Gläserne Bienen - Ernst Jünger - E-Book

Gläserne Bienen E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Die Zukunft, in die der Roman uns führt, erinnert in manchen Zügen an die Gegenwart von Silicon Valley, und in anderen mag man Disneyland oder die Unterhaltungselektronik erkennen. Aber stärker als solche Anklänge ist der Zauber des Erfundenseins, die Signatur eines Schriftstellers, dem denn doch einiges mehr eingefallen ist als ein paar Jahre später den Ingenieuren. Und diese Zukunft wächst aus einer echten Vergangenheit hervor, dem Kaiserreich und dem Weltbürgerkrieg nach seinem Ende.

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Seitenzahl: 217

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Ernst Jünger

Gläserne Bienen

Roman

Mit Adnotenvon Detlev Schöttker

Impressum

Der Text dieser Ausgabe folgt Ernst Jüngers Fassung letzter Hand in den Sämtlichen Werken in 22 Bänden, erschienen bei Klett-Cotta.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96072-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10428-8

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Gläserne Bienen

Erstausgabe 1957

1

Wenn es uns schlecht ging, mußte Twinnings einspringen. Ich saß bei ihm am Tisch. Diesmal hatte ich zu lange gewartet; ich hätte mich schon längst dazu entschließen müssen, ihn aufzusuchen, doch die Misere raubt uns die Willenskraft. Man hockt in den Cafe´s, solange noch Kleingeld da ist, dann sitzt man herum und starrt Löcher in die Luft. Die Pechsträhne wollte nicht aufhören. Ich hatte noch einen Anzug, in dem ich mich sehen lassen konnte, aber ich durfte die Beine nicht übereinanderschlagen, wenn ich zu den Leuten ging, denn ich lief auf der Brandsohle. Da zieht man die Einsamkeit vor.

Twinnings, mit dem ich bei den Leichten Reitern gedient hatte, war der geborene Vermittler, ein gefälliger Mensch. Er hatte schon öfters für mich Rat gefunden, wie für andere Kameraden auch. Er besaß gute Verbindungen. Nachdem er mich angehört hatte, machte er mir deutlich, daß ich nur noch auf Posten rechnen konnte, die meiner Lage entsprachen, also auf solche, bei denen es einen Haken gab. Das war nur allzu richtig; ich durfte nicht wählerisch sein.

Wir waren befreundet, was nicht viel besagen wollte, denn Twinnings war mit fast allen befreundet, die er kannte und mit denen er nicht gerade verfeindet war. Das war sein Geschäft. Daß er mir gegenüber ungeniert war, empfand ich nicht als peinlich; man hatte da eher das Gefühl, bei einem Arzt zu sein, der gründlich abhorcht und keine Sprüche macht. Er faßte mich am Aufschlag meines Rockes, dessen Stoff er betastete. Ich sah die Flecken darauf, als ob mein Blick sich geschärft hätte.

Er ging dann im einzelnen auf meine Lage ein. Ich war schon ziemlich verbraucht und hatte zwar viel gesehen, doch wenig bestellt, auf das ich mich berufen konnte – das mußte ich zugeben. Die besten Posten waren die, aus denen man ein großes Einkommen bezieht, ohne zu arbeiten, und um die man von allen beneidet wird. Aber hatte ich Verwandte, die Ehrungen und Aufträge zu vergeben hatten, wie etwa Paulchen Domann, dessen Schwiegervater Lokomotiven baute und der bei einem Frühstück mehr verdiente als andere Leute, die sich sonntags wie alltags abrackern, im ganzen Jahr? Je größer die Objekte sind, die man vermittelt, desto weniger machen sie zu schaffen; eine Lokomotive ist leichter zu verkaufen als ein Staubsauger.

Ich hatte einen Onkel, der Senator gewesen war. Aber er war seit langem nicht mehr am Leben; niemand kannte ihn mehr. Mein Vater hatte als Beamter ein ruhiges Leben geführt; das kleine Erbe war längst verzehrt. Ich hatte eine arme Frau geheiratet. Mit einem toten Senator und einer Frau, die selbst die Türe öffnet, wenn es klingelt, kann man keinen Staat machen.

