Globalgeschichten aus China -  - E-Book

Globalgeschichten aus China E-Book

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Beschreibung

Wie rezipieren chinesische Historikerinnen und Historiker globalgeschichtliche Ansätze aus Nordamerika und Europa? Mit neun ausführlich kommentierten Texten parteinaher und -ferner Gelehrter mit und ohne Forschungserfahrung im Ausland, die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen, bietet dieser Band eine konzise Einführung in aktuelle Debatten zur Globalgeschichte in der Volksrepublik China. Die Breite der Stimmen reicht von der Kritik am Eurozentrismus globalgeschichtlicher Ansätze bis zu ihrem Beitrag für die Reinterpretation der chinesischen Geschichte seit Beginn der Globalisierung. Deutlich werden das Spannungsverhältnis von National- und Globalgeschichte, die Sorge um eine Verwestlichung der chinesischen Geisteswissenschaften, aber auch das Bemühen, chinesische Begrifflichkeiten für die Weiterentwicklung der Disziplin zu formulieren. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

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Cover for EPUB

Marc Andre Matten, Egas Moniz Bandeira (Hg.)

Globalgeschichten aus China

Aktuelle Debatten in der Volksrepublik

Campus Verlag Frankfurt/New York

Über das Buch

Wie rezipieren chinesische Historikerinnen und Historiker globalgeschichtliche Ansätze aus Nordamerika und Europa? Mit neun ausführlich kommentierten Texten parteinaher und -ferner Gelehrter mit und ohne Forschungserfahrung im Ausland, die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen, bietet dieser Band eine konzise Einführung in aktuelle Debatten zur Globalgeschichte in der Volksrepublik China. Die Breite der Stimmen reicht von der Kritik am Eurozentrismus globalgeschichtlicher Ansätze bis zu ihrem Beitrag für die Reinterpretation der chinesischen Geschichte seit Beginn der Globalisierung. Deutlich werden das Spannungsverhältnis von National- und Globalgeschichte, die Sorge um eine Verwestlichung der chinesischen Geisteswissenschaften, aber auch das Bemühen, chinesische Begrifflichkeiten für die Weiterentwicklung der Disziplin zu formulieren.

Vita

Marc Andre Matten ist Professor für chinesische Zeitgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Egas Moniz Bandeira ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Globalgeschichten in China – China in der Globalgeschichte

Zielsetzung des Buchs

Nation und Welt in der chinesischen Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert

Die Anfänge der Welt- und Globalgeschichte in China

Weiterführende Literatur zur Geschichte der Geschichtsschreibung in China

Ausgewählte Texte chinesischer GlobalhistorikerInnen

Zhang Weiwei: Die Geschichte Chinas in der Globalgeschichte (2005)

Zentrismus und China

Vergleiche und Vergleichbarkeit zwischen China und dem Westen

»Der ›Niedergang des Ostens‹ ging dem ›Aufstieg des Westens« voraus«

Die »Needham-Frage«

Schluss

Anmerkungen zu Autor und Werk

Weiterführende Literatur

Ma Keyao: Dilemma und Reflexion: Die Überwindung des Eurozentrismus und die Weltgeschichtsschreibung (2006)

Der umwelt-ökologische Aspekt

Der Aspekt der Familie und Bevölkerung.

Der soziale und politische Aspekt

Die Frage der Transition und der Modernisierung

Anmerkungen zu Autor und Werk

Weiterführende Literatur

Ge Zhaoguang: Ist die nationale Geschichte im Trend der Globalgeschichte noch von Bedeutung? (2013)

Anmerkungen zu Autor und Werk

Weiterführende Literatur

Dong Xinjie: Imperialismus in der Globalgeschichte des Westens (2013)

Definitionen von Imperialismus in der Globalgeschichte

Imperien und Imperialismus als Ergebnis konkurrierender Gesellschaften aus globalgeschichtlicher Perspektive

Imperialismus als Pfad menschlicher Interaktion in globalhistorischer Perspektive

Anmerkungen zu Autorin und Werk

Hu Cheng: Forschung zur chinesischen Geschichte aus »globalhistorischer« Perspektive (2015)

Die lokalen Ursprünge der »Geschichte außerhalb der Grenzen und Literatur der fremden Völker«

Bemühungen der Integration der chinesischen Geschichte in die »Weltgeschichte«

Eine »neue Synthese«, die Details wertschätzt und eine »Fragmentierung« ablehnt

Schluss

Anmerkungen zu Autor und Werk

Weiterführende Literatur

Jiang Mei: Repositionierung der »Geschichte Chinas« in der »Weltgeschichte«: Neue Richtungen in der Forschung zur Weltgeschichte und chinesischen Geschichte (2015)

Einleitung

Überprüfung der historischen Genese »Chinas« auf Grundlage seiner Grenzregionen

China und das »vormoderne Weltsystem«: Wie man wirklich »mit offenen Augen durch die Welt geht«

China und die »maritime Welt Ostasiens«

China und der Aufstieg des Kapitalismus: Eine erneute Untersuchung der Kräfte und Trends in der chinesischen Geschichte

Schlussbemerkung

Anmerkungen zu Autorin und Werk

Weiterführende Literatur

Zhang Xupeng: Globalgeschichte und das nationale Narrativ: Möglichkeiten einer Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten (2020)

Der Aufstieg der Globalgeschichte in China

Nationale Narrative und Globalgeschichte

Wie ist eine globale Geschichte mit chinesischen Merkmalen möglich?

Schluss

Anmerkungen zu Autor und Werk

Weiterführende Literatur

Zou Zhenhuan: Die globalgeschichtliche Bedeutung der Forschung zur Geschichte der Region Jiangnan während der Ming- und Qing-Dynastien (2020)

Die Geschichte des ostasiatischen maritimen Austauschs mit Jiangnan der Ming- und Qing-Ära als Zentrum

Das ming- und qingzeitliche Jiangnan im Weltwirtschafts- und -handelskreislauf

Jiangnan und sino-ausländische Interaktionen

Die kosmopolitischen Elemente in der Jiangnan-Kultur

Der durch die Annahme verschiedener fremdländischer Produkte und die Verschmelzung von allerlei Elementen erwirkte »Zheng-He-Austausch«

Aus dem Westen kommend und nach Osten gehend: Einwanderer aus dem Ausland und Studenten aus Jiangnan, die im Ausland studierten

Die Diversität städtischer Kultur in Jiangnan

Das ming- und qingzeitliche Jiangnan in einer sino-europäischen komparativen Perspektive

Schluss

Anmerkungen zu Autor und Werk

Weiterführende Literatur

Liu Wenming: Globalgeschichte in China: Ein Rückblick und einige Überlegungen (2021)

Die Ankunft der »Globalgeschichte« in China und ihre Genese als Forschungsfeld

Diskussionen zu Theorien der Globalgeschichte

Übersetzung der allgemeinen Weltgeschichte und Erörterung der »globalhistorischen Perspektive«

Überdenken des »Eurozentrismus« und Erkundung globalhistorischer Ansätze

Erforschung der Theorie der transkulturellen Interaktion und der transnationalen Geschichte

Theorien der Globalgeschichte und ihre Anwendung auf die Forschung zur chinesischen Geschichte

Erste Schritte bei der empirischen Forschung in der Globalgeschichte

Schluss

Anmerkungen zu Autor und Werk

Weiterführende Literatur

Anhang

Nachweise

Zeittafel

Dank

Einleitung

Globalgeschichten in China – China in der Globalgeschichte

Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat die Globalgeschichte als Teildisziplin in den Geschichtswissenschaften weite Verbreitung gefunden. Gleichzeitig ist die Dominanz des Nationalstaats als epistemische Kategorie und methodischer Zugang zunehmend in die Defensive geraten.1 In der Forschung wurden Vergleich, Transfer, Interaktion und Verflechtung als neue Ansätze etabliert. Transregionale und transnationale Zugänge haben darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Relativierung der Regionalwissenschaften als exklusivem Zugang zu sog. außereuropäischen Regionen geleistet.2 Es lässt sich in der Forschung zur Globalgeschichte jedoch immer noch ein Ungleichgewicht beobachten. Während ihr mit Bezug auf Europa, Nordamerika und deren Kolonialgebieten schon unzählige Konferenzen, Organisationen und Monografien gewidmet worden sind, so finden die Entwicklungen der Disziplin in China nur partiell Eingang in die Debatten in Nordamerika und Europa.3

Dies ist umso erstaunlicher, als sich in der Volksrepublik China mittlerweile eine höchst produktive Forschungslandschaft etabliert hat. Die Gründung von Institutionen wie etwa des Zentrums für Globalgeschichte an der Capital Normal University in Beijing im Jahr 2004, des Instituts für Globalgeschichte an der Beijing Foreign Studies University (2014) oder des Instituts für Globale und Transnationale Geschichte an der Shandong University (2016) zeugen von wachsendem Interesse auf chinesischer Seite. Seit vielen Jahren widmen sich zahlreiche Buchreihen und Zeitschriften wie etwa die Global History Review (Quanqiushi pinglun) der Capital Normal University der Übersetzung, Vorstellung und Weiterentwicklung globalgeschichtlicher Ansätze. Sie hinterfragen die universelle Anwendbarkeit europäischer und nordamerikanischer Theorien und argumentieren für die Formulierung einer Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten4, die sich nun wirklich von eurozentrischen Prämissen verabschiedet, die Sicht des europäisch-amerikanischen Zentrums um chinesische Perspektiven erweitert und die Deprovinzialisierung Europas vorantreibt.5

Betrachtet man die Entwicklung der Geschichtswissenschaften seit dem Ende der letzten Dynastie (1912), so sind die aktuellen Diskussionen eigentlich nichts Neues. Sie erinnern an Lei Haizongs (1902–1962) bekannte Rezension von H.G. Wells An Outline of History (1920). Lei, der 1927 mit einer Arbeit zu Turgot an der Universität Chicago promoviert worden war, hatte 1928 den Vorwurf geäußert, dass Wells sich vornehmlich mit der westlichen Welt befasse und die Ereignisse und Begebenheiten in Zivilisationen wie Babylonien, Ägypten, Indien, China, Japan und dem mongolischen Reich nur am Rande streife.6 Wells Ignoranz sei Ausdruck der europäischen Überheblichkeit in der Wahrnehmung der Welt, so Lei. Auf welche Weise China Teil der Globalgeschichte werden kann, ist eine Frage, die in der Gegenwart angesichts der politischen, ökonomischen und militärischen Machtverschiebungen auf globaler Ebene an Brisanz gewinnt.

