Glossar der Gegenwart 2.0 -  - E-Book

Glossar der Gegenwart 2.0 E-Book

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Beschreibung

Fortsetzung eines Grundlagenwerks zur Semantik der Gegenwart

2004 erschien das Glossar der Gegenwart. Insgesamt 44 Einträge untersuchten, so die Herausgeber:innen damals, »Konzepte von ›mittlerer Reichweite‹, aber hoher strategischer Funktion, die in den aktuellen Debatten eine Schlüsselstellung einnehmen«.

Zwanzig Jahre später, nach der Weltfinanzkrise und im Zeichen des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien sowie der inzwischen deutlich spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, ist es Zeit für ein Update. Die Zeitgenoss:innen von heute erkennen sich in neuen Leitbegriffen wieder: »Disruption« an die Stelle von »Normalität«, »das Planetare« löst »Globalisierung« ab, »Resilienz« ersetzt »Prävention«. Andere Begriffe wie »Dekolonisierung« oder »postfaktisch« haben keine Entsprechung im Vorläuferband. Die für die 2.0-Version des Glossars verfassten Beiträge sind Sonden zur Ermittlung des Selbstverständnisses unserer Gegenwart.

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Seitenzahl: 393

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Cover

Titel

3Glossar der Gegenwart 2.0

Herausgegeben von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2843.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77952-1

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

Literatur

Ulrich Bröckling

,

Susanne Krasmann

,

Thomas Lemke

Achtsamkeit

Literatur

Ulrich Bröckling

Agilität

Literatur

Stefanie Graefe

Algorithmus

Literatur

Felix Maschewski, Anna-Verena Nosthoff

Ansteckung

Literatur

Sven Opitz

Anthropozän

Literatur

Eva Horn

Biodiversität

Literatur

Thomas Lemke

Care

Literatur

Daniel Loick

Dekolonisierung

Literatur

Onur Erdur

Digitalisierung

Literatur

Urs Stäheli

Disruption

Literatur

Ulrich Bröckling

Diversität

Literatur

Robin Celikates

Epigenetik

Literatur

Thomas Lemke

Finanzialisierung

Literatur

Joseph Vogl

Hass

Literatur

Ulrich Bröckling

,

Susanne Krasmann

Identitätspolitik

Literatur

Martin Saar

Klimawandel

Literatur

Andreas Folkers

Krieg

Literatur

Ulrich Bröckling

Künstliche Intelligenz

Literatur

Felix Maschewski, Anna-Verena Nosthoff

Nachhaltigkeit

Literatur

Frank Adloff

Nudging

Literatur

Tim Seitz

,

Ulrich Bröckling

Ökologie

Literatur

Erich Hörl

Planetar

Literatur

Thomas Lemke

Plastizität

Literatur

Tom Holert

Plattform

Literatur

Philipp Staab

Populismus

Literatur

Frieder Vogelmann

Postfaktisch

Literatur

Susanne Krasmann

Posthumanismus

Literatur

Susanne Krasmann

Resilienz

Literatur

Thomas Lemke

Situiertheit

Literatur

Florian Sprenger

Social Media

Literatur

Simon Strick

Tracking & Tracing

Literatur

Tom Holert

Unsicherheit

Literatur

Susanne Krasmann

Update

Literatur

Jan-Hendrik Passoth

Vulnerabilität

Literatur

Stephan Lessenich

Dank

Autorinnen und Autoren

Informationen zum Buch

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Einleitung

Dieses Buch ist ein Update – die Versionsnummer 2.0 im Titel zeigt es an. Es erscheint genau zwanzig Jahre nach dem Glossar der Gegenwart, dessen erste Auflage 2004 in der edition suhrkamp veröffentlicht wurde. Updates verbinden Diskontinuität mit Kontinuität und versprechen Aktualität durch Aktualisierungen. Sie nehmen Ergänzungen und Ersetzungen vor, lassen grundlegende Funktionen und Strukturen aber in der Regel unangetastet. Entwickelt werden sie, wenn Fehler korrigiert, Sicherheitslücken geschlossen und Nutzungsmöglichkeiten optimiert werden sollen, wenn neue Herausforderungen auftauchen oder die Vorgängerversion aus anderen Gründen ihre Aufgaben nicht mehr ausreichend erfüllt – manchmal auch wenn Marketingabteilungen dies erfolgreich suggerieren. Wer ein Update installiert, darf Neuerungen erwarten und wird doch davon ausgehen, dass ihr oder ihm kein Systemwechsel abverlangt wird. Gemessen an den in der Upgradekultur (Spreen 2015) üblichen Rhythmen und erst recht an der Haltbarkeitsdauer soziologischer Gegenwartsbeobachtungen sind zwanzig Jahre eine enorme Spanne und allemal Anlass für eine kritische Revision der Befunde.

Das Glossar von 2004 analysierte in 44 Einträgen – von »Aktivierung« bis »Zivilgesellschaft« – Schlüsselbegriffe zeitgenössischer Menschenregierungskünste. Grundlegend war dabei die Orientierung an Michel 10Foucaults Begriff des Regierens, der »die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten« (Foucault 1996, 118f.), umfasst. Die Beiträge des Glossars nahmen Technologien der Selbst- und Fremdführung und die ihnen eingeschriebenen Rationalitätsannahmen, Zielvorstellungen und Handlungsvorgaben in den Blick. Sie suchten nach Antworten auf die Fragen, welche Selbstbeschreibungen zeitgenössischer Gesellschaften die jeweiligen Schlüsselbegriffe implizieren, welche Freiheitsspielräume sie eröffnen und welche Zwänge und Zumutungen sie enthalten. Die Auswahl der Lemmata konzentrierte sich, wie es in der damaligen Einleitung hieß, auf »Begriffe von ›mittlerer Reichweite‹, aber hoher strategischer Funktion: Deutungsschemata, mit denen die Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, interpretieren; normative Fluchtpunkte, auf die ihr Selbstverständnis und Handeln geeicht sind; schließlich konkrete Verfahren, mit denen sie ihr eigenes Verhalten oder das anderer entsprechend steuern« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004, 10f.).

Sichtbar gemacht wurden so die Konturen einer Gegenwart, die zum einen geprägt war durch Dynamiken radikaler Vermarktlichung, den Aufstieg kontraktueller beziehungsweise managerialer Führungsmodelle auch jenseits ökonomischer Organisationen sowie die Anrufung von Individuen als aktive und freie Bürger:innen, die ihre Lebensumstände eigenverantwortlich gestalten und sich als Unternehmer:innen ihrer selbst im generalisierten Wettbewerb behaupten sollten. Zum anderen stand die Gegenwartsdeutung – drei Jahre nach 9/11 – 11unter dem Eindruck von Terrordrohungen und anderen mit herkömmlichen Risikokalkülen nicht zu bewältigenden Gefährdungen, gegen die präventive und präemptive Sicherheitspolitiken mobilisiert wurden. Der zeitdiagnostische Blick richtete sich außerdem auf die expandierenden Monitoring-, Test- und Evaluationsverfahren, die scheinbar objektive, wissenschaftlich präzise Indikatoren zur Beurteilung und Bewertung bereitstellen und so die Grundlage für eine kybernetische Selbststeuerung gesellschaftlicher Prozesse liefern sollten.

