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Die Reformation war nicht nur ein historisches Ereignis mit weltweiter Wirkung, sondern eine spirituelle Revolution. Ihre Triebkraft war die befreiende Entdeckung, dass Gott in seiner Schöpfung bedingungslos als Kraft der Veränderung zum Guten gegenwärtig ist. Gott allein ist der Erste, alles andere das Zweite. Das führte existenziell zu einer Neuausrichtung des ganzen Lebens an Gottes Gegenwart und theologisch zu einer grundlegenden Umgestaltung der traditionellen religiösen Denksysteme. Indem die Reformatoren alles Leben und Denken, Erfahren und Leiden, Vorstellen und Tun kompromisslos auf die schöpferische Gegenwart Gottes hin ausrichteten, revolutionierten sie die christliche Lebens- und Denkungsart. Das Buch des international bekannten Systematikers und Religionsphilosophen Ingolf U. Dalferth kegt dar, was es heißt, Gott vom Kreuzesgeschehen her theologisch zu denken. Und es entfaltet den christlichen Monotheismus nicht als System der Vergewaltigung Andersdenkender, sondern als Lebensform radikaler Freiheit und Liebe, die sich als Resonanz der Gnade Gottes versteht. [God First. The Reformation Revolution of the Christian Way of Thinking] The Reformation was not only a historical event with worldwide effects, but a spiritual revolution. Its driving force was the liberating discovery that God is unconditionally present in his creation as the power of change for the good. God alone is the first, everything else is the second. This led existentially to a reorientation of the whole life towards God's presence and theologically to a fundamental transformation of the traditional systems of religious thought. By orienting all life and thought, experience and suffering, imagining and doing uncompromisingly towards this creative presence of God, the Reformers revolutionized the Christian way of living and thinking. The book reconstructs the way of thinking of Protestant theology by explaining what it means to think God theologically based on the event of the cross. And it unfolds Christian monotheism not as a system of violence against other religions, but as a way of life of radical freedom and love, which sees itself as a resonance of the free gift of God's grace.
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Seitenzahl: 503
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Ingolf U. Dalferth
God first
Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart
Ingolf U. Dalferth, Dr. theol., Dres. h.c., Jahrgang 1948, war von 1995 bis 2013 Ordinarius für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich und von 1998 bis 2012 Direktor des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich. Seit 2007 lehrt er als Danforth Professor of Philosophy of Religion an der Claremont Graduate University in Kalifornien. Dalferth war u. a. mehrfach Präsident der Europäischen Gesellschaft für Religionsphilosophie, Gründungspräsident der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie und 2016/2017 Präsident der Society for the Philosophy of Religion in den USA. Er erhielt die Ehrendoktorwürden der Theologischen Fakultäten von Uppsala und Kopenhagen. Er ist u. a. Hauptherausgeber der »Theologischen Literaturzeitung« (Leipzig) und der Publikationsreihe »Religion in Philosophy and Theology« (Tübingen).
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
2., korr. Aufl. 2019
© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
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Cover und Layout: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen
ISBN 978-3-374-05654-5
www.eva-leipzig.de
Das Buch ist aus Vorträgen und Vorlesungen hervorgegangen, die ich in den vergangenen Jahren aus Anlass des Reformationsgedenkens 2017 an verschiedenen Orten gehalten habe. Die Reformation auf ein nur historisches Phänomen der Vergangenheit zu reduzieren, greift in jeder Hinsicht zu kurz. Ihre Anliegen sind noch weitgehend uneingelöst. Es geht nicht darum, Erreichtes zu verkleinern oder zu übersehen oder Fragwürdiges zu bestreiten oder auszublenden. Aber die revolutionäre Kraft der reformatorischen Neuaufbrüche wird unterschätzt, wenn man von ihrer kompromisslosen Ausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart nur im Modus der Vergangenheit spricht.
Auch in einer sich technologisch rapide verändernden spätmodernen Welt erlaubt diese Sicht des menschlichen Lebens, Menschen in einer Zeit wachsenden Humanitätsverlusts das Geheimnis der Gegenwart zu erschließen, so dass sie der Zukunft mit kritischer Zuversicht und vernünftiger Hoffnung entgegenzusehen vermögen. Es wäre theologisch verantwortungslos, sich dafür nicht auch heute mit aller Entschiedenheit einzusetzen. Theologisch leben wir noch lange nicht in einem aufgeklärten Zeitalter. Aber es liegt an uns, unsere Zeit zu einem Zeitalter der Aufklärung über das zu machen, ohne das nichts etwas und alles nichts wäre: Gottes Gegenwart.
Claremont, im März 2018
Ingolf U. Dalferth
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Vorwort
IEinleitung
1. Reformationsgedenken 2017
2. Revolution des Glaubens
3. Reformatorische Theologie
4. Revolution der christlichen Denkungs- und Lebensart
5. Denkformen und Lebensformen
II Die Reformation als Revolution des Glaubens
1. Die Reformation als historisches Ereignis
2. Die Reformation als spirituelles Ereignis
3. Die Reformation als spirituelle Revolution
4. Eine „Revolution in der Denkungsart“
5. Die Wende zum Besseren beginnt bei uns
6. Die Wende zum Guten beginnt bei Gott
7. Solus deus: Gott allein
8. Menschliches Leben
9. Endliche Existenz
10. Endliche Freiheit
11. Semper ubique actuosus: Immer und überall aktiv
12. Tiefenpassivität
13. Etsi deus daretur: Als ob es einen Gott gäbe
III Die Vernunft des Glaubens
1. Reformation als Revolution
2. Orientierung an Gottes Freiheitsmacht
3. Orientierung an Gott und die Gleichheit der Menschen
4. Vernunft oder Glaube?
5. Zur Grammatik von »Glaube« und »Vernunft«
6. Glaube, Unglaube, Vernunft, Unvernunft
7. Das Wesen, an dem Gott baut
8. Der Mensch als Selbstgeschöpf
9. Der Mensch als Gottesgeschöpf
10. Kreative Passivität
IV Die Freiheit des Glaubens
1. Glaubensfreiheit
2. Endliche Freiheit
2.1Kontingenz und Freiheit
2.2Schöpfer und Geschöpf
2.3Die Vielfalt der Freiheitsverständnisse
2.4Handeln und Verhalten
2.5Handlungsfreiheit
2.6Entscheidungsfreiheit
2.7Freiheit als Fiktion (Kant)
3. Gottes Freiheit
3.1Willensfreiheit (Augustinus)
3.2Drei Gegenmodelle
3.3Urteilsenthaltung und Wahlfreiheit (Erasmus)
3.4Freiheitsmacht (Luther)