Die umfangreiche Übersetzung und Rezeption des Forschungsstands in Europa, Nordamerika und Japan hat in den vergangenen Jahrzehnten in China Arbeiten zu Kulturaustausch, Handel und Migration zwischen China und Europa bzw. Nordamerika (weniger der Globale Süden)7 hervorgebracht, die die Selbstverständlichkeit der Dichotomien von Zentrum/Peripherie, Zivilisation/Barbarei und Moderne/Tradition hinterfragen. Der Durchbruch der Modernisierungstheorie hat zu umfangreichen komparativen Studien geführt, die soziale, ökonomische und politische Entwicklungen des Zentrums mit denen in der Peripherie oder auch in Peripherien untereinander vergleichen. Die Ausweitung des Untersuchungsraums über die nationalen Grenzen hinaus etablierte den Transfer als weiteren Zugang zu globalen Phänomenen, der im Fall von China (ja sogar Ostasien) den Austausch von Waren, Ideen und Personen primär als monodirektionalen Transfer vom West nach Ost begriff. Im Kalten Krieg hatte John K. Fairbank, der Begründer der modernen Chinastudien in den Vereinigten Staaten, das Paradigma formuliert, dass die Moderne Chinas eine Reaktion auf einen »Western impact« sei. Die Moderne war ihm zufolge eine Moderne, die China mit dem Westen als Vorbild nachzuholen habe.8 Die Ablösung von eigenen Wertvorstellungen und soziopolitischen Strukturen wurde in der Folge nicht nur unbedingte Voraussetzung für Fortschritt9, sondern auch Bedingung dafür geehen, sich eine eigene Geschichte zu geben.10 Nach der tiefgreifenden Kritik der Modernisierungstheorien ist die Selbstverständlichkeit, die Entwicklung in Europa als Norm zu sehen, heute nicht mehr unhinterfragt. Die Rezeption postkolonialer Theorien seit den 1990er Jahren führte zu Appellen, die chinesische Geschichte aus chinesischer Perspektive mit chinesischen Begrifflichkeiten zu schreiben11, ein Ansinnen, das sich auch in globalgeschichtlichen Debatten in China findet, denen der vorliegende Band gewidmet ist.

Tatsächlich hat dank der weitreichenden institutionellen Förderung der Geisteswissenschaften die chinesische Globalgeschichte in den zurückliegenden drei Dekaden einen Grad der Differenziertheit und Spezialisierung erreicht, der den Vergleich nicht mehr zu scheuen braucht. An den globalhistorischen Instituten in Beijing, Shanghai, Tianjin und Nanjing wird immer nachdrücklicher die Frage nach der universellen Anwendung westlicher Modelle und Theorien gestellt. Im Unterschied zu den frühen Arbeiten europäischer und amerikanischer GlobalhistorikerInnen zielt die Entwicklung in China nicht darauf ab, den Nationalstaat als Referenzrahmen zu ersetzen, sondern eine Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten zu formulieren.12 Die Übersetzung der Globalgeschichte stand dabei zunächst begrifflich vor besonderen Herausforderungen.13 So werden Weltgeschichte und Globalgeschichte häufig synonym verwendet: Als ab den 1980er Jahren die Publikationen von Immanuel Wallerstein (1930–2019), Andre Gunder Frank (1929–2005), Janet Abu-Lughod (1928–2013), Geoffrey Barraclough (1908–1984), William McNeill (1917–2016), Leften Stavrianos (1913–2004), Bruce Mazlish (1923–2016) und Jerry Bentley (1949–2012) den Weg nach China fanden, war dank der Rezeption der sowjetischen Arbeiten in den 1950er Jahren die Weltgeschichte als eigenständiges Fach bereits etabliert.14 Eine Ergänzung oder Ersetzung durch die Globalgeschichte schien nicht notwendig. Darüber hinaus, so Liu Wenming in seinem Beitrag in diesem Band, wurde Globalgeschichte mit der Globalisierung in Verbindung gebracht, in deren Verlauf sich westliche Paradigmen und Theorien durchsetzen würden. In der Konsequenz wurde »globalhistorische Perspektive« (quanqiu de lishiguan oder kurz quanqiushiguan) als Entsprechung des englischen Begriffs »global view of history« (lishi de quanqiuguan) bevorzugt, der Assoziationen zu Globalisierung und westlicher Diskurshegemonie vermeiden sollte.

Die Herausforderungen gehen über Semantiken hinaus. Der Aufstieg Chinas in der Globalisierung belege, so die HistorikerInnen Zhang Xupeng, Jiang Mei und Ma Keyao, dass das Land nicht länger rück- oder randständig sei, was sich idealerweise auch in der Art und Weise der Geschichtsschreibung widerspiegeln sollte. Die Schwierigkeit sei es, eine Globalgeschichte ohne die Dichotomie von Zentrum und Peripherie zu schreiben, und den Eurozentrismus zu verabschieden, ohne gleich einem Sinozentrismus anheim zu fallen, wie sie in ihren Beiträgen ausführen.15 Der Historiker Li Xuetao, Gründer und Direktor des Institute of Global History an der Beijing Foreign Studies University, mahnt in diesem Zusammenhang eine neue Begriffsgeschichte der Globalgeschichte an. Sowohl theoretische als auch empirische Arbeiten fokussieren in der Regel darauf, wer mit wem interagiert, welche Ideen, Waren und Menschen global migrieren, und welche Effekte hieraus resultieren. Zur Anwendung kommen Methoden wie Konnektivität (guanlian), Verflechtung (jiaocha), Transfer (qianyi), Vergleich (bijiao), Interaktion (hudong) und Austausch (jiaowang). Diese Termini sind Neologismen, die mit der Rezeption der euroamerikanischen Globalgeschichte den Weg nach China fanden und Li Xuetao zufolge sich prinzipiell auch dem Vorwurf des Eurozentrismus stellen müssen. Ohne eine neue Begriffsgeschichte lasse sich der Zwiespalt, eine chinesische Globalgeschichte mit westlichen Begrifflichkeiten zu schreiben, nicht lösen. Auf dem Weg zu einer wahrhaftig globalen Disziplin komme sie nicht umhin, ihr analytisches Vokabular transkulturell und translingual neu zu erschließen. Dies würde unser Verständnis von Globalgeschichte fundamental neu prägen, so Li Xuetao.16

Im Gegensatz zu diesen Versuchen der Vermittlung und kollaborativen Weiterentwicklung lehnen radikale Kritiker westliche Theorien und Methoden häufig grundlegend ab, wie es in Publikationen wie etwa der Zeitschrift Historical Research (Lishi yanjiu)17, Qiushi18, oder manchen Monografien der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften zum Ausdruck kommt.19 Rufe nach einer »Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten« (you Zhongguo tese de quanqiushi) folgen häufig einer ideologischen Notwendigkeit, wie dies von parteinahen Historikern wie Yu Pei und Liu Xincheng (letzterer auch Mitglied im Vorstand der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volks seit 2018) vertreten wird. Seit dem Machtantritt von Xi Jinping werden Publikationen mit solchen Forderungen – die zunehmend auch in Übersetzungen erscheinen – immer deutlicher Teil der Bemühungen um Diskursmacht, die den Eurozentrismus ablehnen und gleichzeitig die Integration chinesischer Ideen in westliche Theoriegebäude anstreben. Das vertrauliche Rundschreiben Nr. 9/2013 des Zentralbüros der KPCh (»Dokument Nr. 9«), das im Sommer 2013 publik wurde, warnte vor schädlicher »kultureller Penetration« (wenhua cantou) durch den Westen und identifizierte den »historischen Nihilismus« als eines der zu bekämpfenden ideologischen Kernprobleme. Besonders seit der Verlautbarung dieses Dokuments werden im Namen der ideologischen Reinheit Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaften abgelehnt, die konträr zum Marxismus stehen.20

Die Kritik am Eurozentrismus ist kein ausschließlich akademisches Problem, sondern besitzt auch eine politische Dimension. Sie ist Teil der parteistaatlichen Bemühungen, der Dominanz westlicher Theorien und der Diskurshoheit des Westens etwas entgegenzusetzen, wie es etwa in den Arbeiten von Yu Pei bzw. in dem Beitrag von Dong Xinjie in diesem Band deutlich wird.21 Vor allem postmoderne und postkoloniale Ansätze werden abgelehnt: Erstere zerstörten die Autorität der Partei in der historischen Wissensproduktion, und letztere implizierten, dass auch China Kolonien besessen habe, deren Erbe aufzuarbeiten sei (warum sollte China sonst derlei Ansätze aus dem Westen übernehmen?).22 Diese Kritik kann entweder als Patriotisierung der Geisteswissenschaften oder als Ambition um globale kulturelle Softpower gelesen werden – beides Aspekte, die nicht erst seit dem Machtantritt Xi Jinpings im Jahre 2012 der Kommunistischen Partei Chinas am Herzen liegen. Der Nationalismus bzw. Patriotismus – schon seit Beginn des 20. Jahrhundert Leitfigur in Staat und Gesellschaft – hat sich besonders seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als wirkmächtiger Ersatz der sozialistischen Ideologie herausgestellt. In der offiziellen Geschichtsschreibung bleibt die Nation als Referenzgröße daher auch weitestgehend unhinterfragt. Sie wird nicht als Quellenbegriff verstanden, sondern gilt als maßgeblicher Akteur in der Geschichte.23