Vieles davon hat zweifellos auch 2024 nicht an Aktualität verloren, doch unübersehbar ist die Gegenwart von heute eine andere. Von 2004 trennen uns – unter anderem – die inzwischen dramatisch spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, ein Finanzcrash, die Zunahme globaler Migrationsbewegungen, die Schwächung demokratischer Institutionen und das Erstarken des autoritären Nationalismus und Rechtspopulismus, die Erfahrungen sozialer Protestbewegungen, die sich während des Arabischen Frühlings oder unter Namen wie Occupy, #MeToo, Black Lives Matter, Gilets jaunes, Fridays for Future und Letzte Generation formiert haben, außerdem die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, das antisemitische Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der folgende Krieg im Gazastreifen. In die Jahre seit 2004 fallen aber auch die Erfindung des Smartphones, die Kommunikationsrevolution der Social Media und die geradezu explosionsartigen Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz. Die Polarisierung der Gesellschaft entlang affektiver Triggerpunkte hat zugenommen, wenn auch 12in Deutschland vorerst noch in geringerem Maße als beispielsweise in den USA (Mau/Lux/Westhäuser 2023). Die Hegemonie neoliberaler Glaubenssätze und Programme mag Risse bekommen haben, gebrochen ist sie keineswegs. Geändert hat sich unter den Bedingungen der Polykrise allerdings die Tonlage: Statt aufgedrehter Freiheitsversprechen und penetranter Aktivierungsrhetorik dominieren Bedrohungsszenarien, Abstiegsängste und autoritäres Racketdenken. Dystopische, nicht selten apokalyptisch grundierte Zukunftserwartungen machen sich breit.

Ihren Niederschlag gefunden haben die Transformationen der vergangenen beiden Dekaden in den Leitbegriffen, in denen die Zeitgenoss:innen heute ihre Gegenwart erkennen und mit deren Hilfe sie diese formen. Die vorliegende 2.0-Version des Glossars der Gegenwart kartografiert diese Umstellungen des begrifflichen Koordinatensystems, welche die Veränderungen der Menschenführungskünste seit 2004 vorbereitet haben, flankieren und/oder nachträglich reflektieren. Wir haben uns dagegen entschieden, lediglich einzelne Lemmata auszusortieren, andere zu überarbeiten und wieder andere neu aufzunehmen. Im Unterschied zu herkömmlichen Updates präsentiert dieses Buch vielmehr ein – mit einer Ausnahme – komplett verändertes Inventar aktueller Leitbegriffe. Auch für das Lemma »Nachhaltigkeit«, das sich bereits im Glossar von 2004 findet, wurde der Eintrag neu geschrieben. Das Glossar der Gegenwart 2.0 ist keine überarbeitete und erweiterte Neuauflage, es enthält ausschließlich erstmals veröffentlichte Beiträge – »Update« ist einer davon.

13Wir sind uns bewusst, dass wir mit dieser Entscheidung den Eindruck erwecken könnten, wir gäben der problematischen Tendenz vieler Gegenwartsdiagnosen nach, den Momenten der Diskontinuität Vorrang gegenüber jenen der Kontinuität einzuräumen. So wenig uns allerdings eine soziologische Zeitdiagnostik überzeugt, die versucht, die Gegenwart auf einen Begriff zu bringen, und fortlaufend mit neuen Bindestrichgesellschaften aufwartet, so wenig beanspruchen wir, mit dem vorgelegten Begriffsregister das Vokabular zeitgenössischer Regierungskünste systematisch abzubilden, oder bestreiten die anhaltende Relevanz vieler Lemmata des alten Glossars. Inwieweit wir nicht mehr dieselben Worte verwenden, nicht mehr auf dieselbe Weise denken, fühlen und handeln, uns nicht in dieselben institutionellen Gefüge, politischen Strukturen und technologischen Netzwerke eingespannt finden, das sind offene Fragen, denen die Beiträge in diesem Band nachgehen.

Die beiden Versionen lösen einander also nicht ab, sondern stehen in einem Verhältnis des Supplements, des Palimpsests und der Neuakzentuierung zueinander. Einige der neuen Stichworte überschreiben Lemmata des Glossars von 2004: »Achtsamkeit« statt »Wellness«, »Ansteckung« statt »Virus«, »Digitalisierung« statt »Virtualität«, »Disruption« statt »Normalität«, »Diversität« statt »Gender«, »Epigenetik« statt »Gen«, »Finanzialisierung« statt »Zirkulation«, »Krieg« statt »humanitäre Intervention«, »Nudging« statt »Aktivierung«, »Planetar« statt »Globalisierung«, »Plastizität« statt »Flexibilität«, »Resilienz« statt »Prävention«, »Tracking & Trac14ing« statt »Monitoring«, »Unsicherheit« statt »Sicherheit«. Solche Begriffsshifts besitzen selbst zeitdiagnostische Aufschließungskraft und fordern geradezu auf, die alten und die neuen Glossareinträge nebeneinander zu lesen: So signalisiert Resilienz einen Umgang mit bedrohlichen Zukünften, der nicht mehr von der Erwartung geleitet wird, Katastrophen durch präventive Anstrengungen zu verhindern, und sich stattdessen damit bescheidet, ihre unvermeidlichen Auswirkungen möglichst gut abzufedern. Andere Lemmata – zum Beispiel »Anthropozän«, »Care«, »Dekolonisierung«, »Identitätspolitik«, »Klimawandel«, »Plattform«, »Postfaktisch«, »Situiertheit« und »Vulnerabilität« – haben keine Entsprechungen im Vorläuferbuch. Auch ihr Auftauchen markiert zeitdiagnostisch signifikante semantische Verschiebungen, die wiederum auf veränderte gesellschaftliche Problemlagen und Bewältigungsstrategien verweisen.

Wenn das Glossar der Gegenwart 2.0 wie schon sein Vorläufer für die Zusammenstellung und Perspektivierung der Beiträge auf Foucaults Analytik des Regierens mit ihrer Differenzierung zwischen Rationalitäten, Technologien und Subjektivierungsweisen zurückgreift, so geschieht dies in einem veränderten Umfeld. Form und Intensität der Anschlüsse an Foucault haben sich deutlich gewandelt. Im Unterschied zu 2004, als seine Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität (Foucault 2004a, b) aus dem Nachlass veröffentlicht wurden und die sozialwissenschaftliche Rezeption der daran anschließenden Studies of Governmentality im deutschsprachigen Raum gerade erst Fahrt aufnahm (woran das 15Glossar der Gegenwart seinen Anteil hatte), hat sich diese Forschungsperspektive seither ausdifferenziert und erweitert. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind wichtige Aktualisierungen und Ergänzungen vorgenommen worden, um Foucaults umfassenden Begriff der Regierung für eine kritische Analyse der Gegenwartsgesellschaften und die Untersuchung zeitgenössischer Führungstechniken fruchtbar zu machen. So ist die affektive Dimension gouvernementaler Strategien stärker in den Fokus gerückt (Krasmann/Hentschel 2018); die »Regierung der Dinge« (Lemke 2021) hat die der Menschen ergänzt und erweitert; illiberale, das heißt autoritäre und gewaltsame Strategien haben gegenüber »sanften«, auf Empowerment und Partizipation ausgerichteten Führungstechnologien (Bröckling 2017) an Bedeutung gewonnen.