4. Die Säkularisierung der Glaubensfreiheit
5. Der Überschuss der Glaubensfreiheit
V Die Vielfalt und Verschiedenheit des Glaubens
1. Glauben ist menschlich
2. Die grammatische Leitunterscheidung Sachverhaltsglaube/Personglaube
3. Die erkenntnistheoretische Leitunterscheidung Glaube/Wissen
3.1Vom Wissen zum Glauben
3.2Vom Wissen ohne Glauben
4. Die anthropologische Leitunterscheidung Glaube/Nichtglaube
5. Die theologische Leitunterscheidung Glaube/Unglaube
5.1Modales Glaubensverständnis
5.2Religiöses vs. theologisches Glaubensverständnis
5.3Existenzielle Unterbrechung und Neuausrichtung des Lebens
5.4Neue Ausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart
6. Glaube und Unglaube als Existenzmodi menschlichen Lebens in Gottes Gegenwart
VI Das Denken des Glaubens
1. Nachdenken über den Glauben
2. Theologie und Glaube
3. Irrwege protestantischer Theologie in der Moderne
4. Glaube als Möglichkeitsbedingung der Theologie
5. Glaube als Gegenstand der Theologie
6. Geschenkter Glaube
7. Freiheit der Theologie
8. Evangelische Theologie
9. Die theologische Leitdifferenz zwischen Schöpfer und Schöpfung
10. Der Grundcharakter der Differenz zwischen Schöpfer und Schöpfung
11. Kirchliche, akademische und gesellschaftsbezogene Theologie
12. Irrwege kirchlicher Theologie
13. Irrwege akademischer Theologie
14. Irrwege gesellschaftsbezogener Theologie
15. Orientierung an Gott
VII Die Denkform evangelischer Theologie
1. Eigentümlichkeiten der Rede von Gott
2. Zur ideologischen Negation wissenschaftlicher Theologie
3. Weniger oder mehr als eine Wissenschaft?
4. Theologie und Glaube
5. Wissenschaft und Leben
6. Wie-Fragen statt Warum-Fragen
7. Die Dynamik der Wissenschaften
8. Theologie als Weisheit und Wissenschaft
9. Reformatorische Theologie
10. Schwierigkeiten der Theologie in der Moderne
11. Theologie als Reflexion christlicher Lebensorientierung
VIII Gott theologisch denken
1. Gott wird nur gedacht, wenn Gott nicht nur gedacht wird
2. Nietzsches Diagnose
3. Götzendienst und Gottesdienst
4. Postsäkulare Indifferenz
5. Metaphysischer Theismus
6. Falsche Freunde der Theologie
7. Kritik des metaphysischen Theismus
7.1Falsches Ziel
7.2Falsche Hoffnung
7.3Falsche Aufgabenstellung
8. Vom Denken Gottes
9. Reform des Denkens
10. Glaube und Unglaube
11. Theologisches Denken
12. Denken des Wahrheitsereignisses
IX Die theologische Denkform des Unbedingten
1. Die Herausforderung, Gott zu denken
2. Bestimmen des Unbedingten
2.1Das Bestimmtheitsgebot
2.2Bestimmbares, Unbestimmbares, Andersbestimmbares
2.3Unterscheiden
2.4Nichttheologische und theologische Bestimmtheit
2.5Unbedingtes als Grenzbegriff, Bestimmungsbegriff und Orientierungsbegriff
3. Schwierigkeiten, Gott zu denken
3.1Endlichkeit vs. Sünde
3.2Gottesgedanke vs. Gott
3.3Vollbestimmtheit vs. Weiterbestimmbarkeit
3.4Mehr sehen, als sich zeigt
3.5Grenzen der Analyse
3.6Plurale Horizonte, Eigensicht und Fremdsicht
3.7Gottes Horizont
4. Gott bestimmt denken
4.1Das theistische Denkprojekt
4.2Das transzendentale Denkprojekt
4.3Der Gottesgedanke als Ideal, Index und Inbegriff
4.4Der religionskritische Einwand
5. Denkformen der Theologie
5.1Die theologische Alternative
5.2Möglichkeiten und Fähigkeiten
5.3Offenbarung sub contrario
5.4Philosophische Einsicht und theologische Erkenntnis
5.5Die metaphysische Denkform
5.6Die evangelische Denkform
5.7Das trinitarische Denkprojekt
6.Die produktive Unbestimmtheit im Zentrum des Christentums
6.1Vier Komponenten
6.2Drei Grunddifferenzen
6.3Hoffnung und Widerspruch
X Radikaler Monotheismus als Lebensform der Freiheit
1. Philosophischer und theologischer Monotheismus
2. Wie von Gott reden und wie Gott denken?
3. Platons Idee des wahren Gottes
4. Der wahre Gott der Propheten Israels
5. Von der Monolatrie zum Monotheismus
6. Monotheismus als Antwort auf die Frage verlässlicher Lebensorientierung
7. Orientierung im Denken zur Orientierung im Leben
8. Lebensorientierung vs. Lebensführung
9. Apathischer und pathischer Monotheismus
10.Christlicher Monotheismus
11.Trinitätstheologie
12.Kants Säkularisierung des christlichen Monotheismus
13.Die Freiheitspraxis der Liebe
14.Indexikalischer Monotheismus
15.Trinitätstheologie als radikaler Monotheismus
Hinweis
Endnoten
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Selten stand ein Reformationsgedenken in Deutschland so sehr unter dem Vorzeichen einer anderen Epoche wie das 500jährige Jubiläum der Reformation im vergangenen Jahr. Mit aller Macht suchten die evangelische Theologie und Kirche die nationalprotestantische Luthereuphorie der letzten beiden Jahrhunderte zu vermeiden. Auf keinen Fall wollte man eine Jubelfeier. Die Kirchen betonten das ökumenisch Gemeinsame. Der Staat wollte an eine Wurzel seiner freiheitlichen Rechtsordnung erinnern. Und die Theologen übten sich im kritischen Historisieren.
Doch gerade in der permanenten Abgrenzung vom Lutherjubel vor allem des 19. Jahrhunderts blieb man oft stärker von ihm bestimmt, als man wahrhaben wollte. Noch im Frühjahr 2017 hatte ich bei der Lektüre der deutschsprachigen Presse in der Ferne Kaliforniens nicht selten den Eindruck, sowohl die lautstarken Verächter als auch die kleinlauten Verfechter der Reformation könnten sich eine Gedenkfeier im Jahr 2017 nicht anders vorstellen als eine Art Büßerzug von Flagellanten, die für ihr Fehlverhalten in der Vergangenheit Abbitte tun. Von Freude über die Reformation war wenig zu spüren.
Das hat sich zum Glück im Verlauf des Jahres geändert. Doch in öffentlichen Debatten konnte und kann man darauf setzen, immer wieder an all das Üble und Fragwürdige erinnert zu werden, das man Luther zuschreiben kann: Ein halbherziger Fortsetzer mittelalterlicher Mystik sei er gewesen, ein weggelaufener Mönch, der seine Gelübde gebrochen habe, ein Fürstenknecht, Fälscher und Lügner, der böswillig die Einheit der Kirche zerstört habe, ein hasserfüllter Polemiker, der bar jeder Selbstkontrolle gegen den Papst, die Juden, die Türken, die Bauern gegeifert hätte.
Für fast all das lassen sich Belege anführen, nichts ist ganz falsch, und doch ist das Ganze das Gegenteil von richtig. Wer so schreibt, beschreibt nicht, sondern wertet, und wer seine Wertung auf diese Punkte beschränkt, bekommt weder Luther noch die Reformation in den Blick. Die ist nicht mit Luther gleichzusetzen, aber Luthers Bedeutung reduziert sich auch nicht auf das, was man ihm mit mehr oder mit weniger Recht anlasten kann und muss. Kein Revolutionär entspricht den Wunschvorstellungen derer, gegen die er revoltiert. Und jede Revolution hat Folgen, die das Erreichte zu zerstören drohen. Die Reformation ist da keine Ausnahme. Denn sie war eine Revolution – eine Revolution des Glaubens und kein bedauerlicher Kollateralschaden der Unfähigkeit eines hysterischen Mönchs, mit seinen Privatproblemen vernünftig umzugehen.
Warum eine »Revolution des Glaubens«? Weil die Reformation – nach Luthers eigenem Verständnis, aber auch theologisch und nicht nur historisch betrachtet – nicht primär drauf zielte, Gesellschaft, Staat, Recht und Politik zu verändern, sondern zunächst und vor allem das Verhältnis der Menschen zu Gott. Triebkraft der protestantischen Reformationen des 16. Jahrhunderts war die befreiende Entdeckung, dass Gottes Verhältnis zu den Menschen anders ist, als man gemeint hatte. Das war das Erste, alles andere das Zweite. Deshalb konnte John Milton ein Jahrhundert später die Reformation ein Befreiungsereignis nennen, das nicht Luther, Zwingli oder Calvin zu verdanken sei, sondern Gott selbst.1
Darüber kann man streiten, und Luther selbst war sich immer wieder unsicher, ob in all dem, was er da ausgelöst hatte, wirklich Gott am Werk war. Aber man muss schon von Gott und nicht nur von dem reden, was Menschen sich unter Gott vorstellen, um den existenziellen Ernst des Problems zu erfassen. Gottesvorstellungen sind immer historisch bedingt und kulturell imprägniert. Auch die der Reformatoren. Gott aber ist das nicht. Wer theologisch von Gott sprechen will, muss irgendwann den historischen Berichterstattermodus verlassen und von Gott ohne jedes Anführungszeichen reden, also nicht nur Gottesverständnisse aus Geschichte und Gegenwart zitieren, sondern von dem sprechen, den diese zu verstehen suchen. Der Glaube richtet sich ja nicht auf ein Verständnis Gottes, sondern mit Hilfe eines Verständnisses auf Gott. Und eine Glaubensrevolution ist nicht nur die Veränderung eines überkommenen Verständnisses von Gott, Welt und Mensch oder der Umbau eines religiösen Gedankengebäudes (obwohl sie das immer auch ist), sondern die existenzielle Neuausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart. Glaubensrevolutionen werden erlitten, nicht erdacht, erlebt und nicht ersonnen. Sie verändern das Leben, und nicht nur, wie man das Leben versteht, und sie tun es, indem sie aufdecken, wie Gott Menschen in ihrem Leben gegenwärtig ist: als schöpferische Liebe, die sich schafft, worauf sie sich richtet, und daher immer schon am Werk ist, wenn man sie bemerkt oder bestreitet, sich auf sie besinnt oder sie ignoriert. Gott ist seiner Schöpfung als Liebe gegenwärtig. Und weil es keine Liebe gibt, die nicht wirkt, und kein Wirken Liebe ist, wenn es nicht Übel beendet und Gutes schafft, ist Gott seiner Schöpfung als Kraft der Veränderung zum Guten gegenwärtig, die das, was ist, zu dem verwandelt, was es als Gottes Schöpfung sein kann und sein soll.
Die Reformatoren haben entschieden und kompromisslos alle theologischen Themen von dieser schöpferischen Gegenwart Gottes her durchdacht und entfaltet. Nur coram deo gibt es auch ein Leben coram seipso und coram mundo. Nur als cognitio dei gibt es auch eine theologische cognitio hominis und cognitio mundi, nicht umgekehrt.2 Man kann nicht von sich oder der Welt her auf Gott hin denken, weil man so nie bei Gott ankommt, sondern nur seine Vorstellungen Gottes ausarbeitet und damit ständig bei sich und in der Welt bleibt. Man muss vielmehr von Gott her auf sich selbst und die Welt hin denken, weil man nur so in der Spur Gottes bleibt und alles im Licht der Gegenwart Gottes zu sehen und zu verstehen vermag.