In den letzten Jahren erlebte der Marxismus eine Renaissance im Bemühen der Kommunistischen Partei, unter ihrer Führung den Sozialismus zu etablieren. Deutlich wird dies an den wachsenden akademischen und nichtakademischen Publikationen am Buchmarkt und der Gründung zahlreicher Forschungsinstitutionen, die Marxismus im Titel tragen, ergänzt um Schulungen für das Lehrpersonal an den Hochschulen (wobei Marxismus und Nationalismus nicht im Widerspruch zueinander gesehen werden).24 Der Wunsch der Partei nach umfassender ideologischer Kontrolle, der angesichts der rezenten Entwicklungen in Hongkong, aber auch der Zensurversuche wie etwa bei der Cambridge University Press globale Ambitionen offenbart hat25, führt in China zu einer merkbaren Verschiebung des Sag- und Schreibbaren, was sich direkt und konkret auf die Wissensproduktion auswirkt. Die Globalgeschichte ist keine Ausnahme. Trotz der Befunde von Xu Luo und Fan Xin, denen zufolge die Weltgeschichte in China nicht immer als Mittel und Zweck der politischen Ideologie verstanden wurde, hat der politische Druck erheblich zugenommen.26

Was nun eine »Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten« sein soll, ist nicht eindeutig geklärt. Während z.B. die Historical Research (Lishi yanjiu) seit dem Machtantritt von Xi Jinping verstärkt die Bedeutung des Marxismus in den Vordergrund rückt und dessen Rolle im Kampf gegen den Eurozentrismus betont (eine Ironie der Geschichte), so haben Arbeiten, die Konzepte und Ideen aus der traditionellen chinesischen Historiografie bemühen, bis dato weitergehend eher Fallstudiencharakter als umfassenden Anspruch. Einige HistorikerInnen versuchen, traditionelle Vorstellungen vom chinesischen Reich als einer Einheit als Konzepte für die Historiografie und für das Verständnis transkultureller, transnationaler und internationaler Beziehungen wiederzubeleben. Yang Nianqun, ein Spezialist für die Qing-Dynastie, vertritt die Ansicht, daß die Dynastien Chinas die »große Einheit« (dayitong) von einem »alles unter dem Himmel« (tianxia) umfassenden Reich als Prüfstein ihrer Legitimation gemacht hätten; traditionelle chinesische Geschichtstheorie sei von einer graduellen Aufweichung der Dichotomie zwischen »China« (Zhuxia, Huaxia) und den »Barbaren« (yidi) bis hin zur Schaffung einer »großen Harmonie« (datong) durch »Erhebung der Barbaren in den Adelsstand« (yidi jin yu jue) ausgegangen.27 Durch die Implementierung dieser Kategorien ließen sich die traditionellen Streitigkeiten über das Verständnis der Qing-Geschichte als »Sinisierung« oder Bewahrung von »Mandschu-Eigenheiten« überwinden.28 Weitergehend schlägt Zhao Tingyang, ein Philosoph an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in Beijing, den Begriff des tianxia als chinesischen Beitrag zur Weltordnung vor. Demgemäß sei die Welt (shijie) das grundlegende »politisches Subjekt« (zhengzhi zhuti), und ihre Internalisierung (neibuhua) würde zur Schaffung einer geeinten Welt führen, die »alles unter dem Himmel« vereinige.29 Hingegen versucht Li Xuetao, den aus dem Buddhismus stammenden Begriff yuanrong, d.h. »Interpenetration«, für die Globalgeschichte fruchtbar zu machen und derart die Rivalität von Sino- vs. Eurozentrismus zu überkommen. Yuanrong bezeichnet die Aufnahme der Elemente fremder Kulturen, die miteinander kombiniert und integriert werden (wie etwa der Zusammenschluss von Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser), aber dennoch identifizierbar bleiben. Zentral ist der Umstand, dass die Präsenz des Fremden konfliktfrei bleibt.30

Die Frage ist, welche Relevanz der Nation als konzeptuelle Kategorie zugeschrieben werden kann bzw. soll. Wie die Biografien bezeugen, die den vorliegenden Texten beigestellt sind, gehören die AutorInnen zur »international middle class«, einer Klasse, die nach Sebastian Conrad privilegiert ist, globalhistorisch zu denken und zu schreiben.31 Trotz ihrer globalen Mobilität und der Auseinandersetzung mit westlichen Theoriegebäuden bleibt bei ihnen die Nation jedoch ein zentrales epistemisches Prinzip. Sie teilen die Befunde der Forschung in Europa und Nordamerika, dass eine Globalgeschichte ohne Referenz auf den Nationalstaat Prozesse der Globalisierung nicht hinreichend erklären kann.32 Die Gewichtung der Nation wird in den Beiträgen allerdings unterschiedlich vorgenommen, und dies hat Auswirkungen darauf, wie die AutorInnen Aufgabe und Bedeutung der globalen Geschichtsschreibung verstehen.

Zielsetzung des Buchs

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die globalgeschichtlichen Debatten in China aus ihrer Marginalisierung holen, um dadurch fruchtbare Auseinandersetzungen in den häufig noch eurozentrischen Geschichtswissenschaften anzuregen. Es soll – neben einer stärkeren Verankerung globalgeschichtlicher und transnationaler Ansätze in den Regionalwissenschaften – das Bewusstsein für die Notwendigkeit schärfen, dass Arbeiten zu China sich nicht nur auf westlichsprachige Quellen stützen können. Nur derart, wie Margrit Pernau gezeigt hat, lässt sich ein historiografischer Kolonialismus vermeiden.33 Darüber hinaus stellt der Band einen Versuch dar, die anhaltende Asymmetrie des Nichtwissens im Feld der Globalgeschichte zu beheben, die auch auf den geringen Stellenwert von Übersetzungen in der geisteswissenschaftlichen Forschung in Europa und Nordamerika zurückzuführen ist. Während die Arbeiten von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel häufig zeitnah in chinesischer Übersetzung vorliegen (ganz zu schweigen von Publikationen aus dem anglophonen Raum), tauchen die Namen chinesischer HistorikerInnen in Europa und Nordamerika nur selten auf. Übersetzungen bleiben häufig auf vereinzelte Monografien begrenzt, wie etwa Li Bozhongs An Early Modern Economy in China The Yangzi Delta in the 1820s (2021), Lei Haizongs Chinese Culture and the Chinese Military (2020, beide Cambridge University Press), oder die Reihe Brill’s Humanities in China Library. Sie bilden aber nicht die Breite der Debatten ab (weswegen im folgenden Artikel monografischen Arbeiten gegenüber präferiert werden).

Gleiches gilt für Übertragungen, die von dem Chinese Fund for the Humanities and Social Sciences gefördert werden und von Verlagen wie Springer, Palgrave oder Routledge publiziert werden. Sie differieren erheblich hinsichtlich ihrer Qualität, eine Einordnung der Texte sowie notwendige Annotationen fehlen häufig. Ihre Berücksichtigung in hiesigen Debatten wird durch problematische Aussagen erschwert, wenn Mao Zedong zum Beispiel als »outstanding leader of the Chinese revolution« bezeichnet wird,34 ohne dass die politische Verfolgung von Intellektuellen während der Kulturrevolution erwähnt wird, oder sich folgende Äußerungen finden: »Unfortunately, the hegemonistic countries – the United States, for instance – exerts itself to the utmost to establish an America-led unipolar world, wherein the America-style individualism, freedom and civilization can be successfully imposed on other countries. Such an American deliria (sic) actually goes against the tide of history.«35 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Übersetzungen aus China bisweilen einem ideologischen Generalverdacht unterstellt werden.36

Die Texte im vorliegenden Band sind seit 2005 in der Volksrepublik erschienen und werden zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorgelegt. Die Beiträge bieten einen Überblick zu Diskussionen zur Entwicklung der Globalgeschichte, die zentral um die Frage kreisen, welche Rolle China als konzeptuelle Größe noch spielen kann bzw. soll. Wir haben daher auch zwei Texte von Ma Keyao und Ge Zhaoguang aufgenommen, die für ein Verständnis der Kritik am Eurozentrismus und für die Beibehaltung der Nation in der Historiografie grundlegend sind, obwohl sie schon in englischer Übersetzung vorliegen.37 Die Übertragungen sind nicht immer mit den Originalen deckungsgleich: Es sind uns auch Passagen zur Verfügung gestellt worden, die es nicht in das chinesische Original geschafft hatten (und entsprechend gekennzeichnet sind). So liegt Zhang Xupengs Beitrag auch in englischer Fassung vor, die sich aber deutlich von der chinesischen Fassung unterscheidet. Die deutsche Übersetzung ist eine Synthese beider Versionen.38

Bei der Auswahl der Texte wurde darauf geachtet, die Breite und Heterogenität der Debatten wiederzugeben. Sie zeigen unterschiedliche Grade an Konformität zu offiziellen Leitlinien, und ein Blick in die Fußnoten der Beiträge offenbart, wie sich die AutorInnen gegenseitig zitieren bzw. wer übersehen oder ausgeschlossen wird (was wiederum Rückschlüsse auf die Stellung im Feld zulässt). Was die Texte allerdings gemein haben, ist das Fehlen definitiver und programmatischer Aussagen, was Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten eigentlich sein soll. Es bleibt zu hoffen, dass die Auseinandersetzungen darüber trotz zunehmenden politischen Drucks auf den Wissenschaftsbetrieb in China nicht abreißen werden. Es gilt, die immer kleiner werdenden Freiräume zu bewahren und auszuweiten – auch durch uns, indem wir chinesische HistorikerInnen in Formaten wie diesen zu Wort kommen lassen. Ein kommender Band wird sich der »Peripherie« der Volksrepublik annehmen: die Debatten in Hongkong und Taiwan sind weniger ideologisch geprägt, aber deswegen nicht weniger aufschlussreich.

Mit Blick auf die Diversität der AutorInnen ist festzuhalten, dass Universitäten und Forschungseinrichtungen in der Volksrepublik zu einem hohen Grad homogen sind: Globalhistorikerinnen sind in der Minderheit, und noch mehr diejenigen, die einer ethnischen Minderheit angehören. Zu einer Zeit, wo Fragen zur Rolle und Bedeutung des Nationalstaats sowie zur Sicherung der Diskurshoheit in den globalen Geisteswissenschaften immer virulenter werden, bedarf dies – auch wegen der patriarchalischen Strukturen in staatlichen Institutionen – besonderer Beachtung.

