ich finde, es war ein anständiger Versuch: Die Bände eins bis sieben von Der Dunkle Turm enthalten eigentlich eine einzige Geschichte, und allein die vier ersten Bände der amerikanischen Taschenbuchausgabe umfassen über zweitausend Seiten. Die drei abschließenden Bände umfassen im Manuskript weitere zweitausendfünfhundert Seiten. Ich will hier nicht andeuten, dass Länge das Geringste mit Qualität zu tun hat; ich möchte damit bloß sagen, dass ich ein Epos hatte schreiben wollen, was mir in mancher Hinsicht auch gelungen ist. Fragte man mich, warum ich das tun wollte, müsste ich die Antwort schuldig bleiben. Möglicherweise hat es teilweise damit zu tun, dass ich in Amerika aufgewachsen bin: am höchsten bauen, am tiefsten graben, am längsten schreiben. Und die hilflose Verlegenheit, wenn die Frage nach der Motivation aufkommt? Auch das ist wohl Teil davon, Amerikaner zu sein. Zu guter Letzt bleibt uns nur die eine Antwort: Damals kam mir das wie eine klasse Idee vor.
Eines der anderen Dinge, wenn man neunzehn ist, wenn’s beliebt: Es ist meiner Meinung nach das Alter, in dem man irgendwie stecken bleibt (verstandes- und gefühlsmäßig, wenn nicht gar körperlich). Die Jahre ziehen vorüber, und eines Tages schaut man dann verwirrt in den Spiegel. Warum sind da diese Falten im Gesicht?, fragt man sich. Woher kommt diese dämliche Wampe? Verdammt, ich bin erst neunzehn. Das ist zwar nicht gerade die allerneuste Erkenntnis, was aber in keiner Weise hilft, die Verblüffung zu lindern.
Die Zeit schmiert einem das Grau in den Bart, die Zeit nimmt einem die Sprungkraft, während man ständig denkt – du Dummerchen auch –, dass man alle Zeit der Welt hat. Die Stimme der Logik weiß es zwar besser, aber im Innersten wollen wir es einfach nicht glauben. Wenn man Glück hat, hält einem jener Verkehrspolizist, der einen wegen Geschwindigkeitsübertretung und überbordender Lebensfreude vor sich zitiert hat, eine Prise Riechsalz unter die Nase. Mehr oder weniger ist mir dergleichen am Ende des 20. Jahrhunderts selbst widerfahren. Er kam in Gestalt eines Plymouth-Vans, der mich in meiner Heimatstadt in den Straßengraben stieß.
Etwa drei Jahre nach dem Unfall war ich anlässlich einer Signierstunde zu meinem Buch Der Buick in einer Filiale der Buchhandelskette Borders in Dearborn, Michigan. Einer der Leser, der sich die Warteschlange vorgearbeitet hatte, sagte dort zu mir, wie überaus er sich freue, dass ich noch am Leben sei. (Ich bekomme das oft zu hören, und es schlägt um Längen die Frage: »Warum, zum Teufel, bist du nicht abgekratzt?«)
»Ich saß gerade mit einem guten Freund zusammen, als wir gehört haben, dass Sie abgeschossen wurden«, sagte er. »Mann, wir haben nur den Kopf geschüttelt und gesagt, da geht er hin, der Turm, er kippt, er stürzt ein, ach Scheiße, jetzt wird er ihn nie zu Ende bringen.«
Ein ähnlicher Gedanke war mir selbst schon gekommen – der beunruhigende Gedanke, dass ich jetzt, wo ich den Dunklen Turm in der kollektiven Phantasie von einer Million Leser hochgezogen hatte, sozusagen der Verpflichtung unterlag, ihn zu befestigen, solange die Leute noch darüber lesen wollten. Das mochte noch fünf Jahre der Fall sein, gut möglich aber auch fünfhundert, was weiß ich. Fantasy-Geschichten, die schlechten wie die guten (selbst in diesem Moment liest wahrscheinlich irgendwo jemand gerade Varney der Vampir oder Der Mönch), scheinen eine lange Lebensdauer zu haben. Roland beschützt den Turm, indem er die drohende Gefahr von den Balken, die den Turm stützen, fern zu halten versucht. Ich musste den Turm beschützen, wie mir nach meinem Unfall klar wurde, indem ich die Geschichte um den Revolvermann fertig schrieb.