Von Gott her denkt man, wenn man darauf achtet, wie Gott im Leben von Menschen und in der Geschichte der Welt am Werk ist. Die Menschen sind nicht nur das, was wir erfahren und zu kennen meinen, sondern die, an denen Gott baut. Und die Welt ist nicht nur der komplexe und vielschichtige Ereigniszusammenhang, dessen Gesetzmäßigkeiten wir erforschen, sondern das, was Gott durch die wirksame Gegenwart seiner Liebe zu seiner guten Schöpfung verändert. Deshalb findet man Gottes Gegenwart nicht neben oder zusätzlich zu anderem in der Reihe der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse, sondern in und mit allem, was möglich und was wirklich ist. Nichts ist ohne Gott, aber ohne Gott merkt auch niemand, dass es so ist. Gottes Gegenwart erschließt sich nur, wenn die eigene Gegenwart zum Resonanzraum der Gegenwart Gottes wird, weil Gottes Gegenwart sich in unserer je eigenen Gegenwart durch sich selbst als Gottes Gegenwart zugänglich macht.
Wo das geschieht, wird sie als die sich selbst vergegenwärtigende letzte Gegenwart einsichtig, die allem vorausgeht und zugrunde liegt, was so ist, dass es auch nicht sein könnte. Wenn man sich an dieser letzten Gegenwart ausrichtet, erfährt man nicht nur mitten im Leben den Tod, sondern entdeckt mitten im Tod das Leben. Gott ist überall dort zu finden, wo wir sind, im Übel und Leiden, im Freuen und Feiern, im Leben und im Tod. Aber nicht überall, wo Gott ist, wird Gott auch gefunden, sondern nur dort, wo er sich selbst finden lässt. Wo das geschieht, wird deutlich, dass die Grenzen unseres Lebens nicht die Grenzen der Gegenwart Gottes sind, weil alles Endliche in die Unendlichkeit seines schöpferischen Wirkens eingebettet ist. Alles Endliche lässt sich auf das Unendliche hin überschreiten, aber Gottes Unendlichkeit kann nur auf sich selbst hin überschritten werden. Sie ist die letzte Gegenwart, die man nicht hinter sich lassen kann, ohne bei ihr anzukommen, und die man nicht bestreiten kann, ohne sie in Anspruch zu nehmen. Gottes Gegenwart ist das Erste und Letzte, das allem anderen vorausgeht und nachfolgt, nicht das erste oder letzte Glied in der Reihe der Geschöpfe, sondern das Einzigartige und Nichthintergehbare, ohne das es keine Reihe von Geschöpfen geben könnte und geben würde. Nichts ist ohne sie, alles ist durch sie, aber sie ist durch nichts, was sie nicht selbst wäre. Bei ihr muss man daher anfangen, wenn man das denken will, was wir »Gott« nennen, und an ihr muss man sein Leben ausrichten, wenn man das nicht ausblenden will, was man nie als solches erfährt oder erfahren kann, aber ohne das man nichts erfahren könnte und erfahren würde, weil man ohne es nicht leben würde und leben könnte.
Indem die Reformatoren das ganze menschliche Leben und Denken, Erfahren und Leiden, Vorstellen und Tun auf diese letzte Gegenwart hin ausrichteten, revolutionierten sie die christliche Denkungsart und leiteten eine Umgestaltung der christlichen Lebensart ein, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart andauern. Sie begriffen Gottes Präsenz als Präsent, das Leben als Gabe und das Heil als Geschenk, die sich ganz und ausschließlich dem verdanken, der sie gibt und wirkt. Als Ausfluss und Überschuss der Liebe Gottes sind diese Gaben eine unerschöpfliche Ressource des Guten, das allen zugute kommt. Unbeschadet aller Differenzen sind Menschen darin gleich, dass Gott Gutes für sie wirkt. Niemand kann für sich und in seinem Leben Besseres erhoffen. Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart resultiert so in einer evangelischen Lebensart, die alles Gute von Gott erhofft, das ganze Leben auf die Gegenwart von Gottes Liebe ausrichtet und die Schöpfung als Resonanzraum der göttlichen Liebe versteht.
Diese evangelische Lebensart lässt sich in allen christlichen Traditionen finden. Sie ist kein protestantisches Privileg, sondern kann dort ebenso verfehlt oder gelebt werden, wie in anderen christlichen Traditionen. Ein evangelisches Leben ist ein Leben, das durch das Evangelium orientiert ist, sich also in der Sinnform des Glaubens vollzieht, der sich dem Evangelium verdankt. Ein solches Leben kann sich im Christentum überall finden, es kann aber das Leben von Menschen faktisch auch dort prägen, wo diese es gar nicht so nennen würden oder könnten.
Auf der einen Seite gilt daher: Nicht überall, wo das Evangelium das Leben bestimmt, bestimmt es auch das Denken, und das aus verschiedenen Gründen. Vielleicht hat man noch nicht begonnen, darüber nachzudenken. Oder man lebt in einer Kultur, die ganz andere Ausdrucks-, Sprach-, Sinn- und Denkformen hat. Entscheidend ist, dass und wie das Leben in Gottes Gegenwart durch Gottes Gegenwart bestimmt wird, auch wenn das nicht reflektiert wird und nicht mit christlichen Sprach- und Denkfiguren zur Sprache gebracht wird bzw. werden kann. Die Wirkkraft von Gottes Gegenwart ist nicht daran gebunden, dass sie christlich zur Sprache kommt. Das Christentum dagegen bringt mit dem, was es von und über Gottes Gegenwart sagt, das zur Sprache, was auch dort wirkt, wo es nicht so bzw. gar nicht zur Sprache gebracht wird.
Auf der anderen Seite gilt aber auch: Nicht überall, wo das Evangelium das Denken bestimmt, bestimmt es auch das Leben, und auch das in mehr als einer Weise. Das Leben kann durch die Denkform, in der man sich orientiert, mehr oder weniger deutlich bestimmt sein auf der ganzen Skala von gar nicht bis ganz und gar. Es gibt dichte Lebensformen, in denen die Denkorientierung alle Lebensvollzüge bestimmt, und es gibt diffuse Lebensformen, in denen die Denkorientierung manchmal oder in bestimmten Bereichen, aber nicht überall und nicht immer in derselben Konsequenz und Tiefe konkretisiert wird. Man kann manchmal oder in manchen Hinsichten ein christliches Leben führen und manchmal oder in anderen Hinsichten nichts dergleichen tun. Es genügt nicht, zu wissen, was wahr ist, um es auch zu tun. Und es genügt nicht, das Rechte zu denken, um auch recht zu leben.
Die Denkform des Evangeliums und die Lebensform des Evangeliums sind daher beide in den Blick zu nehmen. Dass und wie sie sich entsprechen, versteht sich nicht von selbst. Beide gehören zur Sinnform gelebten Glaubens, den es ohne das Evangelium nicht gäbe. Beide prägen die christliche Lebenspraxis, als denkender Glaube und als gelebter Glaube, als intellektuelle Bemühung und als existenzieller Vollzug. Beide tun es aber auf verschiedene Weise. Das Denken – im weiten Sinn des Reflektierens, Imaginierens, Vorstellens und Urteilens – distanziert vom konkreten Lebensvollzug und geht über die jeweilige Wirklichkeit des Lebens hinaus, indem es Möglichkeiten erkundet, die das je wirkliche Leben als Überschuss übersteigen. Das Leben wiederum bindet das Denken in umfassendere Prozesse und Wirklichkeitszusammenhänge ein, zu denen das Denken auch dann gehört, wenn es ihnen gegenübertritt oder von ihnen abstrahiert und für sich thematisiert wird. Wie das Denken das Leben auf das Mögliche hin öffnet, so bettet das Leben das Denken in das Wirkliche ein. Im Denken geht es um die kreative Erschließung des Möglichen, im Leben um die konkretisierende Verdichtung des Wirklichen. Beide Momente markieren verschiedene Dimensionen der Dynamik des Lebens, und beide prägen auch das Glaubensleben.
Theologie erkundet Voraussetzungen, Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen der Lebens- und Denkformen des Glaubens, der sich dem Evangelium verdankt. Sie ist die Kunst, durch Klärungen im Denken mögliche oder faktische Unklarheiten im Leben aufzudecken, um sie vermeiden zu können, und durch Abbau von Unklarheiten im Denken auf Klarheiten aufmerksam zu machen, die sich im Vollzug des Lebens leicht übersehen lassen.