Nation und Welt in der chinesischen Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert

Im Jahr 1902 beklagte Liang Qichao (1873–1929), ein Journalist und Reformer der ausgehenden Qing-Dynastie (1644–1911), die vier Grundübel der klassischen Geschichtsschreibung. Sein Beitrag Neue Geschichtswissenschaft (Xin shixue), der im Exil in Japan erschien, formulierte eine radikale Kritik, die zum Leitmotiv im 20. Jahrhundert wurde. Liang zufolge kannte die traditionelle Historiografie nur die Dynastie, aber nicht den Nationalstaat. In den Dynastiegeschichten fänden sich die Heldentaten und Verbrechen einzelner Individuen, das Volk hingegen bleibe ungehört. Die kaiserliche Verwaltung, dem auch die Geschichtsschreibung oblag, habe sich an Ereignissen der Vergangenheit orientiert und die aktuellen Nöte der Gesellschaft übersehen. Die Geschichtsschreibung sei zudem nur an Fakten interessiert, nicht jedoch an Idealen, die handlungsleitend sein hätten können. Diese Grundübel sind aus Liangs Sicht umso erstaunlicher, als sein Land die längste ungebrochene Tradition der Geschichtsschreibung der Welt habe. Seit den Aufzeichnungen des Historikers (Shiji) von Sima Qian (145–90 v.Chr.) seien eine Unmenge an historischen Werken verfasst worden (mehr als ein Mensch zu lesen in der Lage wäre), aber dies seien eben nur Dynastiegeschichten, die nichts mehr darstellen als die Genealogien der Herrschaftshäuser, die völlig irrelevante Ereignisse auflisten. Es sei daher eine Revolution in der Disziplin der Geschichte (shijie geming) nötig.

Die rasante Entwicklung Japans seit der Meiji-Restauration 1868 und die zunehmende Bedrohung Chinas angesichts der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit den imperialistischen Mächten vor Augen betonte Liang die Notwendigkeit, Geschichte als Geschichte von Fortschritt und Evolution zu verstehen. Die Weltlage zu seiner Zeit, da Sozialdarwinismus und Kolonialismus den politischen Diskurs in Ostasien maßgeblich prägten, überzeugte Intellektuelle, Staatslenker und Bürokraten, egal welcher politischen Richtung, die Stärkung der Nation in den Vordergrund zu stellen und den Erfolg der Modernisierung daran zu messen, wie groß der Grad an sozialer Stabilität, wirtschaftlichem Fortschritt und internationaler Sicherheit war. Die Lektüre europäischer Werke, angefangen von Thomas Huxleys (1825–1895) Evolution and Ethics and Herbert Spencers (1820–1903) The Study of Sociology oder Adam Smiths (1723–1790) The Wealth of Nations etablierte diese Konzepte als nationale Größen. Liang zufolge habe die Historiografie zu beschreiben, auf welche Weise Nationen und Nationalstaaten Fortschritt realisieren. Damit bekommt Geschichte einen explizit teleologischen Charakter: Endziel ist die Schaffung einer starken und reichen Nation (fuguo qiangbing), um den Untergang des Landes (wangguo) zu verhindern.39 Grundvoraussetzung dafür war die Etablierung einer Nationalgeschichte, die nicht mehr den Kaiser, die Dynastie oder Biografien von einzelnen Helden und Vorbildern, sondern die Nation als ein Agglomerat von Bürgern in den Vordergrund stelle. Die Umgestaltung Chinas vom Imperium zur Nation, die Schaffung eines neuen Bürgerbewusstseins schuf eine Nationalgeschichte, deren Urtugend das patriotische Denken wurde.

In der Konsequenz wurde Geschichte zu etwas Partikularem und verlor ihren universellen Charakter: Jede Nation verfügte nun über ihre eigene Geschichte, definiert durch eine Korrelation von Zeit und Raum (relevante Themen der nationalen Geschichtsschreibung waren Rasse, Geografie, Beziehung von Raum und Volk, Nachweis einer langen, kontinuierlichen Geschichte der Nation etc.).40 Die Definition der genauen Grenzen Chinas war (und ist es bis heute) dabei nicht unumstritten. Sie hing und hängt primär ab von der Idee der Territorialität und ethnischen Zugehörigkeiten und gestaltete sich im 19. Jahrhundert höchst kontingent, wie das Titelbild dieses Buchs zeigt. Die Karte der Östlichen Hemisphäre in dem 1848 erschienen Werk Einführung in die Weltgeografie von Xi Jiyu (1795–1873) basierte zwar auf geografischem Wissen, das über Hongkong nach China gelangt war, imaginierte China aber noch nicht als einheitlichen politischen Raum: das Kaiserreich war in Provinzen aufgeteilt wie Europa in Nationalstaaten.41 Die Anerkennung der eigenen Partikularität – China war Teil der Welt, und nicht mehr deren Zentrum wie es der Sinozentrismus imaginierte – hatte eine gewichtige, bis heute wirkmächtige Konsequenz: Die chinesische Nationalgeschichte konnte nicht mehr nur aus sich heraus verstanden werden, sondern musste in Relation zum Westen beurteilt werden. Gleichzeitig wurde das universelle Modell von Entwicklung und Fortschritt im Westen verortet, an dem sich in China im Modernisierungsprozess seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kontinuierlich orientiert wurde. In den Dekaden vor der Xinhai-Revolution 1911, die den letzten Kaiser stürzte und die Republik China errichtete, galten Großbritannien, Frankreich und Deutschland als Vorbild. Nach dem Ersten Weltkrieg lösten die USA Europa ab, bevor dann 1949 die Sowjetunion am Horizont auftauchte. Die Orientierung am Westen bedeutete zugleich, dass Moderne als nachzuholende Moderne verstanden wurde.

Mit dem Aufkommen des Marxismus in der zweiten Hälfte der 1910er Jahre wurde die teleologische Geschichtsauffassung auch in ihrer materialistischen Variante durchdekliniert. Während Teile des Kommunistischen Manifests schon 1906 von Zhu Zhixin (1884–1920) in dessen Biografie von Marx und Engels übersetzt wurden und 1908 eine erste Teilübersetzung in der anarchistischen Zeitschrift Natural Justice (Tianyi) erschien, so war der Historiker und spätere Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas Li Dazhao (1888–1927) der erste Marxist, der in seinen Schriften eine umfassende Darstellung des Bolschewismus und Marxismus unternahm. Im Juli 1918 argumentierte er, dass die Oktoberrevolution weitaus progressiver als die Französische Revolution sei, weil 1917 die Revolutionäre nicht mehr von einem engstirnigen Nationalismus geleitet seien: Ihr grundlegender Humanismus bilde die Grundlage für einen möglichen Weltfrieden, dessen Möglichkeit auch dank der Rezeption von Woodrow Wilsons Ideen als realistisches Ziel gesehen wurde. Li Dazhaos antinationalistischer Geist findet seinen Höhepunkt in dem Beitrag »Der Sieg des Bolschewismus« im November 1918, wo er die russische Revolution nicht mehr der erste Schritt in einer Harmonisierung von Ost und West sei, sondern sogar zur Zerstörung der nationalen Grenzen führen würde. Tief überzeugt vom marxistischen Internationalismus der damaligen Zeit sah er den Sieg der Bolschewiken als einen ersten Schritt zu einer weltweiten revolutionären Transformation wo internationale Solidarität und Einheit den Imperialismus in seine Schranken weisen würden.

In seiner Geschichtsschreibung vertrat Li Dazhao die Auffassung, dass das Studium der Geschichte politische Ziele verfolge, eine Annahme, die schon in der Historiografie der Kaiserzeit dominierte. Seine Lektüre von Condorcet offenbarte ihm, dass Aufklärung und sozialer Fortschritt unbegrenzt seien, und die im Marxismus formulierte Gesetzmäßigkeit der Geschichte machten den Sozialismus zu einem unausweichlichen Ziel, gemäß den bekannten Entwicklungsstufen (Urgesellschaft, Sklavengesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus/Kommunismus). Den Nachweis dieser Formationen in der chinesischen Geschichte machte Guo Moruo (1892–1978) zu seiner Aufgabe. Er erklärte in seinen Studien zur Geschichte der antiken Gesellschaft Chinas (1930) die Dynastie der Shang (ca. 1600–1046 v.Chr.) und der frühen Zhou (1046–256 v.Chr.) zu einer Sklavengesellschaft. Gleichzeitig trug die Notwendigkeit, den Marxismus zu sinisieren, dazu bei, dass die nationale Dimension in der Geschichtsschreibung präsent blieb.42 Li löste das Problem der Akzeptanz progressiver Effekte des westlichen Imperialismus für das Ende des feudal-monarchischen Systems dadurch, dass der Widerstand der Bauern, Arbeitern und Triaden der Qing-Zeit als nationaler Widerstand verstanden wurde. Hier kam seine frühere Erkenntnis zum Tragen, dass Fortschritt nur durch das aufgeklärten und zielbewusst agierenden Kollektivsubjekt (d.h., das Volk) zu erreichen sei.43 Die marxistische Geschichtsschreibung teilt damit die von Liang Qichao etablierte Kategorie der Nation und begreift trotz der omnipräsenten Referenzen zu den Volksmassen »China« als den maßgeblichen Akteur der Geschichte, statt die Nation als Quellenbegriff zu verwenden (wie es Julia Angster für Deutschland vorschlägt).44

Die Wende zum Volk war eine zentrale Prämisse der Vierten-Mai-Bewegung, die im Namen von Wissenschaft und Demokratie Aufklärung forderte und sich dezidiert gegen den Konfuzianismus als menschenverachtende Ideologie stellte, wie es der Schriftsteller Lu Xun (1881–1936) und das Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Chinas Chen Duxiu (1879–1942) in ihren Schriften betonten. In der Konsequenz gerieten Tradition und Moderne, Autokratie und Demokratie, Moral und Wissenschaften, sowie Imperium und Nation in dichotomische Opposition zueinander, die einen teleologischen Fortschrittsglauben hervorbrachte, der bis heute dominant ist.