Während der großen Pausen zwischen dem Erscheinen der ersten vier Erzählungen um den Dunklen Turm erhielt ich hunderte Briefe mit dem Tenor »Pack deine Sachen, das schlechte Gewissen geht auf Reisen«. Im Jahr 1998 (als ich mich sozusagen nach wie vor der Täuschung hingab, im Grunde immer noch neunzehn zu sein) erhielt ich einen solchen von »Großmama, 82 J., will nicht mit meinen Sorgen aufdringlich sein, aber!! bin grad ziemlich krank«. Sie erzählte mir, dass sie wahrscheinlich nur noch ein Jahr zu leben habe (»14 Melanome, Krebs im ganzen Körper«), und obwohl sie nicht erwarte, dass ich Rolands Geschichte rechtzeitig fertig bekäme, wolle sie dennoch anfragen, ob ich ihr nicht bitte (bitte) das Ende verraten könne. Die Zeile, die mir am meisten zu Herzen ging (allerdings nicht ganz so stark, dass ich mich sofort ans Schreiben machte), war ihr Versprechen, es auch »keiner einzigen Seele weiterzuerzählen«. Etwa ein Jahr später – möglicherweise nach dem Unfall, der mich ins Krankenhaus verfrachtete – öffnete meine Mitarbeiterin Marsha DiFilippo den Brief eines Zeitgenossen, der entweder in Texas oder Florida in der Todeszelle saß und im Wesentlichen dasselbe wissen wollte: Wie geht die Geschichte aus? (Er versprach, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, was mir richtig Gänsehaut verschaffte.)
Ich hätte beiden gegeben, wonach sie verlangten – eine Zusammenfassung von Rolands weiteren Abenteuern –, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber ach!, ich konnte nicht. Ich hatte nicht die leiseste Idee, wie sich die Dinge für den Revolvermann und seine Freunde entwickeln würden. Um es herauszubekommen, muss ich es schreiben. Es hatte zwar einmal eine Liste mit den Grundzügen gegeben, aber die war inzwischen verloren gegangen. (Vermutlich war sie sowieso Scheiße.) Alles, was ich hatte, waren ein paar Notizen (»Schripp und schrapp und schrull, und schon ist das Körbchen voll«, lautet beispielsweise eine, die gerade vor mir auf dem Schreibtisch liegt). Im Juli 2001 fing ich dann endlich mit dem Schreiben an. Inzwischen wusste ich, dass ich weder länger neunzehn war noch gefeit vor jenen Leiden, die den Leib heimsuchen konnten. Ich wusste, dass ich sechzig werden würde, vielleicht sogar siebzig. Und ich wollte meine Geschichte zu Ende gebracht haben, bevor der fiese Verkehrspolizist ein letztes Mal kam. Ich verspürte nicht den Drang, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Chaucer mit den Canterbury-Erzählungen oder Dickens mit dem Geheimnis des Edwin Drood.
Das Ergebnis – zu Freude oder Leid – liegt nun vor, o treue Leserschaft, ob man nun mit Band eins beginnen oder sich auf Band fünf vorbereiten mag. Egal, was man letztlich davon halten wird, die Geschichte von Roland ist jetzt vollbracht. Ich hoffe, sie bereitet Freude.
Ich habe mich königlich amüsiert.
Stephen King25. Januar 2003
Glas ist der vierte Band einer längeren Geschichte, die von Robert Brownings epischem Gedicht »Herr Roland kam zum finstern Turm« inspiriert wurde.
Der erste Band (Schwarz) erzählt davon, wie Roland von Gilead einen gewissen Walter verfolgt und schließlich einholt, den Mann in Schwarz, der Freundschaft mit Rolands Vater heuchelte, in Wahrheit aber Marten diente, einem großen Zauberer. Den halb menschlichen Walter zu fangen ist freilich nicht Rolands Ziel, sondern lediglich Mittel zum Zweck: Roland möchte den Dunklen Turm erreichen, wo er hofft, dass die rasch zunehmende Zerstörung von Mittwelt zum Stillstand gebracht, vielleicht sogar umgekehrt werden kann.
Roland ist eine Art Ritter, der Letzte seiner Art, und der Turm das Objekt seiner Besessenheit, sein einziger Lebenszweck, als wir ihn kennen lernen. Wir erfahren von einer frühen Mannbarkeitsprüfung, die ihm jener Marten aufzwingt, der auch Rolands Mutter verführt hat. Marten geht davon aus, dass Roland die Prüfung nicht besteht und man ihn »nach Westen« schickt, um ihm die Revolver seines Vaters auf ewig vorzuenthalten. Roland jedoch vereitelt Martens Pläne und besteht die Prüfung … aufgrund seiner klugen Wahl der Waffen.