Denkformen sind Orientierungssysteme, die anhand von Unterscheidungen aufgebaut werden, die einem helfen, sich im Blick auf bestimmte Fragen im Denken zu orientieren. Unterscheidungen werden von einem bestimmten Gesichtspunkt her gesetzt, und die Grundunterscheidungen bestimmen die Richtung, in der durch weitere Unterscheidungen Bestimmtheit im Denken erzeugt werden kann. Der Grundgesichtspunkt der evangelischen Denkform ist die absolute Priorität, die im christlichen Glauben Gott eingeräumt wird, und zwar nicht nur als dem absoluten Prius alles geschöpflichen Seins, sondern so, wie er durch seine Gegenwart im Leben seiner Geschöpfe für diese und durch diese wirksam ist. Orientierung an Gott im Denken ist Orientierung am Modus der schöpferischen Gegenwart Gottes, also Orientierung daran, wie Gott im Leben seiner Geschöpfe am Werk ist. Orientierung an Gottes Gegenwart im Leben dagegen führt zu Unterscheidungen, die im jeweiligen biographischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext getroffen werden und sich als Modifikationen des jeweils Gegebenen zu einer je konkreten geschichtlichen Lebensform des Christseins verdichten. Christlich ist diese Lebensform, wenn und insofern sie sich daran orientiert, wie Gottes Gegenwart durch Jesus Christus und das Wirken des Geistes im Leben der Geschöpfe konkretisiert und für menschliches Verstehen verdeutlich wird. Das geschieht unter geschichtlichen Bedingungen in immer wieder anderer Weise, so dass von den christlichen Lebensformen nur im Plural gesprochen werden kann.
Das gilt auch für die evangelische Lebensform, die das Christliche dadurch konkretisiert, dass sie das Leben am Evangelium orientiert und damit an dem, wie Gott seine schöpferische Gegenwart durch Jesus Christus und seinen Geist im Leben von Menschen zur Wirkung und verständlich zur Geltung bringt. Diese Lebensform des Evangeliums entfaltet die Denkform des Evangeliums. Durch die Erkundung von Alternativen im Denken werden mögliche Alternativen im Leben erhellt mit dem Ziel, Irrwege und Abstürze im Leben zu vermeiden und positive Gestaltungen christlichen Lebens in der Gegenwart möglich und wahrscheinlicher zu machen. Das theologische Denken ist daher an jedem Punkt praxisorientiert, und das christliche Leben sucht von sich aus nach Klärung der Unterscheidungen, an denen es sich orientieren muss, um seine Ausrichtung an der Gegenwart Gottes in der Bestimmung, im Modus und in der Gestaltung der gemeinsamen und individuellen Lebensvollzüge der Christen3 zur Geltung zu bringen.
Das reformatorische Denken hat durch radikale Zuspitzung christlicher Einsichten dazu einen theologischen Horizont eröffnet, der noch lange nicht abschließend erkundet ist. Die folgenden Überlegungen sind Versuche, die Fruchtbarkeit dieser theologischen Neuorientierung an zentralen Punkten exemplarisch aufzuzeigen.
Warum sollte man Jahr für Jahr an ein Ereignis erinnern, das sich in diesem Jahr vor über einem halben Jahrtausend ereignet hat? Auf diese Frage wird meist eine historische Antwort gegeben. »Die protestantische Reformation ist ein zentrales Ereignis in der Geschichte des Christentums, und die wichtigen Themen, die sie damals aufgeworfen hat, sind auch heute noch in verschiedenen Formen aktuell.«4 Oder wie Pannenberg schon vor Jahrzehnten schrieb: »[O]hne Reformation keine Kirchenspaltung, keine konfessionellen Religionskriege, kein säkularer Staat, kein religiöser Pluralismus, keine Beschränkung der Religion auf die Privatsphäre und kein religiöser Individualismus, zumindest nicht als beherrschende Erscheinung eines Zeitalters.«5
Verteidiger und Kritiker der Reformation können eine solche Sichtweise der historischen Tatsachen teilen, zumindest in groben Zügen. Während Protestanten aber dazu neigen, die Errungenschaften der Reformation bei allen kritischen Vorbehalten als wichtige Einsichten zu feiern (die Entdeckung des individuellen Gewissens und der eigenen Verantwortung, die Anfänge der Religionsfreiheit, der Übergang vom religiösen Kult zur sittlichen Praxis, die Wende von gottgegebenen Gesetzen zu menschengemachten Regeln),6 beklagen Katholiken bis heute die beabsichtigten oder unbeabsichtigten Folgen der Reformation (den Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltordnung, die Auflösung der kulturellen Harmonie von Glaube und Vernunft, Kirche und Staat, religiöser und weltlicher Macht im Westen, einen Hyperpluralismus der Glaubensüberzeugungen, den Aufstieg des Individualismus, Säkularismus, Atheismus und Relativismus, den Niedergang organisierter Religion, den Zerfall der Metaphysik und den Verlust des Glaubens an absolute Werte und das ewige Leben, den Triumph des Kapitalismus und der Konsumkultur).7
Beide Seiten stehen allerdings vor der Herausforderung zu zeigen, warum die protestantische Reformation für die genannten Entwicklungen verantwortlicher sein sollte als etwa der Aufstieg der Nationalstaaten, die Verbreitung des Buchdrucks, die Entdeckung Amerikas, die Anfänge der westlichen Eroberung der Erde oder die Entstehung von Handelsbanken und internationaler Hochfinanz und deren Einfluss auf die Politik in Europa. Wird die Reformation als historisches Ereignis betrachtet, dann muss man konsequent historisch sein. Man muss sie dann als eine Folge der ihr vorangehenden geschichtlichen Entwicklungen verstehen und spätere geschichtliche Entwicklungen in Europa und darüber hinaus als Ereignisse begreifen, die allenfalls zum Teil, aber niemals ausschließlich und vollständig durch die Reformation bedingt sind.
Die protestantische und die katholische Geschichtswissenschaft haben seit geraumer Zeit aufgehört, die Reformation und ihre beabsichtigten oder unbeabsichtigten Folgen nur zu feiern oder nur zu beklagen. Es gab nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe protestantischer Reformationen (nicht nur in Wittenberg, Zürich, Genf, Kopenhagen, Lund, Uppsala und London, sondern auch in Straßburg, Münster, Ulm, Nürnberg, Schwäbisch Hall, Bern und vielen anderen Städten und Ländern), und die protestantischen Reformationen des 16. Jahrhunderts waren nichts Einzigartiges, sondern Teil einer Reihe von Reformen und Reformversuchen in der Kirche des Westens vom frühen Mittelalter bis zum Konzil von Trient und darüber hinaus. Historisch kann von der Reformation nur dann im Singular geredet werden, wenn man die komplexe Signatur einer ganzen historischen Epoche meint, die lange vor dem 16. Jahrhundert begonnen hat und weit darüber hinaus fortwirkte.
Doch für diesen historisierenden Zugang ist ein Preis zu zahlen. Je historischer unsere Linse ist, desto weniger scheinen wir in der Lage zu sein, die Eigentümlichkeiten der Reformation des 16. Jahrhunderts zu sehen, und desto schwieriger wird es, das, was wir mit dem Begriff der Reformation meinen, genau zu fassen. Wenn es aus historischer Sicht überhaupt etwas gibt, was das Gedenken an die Reformation rechtfertigt, dann ist es die Bedeutung ihrer kirchlichen, politischen, sozialen, kulturellen, juristischen Auswirkungen, wie auch immer man diese beurteilen mag. Aber diese Wirkungen setzen historische Entwicklungen fort, die lange vor dem 16. Jahrhundert begonnen haben und sich nicht nur auf die Reformation zurückführen lassen.
Als komplexes historisches Ereignis ist die protestantische Reformation tief eingebettet in die historischen Entwicklungen des mittelalterlichen Europa, die Reformbewegungen in der Westkirche seit dem 11. Jahrhundert, den Machtkampf zwischen Konziliarismus und Papsttum um die höchste Autorität in der Kirche, den Kampf gegen den Islam, die Kreuzzüge und den Zusammenbruch von Byzanz, die mystischen, monastischen und apokalyptischen Bewegungen, den Aufstieg der Universitäten und scholastischen Theologien, den theologischen Wandel von der thomistischen via antiqua zur occamistischen via moderna, die humanistische Rückkehr zu den Quellen und die Modernisierung der universitären Bildungseinrichtungen, die Wiederentdeckung der Pracht und des Potenzials des Menschen in der Renaissance, den Aufstieg der Nationalstaaten und der frühkapitalistischen Ökonomien. Es handelte sich um ein historisches Ereignis mit tiefgehenden historischen Wurzeln und weitreichenden geschichtlichen Folgen. Je nachdem, wie man diese Folgen einschätzt und beurteilt, neigt man dazu, die Reformation zu feiern, oder sieht nicht den geringsten Grund, das zu tun.
Doch bei allen wichtigen Einsichten, die wir der historischen Reformationsforschung der vergangenen Jahrzehnte verdanken, ist diese Forschung eigentümlich unergiebig, wenn es darum geht, die theologische Dynamik der Reformation zu verstehen und zu würdigen. In Deutschland (und nicht nur da) dominieren Historiker die öffentliche Debatte, während die theologischen Stimmen auf die Kirchen beschränkt sind und keine besondere Aufmerksamkeit in der nichtkirchlichen Öffentlichkeit erhalten.