Dann waren da die Posten, die viel Arbeit machen und bestimmt nichts einbringen. Man mußte Eisschränke oder Waschmaschinen von Haus zu Haus anbieten, bis man die Türklinkenangst bekam. Man mußte alte Kameraden vergrämen, indem man sie besuchte und hinterlistig mit Moselweinen oder einer Lebensversicherung überfiel. Twinnings ging mit einem Lächeln darüber hinweg, und ich war ihm dankbar dafür. Er hätte mich fragen können, ob ich Besseres gelernt hätte. Er wußte zwar, daß ich in der Panzerabnahme zu tun gehabt hatte, aber er wußte auch, daß ich dort auf der Schwarzen Liste stand. Darauf werde ich noch zurückkommen.

Es blieben Geschäfte, denen ein Risiko anhaftet. Man hatte ein bequemes Leben, hatte sein Auskommen, aber unruhigen Schlaf. Twinnings ließ einige Revue passieren, es handelte sich um polizeiähnliche Anstellungen. Wer hatte heute nicht seine Polizei? Die Zeiten waren unsicher. Man mußte Leben und Eigentum schützen, Grundstücke und Transporte überwachen, Erpressungen und Übergriffe abwehren. Die Unverschämtheit wuchs im Verhältnis zur Philanthropie. Von einer gewissen Prominenz an durfte man sich nicht mehr auf die öffentliche Hand verlassen, sondern mußte einen Stock im Haus haben.

Aber auch hier war viel weniger Angebot als Nachfrage. Die guten Plätze waren bereits besetzt. Twinnings hatte viele Freunde, und für alte Soldaten waren die Zeiten schlecht. Da war Lady Bosten, eine ungeheuer reiche und noch junge Witwe, die immer um ihre Kinder zitterte, besonders seitdem die Todesstrafe für Kindsraub aufgehoben war. Doch Twinnings hatte sie bereits bedient.

Da war ferner Preston, der Ölmagnat, den die Pferdemanie gepackt hatte. Er war verschossen in seinen Rennstall wie ein alter Byzantiner, ein Hippomane, der keine Kosten scheute, um seine Leidenschaft zu befriedigen. Die Pferde wurden bei ihm gehalten wie Halbgötter. Jedermann sucht sich ein Relief zu geben, und Preston fand dazu die Pferde geeigneter als Flotten von Tankern und Wälder von Bohrtürmen. Sie brachten ihm Fürsten ins Haus. Aber es war auch viel Ärger dabei. Im Stall, während der Transporte und auf dem Rennplatz mußte man allen scharf auf die Finger sehen. Da drohten die Verabredungen der Jockeys, die Eifersucht von anderen Pferdenarren, die Leidenschaften, die mit hohen Wetten verbunden sind. Es gibt keine Diva, die so bewacht werden muß wie ein Rennpferd, das den Großen Preis gewinnen soll. Das war ein Posten für alte Kavalleristen, für einen Mann, der Augen im Kopf und ein Herz für die Pferde hat. Aber da saß schon Tommy Gilbert und hatte seine halbe Schwadron mit untergebracht. Preston hielt ihn wie seinen Augapfel.

Am Rond Point suchte eine reiche Schwedin einen Leibwächter. Sie hatte deren schon mehrere gehabt, da sie ständig um ihre Tugend zitterte. Je strenger man jedoch den Posten wahrnahm, desto gewisser kam es zu einem häßlichen Skandal. Außerdem war das nichts für einen Verheirateten.

Twinnings zählte diese und andere Stellen auf wie ein Küchenchef die leckeren Gerichte, die von der Karte gestrichen sind. Alle Vermittler haben diese Eigenart. Er wollte mir Appetit machen. Endlich kam er mit greifbaren Angeboten – man konnte wetten, daß es da mehr als ein Haar in der Suppe gab.