Wir erfahren, dass die Welt des Revolvermanns auf eine fundamentale und schreckliche Weise mit unserer verbunden ist. Diese Verbindung wird zum ersten Mal enthüllt, als Roland an einer Zwischenstation in der Wüste den Jungen Jake trifft, einen Jungen aus dem New York des Jahres 1977. Es existieren Türen zwischen Rolands Welt und unserer eigenen; eine davon ist der Tod, und auf diese Weise gelangt Jake zum ersten Mal nach Mittwelt, nachdem er auf die Forty-third Street geschubst und von einem Auto überfahren wurde. Geschubst hat ihn ein Mann namens Jack Mort … aber das Ding in Morts Kopf, das bei dieser speziellen Gelegenheit seine mörderischen Hände geführt hat, war niemand anders als Rolands alter Feind Walter.
Bevor Jake und Roland jenen Walter einholen, stirbt Jake erneut … diesmal, weil der Revolvermann, vor die qualvolle Wahl zwischen seinem symbolischen Sohn und dem Dunklen Turm gestellt, sich für den Turm entscheidet. Jakes letzte Worte, bevor er in den Abgrund stürzt, lauten: »Dann geh – es gibt andere als diese Welten.«
Die letzte Konfrontation zwischen Roland und Walter findet in der Nähe des Westlichen Meeres statt. In einer langen Nacht des Palavers weissagt der Mann in Schwarz dem Revolvermann dessen Zukunft mit einem seltsamen Tarotspiel. Auf drei Karten – der Gefangene, die Herrin der Schatten und der Tod (»aber nicht für dich, Revolvermann«) – wird Roland besonders hingewiesen.
Der zweite Band (Drei) beginnt nicht lange, nachdem Roland im Anschluss an die Konfrontation, die er mit seinem alten Erzfeind geführt hat, am Ufer des Westlichen Meeres erwacht und feststellt, dass Walter längst tot ist, nichts anderes als ein paar Knochen mehr an einem Ort voller Knochen. Der erschöpfte Revolvermann wird von einer Schar Fleisch fressender »Monsterhummer« angegriffen, und bevor er entkommen kann, wird er ernstlich verletzt und verliert Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Die Bisse haben ihn außerdem vergiftet, und als er seine Reise am Westlichen Meer entlang nordwärts fortsetzt, wird Roland krank … möglicherweise sterbenskrank.
Auf seinem Weg sieht er drei Türen, die frei auf dem Strand stehen. Diese öffnen sich in unsere Stadt New York, und zwar in drei verschiedene Zeiten. Aus dem Jahr 1987 zieht Roland einen Gefangenen des Heroins, nämlich Eddie Dean. Aus dem Jahr 1964 zieht er Odetta Susannah Holmes, eine Frau, die beide Beine bei einem U-Bahn-Unfall verloren hat … der kein Unfall war. Sie ist wahrhaftig die Herrin der Schatten, verbirgt sich doch eine bösartige zweite Persönlichkeit in der umgänglichen jungen Schwarzen. Diese verborgene Frau, die brutale und gerissene Detta Walker, ist fest entschlossen, sowohl Roland als auch Eddie zu töten, nachdem der Revolvermann sie nach Mittwelt gezogen hat.
Zwischen diesen beiden Zeiten wird Roland, wieder im Jahr 1977, in den höllischen Verstand von Jack Mort versetzt, der Odetta /Detta nicht nur einmal, sondern sogar zweimal verletzt hat. »Tod«, hat der Mann in Schwarz zu Roland gesagt, »aber nicht für dich, Revolvermann.« Und Mort ist auch nicht der Dritte, von dem Walter geweissagt hat; Roland hindert Mort daran, Jake Chambers zu ermorden, und kurz darauf stirbt Mort unter den Rädern eben der U-Bahn, die Odetta 1959 die Beine abgetrennt hat. Aus diesem Grund gelingt es Roland nicht, den Psychopathen nach Mittwelt zu ziehen … Aber, denkt er, wer würde so jemanden schon um sich haben wollen?
Doch es kostet seinen Preis, gegen eine vorherbestimmte Zukunft zu rebellieren; ist das nicht immer so? Ka, du Wurm, hätte Rolands alter Lehrmeister Cort vielleicht gesagt: So ist das mit dem großen Rad, das sich immer dreht. Stell dich nicht davor, wenn es das tut, sonst wirst du darunter zerquetscht, und das bedeutet das Ende für dein dummes Gehirn und deine nutzlosen Schläuche voller Eingeweide und Wasser.