Deshalb werde ich im Folgenden anders vorgehen. Anstatt mich auf die jüngsten Forschungen zu den frühneuzeitlichen Reformationsbewegungen zu konzentrieren, werde ich versuchen, die Reformation als spirituelle Revolution zu verstehen. Darin lag ihre einzigartige Bedeutung im 16. Jahrhundert. Darum hieß es im 17. Jahrhundert, die Reformation sei nicht einfach geschehen, sondern hätte geschehen müssen, weil sie von Anfang an Gottes souveräne Absicht war – nicht Luther, Zwingli oder Calvin, sondern Gott sei die Reformation zu verdanken. Und das stellt auch heute die zentrale Herausforderung für eine theologische Auseinandersetzung mit der Reformation dar.
Aus theologischer Sicht ist die Reformation nicht nur als historisches Ereignis, sondern vor allem als spirituelles Ereignis zu würdigen. Auch ihre historische Bedeutung verdankt sich dieser spirituellen Bedeutung. Die protestantische Reformation im 16. Jahrhundert veränderte den Lauf der Geschichte, indem sie ein neues Verständnis von Gott und der menschlichen Existenz vor Gott eröffnete, das unsere Sichtweise auf die Welt, auf Gott und auf uns selbst veränderte. Man verfehlt den Sinn der protestantischen Reformation, wenn man ihre religiöse Bedeutung vernachlässigt, und man verfehlt ihre religiöse Bedeutung, wenn man die Reformation auf ihre historischen Auswirkungen reduziert, also auf die Reform der Kirche, die Auflösung von Orden und Klöstern, die Säkularisierung von Kircheneigentum, den Aufbau von Armenpflege in den Städten, die Bildung von Nationalstaaten oder die Wertschätzung der Alltagsarbeit in Familie und Beruf als einer ›Berufung‹ Gottes. All das ist zweifellos wichtig, aber es rechtfertigt kaum, zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Jubiläum zu feiern. Die evangelischen Kirchen gedenken der Reformation nicht nur als eines historischen Ereignisses der Vergangenheit, ohne das sie nicht das wären, was sie heute sind. Sie haben theologische Gründe, der Reformation regelmäßig zu gedenken. Wenn wir diese Gründe verstehen wollen, müssen wir die Reformation nicht nur als ein historisches, sondern auch und vor allem als ein spirituelles Ereignis würdigen.
Ein spirituelles Ereignis ist ein Ereignis des Geistes, das unsere Beziehung zu Gott betrifft und nicht nur unsere Beziehung zu Ereignissen in der Welt. Es konkretisiert unsere Beziehung zum Schöpfer und wirft Licht auf unser Leben in Gottes Schöpfung, indem es die schöpferische, innovative und transformative Art und Weise manifestiert, in der Gottes Geist in der Schöpfung wirkt.8 Die Bezugnahmen auf Gott und Gottes Geist und die Unterscheidung zwischen den Beziehungen zum Schöpfer und den Beziehungen zur Schöpfung mögen für diejenigen, die Gott als nichts anderes als eine Fiktion des menschlichen Geistes betrachten, von geringem Interesse sein. Wenn wir aber Grund zur Annahme haben, dass menschliche Fiktionen Gottes unmöglich sind, wenn Gott nicht wirklich wäre, weil ihre Möglichkeit letztlich an Gott als der Wirklichkeit alles Möglichen hängt, dann müssen wir unterscheiden zwischen unseren Beziehungen zu dem, was ohne Gott nicht möglich und damit auch nicht wirklich wäre (der Welt), und zu dem, ohne den nichts Möglich es oder Wirkliches möglich wäre (Gott). Das erste sind die empirischen und historischen Beziehungen zu den Ereignissen in der Welt, das andere die spirituellen Beziehungen zu dem, ohne den es keine Welt der Ereignisse gäbe und niemand, der Beziehungen zu oder in dieser Welt hätte.
Meine These ist nun allerdings nicht nur, dass die Reformation als spirituelles und nicht nur als historisches Ereignis zu verstehen ist, sondern dass sie als spirituelle Revolution zu würdigen sei. Das ist mehr als nur ein rhetorischer Wechsel des Ausdrucks. Wie Kurt Kardinal Koch, der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, in den vergangenen Jahren mehrfach betont hat, müssen wir darauf achten, zwischen »Reformation« und »Reform« zu unterscheiden. In seinen frühen Jahren, so der Kardinal, war Luther »still living and acting within the community of the Catholic Church, seeking a thoroughgoing church reform but not a Reformation in the sense of a movement that would split the church«.9 Doch was als Reform begann, endete in einer Revolte. Daher kann die spirituelle Bedeutung der Reformation nicht auf den Versuch einer Reform der Kirche beschränkt werden.
»[R]eform ›can never have as its result that the reformed body is no longer identical with the one that was to be reformed‹ […] For a reform bears on the concrete form of appearance and realization but not on the essence of what is to be reformed. Otherwise it would be a matter not of reform but of change of essence, which would make the body to be reformed into something else than it was before. The word ›reform‹ implies that the church has lost its original form and is seen in a deformed state, so that it must find again its original and authentic form, and that consequently true remembrance consists in a thinking back to the original that is at the same time considered normative. Church reform is in its basic sense reform, namely recovery and winning back of the true form of the one church […, a] reconquest of the original, the essential, and the authentic […]. Is the 16th century Reformation to be understood as church reform in this sense, or did it not rather lead much more radically to a change of essence?«10
Die Frage ist rein rhetorisch. Wenn die wahre und wesentliche Form der einen Kirche in der »sacramental-eucharistic and episcopal basic structure of the church«11 besteht, dann ist klar, dass die franziskanischen und dominikanischen Bettelorden viel bessere Beispiele wahrer Kirchenreform sind als die protestantischen Reformationsbewegungen des 16. Jahrhunderts, weil sie »did not aim so much to found new orders as to renew the church from within«.12 Sie blieben bei der Herde und versuchten, die Kirche zu reformieren, ohne die Hierarchie in Frage zu stellen. Das ist die einzig akzeptable Form der Kirchenreform für Kardinal Koch. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts taten das nicht. Sie gingen von der Reform zur Revolte über, lösten sich (so Kardinal Koch) von der katholischen Tradition und führten »a completely new ordering of the church’s being« ein, das »in principle every Christian« erlaubt, »to administer the sacraments, that is, baptize and distribute the Eucharist«.13
Wenn man die Errungenschaften der Reformation so als Fehlentwicklungen betrachtet, dann ist klar, dass es sich nicht um eine Reformbewegung, sondern um eine Revolte handelt. Das lässt nicht viele Möglichkeiten offen, die Kluft zwischen der römisch-katholischen Kirche und den „kirchlichen Gemeinschaften« der protestantischen Reformation zu überwinden. Die wahrscheinlichste Option dürfte wohl sein, die protestantischen Kirchen einzuladen, wieder in den Schoß der römischkatholischen Kirche zurückzukehren und sich in dieser den Status religiöser Orden zuweisen zu lassen. Wenn sie die Hierarchie anerkennen, sich von der Revolte abwenden und zur Reform zurückkehren, dann können sie wie die Franziskaner, Dominikaner oder Jesuiten ein relativ unabhängiges Eigenleben in der reichen und komplexen Realität des weltweiten Katholizismus führen.
Doch das ist eine vergebliche Hoffnung, und die Alternative zwischen Reform und Revolte verfehlt die wirkliche Herausforderung der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts. Wenn ich von einer spirituellen Revolution spreche, meine ich nicht eine (gescheiterte) Reform der Kirche oder eine (falsche) Revolte gegen die Kirche. Probleme der Kirchenreform (Ablass, päpstliche Autorität, Missbrauch kirchlicher Macht, bischöfliche Fahrlässigkeit) mögen Anlass für die Ereignisse von 1517 in Wittenberg und ähnliche Ereignisse an anderen Orten gewesen sein. Aber sie sind weder das geistliche Zentrum der Reformation noch das Herzstück ihrer theologischen Herausforderung. Wir müssen über die Alternative zwischen »Reform« und »Revolte« hinausgehen und die spirituelle Bedeutung der Reformation als einer Revolution würdigen – einer grundlegenden Neu- und Umorientierung von einer Sicht der Welt am Leitfaden der Unterscheidungen zwischen Kirche und Staat, Religion und Säkularität, Katholiken und Protestanten, Christentum, Judentum und Islam etc. zu einer Sichtweise, in der all diese Unterscheidungen zur Immanenz der Schöpfung gehören im vertikalen Kontrast zum transzendenten Schöpfer. Der Schlüssel zum Verständnis der religiösen Bedeutung der Reformation liegt nicht in den immanenten Unterscheidungen zwischen Kirche und Staat, Katholiken und Protestanten oder Religiösem und Säkularem, sondern vielmehr in der theologisch fundamentalen Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung. Alles Leben und Denken radikal auf diese Unterscheidung zu fokussieren, war die spirituelle Revolution der Reformation.