Mit der analytischen Ausrichtung am »Raster der Gouvernementalität« (Foucault 2004b, 261) hebt sich das Glossar der Gegenwart 2.0 ab von disziplinär angelegten (Schmidt-Lauber/Liebig 2022; Nassehi 2023) oder thematisch eingegrenzten Glossaren, die beispielsweise zeitgenössische Raumordnungen (Marquardt/Schreiber 2014; Hasse/Schreiber 2019) und die Begriffsfelder des Posthumanen (Braidotti/Hlavajova 2018) beziehungsweise der Vulnerabilität (Dederich/Zirfas 2022) ausloten oder das Vokabular der Sozialpolitik und Sozialen Arbeit zusammentragen (Garrett 2017). Es unterscheidet sich ebenso von Stichwortregistern des politischen Aktivismus (Urban 2006; Fritsch/O'Connor/Thompson 2016; Leary 2019) oder vom Aktualisierungsversuch der von Jürgen Habermas 1979 herausgegebe16nen Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹ (Heinrich-Böll-Stiftung 2020). Wir folgen auch weder dem interdisziplinären Forschungsprogramm, aus dem – kritisch anschließend an die mit dem Namen Reinhart Koselleck verbundene Begriffsgeschichte – sukzessive ein digitales Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland entsteht, welches Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen erschließt (Müller/Picht/Schmieder 2024), noch den in der Tradition der Cultural Studies stehenden Arbeitsgruppen, die Raymond Williams' 1976 erschienene, legendäre Keywords für das 21. Jahrhundert fortschreiben (Bennett/Grossberg/Morris 2005; MacCabe/Yanacek 2018).

So instruktiv vor allem die beiden letzten Unternehmungen in methodischer Hinsicht auch für unser Vorhaben sind, in einem wesentlichen Punkt trennen sich die Wege: Während die Begriffsgeschichte wie die Keywords-Projekte sich auf soziokulturelle Semantiken konzentrieren und den »Rekurs (oder Nichtrekurs) auf Sachen oder Ereignisse als Teil der Semantik« verhandeln, weshalb das Außen der Begriffe »nur als Grenze aus der Perspektive der Begriffe« in den Blick kommt (Müller/Schmieder 2020, 80), greifen die Lemmata des Glossars der Gegenwart 2.0 über die diskursive Ordnung hinaus. Die Dispositive des Regierens, Regiertwerdens und Nicht-regiert-werden-Wollens, welche die hier versammelten Einträge analysieren, umfassen Regime des Wissens, affektive Kraftfelder, institutionelle Settings, politische Herrschaftsgefüge, technologische Infrastrukturen, materiale Arrangements und Praktiken des planvollen Einwirkens auf Individuen, Kollektive, ihre Um17welten und die Relationen zwischen ihnen. Nicht bei jedem Lemma kommen sämtliche Aspekte zum Tragen, und ihre Gewichtung variiert. So stehen beim Begriff der »Achtsamkeit« Selbstpraktiken im Mittelpunkt; »Epigenetik« ruft lebenswissenschaftliche Konzepte auf, mit denen die Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt neu gedacht werden; die Einträge zu »Algorithmus«, »Künstliche Intelligenz« und »Plattform« beschäftigen sich vor allem mit digitalen Technologien; und das Lemma »Unsicherheit« widmet sich Affektpolitiken und Strategien der Gefahrenabsorption.

Der gemeinsame Fokus auf Fragen der Regierungskünste war zweifellos das wichtigste, aber nicht das einzige Auswahlkriterium für die Lemmata. Einem Vorschlag des Keywords-Projekts folgend, haben wir fünf weitere Kriterien angelegt: Die aufgenommenen Stichworte sollten erstens eine nennenswerte Rolle in der Gegenwartssprache spielen, zweitens mehr als nur eine Bedeutung besitzen und in unterschiedlichen Feldern auftauchen, sie sollten drittens maßgebliche soziale oder kulturelle Leitideen und Praktiken bezeichnen, viertens im öffentlichen Diskurs umkämpft und fünftens Teil eines Clusters zusammenhängender Wörter sein, die in der Regel gemeinsam vorkommen (Durant 2008, 135-137). Auch der Stellenwert dieser Kriterien variiert: So qualifizieren sich keineswegs alle ausgewählten Lemmata als Schlüsselbegriffe durch ihre Prominenz im öffentlichen Sprachgebrauch. Das Glossar der Gegenwart 2.0 ist kein Lexikon aktueller Buzzwords. Stichworte wie »Finanzialisierung«, »Plastizität« oder »Situiertheit« zirkulieren eher in Spezialdiskursen und rangie18ren in Worthäufigkeitszählungen auf hinteren Rängen, aber sie stehen für Wissensfelder, Problematisierungen und Fluchtpunkte gouvernementaler Interventionen, welche die Konturen der Gegenwart nachdrücklich prägen.

Die Aussagekraft eines Glossars liegt in der Auswahl seiner Lemmata – »the significance is in the selection« (Durant 2008). Die einzelnen Einträge präsentieren exemplarische Nahaufnahmen, das zeitdiagnostische Gesamtbild ergibt sich aus ihrer Konstellation. Eine solche Zusammenschau ohne Syntheseanspruch ermöglicht eine Form der Kritik, die weniger bewertet, als dass sie bestehende Systeme der Bewertung offenlegt, indem sie deren selektive epistemische Voraussetzungen und normative Zielvorstellungen kenntlich macht. Unschärfen, Redundanzen und vor allem Leerstellen sind bei einem solchen Vorhaben unvermeidlich: Eingeflossen sind in die Entscheidung für dieses oder gegen jenes Stichwort zweifellos Präferenzen, die mit den Arbeitsschwerpunkten der Herausgeberin und der beiden Herausgeber zusammenhängen. Nicht für alle zunächst vorgesehenen Begriffe haben wir Autor:innen gefunden, dafür haben einige der von uns Angefragten die Liste mit eigenen Vorschlägen erweitert. Vollständigkeit war weder angestrebt noch wurde sie erreicht. Woran hätte man sie festmachen wollen? Sich diskurspolizeiliche Autorität anzumaßen und einen verbindlichen Katalog an Lemmata zu erstellen, wäre ein lächerliches Unterfangen. Schlüsselbegriffe sollen nichts abschließen, sondern etwas aufschließen, in diesem Fall unsere Gegenwart. Wir halten es in dieser Hinsicht mit Raymond Williams 19(2015/1976, xxxvii), dessen Keywords-Buch am Ende einige weiße Seiten enthielt, auf denen Leser:innen fehlende Stichworte, Anmerkungen und Korrekturen ergänzen konnten.

Literatur

Bennett, Tony/Grossberg, Lawrence/Morris, Meaghan (Hg.) 2005, New Keywords. A Revised Vocabulary of Culture and Society, Malden.

Braidotti, Rosi/Hlavajova, Maria (Hg.) 2018, Posthuman Glossary, London.

Bröckling, Ulrich 2017, Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin.

Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) 2004, Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M.

Durant, Alan 2008, »›The Significance Is in the Selection‹. Identifying Contemporary Keywords«, in: Critical Quarterly 50(1-2), 122-142.

Foucault, Michel 1996, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräche mit Ducio Trombadori, Frankfurt/M.

Foucault, Michel 2004a, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1977/78), Frankfurt/M.

Foucault, Michel 2004b, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France (1978/79), Frankfurt/M.

Fritsch, Kelly/O'Connor, Clare/Thompson, Andrew K. (Hg.) 2016, Keywords for Radicals. The Contested Vocabulary of Late-Capitalist Struggle, Chicago.

20Garrett, Paul Michael 2017, Welfare Words. Critical Social Work and Social Policy, London.

Hasse, Jürgen/Schreiber, Verena 2019, Räume der Kindheit. Ein Glossar, Bielefeld.

Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) 2020, Stichworte zur Zeit. Ein Glossar, Bielefeld.

Krasmann, Susanne/Hentschel, Christine (Hg.) 2018, The Desire for Truth and the Political. Themenheft: Behemoth. A Journal on Civilisation 11(2).

Leary, John Patrick 2019, Keywords. The New Language of Capitalism, Chicago.

Lemke, Thomas 2021, The Government of Things. Foucault and the New Materialisms, New York.