Roland denkt, dass er möglicherweise schon mit Eddie und Odetta seine Drei gezogen hat, da Odetta eine zweifache Persönlichkeit besitzt, doch als Odetta und Detta zu Susannah verschmelzen (größtenteils dank der Liebe und des Mutes von Eddie Dean), weiß der Revolvermann, dass dem nicht so ist. Und er weiß noch etwas: Er wird von Jake heimgesucht, dem Jungen, der sterbend von anderen Welten gesprochen hat. Halb glaubt der Revolvermann sogar, dass es nie einen Jungen gegeben hat. Als er Jack Mort daran hinderte, Jake vor das Auto zu schubsen, das ihn töten sollte, hat Roland ein Zeitparadox geschaffen, das ihn nun zerreißt. Und in unserer Welt zerreißt es auch Jake Chambers. tot., der dritte Band des Zyklus, beginnt mit ebendiesem Paradox. Nachdem sie einen riesigen Bären getötet haben, der einerseits Mir genannt wird (von dem alten Volk, das in Furcht vor ihm lebte), andererseits aber auch Shardik (von den Großen Alten, die ihn gebaut haben … der Bär entpuppt sich nämlich als Cyborg), verfolgen Roland, Eddie und Susannah die Spur des Untiers zurück und finden auf diese Weise den Pfad des Balkens. Es gibt sechs solcher Balken, die sich zwischen den zwölf Portalen erstrecken, welche wiederum den Rand von Mittwelt bezeichnen. An der Stelle, wo sich die Balken kreuzen – im Zentrum von Rolands Welt, vielleicht dem Zentrum aller Welten –, werden er und seine Freunde endlich den Dunklen Turm finden, glaubt der Revolvermann.
Inzwischen sind Eddie und Susannah nicht mehr länger Gefangene in Rolands Welt. Sie haben sich ineinander verliebt, sind auf dem besten Wege, selbst Revolverleute zu werden, und damit sind sie vollwertige Mitglieder bei der Suche und folgen ihm bereitwillig auf dem Pfad des Balkens.
In einem sprechenden Ring, nicht weit vom Portal des Bären entfernt, verschmilzt die Zeit, das Paradox wird beendet und der wahre Dritte endlich gezogen. Jake gelangt am Ende eines Rituals nach Mittwelt zurück, bei dem alle vier – Jake, Eddie, Susannah und Roland – sich an das Angesicht ihrer Väter erinnern und damit ehrenvoll ihre Pflicht erfüllen. Nicht lange danach wird das Quartett zum Quintett, als nämlich Jake Freundschaft mit einem Billy-Bumbler schließt. Bumbler, die wie eine Mischung aus Dachs, Waschbär und Hund aussehen, verfügen über eine begrenzte Fähigkeit zu sprechen. Jake nennt seinen neuen Freund Oy.
Der Weg der Pilger führt sie nach Lud, einer wüsten Großstadt, wo die degenerierten Überlebenden zweier gegnerischer Splittergruppen, die Pubes und die Grauen, einen alten Konflikt austragen. Bevor die Gefährten die Stadt Lud aber erreichen, kommen sie in einen kleinen Ort namens River Crossing, wo noch einige uralte Einwohner existieren. Sie erkennen in Roland ein Überbleibsel aus den alten Zeiten, bevor die Welt sich weiterbewegt hat, und erweisen ihm und seinen Gefährten die Ehre. Danach erzählen ihm die alten Leute von einer Monorail, einer Einschienenbahn, die möglicherweise immer noch von Lud aus das wüste Land befährt – auf dem Pfad des Balkens mit Richtung Dunkler Turm.
Jake machen diese Neuigkeiten Angst, aber wirklich überrascht ist er nicht; bevor er aus New York gezogen wurde, hat er zwei Bücher in einer Buchhandlung gekauft, die einem Mann mit dem vielsagenden Namen Calvin Tower gehörte. Eines ist ein Rätselbuch, bei dem aber der Lösungsteil herausgerissen wurde. Das andere, Charlie Tschuff-Tschuff, ist ein Kinderbuch über einen Zug. Eine amüsante kleine Geschichte, würden die meisten sagen … aber Jake findet, dass Charlie etwas hat, was ganz und gar nicht amüsant ist. Etwas Furchterregendes. Roland weiß noch etwas: In der Hohen Sprache seiner Welt hat das Wort Char die Bedeutung Tod.
Tante Talitha, die in River Crossing das Matriarchat ausübt, gibt Roland ein silbernes Kreuz, das er tragen soll, und die Reisenden machen sich auf ihren Weg. Bevor sie Lud erreichen, finden sie ein abgestürztes Flugzeug aus unserer Welt – ein deutsches Kampfflugzeug aus den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts. Im Cockpit eingezwängt sitzt der Leichnam eines Riesen, mit ziemlicher Sicherheit der des legendären Renegatenprinzen David Quick.