»Revolution« kann viele verschiedene Dinge bedeuten. Ich verwende den Begriff so, wie Kant ihn in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verwendet hat. Er spricht von einer »Revolution für die Denkungsart«,14 einer Umkehrung in der Ordnung der Maximen der Selbstliebe und der Gottesliebe (des universellen guten Willens), die notwendig ist, um die Menschheitsgeschichte davor zu bewahren, in einer Katastrophe zu enden, indem sie dem radikal Bösen widersteht und seine Auswirkungen auf das Leben und die Geschichte der Menschen bekämpft. Ohne einen Sinneswandel keine Zukunft der Menschheit, ohne eine Neuorientierung zum Guten keine Hoffnung auf ein Leben in Frieden, ohne eine radikale Veränderung unserer Denkweise keine Chance auf ein besseres Leben und eine bessere Praxis in der Zukunft. Wenn wir als Personen in einer Gemeinschaft von Personen leben und nicht nur unseren individuellen Interessen um jeden Preis folgen wollen, dann müssen wir die konkurrierenden Kräfte und Partikularinteressen überwinden, die ein gemeinsames Leben behindern, und uns auf unsere gemeinsame Menschlichkeit und deren Würde besinnen, indem wir uns neu auf das wirklich Universelle ausrichten, das eine und einzige Gute, ohne das niemand des Glücks würdig ist. Es gibt keinen anderen Weg, um diese dringend notwendige Neuorientierung herbeizuführen, als einen grundlegenden Sinneswandel.
Das menschliche Dilemma ist, dass dieser Sinneswandel unser eigener Sinneswandel sein muss (wir müssen es selbst tun) und dennoch nicht von uns selbst vollzogen werden kann (wir können es selbst nicht tun). Nicht weil dieser Wandel an sich unmöglich wäre, sondern weil wir ihn nicht wollen und uns mit unserer Privilegierung von Selbsterhaltung und Selbstliebe selbst im Weg stehen. Die Herausforderung besteht nicht darin, eine neutrale Entscheidung zwischen zwei Optionen zu treffen. Wir alle müssen uns entscheiden, wer und was wir als Menschen sein wollen, aber niemand kann sich seiner eigenen Geschichte entziehen. Keiner von uns ist ohne Schuld und Verfehlung, und keiner von uns kann sich ändern wollen, ohne von dem ausgehen zu müssen, was wir durch andere und durch uns selbst geworden sind. Für uns gibt es keine Rückkehr zum Nullpunkt. Wir haben immer schon eine Geschichte, die uns prägt, und der können wir nicht entkommen. Deshalb kann sich das böse Herz von sich aus niemals in ein gutes Herz verwandeln. Keine Selbstreform wird ein neues Selbst hervorbringen, sondern nur eine neue Form des alten Selbst. Und keine neue Form des Selbst kann das, was wir aus uns selbst gemacht haben, rückgängig machen. Es gibt keinen Ausweg aus den Entscheidungen unserer Vergangenheit, sondern nur deren ständige Erinnerung, Aktualisierung und Fortbestimmung.
Doch was wir brauchen, ist ein Neustart, kein Update. Das ist es, was Kant als Revolution bezeichnet hat: eine komplette Umkehrung der Ordnung unserer Maximen, die unsere Denk- und Lebensweisen auf den Kopf stellt und uns einen Neuanfang ermöglicht. Das Problem ist, dass dieser Neuanfang, selbst wenn er möglich wäre, nicht rückwirkend ändern kann, was wir vorher waren und geworden sind. Er erlaubt uns nicht, zum Ausgangspunkt zurückzukehren und die Vergangenheit rückgängig zu machen. Wenn unsere Identität das ist, was wir aus uns selbst und andere aus uns gemacht haben, dann können wir den Fehlern und dem Versagen unserer Vergangenheit nicht entkommen.
Deshalb beharrt Luther darauf, dass unsere wahre Identität nicht in uns, sondern außerhalb von uns zu finden ist, nicht in unseren Beziehungen zu uns selbst und zu anderen, in denen wir das sind, was wir aus uns selbst machen, sondern in unserer Beziehung zu dem, was Gott für uns in Christus und in uns durch seinen Geist wirkt. Während Kant für die Notwendigkeit einer Revolution in uns plädiert, die nicht von uns herbeigeführt werden kann, plädierten die Reformatoren für eine spirituelle Revolution, die von Gott für uns (in Christus) und in uns (durch den Geist) ohne uns herbei geführt wird. Im ersten Fall müssen wir durch unser eigenes Tun etwas werden, was wir nicht selbst bewirken können, im zweiten Fall brauchen wir uns nicht selbst zu machen, weil wir durch den Geist zu dem geworden sind, was wir sind. Das erste ist das paradoxe Postulat einer moralischen Revolution, die wir nicht vollziehen können. Die zweite ist der schöpferische Akt einer spirituellen Revolution, die mehr aus uns macht, als wir je selbst aus uns machen könnten. Diese Alternative ist zu erläutern.
Für Kant muss die Wende zum Besseren immer bei uns beginnen. Das Einzige, was wir wirklich unter unserer Kontrolle haben, ist nicht das, was wir tun und was wir durch das, was wir tun, bewirken, sondern das, was wir wollen und wie wir unseren Willen bestimmen. Dies ist der Ort wahrer Autonomie und uneingeschränkter persönlicher Verantwortung. Das Scheitern autonomer Selbstbestimmung kann niemals auf andere zurückzuführen sein, sondern immer nur auf uns selbst. Wir sind vielleicht gezwungen, eine Gräueltat zu begehen, die wir verabscheuen, aber wir können nicht gezwungen werden, zu glauben, dass etwas, von dem wir wissen, dass es böse ist, gut ist, oder uns selbst in einer Weise bestimmen, die der Art und Weise widerspricht, wie wir uns selbst bestimmen wollen. Wenn frei zu sein bedeutet, die Kontrolle über die Güte der Resultate seines Entscheidens und Handelns zu haben, dann ist nur Gott völlig frei, wie Luther zu Recht gegen Erasmus betonte. Und wir sind wirklich frei nur dort, wo wir uns selbst bestimmen, nach der Maxime des guten Willens zu wählen und zu handeln, wie Kant diese Erkenntnis säkularisiert hat. Nur hier können wir uns ganz sicher sein, dass das, was wir wählen, gut ist, und nur hier haben wir die volle Kontrolle über die Ergebnisse und sind nicht von der Verfügbarkeit von Optionen oder von Handlungsanlässen abhängig. Wenn die moralische Selbstbestimmung scheitert, ist es unsere eigene Schuld und nicht die irgendeines anderen. Autonomie ist eine Aktivität, die nicht umhin kommt, ihr gutes Ziel zu erreichen, wenn wir sie praktizieren.
Unser Dilemma ist, dass wir es nicht tun wollen, weil wir von Eigennutz und Eigenliebe regiert werden und nicht von der Liebe zur Pflicht und dem praktischen Gesetz. Das heißt, wir können das Gute tun, zumindest im Prinzip, aber eigentlich wollen wir es nicht tun. Wir können das Gute tun, denn sonst wäre es sinnlos zu sagen, dass wir es tun sollten. Unser Problem ist nicht das Fehlen einer Fähigkeit, sondern die Schwäche des Willens. Wenn wir das Gute nicht tun, dann nicht, weil wir es nicht können, sondern weil wir es nicht wollen. Aber wenn wir nicht das tun wollen, was wir können, dann tun wir auch nicht das, was wir tun sollten. Und während es uns möglich ist, von der Fähigkeit, das Gute zu tun, dahin überzugehen, es tatsächlich zu tun, ist es für uns unmöglich, uns vom Nichttun des Guten dahin zu bewegen, es tatsächlich zu wollen: Der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit wird unmöglich, wenn wir von der Wirklichkeit des Bösen und nicht von der Möglichkeit des Guten ausgehen. Wir wissen (oder zumindest könnten wir es wissen), was gut ist, aber wir können es nicht in die Praxis umsetzen, indem wir uns selbst auf die richtige Art und Weise bestimmen, weil wir nicht aufhören können, ein egoistisches und egozentrisches Leben zu führen, wenn es das ist, was wir wollen. Wir wollen die Welt zu einem besseren Ort machen. Aber wenn wir uns nicht ändern, wird es keine bessere Welt werden. Wir müssen uns ändern, bevor sich die Welt ändern kann. Aber wir können uns nicht auf die radikale Art und Weise ändern, die notwendig ist, um unsere tiefe Verstrickung in Egoismus, Selbstliebe und Böses zu überwinden. Wir können nur versuchen, unser Bestes zu geben, und hoffen, dass andere es auch tun werden. Aber wir sollten uns nicht täuschen, dass wir die Ergebnisse, die wir anstreben, individuell oder kollektiv erzielen können. Wir sollten das tun, was in unseren Kräften steht, und hoffen, dass das für das Heil oder zumindest für die Vermeidung unserer Selbstvernichtung ausreicht. Man kann nicht mehr von uns verlangen, als wir können. Ultra posse nemo obligatur. Wenn wir das tun, was in unserer Macht steht, haben wir alles getan, was von uns erwartet werden kann. Das reicht vielleicht nicht aus. Aber es gibt uns Anlass zur Hoffnung auf eine „Revolution in unseren Denkweisen«, die wir nicht selbst, weder allein noch gemeinsam mit anderen, herbeiführen können. Wir alle brauchen eine solche Revolution, wenn wir verhindern wollen, dass die menschliche Geschichte in einer Katastrophe endet. Wir können sie nicht herbeiführen, sondern sie nur erhoffen. Deshalb müssen wir unser Bestes tun, der Vergangenheit den Rücken kehren und gemeinsam auf eine bessere Zukunft hoffen.