MacCabe, Colin/Yanacek, Holly (Hg.) 2018, Keywords for Today. A 21st Century Vocabulary. The Keywords Project, New York.

Marquardt, Nadine/Schreiber, Verena (Hg.) 2014, Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart, Bielefeld.

Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westheuser, Linus 2023, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin.

Müller, Ernst/Schmieder, Falko 2020, Begriffsgeschichte zur Einführung, Hamburg.

Müller, Ernst/Picht, Barbara/Schmieder, Falko (Hg.) 2024, Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland, Basel, https://doi.org/10.31267/grundbegriffe.

Nassehi, Armin 2023, Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede, München.

Schmidt-Lauber, Brigitta/Liebig, Manuel (Hg.) 2022, Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar, Wien/Köln.

21Spreen, Dierk 2015, Upgradekultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft, Bielefeld.

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Williams, Raymond 2015, Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, Oxford/New York (zuerst: London/New York 1976).

Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke

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Achtsamkeit

1975 erschien in den USA, herausgegeben vom Internationalen Versöhnungsbund, eine unscheinbare Broschüre mit dem Titel The Miracle of Being Awake. Verfasst hatte sie der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh als Meditationseinführung für Sozialarbeiter:innen und Friedensaktivist:innen in seiner vom Krieg geschundenen Heimat. Hanh hatte in den 1960er Jahren in Südvietnam die Bewegung des »Engagierten Buddhismus« mitbegründet und eine Schule für soziale Dienste ins Leben gerufen, in der junge Freiwillige ausgebildet wurden, die dann, oft unter Lebensgefahr, Aufbauarbeit in den zerbombten Dörfern leisteten. Ihm selbst war 1966 während einer Vortragsreise in die USA, wo er das sofortige Ende der amerikanischen Bombardierungen und einen Waffenstillstand gefordert hatte, vom Saigoner Militärregime die Rückkehr nach Vietnam untersagt worden. Seitdem lebte er im französischen Exil. Später nahm er als Vertreter der buddhistischen Delegation an den Pariser Friedensverhandlungen zur Beendigung des Vietnamkriegs teil. The Miracle of Being Awake zirkulierte zunächst in religiös-pazifistischen Gruppen und sozialaktivistischen Communitys, wurde bald aber in viele Sprachen übersetzt. 1988 erschien auch eine deutsche Ausgabe unter dem Titel Das Wunder der Achtsamkeit. Inzwischen gilt die knapp hundert Seiten umfassende Einführung als Klassiker der Meditationsliteratur. Für 23Jon Kabat-Zinn, Begründer des Verfahrens der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, ist es »das erste Buch, das einer breiten Leserschaft das Thema Achtsamkeit näherbrachte« (Plum Village 2022, 5).

Hanh hatte Meditationsübungen aus der Tradition des Zen-Buddhismus so vereinfacht, dass sie sich in den Alltag der Friedensarbeiter:innen integrieren ließen und ihnen dabei helfen konnten, den außerordentlichen Belastungen ihres politischen und sozialen Engagements standzuhalten. Achtsamkeit üben, lautete seine Botschaft, kann man in jedem Moment und bei jeder Tätigkeit – beim Kochen oder Abwaschen ebenso wie im Liegen, Sitzen, Stehen oder Gehen. Was immer man tut, alles wird zur Meditation, sofern man es bewusst tut, das heißt, seine Aufmerksamkeit ganz auf die gegenwärtige Tätigkeit richtet. Eine solche Verknüpfung mit Alltagspraktiken erweiterte den Kreis möglicher Adressat:innen weit über religiöse Virtuos:innen und spirituelle Sinnsucher:innen hinaus. Achtsamkeitsübungen waren Meditation für jede und jeden. Die eigenen Atemzüge zählen, eine Mandarine Stück für Stück essen oder »abwaschen, um abzuwaschen« (Hanh 1988, 11) – für eine solche »Verachtsamung des Alltags« (Schmidt 2020, 113) bedurfte es weder einer Verwurzelung in der buddhistischen Tradition noch eines Rückzugs in klösterliche Stille. Gerade ihre Herkunft aus der fernöstlichen Spiritualität machte die Achtsamkeitsübungen indes für westliche Adept:innen attraktiv, die auf diese Weise ihre Moderneskepsis – gepaart mit einer gehörigen Portion Orientalismus – ausleben konnten, ohne ihre ganz und gar moderne Lebensführung aufgeben zu müssen.

24In der Folge hielt Achtsamkeit Einzug in therapeutische und pädagogische Settings und avancierte spätestens in den 2000er Jahren zum universellen Lifestyle-Label. Achtsamkeitskurse und -ratgeber für alle Lebenslagen und -phasen teilen sich den Markt mit Achtsamkeitsapps, die Buddhify oder Ten Percent Happier heißen und den Zen-Meister durch das Handy ersetzen. Vollends absurd wird es, wenn »achtsam« statt einer Haltung oder Praxis eine Eigenschaft von Dingen bezeichnen soll. Das Attribut adelt Nahrungsmittel, Kosmetika oder Kleidung, die gleichermaßen ethischen Konsum wie »Situationen gesteigerter Sensitivität« (Hohnsträter 2018, 22) und hedonistische Selbstfürsorge versprechen. Achtsamkeitsübungen wiederum dienen als Allheilmittel. Es gibt kaum etwas, für oder gegen das sie nicht in Anschlag gebracht werden: Sie sollen helfen abzunehmen oder Süchte zu überwinden, sollen dazu befähigen, eine »ausgedehnte […], sinnlich-meditative […] Sexualität« zu zelebrieren (Rescio 2014, 254) und Liebesbeziehungen zu vertiefen, und sollen überforderte Eltern bei der Kindererziehung entlasten. Selbstverständlich sollen die achtsamen Selbsttechniken auch die Arbeitseffizienz und -zufriedenheit steigern, Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten oder Kolleg:innen ausräumen und Burn-out vorbeugen. Nicht zu vergessen ihr Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens (Tan 2012). Angesagt ist Achtsamkeit nicht zuletzt bei der Vermögensbildung: Wer in achtsame Anlageformen investiert, so das Versprechen der Finanzindustrie, kann Gewinne einfahren und gleichzeitig die Welt verbessern. Selbst für das Ausfüllen der Steuererklärung gibt es Achtsamkeitstipps.

25Der Boom erschöpft sich freilich nicht in solchen Banalisierungen, die »achtsam« zu einem leeren Signifikanten wie »bio« oder »öko« verdünnen. Parallel zum florierenden Markt der »McMindfulness« (Purser 2019) boomen Forschungsprojekte, welche die buddhistisch inspirierten Meditationspraktiken wissenschaftlich evaluieren. Vor allem im medizinischen und psychotherapeutischen Bereich entwickeln Forscher:innen Fragebögen und nutzen bildgebende Verfahren, um die Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Interventionen psychometrisch zu erfassen oder sie gar im Gehirnscanner sichtbar zu machen. Solche Messinstrumente lassen sich nur an standardisierte Verfahren wie die Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) (Kabat-Zinn 1991) oder die Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression (MBCT) (Segal/Williams/Teasdale 2002) anlegen, für die signifikante Effekte unter anderem in der Behandlung von chronischen Schmerzerkrankungen, Traumafolge- und Angststörungen sowie Depressionen nachgewiesen werden konnten. Insbesondere Kabat-Zinns MBSR hat über klinische Anwendungen hinaus eine große Verbreitung in der Gesundheitsförderung gefunden. Das achtwöchige Gruppenprogramm umfasst wöchentliche Sitzungen von etwa zwei Stunden, ergänzt durch individuelle Übungen und einen abschließenden Achtsamkeitstag. Eingeübt werden bewusste Körperwahrnehmung, elementare Techniken der Sitz- und Bewegungsmeditation, Umgang mit Stress oder unangenehmen Gefühlen sowie Verfahren, die dabei helfen sollen, bei alltäglichen Routineaktivitäten nicht in Erinnerungen oder Zukunftsgedanken abzuschweifen.