Da war Giacomo Zapparoni, auch einer von denen, die ihr Geld nicht zählen können, obwohl noch der Vater nur mit einem Stock in der Hand über die Alpen gekommen war. Man konnte keine Zeitung, keine Zeitschrift öffnen, vor keinem Bildschirm sitzen, ohne daß man auf seinen Namen stieß. Seine Werke lagen ganz in der Nähe; er hatte es durch Auswertung fremder, aber auch eigener Erfindungen zum Monopol gebracht.

Die Journalisten erzählten Märchenhaftes von den Dingen, die er dort herstellte. Wer hat, dem wird gegeben: wahrscheinlich ließen sie noch ihre Phantasie spielen. Die Zapparoni-Werke bauten Roboter zu allen möglichen Verrichtungen. Sie lieferten sie auf besondere Bestellung und in Standardmodellen, die man in jedem Haushalt sah. Es handelte sich dabei nicht um die großen Automaten, an die man zunächst bei diesem Namen denkt. Zapparonis Spezialität waren die Liliputroboter. Von gewissen Ausnahmen abgesehen, lag ihre obere Grenze bei der Größe einer Wassermelone, während sie nach unten ins Winzige gingen und an chinesische Kuriositäten erinnerten. Dort wirkten sie wie intelligente Ameisen, aber immer noch in Einheiten, die als Mechanismen, also nicht etwa auf molekulare Weise arbeiteten. Das gehörte zu Zapparonis Geschäftsmaximen oder, wenn man so will, zu seinen Spielregeln. Oft schien es, als ob er zwischen zwei Lösungen um jeden Preis die raffiniertere bevorzuge. Aber das lag im Wesen der Zeit, und er stand sich nicht schlecht dabei.

Zapparoni hatte mit winzigen Schildkröten begonnen, die er Selektoren nannte und die sich bei feineren Ausleseprozessen bezahlt machten. Sie zählten, wogen und sortierten Edelsteine oder Banknoten, wobei sie die Fälschungen ausschieden. Das Prinzip hatte sich bald auf die Arbeit in gefährlichen Räumen, auf die Behandlung von Sprengstoffen und ansteckenden oder strahlenden Substanzen ausgedehnt. Es gab Schwärme von Selektoren, die kleine Brandherde nicht nur wahrnahmen, sondern auch im Entstehen löschten, es gab andere, die Fehlstellen an Leitungen ausbesserten, und wiederum andere, die sich von Schmutz ernährten und unentbehrlich wurden bei allen Vorgängen, die perfekte Reinigung voraussetzen. Mein Onkel, der Senator, der zeitlebens am Heufieber gelitten hatte, konnte sich die Reisen ins Hochgebirge sparen, nachdem Zapparoni Selektoren in den Handel gebracht hatte, die auf Pollen dressiert waren.

Bald waren seine Apparate unersetzlich geworden, nicht nur für Industrie und Wissenschaft, sondern auch für die Haushalte. Sie sparten Arbeitskräfte und brachten eine Lebensstimmung in den technischen Raum, die man bisher nicht gekannt hatte. Ein findiger Kopf hatte eine Lücke entdeckt, die niemand vor ihm gesehen hatte, und hatte sie ausgefüllt. Das ist die Art, auf die man die besten, die großen Geschäfte macht.

Twinnings deutete an, wo Zapparoni der Schuh drückte. Er wußte es nicht genau; man konnte es sich aber ungefähr ausrechnen. Es war der Ärger mit den Arbeitern. Wenn man den Ehrgeiz hat, die Materie zum Denken zu bringen, kommt man nicht ohne originelle Köpfe aus. Noch dazu handelte es sich um winzige Maßstäbe. Wahrscheinlich war es im Anfang weniger schwierig, einen Wal zu schaffen als einen Kolibri.

Zapparoni verfügte über einen Stamm von vorzüglichen Fachkräften. Am liebsten sah er, daß die Erfinder, die ihm Modelle brachten, fest bei ihm eintraten. Sie reproduzierten ihre Erfindungen oder wandelten sie ab. Das war vor allem in Abteilungen notwendig, die der Mode unterliegen, wie bei den Spielzeugen. Man hatte hier nie so tolle Sachen gesehen wie seit Zapparonis Ära – er schuf ein Liliputanerreich, eine lebende Zwergwelt, die nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen in traumhafter Entrückung die Zeit vergessen ließ. Das überspielte die Phantasie. Aber dieses Zwergentheater mußte alljährlich zu Weihnachten mit neuen Szenerien geschmückt, mit neuen Figuren besetzt werden.