Als sie die baufällige Brücke über den Fluss Send überqueren, stürzen Jake und Oy dort beinahe in die Tiefe. Während Roland, Eddie und Susannah durch die Geschehnisse dieses Unfalls abgelenkt werden, gerät die Gruppe in den Hinterhalt eines dem Tode geweihten (und außerordentlich gefährlichen) Gesetzlosen namens Gasher. Er entführt Jake und bringt ihn ins unterirdische Reich des Ticktackmanns, des letzten Anführers der Grauen. Der richtige Name von Ticktack lautet jedoch Andrew Quick; er ist der Urenkel jenes Mannes, der bei dem Versuch ums Leben kam, mit einem Flugzeug aus einer anderen Welt zu landen.
Während Roland (mit Hilfe von Oy) sich auf die Suche nach Jake macht, finden Eddie und Susannah die Wiege von Lud, wo Blaine der Mono erwacht. Blaine ist das letzte oberirdische Werkzeug des riesigen Computersystems, das unter der Stadt Lud liegt, und er kennt nur noch ein einziges Interesse: Rätsel. Er verspricht, die Reisenden zur anderen Endstation der Einschienenbahn zu bringen, wenn sie ein Rätsel lösen können, das er ihnen stellt. Andernfalls, sagt Blaine, werden sie nur eine Reise unternehmen, nämlich dahin, wo der Pfad an der Lichtung endet … mit anderen Worten, in den Tod. In diesem Fall würden sie jede Menge Gesellschaft haben, Blaine hat nämlich die Absicht, ein Nervengas freizusetzen, das alles und jeden in Lud töten wird: Pubes, Graue und Revolverleute gleichermaßen.
Roland rettet Jake und lässt Andrew Quick, den er für tot hält, am Ort des Gemetzels zurück … aber Andrew Quick ist nicht tot. Er hat schreckliche Gesichtsverletzungen davongetragen und ist halb blind, wird aber von einem Mann gerettet, der sich Richard Fannin nennt. Fannin gibt sich jedoch auch als der Zeitlose Fremde zu erkennen, ein Dämon, vor dem Roland einst von Walter gewarnt wurde.
Roland und Jake stoßen in der Krippe von Lud wieder auf Eddie und Susannah, wo es Susannah – mit etwas Schützenhilfe durch die »Schlampe« Detta Walker – gelingt, Blaines Rätsel zu lösen. Sie verschaffen sich Zutritt zu der Einschienenbahn, missachten dabei aber, der Not gehorchend, die entsetzten Warnungen von Blaines geistig gesundem, aber schwachem Unterbewusstsein (Eddie nennt diese Stimme den Kleinen Blaine) und stellen fest, dass Blaine vorhat, mit ihnen an Bord Selbstmord zu begehen. Die Tatsache, dass der eigentliche Verstand des Mono sich in Computern befindet, die immer weiter hinter ihnen zurückbleiben und unter einer Stadt liegen, die zum Schlachthaus geworden ist, wird keine Rolle mehr spielen, wenn das rosa Geschoss irgendwo auf der Route mit einer Geschwindigkeit von über achthundert Meilen pro Stunde aus der Schiene springt.
Es gibt nur eine Chance, zu überleben: Blaines Faible für Rätsel. Roland von Gilead schlägt einen verzweifelten Handel vor. Mit diesem Handel endet tot.; und mit diesem Handel beginnt Glas.
ROMEO: Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil’gen Mond, Der silbern dieser Bäume Wipfel säumt …
JULIA: O schwöre nicht beim Mond, dem Wandelbaren, Der immerfort in seiner Scheibe wechselt, Damit nicht wandelbar dein Lieben sei!
ROMEO: Wobei denn soll ich schwören?
JULIA: Laß es ganz. Doch willst du, schwör bei deinem edlen Selbst, Dem Götterbilde meiner Anbetung: So will ich glauben.
William Shakespeare Romeo und Julia
Am vierten Morgen schickte der Zauberer zu Dorothys großer Freude nach ihr, und als sie den Thronsaal betrat, begrüßte er sie freundlich.
»Setz dich, mein liebes Kind. Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit entdeckt, wie wir dich aus diesem Land kriegen.«
»Und zurück nach Kansas?«, fragte sie eifrig.
»Na ja … das mit Kansas weiß ich nicht so genau«, sagte der Zauberer. »Ich habe nämlich nicht die leiseste Ahnung, in welcher Richtung es liegt …«
L. Frank Baum Der Zauberer von Oz
Rief ich nach einem Trunke froh’rer Zeiten, Daß Kraft mir sei zu kühnlichem Beginnen, Dem Kämpfer ziemt’s, bevor er ficht, zu sinnen: Ein Schmack des alten Glücks hilft fürder schreiten.