26Achtsam zu sein bedeutet für Kabat-Zinn (1991), die Aufmerksamkeit auf das Erleben des gegenwärtigen Moments zu lenken und dabei den eigenen Bewusstseinsinhalten in einer akzeptierenden, nicht wertenden Weise zu begegnen. Das achtsame Selbst verdoppelt sich gleichsam in einen Bewusstseins- und Tätigkeitsstrom auf der einen und in eine Instanz, die diesen Bewusstseins- und Tätigkeitsstrom beobachtet, auf der anderen Seite. Es ist bei sich, indem es sein Bei-sich-Sein als Bei-sich-Sein wahrnimmt. Durch regelmäßige Übung versetzt es sich in die Lage, jedwede Regung minutiös mitzuvollziehen und sich zugleich von den eigenen Gedanken, Gefühlen, Handlungsimpulsen oder -hemmungen weder mitreißen zu lassen noch gegen sie anzukämpfen. Selbstzwang und Selbstfreigabe, Fokussierung und Defokussierung, Involviertsein und Distanzierung gehen Hand in Hand. Ziel ist es nicht, bestimmte Vorstellungen, Stimmungen oder Handlungen hervorzurufen und andere zu vermeiden, trainiert wird vielmehr die Fähigkeit, bei dem zu bleiben und das zu bejahen, was sich ohnehin einstellt. Fluchtpunkt dieser Ethik der Aufmerksamkeit ist ein Präsentismus, in dem Gegenwartsorientierung (Präsens) und mentales Gewahrsein (Präsenz) verschmelzen. Statt in der Vergangenheit festzuhängen oder in die Zukunft vorauszueilen, bleibt das achtsame Selbst im Hier und Jetzt und gerade deshalb fortlaufend in Bewegung. Angestrebt wird eine paradoxe Form der Selbsttransformation, die Vergangenheits- wie Zukunftsfixierungen auflöst, um in der Besonderheit des Augenblicks die Gegenwart als permanentes Werden zu erleben.

27Wer sich so auf den singulären Moment konzentriert, übt sich in Gleichmut, weil jeder Moment dieselbe Aufmerksamkeit beansprucht und keiner dauerhaft die Oberhand gewinnen darf. Kaum hat das achtsame Selbst etwas vergegenwärtigt, muss es sich schon wieder davon verabschieden und sich etwas anderem zuwenden – und sei es nur dem nächsten Atemzug. Das Einzige, woran es festhält, ist die Bereitschaft loszulassen. In solchen Anleitungen zum Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht hallt zweifellos das neoliberale Mantra eines forcierten Laisser-faire nach, und man wird die mühsame Praxis, die in Achtsamkeitsratgebern als »Nicht-Anhaften« bezeichnet wird, auch als eine Strategie der Immunisierung gegen Zumutungen des Alltags, Schuld- und Überforderungsgefühle, Verlusterfahrungen oder katastrophische Zukunftserwartungen deuten müssen. Den Bewegungen des Ein- und Ausatmens nachzuspüren oder Körperteil für Körperteil mental abzutasten, mag die Übenden Gelassenheit lehren, verengt aber zugleich den Fokus auf die eigene Leiblichkeit. Das ist allerdings nur die eine Seite. Auf der anderen sollen die Achtsamkeitsübungen nicht nur den »Welt-Stress« (Schmidt 2020, 106) auf Abstand halten und damit einhergehende affektive Wallungen temperieren, sondern im selben Zuge das Bewusstsein universeller Verbundenheit und die Fähigkeit zum Mitleiden stärken. Der achtsame Blick geht nach innen und nach außen. Sich jedes Augenblicks gewahr zu werden, ist auch ein Responsibilisierungsprogramm, das Selbst- und Weltbezug letztlich ineinander aufgehen lässt.

Die an Achtsamkeitspraktiken geknüpften Verspre28chen vereinbaren offenkundig Unvereinbares. Das sorgt für nahezu unbegrenzte Anschlussmöglichkeiten. Entscheidend ist das Wie, nicht das Was. Achtsamkeitsmeditation kann Kraftquelle und innerer Kompass für radikale Kriegsgegnerschaft und soziales Engagement sein wie bei Thich Nhat Hanh, aber auch ein Baustein in der Ausbildung von Kampftruppen, wenn US-Marines mithilfe des Mindfulness-Based Mind Fitness Trainings (MMFT) auf ihre Einsätze vorbereitet werden. Dieselben Übungen, die Friedensarbeiter:innen vor dem Ausbrennen bewahren sollen, werden in Anschlag gebracht, um den »Geist eines Kriegers« hervorzubringen, den man sich, so die Begründerin des MMFT, als Mischwesen aus »Killer und Mönch« (Stanley 2014) vorzustellen hat: »Echte Krieger:innen müssen in der Lage sein, den eigenen Körper und den eigenen Geist zu beruhigen, um Kraft zu schöpfen; sie müssen auch unter schwierigen Umweltbedingungen ausdauernd sein; sie müssen sich ihrer selbst, ihrer Mitmenschen und ihres Umfelds bewusst sein, um kritische Entscheidungen treffen zu können; sie müssen Mitgefühl für sich selbst, ihre Kamerad:innen, ihre Gegner:innen und die Menschen in ihrem Einsatzgebiet haben; und sie müssen sich bei Provokationen beherrschen können, um nicht überzureagieren. Und wenn es der Moment erfordert, müssen sie auch die Fähigkeit besitzen, sauber, ohne Zögern und ohne Reue zu töten« (Stanley 2014, zit. n. Purser 2021, 172).

Achtsamkeit ist hier gleichbedeutend mit Konzentrationsfähigkeit und Stressresilienz (→ Resilienz), ihre Einübung eine Selbsttechnik, die bereits im militärischen 29Drill angelegt ist: »Soldat:innen wird bei der Schießausbildung mit dem M16-Sturmgewehr beigebracht, auf ihre Atmung zu achten und sie mit der Bewegung des Abzugsfingers zu synchronisieren, indem sie ›abdrücken‹, während sie ausatmen« (Stanley 2014, zit. n. Purser 2021, 175) – Achtsam morden ist nicht nur der Titel einer satirischen Krimireihe (Dusse 2019ff.).

Das deutsche Wort »Achtsamkeit« hat im Englischen zwei Entsprechungen, mindfulness und awareness. Die beiden Bedeutungen überlappen sich und werden häufig synonym verwendet, sind aber keineswegs deckungsgleich: Mindfulness ist stärker nach innen gerichtet und bezeichnet sowohl den Zustand des bewussten Bei-sich-Seins als auch die meditative Übungspraxis, die darauf abzielt, diesen Zustand zu erreichen. Awareness, ein Begriff, der bereits in die deutsche Sprache eingewandert ist und sich auch unabhängig vom Achtsamkeitsdiskurs verbreitet hat, beschreibt dagegen vor allem eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das, was um uns herum geschieht. Auch die kann und soll trainiert werden, und genauso wenig wie mit dem Meditieren wird man damit jemals fertig. Die Genealogie der Awareness führt zurück bis zur altchinesischen Kriegskunst des Sunzi, nach dessen Maximen die genaue Kenntnis der gegnerischen wie der eigenen Kräfte sowie des Geländes Voraussetzung für den Erfolg ist und der kluge Feldherr den Sieg ganz ohne Schlacht erringt, indem er den Feind durch fortwährendes Ausweichen erschöpft (vgl. Krasmann/Hentschel 2019, 183). Achtsamkeit im Sinne von Mindfulness schafft eine Atmosphäre der inneren Ruhe und Gelassenheit, die sich nur einstellt, 30wenn die Flut äußerer Reize eingedämmt wird; Achtsamkeit als Awareness bedeutet, sämtliche Antennen auszufahren, um unvorhersehbare oder kaum merkliche Vorkommnisse in der Außenwelt wahrnehmen und auf sie reagieren zu können. Der Zustand der kognitiven und affektiven Präsenz, den beide anstreben, dient das eine Mal dazu, die eigenen Gedanken und Gefühle besser zu verstehen, während er das andere Mal auf Situationen vorbereiten soll, die sofortiges Handeln erfordern.