Zapparoni beschäftigte Arbeiter, denen er Professoren-, ja Ministergehälter zuwandte. Sie brachten ihm das reichlich ein. Eine Kündigung hätte für ihn einen unersetzlichen Verlust bedeutet, ja eine Katastrophe, wenn sie erfolgt wäre, um die Arbeit an anderer Stelle fortzusetzen, sei es im Inland oder, schlimmer noch, im Auslande. Zapparonis Reichtum, seine Monopolmacht beruhte nicht nur auf dem Geschäftsgeheimnis, sondern auch auf einer Arbeitstechnik, die erst im Laufe von Jahrzehnten erworben werden konnte, und auch dann nicht von jedermann. Und diese Technik haftete am Arbeiter, an seinen Händen, an seinem Kopf.

Allerdings bestand wenig Neigung, einen Arbeitsplatz zu verlassen, an dem man fürstlich behandelt und bezahlt wurde. Aber es gab Ausnahmen. Es ist eine alte Wahrheit, daß man den Menschen nie zufriedenstellen kann. Davon abgesehen, hatte Zapparoni ein ausgesprochen schwieriges Personal. Das hing mit der Eigenart der Arbeit zusammen; der Umgang mit winzigen und oft vertrackten Dingen erzeugte mit der Zeit ein schrulliges und skrupulantenhaftes Wesen, schuf Charaktere, die sich an Sonnenstäubchen stießen und in jeder Suppe ein Haar fanden. Das waren Künstler, die Flöhen Hufeisen anmaßen und sie festschraubten. Das lag hart an den Grenzen der reinen Einbildung. Zapparonis Automatenwelt, an sich schon sonderbar genug, war belebt von Geistern, die sich den seltsamsten Marotten hingaben. In seinem Privatbüro sollte es oft zugehen wie beim Chefarzt einer Irrenanstalt. Es gab eben noch keine Roboter, die Roboter herstellten. Das wäre der Stein der Weisen gewesen, des Zirkels Quadratur.

Zapparoni mußte sich mit den Tatsachen abfinden. Sie gehörten zum Wesen des Betriebs. Er tat es nicht ungeschickt. In seinem Modellwerk behielt er sich die Menschenbehandlung vor und entfaltete da den vollen Charme, die Wendigkeit eines südländischen Impresarios. Er ging dabei bis an die Grenze des Möglichen. Einmal so ausgebeutet zu werden wie von Zapparoni, war der Traum aller jungen Leute mit technischen Neigungen. Es war selten, daß ihn die Selbstbeherrschung, die Liebenswürdigkeit verließ. Dann kam es zu furchtbaren Auftritten.

Natürlich suchte er sich in den Anstellungsverträgen zu sichern, wenngleich auf angenehmste Art. Sie liefen lebenslänglich, sahen steigende Löhne, Prämien, Versicherungen vor und bei Vertragsbrüchen Konventionalstrafen. Wer mit Zapparoni einen Vertrag geschlossen hatte und sich dort Meister oder Autor nennen durfte, war ein gemachter Mann. Er hatte sein Haus, seinen Wagen, seine bezahlten Ferien auf Teneriffa oder in Norwegen.

Freilich gab es Einschränkungen. Sie waren aber kaum wahrnehmbar und liefen, um die Sache beim Namen zu nennen, auf die Einfügung in ein durchdachtes Überwachungssystem hinaus. Dem dienten verschiedene Einrichtungen, die unter den harmlosen Namen liefen, mit denen man heutzutage den Sicherheitsdienst verkleidet – eine von ihnen hieß, glaube ich, Abrechnungsbüro. Die Blätter, die dort über jeden der in den Zapparoni-Werken Beschäftigten geführt wurden, glichen den Polizeiakten, nur gingen sie viel mehr ins einzelne. Man muß den Menschen heute ziemlich genau durchleuchten, um zu wissen, was man von ihm zu erwarten hat, denn die Versuchungen sind groß.