Die Nankinger Dekade (1927–1937) begann mit der Etablierung der chinesischen Hauptstadt in Nanjing, nachdem Chiang Kai-shek (1887–1975) die Warlords besiegt und die Kontrolle über die Republik übernommen hatte. Reformen in der Industrie, dem Bildungswesen und im Militär resultierten in einer politischen und sozialen Stabilisierung, begleitet von Wirtschaftswachstum, die dem Jahrzehnt den Beinamen »Goldene Dekade« verliehen. Chiang berief sich bei seinem Ziel der modernen Nationalstaatsbildung auf das politische Programm von Sun Yat-sen (1866–1925), dessen »Drei Volksprinzipien« (sanmin zhuyi), d.h. Nationalismus, Demokratie und Volkswohlfahrt kurz nach seinem Tod 1925 kanonischen Status erreicht hatten. Die Geschichtsschreibung seiner Zeit war geprägt von der Bewegung des Neuen Lebens (Xin shenghuo yundong), die ab 1934 konfuzianische Werte und kulturelle Traditionen betonte, als Gegenentwurf zur kommunistischen Ideologie, die zunehmend Verbreitung fand.45

Dieser Umgang mit konfuzianischen Traditionen war nicht unumstritten. Das Postulat der Wissenschaftlichkeit historischer Forschung trug zur Stärkung kritischer philologischer Ansätze bei, die als Schule der kritischen Altertumskunde (yigupai) oder historische Quellenschule (shiliao xuepai) bekannt wurden. Anknüpfend an die konfuzianische Schule des evidentiellen Lernens (kaozhengxue) aus der Qing-Zeit (1644–1911) hofften ihre Vertreter, durch penible Arbeit an Primärquellen die authentischen Traditionen Chinas ausfindig und für die moderne chinesische Nation nutzbar zu machen. Hu Shi (1891–1962), die Führungsperson der Vierten-Mai-Bewegung, forderte bei der Suche nach historischer Evidenz die Einnahme einer »Labor-Haltung« und die Anwendung einer letztlich von der Evolutionstheorie auf moralische und kulturelle Entwicklungsprozesse abgeleiteten »genetischen Methode«, für die er sich von John Dewey (1859–1952) inspirieren ließ.46 Einer von Hu Shis wichtigen Beiträgen war die Herausgabe von edierten Quellensammlungen (zhengli guogu), mit denen er die Tradition zu erneuern suchte. Sein Schüler Gu Jiegang (1893–1980) dekonstruierte mithilfe der kritischen Methode die Überlieferungen der Vormoderne als reine Mythen und trug zur Historisierung der Vergangenheit bei.47 Ungeachtet einiger Differenzen in ihrer späteren Laufbahn sahen sowohl Hu als auch Gu diese Neuerschließung und –bewertung der historischen Quellen als wichtigen Beitrag zu einer chinesischen Renaissance an.48

Fu Sinian (1896–1950), ein weiterer Schüler Hu Shis, versuchte, die Philologie durch die Einbeziehung neuester archäologischer Erkenntnisse zu ergänzen, während er gleichzeitig auf strikte Evidenzregeln pochte und jegliche spekulativen Elemente ablehnte. Fu, der an der Universität Peking sowie in Deutschland studiert hatte und aufgrund seines rigiden Ansatzes später als der »chinesische Ranke« bezeichnet wurde, begründete das Institut für Geschichte und Philologie an der Academia Sinica (heute auf Taiwan) und prägte damit die chinesische Historiografie maßgeblich.49

Sein Zeitgenosse Chen Yinke (1890–1969), der auch zu Chinas Ranke ernannt wurde, hatte seit den 1910er Jahren in Berlin, Zürich, Paris und den USA studiert. In Harvard und Berlin lernte er Sprachen des Nahen Ostens, Zentralasiens sowie Mongolisch und Mandschurisch. Diese Kenntnisse schufen die Grundlage für seine spätere Forschung zu den multiethnischen Dynastien der Sui (581–618) und der Tang (618–907), während der der Buddhismus einen Weg nach China fand. Chen betonte die kulturelle Partikularität in der Annahme, alle Kulturen seien prinzipiell gleichwertig.50 Der nationale Geist (minzu jingshen) seines Landes – gegründet auf der konfuzianischen Sozialethik – war nach seiner Lesart nicht etwas essentialistisch gegebenes, sondern Resultat einer historischen Genese, bei der externe Einflüsse einen gewichtigen Einfluss hatten. Aufgabe des Historikers sei es, den nationalen Geist durch empathisches Verstehen fein säuberlich aus den historischen Quellen zu extrahieren. Chen verstand die Historiografie als unpolitischen Akt und versuchte auch, sich von der Politik fernzuhalten, wurde später aber Opfer der politischen Verfolgung in der Kulturrevolution (1966–1976).51

Wie Fus Fall zeigt, war die Herausbildung der oben genannten Schulen eng mit der Institutionalisierung und Professionalisierung der Geschichtswissenschaft verbunden und begleitete damit die tiefgreifende Transformation der Geschichtswissenschaften in den 1920 bis 1940er Jahren.52 Die Zahl der Geschichtsfakultäten an chinesischen Bildungseinrichtungen nahm rasant zu, wobei ihnen noch eine zentrale Aufgabe zukam: der Schreibung einer chinesischen Nationalgeschichte. Neben den kritischen Quellenstudien bildete sich dabei eine zweite maßgebliche Strömung an professionellen Historikern heraus, nämlich die Geschichtsanschauungs-Schule (shiguan xuepai), die sich um Erklärungen für die großen Zeitläufte der Geschichte bemühten. Aus dieser Strömung kamen schließlich die maßgeblichen marxistischen Historiker der Republik- und frühen volksrepublikanischen Zeit, wie Fan Wenlan (1893–1969), Jian Bozan (1898–1968, uighurischer Abstammung) und Guo Moruo (1892–1972).53

Im Jahr 1925 veröffentlichte Fan Wenlan seine Neue Geschichte Chinas, in der er den Taiping-Krieg (1850–1864) als Krieg der Bauern gegen die Feudalherren sowie die Boxerrebellen von 1899 bis 1901 als Kämpfer des Volks gegen ausländische Mächte begriff.54 Fan, der erste marxistische Historiker Chinas, etablierte die Prinzipien der marxistischen Historiografie in China und ersetzte den Idealismus durch den Materialismus als Geschichtsphilosophie. Seine Arbeiten fanden Mao Zedongs Zustimmung, so dass ihm 1950 die Leitung des Instituts für Moderne Geschichte an der Akademie der Wissenschaften übertragen wurde. Im Jahr 1957 wies Fan auf die fundamentalen Unterschiede zwischen China und Westeuropa hin, denen beiden jeweils eine eigene Geschichte zu eigen sei. Die Annahme, die westliche Entwicklung sei universell, würde nicht nur die Partikularität der chinesischen Geschichte negieren, sondern auch die Geschichte verfälschen, wenn Fakten ignoriert werden.55

Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 wurden Klassenkampf, historischer Materialismus und Dialektik zu maßgeblichen Leitlinien in Kanon und Lehrplänen der Geschichtswissenschaften. Für die Jahrzehnte bis zum Ende der Kulturrevolution waren die fünf folgenden Themengebiete (auch genannt die »Fünf Goldenen Blumen«, wuduo jinhua) dominierend, nämlich die Periodisierung der alten Geschichte Chinas, Formen des Landbesitzes in der Zeit des Feudalismus, Bauernkriege, das Aufkommen des Kapitalismus in der chinesischen Geschichte, und die Entstehung der Han-Ethnie.56 Die Debatten der 1950 und 1960er Jahre waren geprägt von der Frage, in welchen Zusammenhang historische Fakten (d.h. die Ereignisse auf chinesischen Boden) und historiografische Theorie standen. Die Schwierigkeit, beide miteinander zu versöhnen, war Teil intensiver Debatten, an denen Historiker wie u.a. Fan und Jian Bozan beteiligt waren.57

Obgleich die Rezeption sowjetischer Texte die kommunistische Revolution als Weltrevolution forderte, so betonten die chinesischen Erfahrungen die zentrale Bedeutung des Widerstands gegen Kolonialismus und Imperialismus für den historischen Fortschritt. Ereignisse wie die Opiumkriege, Unterzeichnung der zahlreichen ungleichen Verträge, die japanische Besatzung in der Mandschurei (1931) und die folgenden Invasionen nach Süden (ab 1937), der Lange Marsch (1934/35), sowie der Bürgerkrieg gegen Chiang Kai-shek nach 1945 wurden zu einem Narrativ verwoben, das die Wiederherstellung der nationalen Souveränität auf dem Festland und die Befreiung von Feudalismus, Kapitalismus und Imperialismus am 1. Oktober 1949 als Ergebnis des Kampfes der KPCh präsentiert. Diese Interpretation fand Eingang in den Kanon der Geschichtswissenschaften, als die Volksrepublik sich Anfang der 1950er Jahre an der Sowjetunion orientierte und von dort weltgeschichtliche Ansätze übernahm.

Die Anfänge der Welt- und Globalgeschichte in China

Im Jahr 1962 publizierte Wu Yujin (1913–1993), zusammen mit Zhou Yiliang (1913–2001), der an der Harvard University mit einer Arbeit über den Tantrismus in China promoviert worden war, das Lehrbuch Allgemeine Geschichte der Welt (Shijie tongshi). Es folgte dem stalinistischen Modell der fünf Stufen der Weltgeschichte, wonach sich die Menschheit von der primitiven (kommunalen) Gesellschaft und der Sklaverei über den Feudalismus, den Kapitalismus und den Sozialismus (und schließlich den Kommunismus) entwickelt. Es war so stark von der sowjetischen Weltanschauung und dem historischen Materialismus beeinflusst, dass es eine Reihe fragwürdiger Behauptungen enthielt, wie z. B. die Tatsache, dass die antike Weltgeschichte in erster Linie eine Geschichte des Klassenkampfes zwischen Sklaven und Sklavenhaltern gewesen sei (wie es im Vorwort heißt). Das Lehrbuch wurde auch von Geoffrey Barracloughs History in a Changing World (1955) beeinflusst. Sowohl Wu als auch Zhou betrachteten die Arbeit des britischen Historikers als notwendiges Korrektiv zum Eurozentrismus, der sich in ihrer Allgemeinen Geschichte der Welt widerspiegelt. Das auf vier Bände angelegte Werk war das erste umfassende Werk zur Weltgeschichte in China. Obgleich Wu Yujin sich eng an das sowjetische Modell anlehnte, wies er auf dessen schwerwiegende Mängel hin, wobei für ihn der Eurozentrismus sowohl in Bezug auf den Umfang als auch auf das analytische Schema am deutlichsten hervortrat.