Ähnlich wie die neo- oder pseudobuddhistischen Exerzitien der Mindfulness umfasst Awareness disparate Praktiken: Ob Anti-Terror-Einheiten oder Katastrophenschützer:innen mittels Krisensimulation auf »situational awareness« getrimmt werden (Krasmann/Hentschel 2019) oder Awareness-Teams in Clubs Safe Spaces einrichten und Verhaltensregeln aufstellen, die dafür sorgen sollen, dass »unerwünschte körperliche Annäherungen und mündliche Äußerungen, die als Diskriminierung verstanden werden könnten«, unterbleiben (Maser/Neckel 2023, 302) – immer geht es um eine aktiv verkörperte Wachheit, Wachsamkeit und nicht zuletzt Wokeness. Fortlaufend wird die Umgebung gescannt, wissend, dass jederzeit etwas passieren kann, das nicht passieren sollte. Wichtiger als Risiken zu antizipieren, ist es, die Sinne für die jeweilige Situation zu schärfen. Die konkret vorstellbaren, aber nicht kalkulierbaren Gefahren, die es abzuwenden gilt, müssen präsent gehalten werden. Das Streben nach Sicherheit realisiert sich als fortlaufende Vergegenwärtigung von Unsicherheit (→ Unsicherheit). Man kann das als radikales 31Schrumpfen des zeitlichen Horizonts interpretieren: Wenn der präventive oder präemptive Vorgriff auf die Zukunft verstellt erscheint, wird die Konzentration auf das Hier und Jetzt umso dringlicher.

Mindfulness-Programme unterstellen generalisierten Stress (aufgrund von Arbeits- und Konkurrenzdruck, Beschleunigung, Multitasking und medialen Selbstinszenierungszwängen), Awareness-Trainings beschwören eine Welt geprägt durch strukturelle Benachteiligungen sowie existenzielle Bedrohungen (in Gestalt verweigerter Anerkennung, rassistischer oder sexistischer Übergriffe, von Terroranschlägen oder des Überschreitens ökologischer Kipppunkte). Achtsamkeitsbedürftig und -hungrig sind die Menschen demnach, weil sie sich entweder überfordert oder gefährdet fühlen; oft genug kommt auch beides zusammen (→ Unsicherheit). Dem entsprechen einerseits die Verheißungen von »Selbstheilung« (Kabat-Zinn 1991) und Optimierung des Lebens (Tan 2012), andererseits ein Imperativ der Preparedness, ein Zustand, in dem auch die kleinste Irritation registriert, unbedingte Parteilichkeit für besonders vulnerable Gruppen eingefordert und aus der auf Dauer gestellten Alarmbereitschaft die Zuversicht geschöpft wird, im Ernstfall präsent zu sein und das Richtige zu tun. Angerufen werden beide Male die Individuen. Sie sollen ihr inneres Gleichgewicht, ihre moralische Sensibilität, ihren Gefahrensinn und, wenn es hart kommt, auch ihre Kampfbereitschaft trainieren, indem sie Praktiken der Aufmerksamkeitslenkung erlernen und ein akzeptierendes Gewahrsein des eigenen Erlebens mit einem Radarblick nach außen verbinden. Für das acht32same Selbst mag die Welt ein unsicherer Ort sein, aber es weiß sich dagegen zu wappnen, und sei es durch temporären Rückzug in Safe Spaces. Und ob es nicht doch ein richtiges Leben im falschen geben kann, hält es am Ende für eine Frage der Atemtechnik.

Literatur

Dusse, Karsten 2019ff., Achtsam morden, 1.-4. Bd., München.

Hanh, Thich Nhat 1988, Das Wunder der Achtsamkeit, Zürich.

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Krasmann, Susanne/Hentschel, Christine 2019, »›Situational Awareness‹. Rethinking Security in Times of Urban Terrorism«, in: Security Dialogue 50(2), 181-197.

Maser, Nadine/Neckel, Sighard 2023, »Awareness. Paradoxien eines Emotionsprogramms«, in: Leviathan 51(2), 300-324.

Plum Village 2022, »Thich Nhat Hanh – Highlights und Zusammenfassung seines Lebens und Wirkens«, https://plumvillage.org/wp-content/uploads/2022/01/Thich-Nhat-Hanh-%E2%80%93-Highlights-und-Kurz-Biographie-3.pdf (19. ‌5. ‌2024).

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33Rescio, Susanna-Sitari 2014, Sex und Achtsamkeit, Bielefeld.

Schmidt, Jacob 2020, Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-Welt-Modellen eines populären Phänomens, Bielefeld.

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Stanley, Elizabeth A. 2014, »Cultivating the Mind of the Warrior«, in: Inquiring Mind 30(2), https://inquiringmind.com/article/3001_16_stanley-cultivating-the-mind-of-a-warrior/ (19. ‌5. ‌2024).

Tan, Chade-Meng 2012, Search Inside Yourself. Optimiere dein Leben durch Achtsamkeit, München.

Ulrich Bröckling

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Agilität

Agilität ist die Fähigkeit, sich in rasch wandelnden und unsicheren Umgebungen zu bewegen und dabei kreative Potenziale freizusetzen. Ursprünglich aus der Softwareentwicklung kommend, ist der Begriff mittlerweile zu einem Leitkonzept zeitgenössischer Arbeitsorganisation avanciert. Die Entwicklung eines agilen Mindsets wird nicht nur Arbeitnehmer:innen und Unternehmen, sondern auch Staatenbünden, öffentlichen Verwaltungen, Non-Profit-Organisationen, Familien und Individuen empfohlen.

Die enge Verwandtschaft zwischen Agilität und vergleichbaren Konzepten wie Resilienz (→ Resilienz) und Flexibilität liegt auf der Hand. So beschreibt auch Agilität eine Form der Adaption, der kontinuierlichen Anpassung an sich permanent verändernde Umweltbedingungen. Im Detail allerdings unterscheiden sich die drei Konzepte: Agilität stellt, anders als Resilienz, nicht primär einen Modus der Krisenbearbeitung dar. Planung und Prävention erschweren aus der Perspektive von Agilitätsverfechter:innen die Entfaltung von Kreativität und Innovationskraft. Probleme sollen weniger vorausschauend oder reaktiv bewältigt, als in ihrer Unberechenbarkeit und Ereignishaftigkeit begrüßt und genutzt werden. Wo Resilienz auf Elastizität und Biegsamkeit setzt, will Agilität die Sprungbereitschaft steigern. Ähnlich wie Flexibilität verlangt Agilität, »sich 35permanent und unverzüglich auf Veränderungen einzustellen« (Lemke 2004, 82). Allerdings will, wer agil handelt, noch wendiger, mobiler und aktiver sein – eine Art Komparativ zweiter Ordnung. Zugleich sollen agile Subjekte nicht nur auf Veränderungen reagieren, sondern »proaktiv, antizipativ und initiativ« dafür sorgen, »notwendige Veränderungen einzuführen« (Fischer 2016). Veränderung vollzieht sich aus diesem Blickwinkel vorzugsweise in Form abrupter Unterbrechung oder Disruption (→ Disruption), die wiederum als besonders günstige Ausgangsbedingung für Innovation verstanden wird. Schumpeters Idee schöpferischer Zerstörung wird durch Agilität insofern um ein entscheidendes Element ergänzt, als sich nicht nur die bestehende Ordnung, sondern auch das jeweils handelnde Selbst grundlegend verändern soll (Priddat 2017). Wer sich fortlaufend disruptiv neu erfindet, kann wiederum eine ordentliche Portion Resilienz gut gebrauchen. Vereinfacht könnte man sagen, dass Resilienz eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung von Agilität und diese ihrerseits eine deutlich intensivierte Form von Flexibilität ist.