Kants Sichtweise verdankt sich den Reformatoren. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied. Für die Reformatoren geht es nicht nur um eine Wende zum Besseren, sondern zum Guten, und die Wende zum Guten beginnt immer bei Gott und nicht bei uns.15 Kant sucht eine Lösung für das Problem unserer Unwilligkeit, das Gute zu wollen, die ohne Gott auskommt. Gott ist eine Idee, auf die wir nicht verzichten können, wenn wir das Gute so wollen, wie wir es wollen. Aber Gott ist keine aktive Kraft, mit der man im Drama des menschlichen Lebens und Daseins rechnen kann und muss.
Das ist anders bei den Reformatoren und bei der theologischen Tradition, die ihnen vorausgeht und auf die sie reagiert haben. Beide sind sich einig, dass wir sündige Geschöpfe sind, die die Gegenwart Gottes ignorieren oder verleugnen. Aber vorreformatorische Denker entfalten das simul peccator et creatura, indem sie auf der intrinsischen Fähigkeit des Geschöpfes bestehen, nach Gott zu streben, während die Reformatoren – oder zumindest die radikalen Denker unter ihnen – die Formel nicht so verstehen, dass sie besagt, dass auch die Sünder noch immer einige geschöpfliche Fähigkeiten haben, sondern dass der Schöpfer nicht aufhört, sich auf sie auch als Sünder zu beziehen. Beide bekräftigen, dass die Menschen Sünder sind, die der Erlösung bedürfen. Aber die alte Sicht entfaltet das in Bezug auf die Restkapazitäten des Geschöpfes, während die neue Sicht es in Bezug auf die fortwährende Aktivität des Schöpfers entfaltet. Die Sünder sind keine geschädigten Geschöpfe, die auch in einer postlapsarischen Welt noch die Fähigkeit besitzen, Gott zu suchen und mit Gott von sich aus zu interagieren, sondern sie leben nur, weil Gott trotz allem mit ihnen in Beziehung steht und sie vor dem Fall ins Nichts bewahrt, indem er ohne sie in ihnen wirkt.
Der Unterschied ist bedeutsam, weil es sich um eine radikal andere Sichtweise der Beziehung zwischen Gott und den Menschen handelt. Es geht nicht um eine Beziehung zwischen verschiedenen Akteuren, die interagieren. Ohne Gott sind Geschöpfe nichts. Gottes Bund ist kein Vertrag zwischen unabhängigen Partnern, die ein Geschäft abschließen, sondern es ist Gottes Selbstbestimmung, seine Geschöpfe niemals aufzugeben, auch wenn sie kein Interesse an Gott haben. Ebensowenig ist die Erlösung eine Abmachung, dass Gott, wenn wir tun, was wir können, von sich aus das ergänzen wird, was wir nicht tun können. Vielmehr ist es Gottes freies und bedingungsloses Geschenk, seine gottesvergessenen Geschöpfe vor der Selbstvernichtung zu retten, indem er ihnen in einer Weise gegenwärtig wird, die sie zu mehr macht, als sie je von sich aus allein werden könnten. Es gibt keine Ökonomie des Heils, die das, was wir tun, gegen das, was Gott tut, aufzurechnen erlaubt. Und es gibt keine Ökonomie der Sünde, die es uns erlaubt zu berechnen, wie viel Sünde wir uns gestatten können, ohne die Chance zu verlieren, gerettet zu werden. All das setzt das falsche Bild von zwei interagierenden Akteuren voraus, auf der einen Seite Gott, auf der anderen Seite menschliche Geschöpfe. Dieses Bild ist falsch, denn es gibt kein Geschöpf ohne den Schöpfer und keine menschliche Gegenwart ohne Gottes Gegenwart. »God makes creatures make themselves.«16 Wo immer es ein Geschöpf gibt, gibt es eine vorausgehende schöpferische Wirksamkeit Gottes, und bevor das Geschöpf et was tun kann, wurde es vom Schöpfer dazu ermächtigt. Deshalb ist Gott auch dort im Spiel, wo Menschen sich nicht um Gott kümmern und die Gegenwart Gottes ignorieren oder ablehnen.
Das geeignete Modell für das Verständnis der Beziehung zwischen Gott und den Menschen ist nicht das der interagierenden Akteure, sondern das der Menschen, die in ein Leben hineingeboren wurden, das nicht von ihnen selbst geschaffen wurde. Wir wechseln nicht aus eigener Kraft von einer bloßen Möglichkeit zu einer Wirklichkeit, wenn wir geboren werden. Wir verdanken unsere Existenz nicht uns selbst, sondern wir sind dazu gemacht, uns selbst zu machen. Alle unsere Aktivitäten entspringen einer fundamentalen Passivität. Für uns ist das Leben ein Geschenk, und der Geber dieses Geschenks ist derjenige, dem wir alle unsere Existenz verdanken.
Die Asymmetrie zwischen dem passiven Werden unserer Existenz und der Priorität von Gottes schöpferischem Wirken ist der Schlüsselgedanke nicht nur in der Schöpfung, sondern auch in der Erlösung und Vollendung. Diese Asymmetrie schließt jeglichen Synergismus in den Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Gott aus und versteht jede Zusammenarbeit zwischen Gott und Mensch vor dem Hintergrund der frei geschenkten Lebensgabe Gottes.
Die Theologie der Reformatoren hatte einen radikal augustinischen Ausgangspunkt, begann also nicht vom ursprünglichen Zustand der Unschuld oder vom eschatologischen Zustand der Vollkommenheit, sondern vom tatsächlichen Zustand unserer Existenz, so zu leben, dass wir wegen unserer Verstrickung in die Unvollkommenheiten der Welt blind sind für Gottes Gegenwart. Wir ignorieren den Schöpfer, weil wir uns selbst nicht als Geschöpfe Gottes und die Welt nicht als Schöpfung Gottes verstehen. Das gilt für das gesamte menschliche Leben, und deshalb ist alles wirkliche menschliche Leben theologisch gesehen ein Leben der Sünde. Sünder aber sehen sich nicht als Sünder. Sie sehen keine Notwendigkeit, etwas zu ändern, und deshalb wollen sie auch nichts ändern.
Wir sind nicht bereit, unser Vertrauen in Gott zu setzen, weil wir Gott ignorieren oder nicht darauf vertrauen, dass Gott wirklich vertrauenswürdig ist. Solange wir aber nicht bereit sind, Gott zu vertrauen, sind wir dazu auch nicht in der Lage. Von uns ist daher keine Initiative zur Änderung dieser Situation zu erwarten. Wenn sich die Dinge ändern sollen, muss die Veränderung von anderswoher kommen. Es ist die gute Nachricht des Evangeliums, dass Gott in seiner Gnade die Initiative ergriffen hat, unsere Situation durch das zu ändern, was er für seine gottlosen Geschöpfe in und durch Christus getan hat. Christus beweist, dass Gott vertrauenswürdig ist, das Evangelium bezeugt dies, und die Menschen vertrauen Christus, indem sie dem Evangelium vertrauen, wenn der Geist sie dazu bewegt.
Damit gibt es aber immer noch zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten, das zu verstehen: Hat Gott unseren Willen frei gemacht, Gott zu vertrauen, so dass wir nun unseren Teil zum Heilswerk beitragen können? Oder hat Gott unsere Rettung herbeigeführt und uns frei erlaubt, daran teilzunehmen, so dass wir nicht mehr danach streben müssen? Im ersten Fall sind wir von Gott befähigt, das zu tun, was wir als seine Geschöpfe tun sollten, im zweiten Fall hat Gott alles, was getan werden muss, für uns getan. Ist die Gnade Gottes also ein Hilfsmittel zur Erlösung oder ist sie das Geschenk der Erlösung?
Das erste ist das vorherrschende Modell in der vorreformatorischen und katholischen Theologie, das bis in die Gegenwart auf viele verschiedene Arten ausgearbeitet wurde. Es nimmt die menschliche Freiheit und Verantwortung ernst und unterstreicht unsere Pflicht, alles zu tun, was wir tun können, um Gott zu gefallen und seinem Willen zu genügen. Es wird nicht genug sein. Aber wir können von dem, was Gott für uns in Christus getan hat, profitieren, indem wir am Geheimnis des Heils durch die Sakramente der Kirche teilhaben. Je mehr wir ernsthaft versuchen, nach dem Willen Gottes zu leben, desto mehr werden wir uns unserer Hilfsbedürftigkeit bewusst und desto mehr lernen wir, uns auf die sakramentalen Gaben der Kirche zu verlassen.