Problematisch ist in dem Lehrbuch zudem der Umstand, dass China nicht als Untersuchungsgegenstand erscheint, obwohl seine Nachbarländer wie Japan, Korea und Vietnam einbezogen werden. Weltgeschichte wurde hier als Geschichte des Auslands verstanden und nicht notwendigerweise mit der Vergangenheit des eigenen Landes in Kontext gesetzt. Die Übersetzungen zahlreicher Geschichtswerke aus dem Russischen etablierte Weltgeschichte – shijieshi – als Teildisziplin in den Geschichtswissenschaften, die deutlich zwischen der eigenen Geschichte und der Geschichte des Auslands (waiguoshi bzw. Geschichte des Westens, xiyangshi) unterschied. Weltgeschichte beinhaltete, mit Ausnahme der Geschichte der Kommunistischen Internationalen, die Geschichte der Welt ohne China.58 Die konzeptuelle und institutionelle Trennung blieb auch nach dem Bruch mit der Sowjetunion im Jahr 1961 bestehen, als HistorikerInnen sich vermehrt den Staaten in der Dritten Welt zuwandten. In den 1970er Jahren erschienen zahlreiche Übersetzungen von Ländergeschichten, wie etwa die des Maghreb oder Ruandas und Burundis (aus dem Französischen), Paraguays, Maltas und den Bahamas (aus dem Englischen) oder des Vatikans (aus dem Russischen) usw.

Die Nation blieb damit auch in der neuen Auseinandersetzung mit der Außenwelt die maßgebliche Referenzgröße.Hier findet die disziplinäre Organisation der Geschichtswissenschaften ihre Fortsetzung aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Zu einer Zeit, in der Nationalstaaten die primären Akteure im globalen Imperialismus und damit auch in China waren, war die intellektuelle Elite auf der Suche nach dem Geheimrezept für militärische Stärke und wirtschaftlichen Reichtum, die die imperialistischen Mächte China gegenüber überzeugend zur Schau gestellt hatten. In der Volksrepublik blieb die Weltgeschichte die Summe von Einzelgeschichten, die sich an den nationalen Grenzen der Untersuchungsobjekte orientieren (Geschichte Deutschlands, Frankreichs, Englands etc.). Eine Untersuchung ihrer Verbindung, Interaktion oder Vernetzung geschieht auch heute nur in Ansätzen, da HistorikerInnen in der Regel nur in einer Fremdsprache trainiert sind.

Während das Verständnis von Weltgeschichte als aggregierte Nationalgeschichten prinzipiell bis heute vorherrschend geblieben ist, ist sie doch den tektonischen Verschiebungen ihrer ideologischen Prämissen ausgesetzt gewesen. Mit Beginn der Reform-und-Öffnungspolitik Ende der 1970er-Jahre verlor der Marxismus in den Geisteswissenschaften an Bedeutung. Nach dem Sturz der sogenannten Viererbande 1976 und dem Beginn der Reform-und-Öffnungsperiode 1978 wurde das Paradigma von Klassenkampf und Revolution abgelöst durch die Leitlinie der Modernisierung, die nach Vorstellungen von Deng Xiaoping in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und den Wissenschaften herrschen solle. Für Universitäten und Forschungseinrichtungen bedeutete der Abschied von der Revolution, dem die Philosophen Li Zehou und Liu Zaifu mit ihrem gleichnamigen Buch ein Denkmal setzten59, die Rückkehr von Freiheit in Forschung und Lehre, die als radikale Wende empfunden wurde (auch wenn politische Interventionen und Zensur nie wirklich absent waren, gelten die Dekaden vor 2012 als die liberalste Phase, nach der sich aktuell viele Forscher und Forscherinnen zurücksehnen).

Die Öffnung zum Westen führte dazu, dass die Politikgeschichte der Sozial- und Kulturgeschichte gegenüber zunehmend ins Hintertreffen geriet. In den 1980er Jahren lieferte die Kulturgeschichte wichtige Anstöße, das Kulturfieber (wenhuare) schuf die Voraussetzungen für die Wiederentdeckung der alten Traditionen – Konfuzianismus, Volksreligion, lokale Sitten und Gebräuche – als Quelle kollektiver Identität. Die ideologische Krise, die von den Tiananmen-Protesten von 1989 geprägt und durch den Zusammenbruch der Sowjetunion verstärkt wurde, weckte immer größere Zweifel an der Überlegenheit des Sozialismus. Zur Sicherung der eigenen Legitimität forcierte die Kommunistische Partei die Erziehung zum Patriotismus in der gleichnamigen Kampagne, die noch stärker das historische Erbe und die kulturellen Traditionen als distinkt chinesisch definierte und entsprechend in den Medien, den Lehrplänen und der Populärkultur festschrieb.

Die GeisteswissenschaftlerInnen reagierten in den 1990er Jahren auf die Krise mit einem nahezu explodierenden Interesse an den Theorie- und Methodendebatten im Westen. Sie übersetzten und rezipierten die Ansätze der Regionalgeschichte, Umweltgeschichte, quantitative Methoden der Sozialgeschichte, die Neue Sozialgeschichte, die französische Annales-Schule, Globalisierungs- und Modernisierungstheorien etc. Die Diskussionen zu den zahlreichen Wenden, vom linguistic turn und cultural turn bis zum translational turn und postcolonial turn, sorgten für eine Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft, die so groß wurde, daß die resultierenden Publikationen als zu kleinteilig kritisiert wurden. Besonders die Historiker der älteren Generation, die ihre akademische Sozialisierung noch in der Mao-Zeit erfahren hatten, sahen diese Ausdifferenzierung als problematisch. Postmoderne Ansätze, die sich der Erfindung von Traditionen, historische Erinnerungen, Intertextualität, Diskursanalyse, Gendergeschichte, oral history, Geschichte von unten etc. widmeten und beispielsweise von Sun Jiang und Yang Nianqun in ihrer Neuen Sozialgeschichte popularisiert wurden, galten als subversiv. Sie entdeckten neue AkteurInnen der Geschichtsschreibung, was im Umkehrschluss die agency der Kommunistischen Partei dahingehend reduzierte, das »richtige« Narrativ in der Gesellschaft durchzusetzen.

Dasselbe trifft auch auf die Globalgeschichte zu. Die Einbettung der chinesischen Geschichte in globale Kontexte, so die Befürchtung bei marxistischen Historikern wie Yu Pei, würde die Grenzen des Landes nach außen aufweichen und durchlässig machen, so dass die Existenz der Nation nicht länger gesichert sei. Er lehnt die Globalgeschichte auch deswegen ab, weil sie im Westen ein Resultat der postkolonialen Wende gewesen sei: Da China nie Kolonien besessen habe, sei die Übernahme dieses Ansatzes kein unbedingtes Desiderat.60 Die Rezeption der Arbeiten von Immanuel Wallerstein, Kenneth Pomeranz, Andre Gunder Frank, Geoffrey Barraclough, William McNeill, Leften Stavrianos, Bruce Mazlish oder Jerry Bentley war, wie die folgenden Texte zeigen, geprägt von der Frage nach der Rolle der Nation im Globalen, wobei die von Yu Pei geäußerten Sorgen eher ein rezentes Phänomen sind. In der postkulturrevolutionären Ära haben sich sukzessive vier globalgeschichtliche Ansätze herausgebildet.

Im Jahr 1990 schrieb Wu Yujin in seiner Einführung zur Encyclopedia of China – Foreign History Volume, dass die Welt als ein verbundenes Ganzes zu verstehen sei. Er setzte die chronologische Evolution in eine dialektische Beziehung mit der horizontalen Vernetzung der Regionen der Welt, die charakterisiert war durch Austausch von Waren, Menschen und Ideen. Der Fortschritt der materiellen Produktion und die Bewegung vom vereinzelten zur geeinten Totalität erklärt er in diesem Zusammenhang mit den marxistischen Theorien der Weltgeschichte und sozialer Entwicklung.

Luo Rongqu (1927–1996) führte seinen Ansatz auf die marxistische Modernisierungstheorie zurück, wo historische Entwicklung auf die monistische, multilineare Theorie (yiyuan duoxian lishi fazhanguan) beruht, d.h. wo monistisch die sozialen Produktionskräfte die materielle Basis für gesellschaftliche Entwicklung und wirtschaftliche Transformation darstellen. Multilinearität nimmt die Heterogenität der Welt in den Blick, da es in jeder Gesellschaft multiple soziale und natürliche Faktoren gebe. In der Konsequenz lehnt er die westliche Modernisierungsmodell ab: Genauso wie verschiedene Länder sich in verschiedenen Entwicklungsstadien befinden, so weichen ihre Entwicklungspfade voneinander ab. Modernisierung besitze daher einen multidimensionalen und dynamischen Charakter, die global gesehen sich in drei Phasen verbreitet habe: von England und Westeuropa im späten 18. Jahrhundert zu Osteuropa und Russland von Mitte des 19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bis hin Ostasien und Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg.61

Die dritte Variante, die Zivilisationsaustauschtheorie von Peng Shuzhi (geb. 1931)62 und Ma Keyao (geb. 1932)63, sieht nicht länger Nationen oder Regionen als Einheiten der Untersuchung, sondern Zivilisationen, deren Interaktion und Austausch die menschlichen Gesellschaften in ihrer Entwicklung voranbringt, sei es auf friedvolle Weise oder nicht. Ihre Theorie ist der Versuch, die marxistischen Theorien von Austausch und Produktionskräften zu kombinieren und auf die Gesamtheit der Menschheit anzuwenden.