Grundsätzlich gilt: Je turbulenter die Umgebung, umso agiler muss man sein. Immer wieder verweisen Beschreibungen von Agilität auf die Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität der Gegenwart, oder kürzer: auf die VUCA-Welt. Dieses ursprünglich im Umfeld der US-Armee entwickelte Akronym bringt die Annahme zum Ausdruck, dass der Welt mit dem Ende des Kalten Krieges nicht nur die bipolare Ordnung, sondern jegliche Form von Stabilität und Vorher36sagbarkeit unwiederbringlich abhandengekommen ist. Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose präsentiert sich Agilität zugleich als unerlässliche Voraussetzung für das Überleben im Krisenkapitalismus wie als Erfolgsstrategie für Unternehmen und Individuen.

Ein Gründungsdokument des zeitgenössischen Agilitätsdiskurses ist das »Agile Manifesto« (Beck u. ‌a.), das 2001 von 17 Softwareentwicklern (es waren alles Männer) in einer Skihütte in den Bergen von Utah verfasst wurde. Nur eine Revolution der vorherrschenden Arbeitskultur, so die zentrale Botschaft, könne die Start-up-Branche über die sich damals bereits abzeichnende Flaute hinüberretten. Die Agilitätspioniere formulierten vier Grundsätze: Individuen und Interaktionen vor Prozessen und Werkzeugen, funktionierende Software vor umfassender Dokumentation, Zusammenarbeit mit Kunden vor Vertragsverhandlung, Reagieren auf Veränderung vor Planverfolgung. Dass sich der revolutionäre Charakter dieser Aussagen aus heutiger Sicht nur bedingt erschließt, verweist einerseits auf die in der Tech-Branche verbreitete Tendenz, »revolutionär zu sein, ohne irgendwas zu revolutionieren« (Daub 2020, 61), lässt sich andererseits aber auch als Indiz für den Erfolg des Programms deuten. Die enge Beziehung zwischen Agilität und Softwareentwicklung ist jedenfalls kein Zufall. Gute Software zeichnet seit jeher aus, was der Agilitätsphilosophie zufolge auch erfolgreiche Organisationen und Individuen charakterisiert: Sie löst Probleme, die auf herkömmliche Weise nicht zu lösen sind; sie entsteht erst im Prozess; sie erweist ihren Nutzen ausschließlich im Gebrauch; sie lebt 37von permanenter Aktualisierung; und sie ist selbst zu komplex, als dass sie massenhaft nachgeahmt werden könnte.

Ein wichtiger negativer Bezugspunkt agiler Managementkonzepte ist das sogenannte Wasserfallmodell. Gemeint ist damit ein spezifischer Typ der Kundenbeziehung, bei dem am Ende eines detailliert geplanten Arbeitsprozesses ein fertiges Produkt entsteht, das nicht mehr verändert werden kann; die Kundin wird gleichsam vom Produkt überschwemmt. Agilitätsprogrammatiken grenzen sich ebenso von der auf Massenproduktion und Massenkonsum ausgerichteten fordistischen Produktionsweise ab, wie sie die tayloristische Trennung von Planung und Ausführung überwinden wollen. Agiles Management beansprucht, Produkte in fortlaufenden Innovationszyklen passgenau zu entwickeln und abhängig Beschäftigte in souveräne Arbeitssubjekte zu verwandeln, die alle Elemente des Arbeitsprozesses – Planung, Durchführung, Überwachung – selbstbestimmt gestalten. Grundlegend für Letzteres ist das Prinzip der Subsidiarität: Entscheidungen sollen dort getroffen werden, wo sie anfallen; gearbeitet wird in interdisziplinären, sich selbst organisierenden Teams. Auf diese Weise will agiles Management »die Vertikale mit der Horizontalen, die Hierarchie mit dem Netzwerk, die eigene Leistung mit dem Kundenbedürfnis« in Einklang bringen sowie »Körper, Geist und Persönlichkeit« der am Produktionsprozess Beteiligten »kontinuierlich auf neue Ziele ausrichten« (Baecker 2019). Zur Basisausstattung gehören den einschlägigen Beschreibungen zufolge Wachstumsorientierung, Lernfähigkeit, 38Fehlertoleranz und Optimismus; eingeschränkt wird Agilität hingegen durch Bürokratismus, Schneckentempo, Starrheit, Silodenken, kurzum: fixed mindsets jeglicher Art.

Während Agilität also einerseits zum radikalen Gegenmodell des hierarchischen Schematismus von organisierter Moderne und wissenschaftlicher Betriebsführung stilisiert wird, steht agiles Management andererseits in der Praxis dem Taylorismus hinsichtlich Zergliederung und Taktung des Arbeitsprozesses kaum nach – etwa im Falle der sehr verbreiteten Technik des Scrum. Der Begriff stammt aus dem Rugby und bezeichnet dort das »angeordnete Gedränge«, bei dem sich die Spieler einer Mannschaft nach einem Regelverstoß kurz eng zusammenschließen und den Neustart vorbereiten. Im agilen Unternehmen bedeutet Scrum, dass wechselnd zusammengesetzte Teams in kurzen, aufeinanderfolgenden Sprints Arbeitsprozesse beschleunigen und über den Produktionsfortschritt in täglichen Kurzmeetings Rechenschaft ablegen. Produktlösungen sollen auf diese Weise fallgenau erarbeitet und auf Basis kontinuierlicher Kund:innen-Feedbacks in Echtzeit angepasst werden. Praktisch bedeutet dies: Deadline folgt auf Deadline, Arbeitsmenge und -tempo sind kaum im Voraus kalkulierbar, Zeitdruck wird zur zentralen Produktivkraft und die individuelle Leistung zum Objekt fortlaufender kollektiver Überwachung. Womöglich handelt es sich bei Agilität deshalb in Wirklichkeit weniger um eine antitayloristische Revolution als um eine Art Taylorismus 2.0, eine Rationalisierung und »Industrialisierung geistiger Arbeit« (Boes u. ‌a. 2017, 181). Nicht zu39letzt stellt agiles Management erhebliche Einsparpotenziale in Aussicht: Wo Mitarbeiter:innen Managementaufgaben übernehmen und Kund:innen Produkte mitentwickeln, lassen sich nicht nur Arbeitsprozesse, sondern auch Personalausstattungen verschlanken.