Daran war nichts Unpassendes. Vorsorge gegen Vertrauensbrüche gehört zu den Pflichten dessen, der ein großes Werk leitet. Wenn man Zapparoni behilflich war, sein Geschäftsgeheimnis zu wahren, stand man auf der Rechtsseite.

Was geschah aber, wenn einer dieser Fachleute gesetzlich kündigte? Oder wenn er einfach fortging und die Konventionalstrafe entrichtete? Das war ein schwacher Punkt in Zapparonis System. Er konnte sie schließlich nicht anbinden. Hier war eine große Gefahr für ihn. Es lag in seinem Interesse, zu demonstrieren, daß diese Form des Abgangs für den Betreffenden ungünstig war. Es gibt ja viele Mittel, jemandem etwas am Zeuge zu flicken, besonders wenn Geld keine Rolle spielt.

Zunächst konnte man ihm Prozesse an den Hals hängen. Das hatte manchem Mores beigebracht. Es gab aber Lücken im Gesetz, das schon seit langem hinter der technischen Entwicklung herhinkte. Was hieß hier zum Beispiel Autorschaft? Sie war doch eher der Glanz, den eine Kollektivspitze aussprüht, als eigenstes Verdienst und ließ sich nicht einfach ablösen und mitnehmen. Und ähnlich war es mit der Kunstfertigkeit, die im Laufe von dreißig, vierzig Jahren mit Hilfe und auf Kosten des Werkes entwickelt worden war. Das war nicht individuelles Eigentum allein. Das Individuum aber war unteilbar – oder war es das etwa nicht? Das waren Fragen, für die der grobe Polizeiverstand nicht ausreichte. Da gibt es Vertrauensposten, die Selbständigkeit voraussetzen. Das Eigentliche ist zu erraten; es wird weder schriftlich noch mündlich erwähnt. Es muß intuitiv erfaßt werden.

Das ungefähr entnahm ich Twinnings Andeutungen. Es waren Kombinationen, Vermutungen. Vielleicht wußte er mehr, vielleicht auch weniger. In solchen Fällen sagt man lieber zu wenig als zu viel. Ich hatte schon genug verstanden: es wurde ein Mann für die schmutzige Wäsche gesucht.

Das war kein Posten für mich. Ich will nicht von Moral reden, das wäre lächerlich. Ich hatte den asturischen Bürgerkrieg mitgemacht. Bei solchen Händeln behält keiner saubere Hände, ob er oben oder unten steht, rechts oder links. Er wird auch betroffen, wenn er sich in der Mitte zu halten sucht, ja gerade dann. Es gab da Typen mit einem Sündenregister, das selbst abgehärtete Beichtväter erschreckt hätte. Sie dachten freilich nicht im Traum daran, zu beichten, und zeigten vielmehr, wenn sie zusammensaßen, den besten Humor, rühmten sich sogar, wie es in der Bibel heißt, ihrer Missetat. Leute mit zarten Nerven waren dort nicht beliebt. Aber sie hatten ihren Komment. Einen Posten, wie ihn Twinnings vorschlug, hätte keiner von ihnen angenommen, solange er sich bei den anderen halten wollte, auch wenn er ein noch so schwarzes Gesicht hatte. Das hätte ihn von der Kameradschaft ausgeschlossen, vom Zechtisch, vom Feldlager. Man hätte ihm nicht mehr über den Weg getraut, hätte die Zunge gehütet in seinem Beisein und nicht erwartet, daß er zu Hilfe käme, wenn man in der Tinte saß. Selbst noch in den Gefängnissen, auf den Galeeren hat man ein Gefühl dafür.

Ich hätte also gleich wieder aufstehen können, nachdem ich die Sache von Zapparoni und seinen Querulanten gehört hatte, wenn nicht Theresa zu Hause gesessen hätte, die auf mich wartete. Dies war die letzte Chance, und sie hatte große Hoffnung auf den Besuch gesetzt.