Robert Browning Herr Roland kam zum finstern Turm
»STELLT MIR EIN RÄTSEL«, bat Blaine.
»Leck mich«, sagte Roland. Er sprach nicht mit erhobener Stimme.
»WAS HAST DU GESAGT?« In ihrer völligen Fassungslosigkeit hatte die Stimme des Großen Blaine wieder große Ähnlichkeit mit der seines unvermuteten Zwillingsbruders.
»Ich habe gesagt: Leck mich«, sagte Roland gelassen, »aber wenn dich das überfordert, Blaine, kann ich es auch noch einmal deutlich sagen. Nein. Die Antwort lautet nein.«
Es erfolgte lange, lange Zeit keine Antwort, und zwar von keinem der beiden Blaines, und als der Große Blaine schließlich antwortete, antwortete er nicht mit Worten. Stattdessen verloren Wände, Boden und Decke wieder ihre Festigkeit und Farbe. Innerhalb von zehn Sekunden hatte die Baronskabine wieder aufgehört zu existieren. Der Mono flog jetzt durch die Gebirgskette, die sie am Horizont gesehen hatten: Eisengraue Gipfel rasten mit mörderischer Geschwindigkeit auf sie zu und stürzten dann in leblose Täler ab, wo Rieseninsekten wie vom Land eingeschlossene Seeschildkröten herumkrabbelten. Roland sah, wie sich plötzlich etwas, was einer gigantischen Schlange glich, aus einer Höhle wand. Sie ergriff eines der Insekten und zerrte es in ihren Bau. Roland hatte noch nie solche Tiere oder gar eine solche Landschaft gesehen, und seine Haut wollte sich vor Gänsehaut fast von den Knochen schälen. Es war zwar ein feindseliges Land, aber das allein war nicht das Problem. Es war fremdartig – das war das Problem – , so als hätte Blaine sie in eine völlig andere Welt transportiert.
»VIELLEICHT SOLLTE ICH UNS HIER ENTGLEISEN LASSEN«, sagte Blaine. Seine Stimme klang nachdenklich, aber darunter konnte der Revolvermann eine tiefe, pulsierende Wut hören.
»Ja, vielleicht solltest du das«, sagte der Revolvermann gleichgültig.
»DU BIST UNHÖFLICH UND ARROGANT«, sagte Blaine. »FÜR DICH MÖGEN DAS INTERESSANTE EIGENSCHAFTEN SEIN, ABER FÜR MICH SIND SIE ES NICHT.«
Eddies Gesicht drückte nackte Wut aus. Er formte mit dem Mund die Worte: Was SOLL das? Roland achtete nicht auf ihn; er hatte alle Hände voll mit Blaine zu tun und wusste genau, was er vorhatte.
»Oh, ich kann noch viel unhöflicher sein.«
Roland von Gilead löste die verschränkten Hände und stand langsam auf. Er stand scheinbar im Nichts, Beine gespreizt, rechte Hand an der Hüfte, linke auf dem Sandelholzgriff des Revolvers. Er stand da, wie er so oft auf den staubigen Straßen von hundert vergessenen Städten gestanden hatte, auf Dutzenden Schlachtfeldern in felsgesäumten Canyons, in zahllosen dunklen Saloons mit ihrem Geruch nach bitterem Bier und muffigen Mahlzeiten. Es war nur ein weiterer Showdown auf einer verlassenen Straße. Das war alles, und mehr brauchte es nicht. Es war Khef, Ka und Ka-Tet. Dass es immer zum Showdown kam, war ein Eckpfeiler seines Lebens und die Achse, um die Ka sich drehte. Dass der Kampf diesmal mit Worten ausgefochten werden würde und nicht mit Kugeln, spielte dabei keine Rolle; es würde dennoch ein Kampf auf Leben und Tod werden. Der Gestank des Tötens, der in der Luft hing, war so deutlich wie der Gestank von aufgedunsenem Aas im Sumpf. Dann überkam ihn die Kampfeslust, wie das immer der Fall war … und er war eigentlich nicht mehr er selbst.