Zugleich existiert ein wesentlicher Unterschied zwischen wissenschaftlicher und agiler Betriebsführung, auf den unlängst mit Arie van Bennekum einer der Autoren des Agile Manifesto verwiesen hat: Laut dem selbsternannten keynoter, thought leader und paradigm shift expert ziele die neue Managementtechnik nämlich nicht bloß auf agiles Arbeiten, sondern auf agiles Sein, und dieses wiederum lasse sich in zwei kleinen Wörtern zusammenfassen: avoid delay, vermeide Verzögerung (Zweimüller 2021). Diese Bemerkung ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich: Sie kehrt erstens die tayloristische Logik der Spaltung von Person und Arbeit um – Sein und Arbeit verschmelzen restlos ineinander. Zweitens ist die Parole avoid delay selbst das Produkt einer Beschleunigung; das ursprüngliche Agilitätsmanifest aus Utah las sich noch deutlich entspannter. Zwar wurde auch dort schon die kürzere Zeitspanne gegenüber der längeren bevorzugt, gleichzeitig sollte der Arbeitsprozess aber so gestaltet werden, dass langfristig ein »gleichmäßiges Tempo« gehalten werden kann (Beck u. ‌a. 2001). Inzwischen jedoch postulieren viele Werkzeuge aus dem agilen Methodenkasten schon allein dem Namen nach (Daily Standup, Bar Camp, Heartbeat), dass alles immer (noch) schneller werden muss. Gefordert wird ein spezifischer Typ von Beschleunigung, der das Prinzip der Linearität durch das der Iteration ersetzt: kurze 40Zyklen, die einander ablösen, ohne exakt miteinander identisch zu sein, und genau deshalb Innovation ermöglichen. Zu vermuten ist allerdings, dass iterativ erzeugte Innovation in dem Maße unwahrscheinlicher wird, in dem avoid delay als Leitmaxime verabsolutiert und unverplanter Freiraum immer rarer wird.

Als produktives und lukratives Geschäftsmodell erweist sich Agilität zweifelsohne für Unternehmensberatungen, sonstige Berater:innen und Coaches. Kein Wunder, denn ein agiles Subjekt zu formen, erfordert immerhin ein radikales makeover. Alle Gewohnheiten und Vorstellungen hinsichtlich Planbarkeit, Sicherheit oder Feierabend müssen verlernt werden. Agilität ist in diesem Sinne stets Antwort (auf die Undurchsichtigkeit von Markt und Welt) und Aufforderung (agil zu werden) zugleich (Bueren 2022, 36) – und somit weit mehr als eine bloße Managementtechnik. Versprochen wird ein Kulturwandel, die »Orientierung am Menschen, seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten« (Busch/Link 2021) und konsequent weitergedacht auch eine Demokratisierung von Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft. Unter agilen Vorzeichen würden ökonomische und humane Anliegen harmonisch zusammengebracht, während das Unternehmen sich zu einer Ersatzfamilie entwickle, die durch Zusammengehörigkeitsgefühl, Commitment, Hilfsbereitschaft und gegenseitige Wertschätzung geprägt sei (vgl. ebd., 22). Auf diesem Wege, so lassen sich solche Lobgesänge resümieren, könne gelingen, woran sozialistische Bewegungen seit gut 200 Jahren scheitern: die Überwindung der Entfremdung von Lohnarbeit und Leben im Kapitalismus. 41Freilich ändern weder revolutionärer Nimbus noch inflationäre Disruptionsdiagnosen bisher erkennbar etwas an den nach wie vor erstaunlich stabilen Marktlogiken oder den äußerst soliden privaten Eigentumsverhältnissen. Man könnte sich sogar fragen, ob das Erfolgsgeheimnis der Agilität nicht genau darin liegt, kapitalistische Machtstrukturen auf besonders ansprechende Weise unsichtbar zu machen.

Nach agilen Maßstäben reorganisieren lässt sich dem einschlägigen Diskurs zufolge nicht nur die Betriebs-, sondern auch die Kernfamilie (Güntsche-Hilgendag 2023). Scrum am Küchentisch? Warum nicht. Was für ein kapitalistisches Unternehmen gut ist, wird Kindern und Jugendlichen kaum schaden können. Auch Eltern-Kind-Beziehungen sollen von Transparenz, Dezentralisierung und Subsidiarität profitieren. Empfohlen wird etwa, die innerfamiliäre Arbeitsteilung mithilfe populärer, aus dem Lean Management stammender und mit handelsüblichen Post-its kinderleicht umsetzbarer Planungstools effizienter zu organisieren und lästige Alltagsaufgaben attraktiver zu gestalten. Alles in allem erfüllt Agilität pädagogisch eine doppelte Funktion sowohl als erzieherischer Selbstzweck wie auch als weitsichtige Vorbereitung auf einen Arbeitsmarkt, in dem die Fähigkeit zu effizienter Selbstorganisation ein zentrales Selektionskriterium darstellt.

Last, but not least sollen auch globale Probleme agil bearbeitet werden. Zeiten von Unsicherheit (→ Unsicherheit), Instabilität und dynamischem Wandel verlangen nach tiefgreifenden Reformen, die mit den bestehenden institutionellen Rigiditäten brechen. Agilität gilt 42etwa dem World Economic Forum als Element einer adaptiven Katastrophen-Governance, die Krisenmanagement und experimentelle Innovation miteinander verschmilzt. Namentlich die Klimakrise (→ Klimawandel) lässt sich, so das Versprechen, als Chance auf mehr Wachstum, Wohlstand und technischen Fortschritt begreifen. Aus dieser Perspektive stellt sich Agilität auch als Baustein eines neuen Realismus dar, der den globalisierungskritischen Slogan von der anderen Welt, die möglich ist, zuspitzt: Auf der politischen Agenda steht nicht, was zukünftig anders sein kann und sollte, sondern was ohnehin anders kommen wird als gedacht. Fortschrittlich ist, wer sich unverzüglich, without delay, darauf einstellt. Agiles Regieren soll durch die Automatisierung und Digitalisierung (→ Digitalisierung) von Feedbacksystemen erleichtert werden. Bürger:innen muss man dann nicht mehr nach ihrer Meinung fragen, denn sie produzieren in ihrem alltäglichen Tun selbst jene Daten, die Entwickler:innen, Unternehmen und Regierungen benötigen, um die Just-in-time-Anpassung von Produkten, Maßnahmen und Sanktionen zu garantieren.

Natürlich wird Agilität nicht überall gefeiert. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um ein Trendkonzept handelt, das abgesehen von Plastikwörtern und bunten Klebezetteln kaum Neues zu bieten hat. Bezeichnenderweise findet sich dieser Einwand jedoch kaum in kritischen Reflexionen des Konzepts. Das mag daran liegen, dass schon viele Menschen am eigenen Leib erfahren haben, dass Agilität kein bloßes Hirngespinst ist – oder falls doch, eines mit erheblichen praktischen 43Zumutungen. Entsprechend konzentriert sich die Kritik eher auf Umsetzung und Wirkung agiler Methoden (vgl. Boes u. ‌a. 2017, S. 17ff.). Beklagt wird zum einen ein regelrechter Agilitätsterror – alles und jede:r muss nunmehr agil werden –, zum anderen eine Art Pseudoagilität, die zwar Tempo und Leistungsdruck erhöht, an den nach wie vor stabilen Routinen und Hierarchien aber nicht rüttelt (Bueren 2022). Plausibel erscheint, dass womöglich beides zutrifft, real existierende Agilität mithin das Schlechte aus zwei Welten verbindet: die hierarchische Struktur des industriegesellschaftlichen Kommandosystems mit den Entgrenzungszumutungen der postfordistischen digitalen Ökonomie.

Wie man hört, stellt Agilität nicht nur für Menschen eine veritable Herausforderung dar. Auch Hunde sollen sich niedergeschlagen und antriebslos zeigen, wenn ihre Halter es mit dem agility training