Ich bin wenig geschaffen für alles, was mit Geld und Geldverdienen zusammenhängt. Ich muß einen schlechten Merkur haben. Das zeigte sich mit den Jahren deutlicher. Wir hatten zunächst von meiner Abfindung gelebt und dann Sachen verkauft, waren nun aber auch zu Ende damit. In jedem Haushalt gibt es eine Ecke, wo früher die Laren und Penaten standen und in der man heute das Unveräußerliche aufbewahrt. Bei uns waren es einige Rennpreise und andere gravierte Dinge, zum Teil noch vom Vater her. Ich hatte sie neulich zum Silberschmied gebracht. Theresa glaubte, daß mich der Verlust geschmerzt habe. Das war nicht der Fall; ich war froh, daß ich die Sachen los wurde. Es war gut, daß ich keinen Sohn hatte und daß es damit ein für alle Mal zu Ende war.

Theresa meinte, daß sie mir zur Last falle; das war ihre fixe Idee. Dabei hätte ich mich längst rühren müssen – die ganze Misere kam von meiner Bequemlichkeit. Sie kam daher, daß mich die Geschäfte anwiderten.

Wenn ich etwas nicht vertragen kann, dann ist es die Rolle des Märtyrers. Es kann mich rasend machen, wenn man mich für einen guten Menschen hält. Gerade diese Gewohnheit hatte Theresa angenommen; sie ging um mich herum wie um einen Heiligen. Sie sah mich in einem falschen Licht. Sie hätte schelten, toben, Vasen zertrümmern sollen, aber das war leider nicht ihre Art.

Schon als Schüler hatte ich nicht gern gearbeitet. Wenn mir das Wasser am Halse stand, zog ich mich aus der Affäre, indem ich Fieber bekam. Ich hatte ein Mittel dafür. Wenn ich im Bett lag, kam die Mutter mit Säften und Umschlägen. Mein Betrug machte mir dabei nichts aus, erfreute mich sogar. Aber es war schlimm, daß ich dafür als armer Kranker verwöhnt wurde. Ich suchte mich dann unausstehlich zu machen, aber je besser mir das gelang, desto größere Besorgnis rief ich hervor.

Ähnlich ging es mir mit Theresa; es war mir unerträglich, an das Gesicht zu denken, das sie machen würde, wenn ich ohne Hoffnung nach Hause kam. Sie würde es mir sofort ansehen, wenn sie die Tür öffnete.

Vielleicht sah ich die Sache auch in einem zu ungünstigen Licht. Ich war noch von altertümlichen Vorurteilen erfüllt, die mir nichts einbrachten. Sie verstaubten in meinem Inneren wie jene Silberpreise in meinem Haushalt, dessen Öde sie beleuchteten.

Seitdem alles auf den Vertrag gegründet werden sollte, ohne daß der Vertrag auf Eid und Sühne und auf den Mann gestellt war, gab es weder Treu noch Glauben mehr. Es fehlte die Zucht auf dieser Welt. Sie wurde durch die Katastrophe ersetzt. Man lebte in einer permanenten Unruhe, in der einer dem anderen nicht trauen konnte – war ich dafür verantwortlich? Ich wollte hier nicht schlechter, aber auch nicht besser sein als alle anderen.

Twinnings, der mich unschlüssig sitzen sah, schien meinen schwachen Punkt zu kennen; er sagte:

»Theresa würde sich freuen, wenn du mit etwas Festem ankämest.«

2

Das erinnerte mich an die Zeit, in der wir Kriegsschüler gewesen waren; es war lange her. Twinnings saß neben mir. Er hatte schon damals etwas Vermittelndes und stand mit allen gut. Es war eine harte Zeit gewesen; wir wurden nicht mit Handschuhen angefaßt. Monteron war unser Erzieher; wir saßen immer im Druck vor ihm.

Montags war es besonders schlimm. Das war der Tag der Abrechnung, des Gerichts. Um sechs Uhr waren wir in der Reitbahn, mit schwerem Kopf. Ich entsinne mich, daß ich oftmals gern gestürzt wäre, um ins Lazarett zu kommen, aber solange die Knochen noch ganz waren, konnte keine Rede davon sein. Hier gab es kein Fieberchen wie zu Haus. Monteron hielt die Stürze für gesund. Sie waren gut für die Ausbildung und gaben den Knien erst den rechten Schluß.