Die vierte Lesart, die in den vergangenen zehn Jahren am stärksten Beachtung und Verbreitung gefunden hat, ist die globalhistorische Perspektive, die von Liu Xincheng entscheidend geprägt wurde. Sie lehnt den Rückgriff auf marxistische Elemente ab und zeichnet sich vielmehr durch eine Reinterpretation westlicher Modelle aus, die ab Mitte der 1990er Jahre in China immer verbreiteter wurden. Liu, der 2004 das Global History Center an der Capital Normal University in Beijing gegründet und im selben Jahr die erste internationale Konferenz zu Globalgeschichte in China organisiert hatte, entwickelte und förderte die Weiterentwicklung der globalhistorische Perspektive in der von ihm gegründeten Zeitschrift Global History Review (Quanqiushi Pinglun, erscheint seit 2008). Ein zentrales Argument in seinen Schriften ist die Ablehnung des Eurozentrismus. Auch wenn die Globalgeschichte ein Resultat der Globalisierung sei, so dürften bei aller Konzentration von Transfer und Interaktion nicht der historische Wandel übersehen werde, der auf innerstaatlichen Faktoren zurückgehe.64

Die Gewichtung von inneren und äußeren Faktoren, geprägt durch das Paradigma Western impact – Chinese response, ist ein zentrales Merkmal der globalgeschichtlichen Diskussionen der zurückliegenden zwanzig Jahre. Yu Pei zufolge darf Globalgeschichte nicht als normativer Forschungsansatz verstanden werden, denn eine allzu naive Akzeptanz würde neokolonialen Ambitionen des Westens, den Diskurs global zu determinieren, Tür und Tor öffnen. Die Globalgeschichte sei ein homogenisierender und universalisierender Ansatz, der die Welt als ein organisch Ganzes verstehe, wo kulturelle und politische Differenzen keine Rolle mehr spielen bzw. aufgelöst werden. Yu wendet sich explizit gegen einen solchen Hegemonieanspruch westlicher Theorien, da der Verlust der eigenen Geschichte und Erinnerung nur in dem Untergang der Nation enden kann.65 In ähnlicher Manier weist Wu Xiaoqun darauf hin, dass Globalisierung ein Prozess der Verwestlichung sei, wo Moderne gleichgesetzt werde mit der Durchsetzung westlicher Werte und Ideale. In diesem Sinne ist die globale Perspektive nicht weniger als der Versuch, die Expansion der westlichen Zivilisation zu beschreiben, die den eigenen Prinzipien der Rationalität, Wissenschaftlichkeit und Fortschritt folgt. Die Perspektive der Peripherie geht dementsprechend verloren, wenn die kulturelle Hegemonie des Westens nicht herausgefordert wird durch die Zivilisationszentren außerhalb Europas und Nordamerikas.66

Im Zentrum der Debatte zu den Zielen der Globalgeschichte in China steht, wie die Beiträge in diesem Band zeigen, das spannungsreiche Verhältnisse von Nation und Welt. HistorikerInnen, die sich aus bekannten Gründen gegen eine zu starke Orientierung an den westlichen Geisteswissenschaften verwahren, verweisen darauf, dass die Globalgeschichte Gefahr läuft, unterschiedliche, lokal situierte Narrative durch ein einziges zu ersetzen. Die Befürchtung, dass Globalisierung und globale Verflechtung einer Verwestlichung Vorschub leisten, gründet auch in der Beobachtung, dass kulturübergreifende Interaktion – sei es Migration, imperiale Expansion und Fernhandel – nie bidirektional, sondern in den allermeisten Fällen nur monodirektional ist (so Zhang Xupeng in seinem Artikel). Die Unmöglichkeit, eine Globalgeschichte zu formulieren, die alle regionalen und kulturellen Differenzen, Wertvorstellungen, Vorstellungen von Moderne, Perspektiven und Positionalitäten von ForscherInnen integriert und dabei gleichzeitig jede Form des Ethnozentrismus vermeidet, ließ Chen Xin erkennen, dass die Bedeutung der Weltgeschichtsschreibung darin liege, möglichst viele Varianten zu verfassen, welche die Vielschichtigkeit der Geschichte der Welt reflektiert.67

Die Versuche, eine Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten zu formulieren, geschieht in den aktuellen Debatten immer in Abgrenzung zu den Ansätzen aus Nordamerika und Europa (während Diskussionen aus dem Globalen Süden weitestgehend ausgeblendet werden). Trotz der Ambitionen des Parteistaats in den vergangenen Jahren, den Diskurs in eine bestimmte Richtung zu bewegen, steht eine eindeutige Definition noch aus. Der vorliegende Band präsentiert neun Artikel der vergangenen zwei Dekaden, die den Diskurs maßgeblich beeinflusst haben. Er versteht sich als Beitrag dazu, die Diskussionen zu Theorie und Methode der Globalgeschichte zu bereichern, in interdisziplinärer und transnationaler Hinsicht: zum einen, um den Dialog zwischen den Geschichtswissenschaften und der Sinologie zu stärken, zum anderen, um chinesische Stimmen am Diskurs teilhaben zu lassen und gleichzeitig die Asymmetrie des Wissens zumindest teilweise zu beheben.

Weiterführende Literatur zur Geschichte der Geschichtsschreibung in China

Dabringhaus, Sabine, Geschichte Chinas 1279 – 1949 (München: Oldenbourg, 2009).

Dirlik, Arif, Revolution and History: The Origins of Marxist Historiography in China, 1919–1937 (Berkeley: University of California Press, 1978).

Duara, Prasenjit, Rescuing History from the Nation: Questioning Narratives of Modern China (Chicago: University of Chicago Press, 1995).

Leutner, Mechthild, Geschichtsschreibung zwischen Politik und Wissenschaft. Zur Herausbildung der chinesischen marxistischen Geschichtswissenschaft in den 30er und 40er Jahren (Wiesbaden: Harrassowitz, 1982).

Li Huaiyin, Reinventing Modern China: Imagination and Authenticity in Chinese Historical Writing (Honolulu: University of Hawaii Press, 2012).

Moloughney, Brian und Peter Zarrow (Hg.), Transforming History: The Making of a Modern Academic Discipline in Twentieth-century China (Hong Kong: Chinese University Press, 2012).

Tang Xiaobing, Global Space and the Nationalist Discourse of Modernity: The Historical Thinking of Liang Qichao (Stanford: Stanford University Press, 1996).

Wang, Q. Edward und Georg G. Iggers (Hg.), Marxist Historiografies: A Global Perspective (London and New York: Routledge, 2015).

Wang, Q. Edward und On-Cho Ng (Hg.), Mirroring the Past: The Writing and Use of History in Imperial China (Honolulu: University of Hawaii Press, 2005).

Ausgewählte Texte chinesischer GlobalhistorikerInnen

Die Geschichte Chinas in der Globalgeschichte (2005)68

Zhang Weiwei

Die Geschichte Chinas ist ein Teil der Globalgeschichte. Darüber scheint es keinen Zweifel zu geben. In China wird jedoch aufgrund der traditionellen und eindeutigen akademischen Trennung zwischen chinesischer Geschichte und Weltgeschichte erstere nur selten vertieft als Teil der Weltgeschichte analysiert. Durch ihre Ausbildung und Wissensstruktur beschränkt, betrachten ForscherInnen der chinesischen Geschichte die Interaktionen Chinas mit der Außenwelt häufig als externen Austausch, und trotz der zunehmenden Aufmerksamkeit für und Vertiefung der Forschung in diesem Bereich, bleibt sie meist auf der Ebene konkreter Austausche und Vergleiche stehen. Die Forschung zur »Weltgeschichte« wiederum schenkt ihre Aufmerksamkeit dem Ausland; die Beschäftigung mit China und zudem oft auch die Wertschätzung für den Platz Chinas in der Globalgeschichte sind nicht ausreichend. Obwohl alle von WissenschaftlerInnen unseres Landes verfassten Weltgeschichten einen Abschnitt über China enthalten, ist dieser Abschnitt in der Regel vergleichsweise simpel und legt das Hauptgewicht häufig einseitig auf den Aspekt der Beziehungen und des Austausches: in der Antike steht der Einfluss der chinesischen Zivilisation auf das Ausland im Vordergrund; in der modernen Geschichte werden der Widerstand und die Kämpfe hervorgehoben, die sich aus der Invasion Chinas und der damit verbundenen ausländischen Einflüssen ergaben, sowie die Auseinandersetzungen mit den fremden Kulturen in China. Diese Situation führt dazu, dass in unserem Land die Geschichte Chinas in der Weltgeschichte sich in einer beklagenswerten und misslichen Lage befindet: Sowohl ForscherInnen der chinesischen Geschichte als auch solche der Weltgeschichte bringen dem nicht genügende Achtung entgegen.

Solch eine Situation hat sowohl historische als auch praktische komplexe Gründe. Das ist verständlich. Das Problem ist jedoch: Stärkt man nicht die Forschung zur chinesischen Geschichte in der globalen Geschichte, ist dies weder der Forschung zur chinesischen Geschichte noch zur Globalgeschichte unseres Landes dienlich. Ich denke, es ist an der Zeit, dieses Problem ernst zu nehmen. Wir haben jetzt auch bessere Voraussetzungen dafür, Forschung zur chinesischen Geschichte als Teil der globalen Geschichte erfolgreich zu betreiben. Wir haben nicht nur das Bedürfnis, sondern auch die Möglichkeit dazu. Nur derart können wir besser mit der internationalen akademischen Gemeinschaft auf gleicher Augenhöhe kommunizieren, gemeinsam eine neue Globalgeschichte schaffen und die Erforschung der chinesischen Geschichte vertiefen.

Zentrismus und China

Zentrismus ist ein historisches Phänomen, das aus dem Regionalismus und den kognitiven Beschränkungen der Menschen resultiert. Dies hat zur Entstehung des »Eurozentrismus« mit dem »Mittelmeer« als Zentrum, des »Sinozentrismus« mit der chinesischen Zentralebene (zhongyuan) als Zentrum oder zu Zentrismen mit anderen Zivilisationen im Kern geführt. Genau wie bei der historischen Debatte darüber, ob das Universum nun »geozentrisch« oder »heliozentrisch« sei, weiß man heute endlich, dass das Universum zentrumslos ist und dass das Sonnensystem nur schwebender Staub in einem riesigen Universum ist.