»Ich kann dich eine unsinnige, schwachköpfige, närrische, arrogante Maschine nennen. Ich kann dich eine dumme, unkluge Kreatur nennen, deren Verstand nicht mehr ist als das Heulen des Winterwinds in einem hohlen Baum.«
»HÖR AUF.«
Roland fuhr im selben gelassenen Ton fort und schenkte Blaine nicht die geringste Beachtung. »Unglücklicherweise bin ich in meiner Fähigkeit, unhöflich zu sein, etwas eingeschränkt, da du ja nur eine Maschine bist … ein ›Gerät‹, wie Eddie sich immer ausdrückt. «
»ICH BIN SEHR VIEL MEHR ALS NUR …«
»Ich kann dich zum Beispiel nicht einen Schwanzlutscher nennen, weil du weder einen Mund noch einen Schwanz hast. Ich kann nicht sagen, dass du erbärmlicher als der erbärmlichste Bettler bist, der jemals im Rinnstein der elendsten Gosse der Schöpfung gekrochen ist, weil selbst solch eine Kreatur besser wäre als du; du hast keine Knie, auf denen du kriechen könntest, und du würdest nicht auf sie sinken, selbst wenn du sie hättest, weil du keine Vorstellung von einem menschlichen Makel wie Barmherzigkeit hast. Ich kann nicht einmal sagen, dass du deine Mutter gefickt hast, weil du nämlich keine hast.«
Roland machte eine Pause, um Luft zu holen. Seine drei Gefährten hielten den Atem an. Um sie herum lag erstickend das verdatterte Schweigen von Blaine dem Mono.
»Ich kann dich allerdings eine treulose Kreatur nennen, die ihre einzige Gefährtin Selbstmord begehen ließ, einen Feigling, der Freude daran gehabt hat, die Dummen zu peinigen und die Unschuldigen zu töten, einen verlorenen und plärrenden mechanischen Kobold …«
»ICH BEFEHLE DIR, SOFORT DAMIT AUFZUHÖREN, SONST TÖTE ICH EUCH ALLE AUF DER STELLE!«
In Rolands Augen loderte ein so grelles blaues Feuer, dass Eddie zurückwich. Er hörte undeutlich, wie Jake und Susannah aufstöhnten.
»Töte, wenn du willst, aber befiehl mir nichts!«, brüllte der Revolvermann. »Du hast die Gesichter deiner Erbauer vergessen! Töte, oder schweig und hör mir zu, mir, Roland von Gilead, Sohn des Steven, Revolvermann und Herr der alten Länder! Ich bin nicht jahrelang und meilenweit gereist, um mir dein kindisches Plappern anzuhören! Hast du verstanden? Und jetzt wirst du MIR zuhören!«
Es herrschte einen Moment lang entsetzliche Stille. Alle hielten die Luft an. Roland starrte streng nach vorn, den Kopf erhoben, die Hand auf dem Revolvergriff.
Susannah Dean hob die Hand zum Mund und ertastete das unmerkliche Lächeln, wie eine Frau ein seltsames neues Kleidungsstück betasten mochte – einen Hut vielleicht –, um sicherzustellen, dass es noch richtig saß. Sie hatte Angst, das Ende ihres Lebens könnte jetzt gekommen sein, aber in diesem Augenblick wohnte nicht Angst in ihrem Herzen, sondern Stolz. Sie sah nach links und stellte fest, dass Eddie den Revolvermann mit einem erstaunten Grinsen betrachtete. Jakes Gesichtsausdruck war noch einfacher zu deuten: Bewunderung, unverhohlen und schlicht.
»Sag es ihm!«, hauchte Jake. »Gib’s ihm! Recht so!«
»Du solltest lieber vorsichtig sein, Blaine«, stimmte Eddie zu. »Es ist ihm wirklich ziemlich scheißegal. Nicht umsonst haben sie ihn den Tollen Hund von Gilead genannt.«
Nach einer langen Pause fragte Blaine: »HAT MAN DICH SO GENANNT, ROLAND, SOHN DES STEVEN?«
»Es mag so gewesen sein«, antwortete Roland, der gelassen in der Luft über dem leblosen Gebirgszug stand.
»WELCHEN NUTZEN HABT IHR FÜR MICH, WENN IHR MIR KEINE RÄTSEL AUFGEBT?«, fragte Blaine. Jetzt hörte er sich wie ein verdrossenes, mürrisches Kind an, das ausnahmsweise einmal länger aufbleiben durfte.
»Ich habe nicht gesagt, dass wir das nicht tun würden«, sagte Roland.
»NICHT?« Blaine klang verwirrt. »ICH VERSTEHE NICHT, UND DOCH DEUTET DIE STIMMANALYSE AUF VERNÜNFTIGE ARGUMENTATION HIN. BITTE ERKLÄRE ES MIR.«
»Du hast gesagt, du möchtest sie sofort gestellt bekommen«, antwortete der Revolvermann. »Nur das habe ich abgelehnt. Dein Eifer hat dich unziemlich gemacht.«
»ICH VERSTEHE NICHT.«
»Er hat dich unhöflich gemacht. Verstehst du das?«
Es folgte eine lange, nachdenkliche Pause. Dann: »WENN DIR UNHÖFLICH ERSCHIEN, WAS ICH GESAGT HABE, SO BITTE ICH UM ENTSCHULDIGUNG.«
»Ich nehme die Entschuldigung an, Blaine. Aber es gibt noch ein größeres Problem.«
»ERKLÄRE ES MIR.«
»Mach das Abteil wieder undurchsichtig, dann sage ich es dir.« Roland setzte sich, als wäre eine weitere Unterhaltung – und die Möglichkeit eines baldigen Todes – jetzt undenkbar.