Die zweite Stunde war am Sandkasten, aber es kam selten dazu. In der Regel trat Monteron, er war Major, wie ein Erzengel mit drohender Gewitterfalte ein. Es gibt heute natürlich noch Leute, vor denen man Angst hat, aber es gibt diese Autorität nicht mehr. Heut hat man einfach Angst, damals kam noch das schlechte Gewissen hinzu.

Die Kriegsschule lag in der Nähe der Hauptstadt, und wer nicht gerade den Urlaub gestrichen bekommen hatte oder im Loch saß, machte sich am Samstag in Vorort- und Pferdebahnen oder im Wagen dorthin auf. Andere ritten und stellten die Pferde bei Verwandten ein, denn es gab noch zahlreiche Ställe in der Stadt. Wir waren alle glänzend in Form, hatten auch Geld in der Tasche, denn auf dem Übungsplatz konnte man nichts ausgeben. Es gab daher keinen schöneren Augenblick als den, in dem sich das Lagertor öffnete.

Am Montagmorgen sah es anders aus. Wenn Monteron in sein Büro kam, lag schon ein Päckchen von unangenehmen Briefen, Anzeigen und Tatberichten auf dem Tisch. Dazu kam unfehlbar die Meldung der Lagerwache, daß zwei oder drei den Urlaub überschritten hatten und ein Vierter noch nicht eingetroffen war. Dann gab es die Kleinigkeiten – der war notiert, weil er vor der Schloßwache geraucht, und jener, weil er den Stadtkommandanten schlapp gegrüßt hatte. Meist fehlte es aber auch nicht an einem Glanzstücke. Zwei hatten in einer Bar Skandal bekommen und die Einrichtung demoliert, ein anderer hatte sich zur Wehr gesetzt und blank gezogen, als die Ronde ihn arretiert hatte. Sie saßen noch irgendwo fest und sollten geholt werden. Zwei Brüder, zu einer Beerdigung beurlaubt, hatten in Homburg ihr Geld verspielt.

Jeden Samstag beim Appell musterte Monteron noch einmal den Anzug durch. Wenn er sich vergewissert hatte, daß niemand in »Phantasieuniform« erschienen war, worunter er winzige Abweichungen verstand, entließ er uns mit einem Abschiedswort. Er warnte uns vor den Versuchungen. Und jedesmal stoben wir mit den besten Vorsätzen auseinander und in der Gewißheit, uns werde dergleichen nicht anfechten.

Aber die Stadt war verhext, war ein Irrgarten. Es war unheimlich, mit welcher List sie ihre Fallstricke auslegte. So ein Urlaubstag zerfiel in zwei Hälften, die ziemlich genau durch das Nachtmahl begrenzt wurden, in eine helle und eine düstere. Er erinnerte an gewisse Bilderbücher, in denen man auf der einen Seite den guten und auf der anderen den bösen Knaben abgemalt sieht – nur mit dem Unterschied, daß hier die beiden Knaben sich in einer Person vereinigten. Nachmittags besuchten wir Verwandte, saßen im Sonnenlicht vor den Cafe´s oder flanierten im Tiergarten. Manche sah man in den Konzerten oder sogar bei Vorträgen. Sie boten ein Bild, wie es Monteron vorschwebte, frisch, wohlerzogen und wie aus dem Ei geschält. Es war eine Lust.