Da die Weltgeschichte von Europäern geschaffen worden ist, hatte immer der »Eurozentrismus« das Sagen. Peter Gran stellte fest: »Die Behauptung, dass der Eurozentrismus die Grundlage der Weltgeschichtsschreibung ist, kann man leicht aus der historischen Forschung und der historischen Theorie ersehen. Europäer, insbesondere die Deutschen, haben die moderne Geschichtsschreibung erschlossen. Sie haben die Geschichtswissenschaft in verschiedene Forschungsbereiche eingeteilt, von denen die Weltgeschichte einer ist.«69 Auch Luo Rongqu meint dazu: »Die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Ansicht, dass Griechenland und Rom das Zentrum der antiken Welt gewesen seien und die christliche Zivilisation den Hauptteil der Weltzivilisation ausmache, ist der Ausdruck einer engen eurozentrischen Weltsicht. Das entspricht nicht der Realität der Weltgeschichte«.70 In einer »eurozentrischen« Weltgeschichte scheint es unbestreitbar, dass China in der Antike »fortgeschritten« und in der Neuzeit »rückständig« war, besonders im Vergleich zu Europa. Wie lange China jedoch »fortgeschritten« blieb und wann es begann, »zurückzufallen« oder »abzusteigen«, ist Ansichtssache und Gegenstand heftiger Diskussionen.

Der Autor von The Wealth and Poverty of Nations, David S. Landes, führt aus: »China war bis vor 1000 Jahren der Nabel der Welt, das wohlhabendste und bevölkerungsreichste Reich der Erde, vor 300 Jahren noch Gegenstand der Bewunderung, verkam danach aber zum Objekt von Spott und Mitleid«.71 Weiterhin schrieb er: »Bis vor kurzem war der Schlüsselfaktor – die treibende Kraft – in den tausend und mehr Jahren dieses Prozesses, den die meisten Menschen als Fortschritt betrachten, die westliche Zivilisation und ihre Verbreitung: das Wissen, die Technologie, die politischen und sozialen Ideologien, sowohl im guten als auch im schlechten. Diese Verbreitung erfolgt zum Teil durch westliche Dominanz, denn Wissen ist gleich Macht, zum Teil durch Verbreitung westlichen Wissens oder durch Nachahmung. Die Verbreitung war ungleichmäßig, und viele westliche Vorbilder wurden abgelehnt, weil sie als Aggressoren angesehen wurden.«72 In Wallersteins »Zentrum/Peripherie«-Modell des modernen/kapitalistischen Weltsystems »entstand die europäische Weltwirtschaft im sechzehnten Jahrhundert«,73 und China schaffte es zu dieser Zeit noch nicht einmal in die »Peripherie«.

Als konkurrierende Ansicht zum »Eurozentrismus« von Wallerstein und anderen argumentiert Andre Gunder Frank (1929–2005) in ReORIENT: Global Economy in the Asian Age,74 dass zwischen 1400 und 1800 »das gesamte Weltwirtschaftssystem in Wahrheit China zum Zentrum hatte«.75 Es habe sich um »eine Art Hierarchie mit allerlei Zentren« gehandelt, »wobei an der Spitze wahrscheinlich China stand«.76 Robert B. Marks stimmt dem zu: »Das Wichtigste ist: Der Wirtschaftsmotor, der den globalen Handel ankurbelte, der zum Austausch von Ideen, neuen Nahrungsmitteln und Fertigwaren führte, lag in Asien. Wahrscheinlich schon um 1000 n.Chr. stimulierte Chinas Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum den gesamten eurasischen Kontinent, und ein weiterer Höhepunkt begann um 1400 und dauerte bis etwa 1800. Asien war die Quelle für eine große Nachfrage nach Silber, das zur Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und Indiens verwendet wurde, und es war die weltweit größte Quelle für Fertigwaren (besonders Textilien und Porzellan) und Gewürze«.77 »Man kann getrost behaupten, dass die Rolle der Europäer in der Weltwirtschaft ohne die chinesische Nachfrage nach Silber mit Sicherheit stark geschwächt worden wäre. Das Ergebnis war, dass die chinesische Nachfrage nach Silber und das amerikanische Angebot an Silber es den Europäern ermöglichten, sich zu bereichern, indem sie sich auf asiatische Waren und Handelsnetze stützen konnten«.78 Außerdem »zog« China »Silber aus der ganzen Welt an und überschwemmte den Weltmarkt mit chinesischen Fertigwaren«.79 Darum »war Asien vor 1750 oder 1800 das unbestrittene Zentrum der Welt, was die Bevölkerung, die Industrie und die landwirtschaftliche Produktivität anbelangt.«80 Howard Spodek stellte außerdem fest: »Mexiko und Südamerika produzierten zwischen 1550 und 1800 über 80% des weltweiten Silbers und über 70% des Goldes… Zwischen einem Drittel und der Hälfte des zwischen 1527 und 1821 in Amerika produzierten Silbers floss nach China. Der mexikanische Peso wurde in China zu einem gesetzlichen Zahlungsmittel.«81

In einer Email, die mich 2001 erreichte, schrieb Andre Gunder Frank: »Ich habe mich nun daran gemacht, eine Fortsetzung des vorherigen Buches für das 19. Jahrhundert zu schreiben. Ich schreibe es im Augenblick ab 1816, aber vielleicht muss ich noch einmal bis 1750 zurückgehen. Und es ist gut, dass ich immer mehr die von Ihnen beschriebenen Umstände entdecke (in meiner Antwort hatte ich ihn gebeten zu überlegen, ob der »Niedergang« der asiatischen Länder später stattfand, als er in seinem Buch ReORIENT geschätzt hatte); besonders im Fall von China denke ich jetzt, dass der ›Niedergang‹ vielleicht erst um 1860 begann und außerdem, dass die Opiumkriege uns – und viele Chinesen, aber ich bin froh, dass Sie nicht dazu gehören (in meinem Brief an ihn hatte ich darauf hingewiesen, dass Chinas militärische Niederlage in den Opiumkriegen die Illusion schuf, dass seine aggregierte nationale Stärke derjenigen der europäischen Länder unterlegen war – der Autor) – dazu verleitet hat, fälschlich anzunehmen, dass der Niedergang viel früher begonnen habe, als er tatsächlich war.«82

Wenn man es so betrachtet, wurde Chinas Platz in der Globalgeschichte entweder zu gering eingeschätzt oder überbewertet, und es gibt auf beiden Seiten eine klare Tendenz, darüber streiten zu wollen, wo der Motor der Weltwirtschaft denn nun liege. Es ist nicht verwunderlich, dass Landes in Ansehung der Schriften, die den Eurozentrismus seit den 1980er Jahren angreifen, beklagt: »In einer Welt relativistischer Werte und moralischer Gleichheit wird die bloße Idee einer westlich-zentrierten (eurozentrischen) Globalgeschichte als arrogante und unterdrückerische Meinung verurteilt«.83 Er meint: »Diese Art anti-eurozentrischen Denkens ist einfach antiintellektuell und widerspricht auch den Tatsachen«.84 Als ich Frank im Jahr 2002 per E-Mail fragte, warum er und Robert Marks die Rolle der Europäer in der Globalgeschichte (nicht nur in der Wirtschaft) abwerteten und den »Eurozentrismus« mit einem »China/Asien-Zentrismus« herauszufordern versuchten, antwortete Frank: »Weil vor meinem Buch alle anderen das andere, noch weniger zu rechtfertigende Extrem vertraten. Vielleicht habe ich die Tatsache etwas zu sehr betont, dass es nicht ganz normal war, wie ich zuvor völlig abgelehnt worden war.«85 Meiner Meinung nach haben sie ein wenig überkorrigiert, und Frank ist sich dieser Voreingenommenheit durchaus bewusst gewesen, als er in seinen Schriften sowie in seinen Gesprächen und seiner E-Mail-Korrespondenz mit mir mehrmals hervorhob, er sei ein »Azentrist«. Anscheinend konnte er nicht anders.

»Zentrismen« richten keinen geringen Schaden an. Ich bin der Ansicht: »Die Globalgeschichte hat kein Zentrum; sie ist die ganzheitliche Entwicklung der Menschheit in ihrer vielfältigen Einheit«.86 Der wirtschaftliche Motor, der den Welthandel antreibt, ist weder »asiatisch« noch »europäisch«, sondern »global« in seinem Zusammenspiel. Daher meint der Autor, dass der Azentrismus die vernünftige Alternative zu jedem Zentrismus ist, und dass nur aus der Perspektive des Azentrismus die Position und die Rolle der verschiedenen Regionen als funktionale Körper oder »unbewusstes Werkzeug der Geschichte«87 in der Globalgeschichte korrekt bewertet werden können.

Vergleiche und Vergleichbarkeit zwischen China und dem Westen

Vergleiche zwischen China und dem Westen sind seit jeher in der Forschung beliebt, entweder zwischen China und Europa (Westeuropa), zwischen China und irgendeinem europäischen Land (z.B. England), zwischen irgendeiner Region Chinas (z.B. dem Yangtse-Delta) und einem europäischen Land oder einer europäischen Region, oder in Bezug auf ein bestimmtes Gebiet (Klima, Kulturpflanzen, Technologie, politisches System, Wirtschaftsstruktur usw.). In der Tat zeigen diese Vergleiche viele Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf und vertiefen das Verständnis für die beiden jeweiligen Einheiten. Je mehr jedoch verglichen wird, desto verwirrter wird man, als ob man sich in einen Teufelskreis oder eine Sackgasse begeben hätte, so dass der Vergleich wiederum noch mehr unklare Probleme hinterlässt. So argumentieren die Autoren und Herausgeber des Buches 500-jähriger Vergleich von China und dem Westen: »An der Schwelle zum 15. und 16. Jahrhundert, da das alte China seinen letzten Angriff zur Überwindung des Mittelalters unternahm, holte der Westen auf, kam unbemerkt an unsere Seite und kam auf die gleiche Startlinie zu stehen wie wir«.88 Waren wir wirklich »auf der gleichen Startlinie«? Dem wage ich tatsächlich nicht zuzustimmen.