Blaine kam der Bitte nach. Die Wände nahmen Farbe an, die Albtraumlandschaft unter ihnen verschwand wieder. Die Anzeige auf der Streckenkarte blinkte jetzt in der Nähe des Pünktchens mit der Aufschrift CANDLETON.
»Gut«, sagte Roland. »Unhöflichkeit ist verzeihbar, Blaine; das hat man mir in meiner Jugend beigebracht. Aber man hat mir auch beigebracht, dass Dummheit es nicht ist.«
»INWIEFERN BIN ICH DUMM GEWESEN, ROLAND VON GILEAD?« Blaines Stimme klang leise und unheilvoll. Susannah musste plötzlich an eine Katze denken, die mit leuchtend grünen Augen und wedelndem Schwanz vor einem Mauseloch lauerte.
»Wir haben etwas, was du willst«, sagte Roland, »aber du bietest uns als Belohnung, wenn wir es dir geben, nur den Tod an. Das ist sehr dumm.«
Es folgte eine lange, lange Pause, während Blaine darüber nachdachte. Dann: »WAS DU SAGST, STIMMT, ROLAND VON GILEAD, ABER DIE QUALITÄT EURER RÄTSEL WURDE NOCH NICHT UNTER BEWEIS GESTELLT. ICH WERDE EUCH FÜR SCHLECHTE RÄTSEL NICHT MIT DEM LEBEN BELOHNEN.«
Roland nickte. »Ich verstehe, Blaine. Hör nun zu und erfahre Wissen von mir. Ich habe es meinen Freunden schon erzählt. Als ich ein Junge in der Baronie Gilead war, fanden jedes Jahr sieben Jahrmärkte statt – Winter, Weite Erde, Aussaat, Mittsommer, Volle Erde, Ernte und Jahresende. Rätsel waren ein wichtiger Bestandteil jedes Jahrmarkts, aber am Tag der Weiten Erde und dem der Vollen Erde waren sie besonders wichtig, weil die Rätsel da angeblich Wohl oder Wehe der Ernte vorhersagten.«
»DAS IST ABERGLAUBE, DER NICHT VERNUNFTMÄS-SIG ZU BEGRÜNDEN IST«, sagte Blaine. »ICH FINDE ES BE-UNRUHIGEND UND ÄRGERLICH.«
»Selbstverständlich ist es Aberglaube«, stimmte Roland zu, »aber du würdest überrascht sein, wie gut die Rätsel die Ernte vorhersagen konnten. Löse mir zum Beispiel das folgende, Blaine: Was ist der Unterschied zwischen einem Anzug und zwei Wasservögeln? «
»DAS IST SEHR ALT UND NICHT BESONDERS ORIGI-NELL«, sagte Blaine, aber er schien glücklich zu sein, dass er überhaupt etwas zu lösen hatte. »DAS EINE IST EIN ZWEIREI-HER, DAS ANDERE SIND ZWEI REIHER. EIN RÄTSEL, DAS AUF EINER PHONETISCHEN ZUFÄLLIGKEIT BASIERT. EIN ÄHNLICHES, DAS MAN SICH AUF DER EBENE ERZÄHLT, WO DIE BARONIE NEW YORK GELEGEN IST, LAUTET FOLGENDERMASSEN: WAS IST DER UNTERSCHIED ZWISCHEN EINER KATZE UND EINEM RENNFAHRER?«
Jake meldete sich zu Wort. »Das kenne ich. Ich habe es erst dieses Jahr in der Schule gehört. Die Katze lässt das Mausen nicht, der Rennfahrer lässt das Sausen nicht.«
Titel der Originalausgabe WIZARD AND GLASS – THE DARK TOWER IV erschienen bei Scribner, New York
Der Titel erschien bereits in der Allgemeinen Reihe mit der ISBN 3-453-14759-6 und 3-453-87559-1
Übersetzung der Einleitung und durchgesehen von Patrick Niemeyer
Copyright © 1997, 2003 by Stephen King
Copyright © der gebundenen Ausgabe 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
eISBN 978-3-89480-389-6
http://www.heyne.de
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