Dann kam der Abend mit seinen Verabredungen. Man traf sich allein mit seiner Freundin, man traf sich zu mehreren. Man begann zu trinken; die Stimmung wurde ausgelassener. Dann schwärmte man aus und traf sich wieder um Mitternacht, bei Bols oder im Englischen Büfett. Das setzte sich fort, und die Lokale wurden zweideutiger oder gehörten sogar zu den ausdrücklich verbotenen. Im Wiener Cafe´ verkehrten Schwärme von Halbweltdamen, und man kam leicht mit unverschämten Kellnern in Konflikt. In den großen Bierpalästen stieß man auf Studenten, die Skandal suchten. Endlich waren nur wenige Stätten noch geöffnet, wie die Ewige Lampe und die Wartesäle der Bahnhöfe. Hier wogen die Betrunkenen vor. Es kam zu Händeln, bei denen Ruhm nicht zu ernten war. Die Kommandantur kannte diese Orte, und es war kein Zufall, daß ihre Streifen immer gerade dann eintrafen, wenn man in einen Auftritt verwickelt war. Man sah im Gewühl die Helmspitzen auftauchen, und es hieß: »Rette sich, wer kann!« Oft war es zu spät. Man mußte mitkommen, und der Streifenführer freute sich, daß er wieder einen Kriegsschüler erwischt hatte.

Die Einzelheiten fand Monteron am Montag auf seinem Tisch. Sie kamen mit dem Frühzug oder wurden telefonisch durchgesagt. Monteron gehörte zu den Vorgesetzten, die morgens besonders schlechter Laune sind. Das Blut stieg ihm leicht zu Kopf. Er öffnete dann den Uniformkragen. Das war ein schlechtes Vorzeichen. Man hörte ihn brummen: »Unglaublich, wo die sich rumtreiben.«

Es kam uns nun selbst unglaublich vor. Es gibt keinen größeren Unterschied als den zwischen einem schweren, schmerzenden Kopf am Morgen und seinem ausgelassenen Ebenbild am Vorabend. Und doch ist es ein und derselbe Kopf. Daß wir da oder dort gewesen sein, das oder jenes gesagt oder gar getan haben sollten, kam uns vor, als ob es uns über einen Dritten erzählt würde. Es konnte und durfte gar nicht sein.

Trotzdem hatten wir, während uns der Reitlehrer im Sprunggarten umherjagte, ein dunkles Vorgefühl, daß etwas nicht in Ordnung war. Wenn man mit geknoteter Trense und auf die Hüften gestützten Armen über die Hürden setzt, heißt es die Gedanken parat haben. Dennoch kam es vor, daß wir wie im Traum galoppierten, während unser Kopf mit dem dunklen Rebus, als welchen die verflossene Nacht sich darbot, beschäftigt war.

Der wurde uns dann am Sandkasten durch Monteron in einer Weise gelöst, die alle Befürchtungen übertraf. Vorgänge, die uns bruchstückhaft und verschleiert im Gedächtnis waren, erschienen da als höchst unangenehmes Ganzes in überscharfem Licht. Twinnings, der damals schon recht hübsche Gedanken hatte, meinte einmal, es sei eigentlich unanständig, nüchterne Streifen auf angeheiterte Urlauber Jagd machen zu lassen – man müsse sie gleich auf gleich stellen.

Wie dem auch sei – es fing kaum eine Woche ohne Gewitter an. Monteron konnte noch alle Schleusen der Autorität aufziehen; das ist auch eine Kunst, die heute verloren gegangen ist. Er konnte noch ein Bewußtsein der Übeltat hervorrufen. Wir hatten nicht einfach dies oder das verübt. Wir hatten die Axt an die Wurzel des Staates gelegt, die Monarchie in Gefahr gebracht. Daran war allerdings insofern etwas Richtiges, als fast alle Welt tat, was sie wollte, ohne daß darum viel Aufhebens gemacht wurde, denn die Freiheit war groß und allgemein. Wenn aber ein Kriegsschüler im geringsten abwich, dann fiel dieselbe Welt, dieselbe Öffentlichkeit einhellig über ihn her. Das war schon ein Vorzeichen der großen Veränderungen, die bald danach eintraten. Monteron sah sie wahrscheinlich voraus. Wir aber waren einfach leichtsinnig.

Im Rückblick will es mir scheinen, daß die Strafgerichte meist glimpflicher abliefen, als wir erwarteten. Wir waren in der Furcht des Herrn. Wenn wir uns nach der Reitstunde in aller Eile umzogen und der Stubenälteste uns antrieb: »Ihr könnt euch auf was gefaßt machen – der Alte hat schon den Kragen auf«, dann war das schlimmer als später vorm Angriff, wenn es hieß: »Alles bereit machen.«