Die Reformatoren vertraten die andere Ansicht. Sie taten dies nicht nur, weil die damalige Kirche ihre Macht missbrauchte und die Christen verwirrte, indem sie den Unterschied zwischen dem Willen Gottes und den eigenen kirchlichen Verordnungen verwischte. Die Reformatoren begannen damit, diesen Missbrauch zu kritisieren, aber sie erkannten bald, dass das eigentliche Problem nicht der Missbrauch war, sondern die soteriologische Vision und Praxis, die den Missbrauch ermöglichten. Indem sie die Erlösung nicht als Resultat ein es Interaktionsprozesses zwischen Gott und den Menschen verstanden, sondern als radikale göttliche Gabe an die Sünder neu verstanden, haben die Reformatoren eine spirituelle Revolution eingeleitet: Die Erlösung ist ein Gabe und keine Aufgabe. Sie wird weder von uns noch von Gott und uns mit Hilfe der Kirche erreicht, sondern nur von Gott allein. Gott gibt uns alles, und wir tragen nichts dazu bei. Denn Gott ist Gott, und wir sind Geschöpfe, die Gott ignorieren. Aber während gottlose Geschöpfe sich nicht um Gott kümmern, kümmert sich Gott um seine Gott ignorierenden Geschöpfe. Er erschafft diejenigen, die ihn ignorieren, und er rettet diejenigen, die glauben, sie könnten ohne ihn auskommen.
Deshalb bestanden die Reformatoren darauf, dass das solus deus das alleinige Zentrum aller schöpferischen und heilbringenden Aktivitäten sei. Wir können uns nicht selbst schaffen und wir können uns nicht selbst retten. Es gibt eine Tiefenpassivität, die allen unseren Aktivitäten voraus- und zugrunde liegt. Wir sind da zu gemacht, uns selbst zu machen, aber wir haben uns nicht selbst da zu gemacht, uns selbst zu machen. Wir leben von Gottes Gabe des Lebens, auch wenn wir sie ignorieren oder ablehnen. Daher ist Sünde nicht ein Fall von moralischem Fehlverhalten oder ein Versäumnis, dem Willen Gottes zu folgen, oder eine Ablehnung des Gesetzes Gottes, sondern Undankbarkeit für Gottes Gabe. Wir ignorieren oder leugnen oder lehnen das ab, ohne das wir das, was wir tun, nicht tun könnten. In diesem Sinne ist die Sünde ein tiefer existentieller Selbstwiderspruch – so tief, dass wir ihn gar nicht wahrnehmen. Deshalb können wir ihn nicht überwinden und wollen ihn auch nicht überwinden. Wir sind nicht in der Lage, uns selbst ins Leben zu bringen und unser Leben von der Blindheit gegenüber der Gegenwart Gottes in die Offenheit ihr gegenüber zu verändern. Genauso wie ein Geschöpf zu sein vom Geschöpf als eine Tiefenpassivität erfahren wird, so wird erlöst zu werden von denjenigen als Tiefenpassivität erfahren, die erlöst werden. In der Schöpfung und in der Erlösung ist Gott das einzige Zentrum aller Wirksamkeit.
Ist das nicht eine völlige Missachtung dessen, dass wir Geschöpfe sind, die mit einem sensus divinitatis (Calvin) ausgestattet sind, mit der Fähigkeit zu handeln, mit der Vernunft zu denken, mit dem Willen zu glauben und mit der Freiheit, uns selbst für das Gute oder das Schlechte zu entscheiden? Wird hier unser Personsein, unser Selbstbewusstsein oder unsere Subjektivität ernst genommen?
Das werden sie in der Tat, aber indem ein Missverständnis korrigiert wird. Heil und Erlösung sind kein Ergebnis eines synergetischen Zusammenwirkens ungleicher Partner, sondern müssen auf radikal einseitige Weise verstanden werden: Gott gibt, aber die Menschen wirken nicht mit, indem sie etwas entgegennehmen. Sie erhalten, was Gott gibt, aber sie sind keine Akteure oder Rezipienten, die aktiv in Empfang nehmen, was sie erhalten. Selbst die Möglichkeit, Gottes Gabe anzunehmen oder abzulehnen, ist allein auf Gottes Gabe zurückzuführen. Ohne sie können wir sie nicht einmal ablehnen, nicht nur, weil es nichts gäbe, was man ablehnen könnte, sondern auch, weil es niemanden gäbe, der etwas ablehnen könnte. Erlösung ist neue Schöpfung. Als Schöpfung ist Gott ihr alleiniger Urheber und Verursacher. Als neue Schöpfung hat sie ihre Pointe darin, dass wir nicht nur unser Sein (das Geschenk der Existenz) erhalten, sondern ein neues Herz, das unsere Gottlosigkeit überwindet (das Geschenk, Gott als unseren Schöpfer zu erkennen und als Geschöpfe Gottes leben zu wollen). Wir wollen jetzt, dass Gott Gott ist und beziehen uns auf Gott als Gottes Geschöpfe, aber wir wissen auch, dass wir das nur tun können, indem wir uns darauf beziehen, wie Gott sich auf uns bezieht. Einerseits können wir Gott nicht erreichen, indem wir die Schöpfung transzendieren: Geschöpfe können sich von sich aus nur auf Geschöpfe beziehen, nicht auf den Schöpfer. Andererseits brauchen wir unsere Grenzen nicht zu überschreiten, denn Gott hat sich uns in der Schöpfung zugänglich gemacht. Was für uns nach einer absoluten Grenze aussieht, die wir nicht überschreiten können (wir sind endlich, Gott aber ist unendlich), erweist Gott nicht als Grenze (infinitum capax finiti), sondern als existentielles Merkmal unseres endlichen Lebens, das wir Gott als Geschenk verdanken: Geschöpf zu sein, ist kein Defizit oder Mangel an Vollkommenheit (malum metaphysicum), sondern die Gabe des endlichen Lebens, eingebettet in das unendliche Leben des Schöpfers. Dies zu ignorieren, bedeutet, den Sinn der eigenen Existenz zu verfehlen. Das Leben darauf auszurichten, die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf zu wahren und die Endlichkeit als Geschenk des Lebens und nicht als Mangel an ewigem Leben zu schätzen, bedeutet dagegen, das Leben eines Geschöpfes comme il faut zu leben.
Es geht also nicht darum, die Fähigkeit des Menschen, frei und verantwortungsbewusst zu handeln, zu bestreiten oder einzuschränken. Aber es ist eine endliche, keine unendliche Freiheit, und endliche Freiheit geht fehl, wenn sie ihre Grenzen nicht beachtet. Dies gilt sowohl für unsere Existenz als auch für den Gebrauch unserer Freiheit.
Bevor wir irgendetwas tun können, müssen wir sein, und unser Sein ist nichts, was wir selbst bewirken können. Wir können uns nicht selbst ins Sein bringen, sondern finden uns in ihm vor. Wir sind da, aber unser Dasein ist nicht das Ergebnis unseres Tuns. Wir können auch in unserem Leben vieles nur deshalb werden, weil es uns widerfährt, und nicht, weil wir uns selbst dazu machen. Wenn man zum Erbe des Vermögens eines verstorbenen Verwandten wird, dann wird man es ganz und gar passiv, nicht durch das, was man tut, sondern durch das, was einem widerfährt. Ohne dieses passive Werden könnte man nicht als Erbe handeln und das Erbe annehmen oder ablehnen. Passives Werden schließt also Aktivität nicht aus. Aber die Aktivität wird durch das, was man passiv wird, ermöglicht und ist keine rezeptive Aktivität und kein aktiver Strang innerhalb des passiven Werdens.
Darüber hinaus ist zwischen qualitativer Veränderung und existentiellem Werden zu unterscheiden. Es ist eine Sache, wenn eine Entität (z. B. Wasser) von einem Zustand (heiß) in einen anderen Zustand (kalt) wechselt, eine ganz andere, wenn eine neue Entität entsteht. Im ersten Fall wechselt eine wirkliche Entität in der Zeit von einem Zustand in einen anderen, im zweiten Fall wird etwas Mögliches wirklich, und man kann der so Realität gewordenen Entität nicht die Fähigkeit zuschreiben, ihre eigene Aktualität herbeiführen zu können oder herbeigeführt zu haben. Man kann nicht hören, ohne die Fähigkeit des Hörens, aber man braucht keine Fähigkeit des Existierens oder Da-Seins, um ins Da sein zu kommen. Wenn ich existiere, ist es möglich, dass ich existiere, aber ich habe nicht das Potenzial zu existieren, bevor ich es tatsächlich tue. Es ist daher wichtig, die Veränderung von einem Zustand zum anderen in der Zeit nicht mit dem existentiellen Übergang vom Nichtsein zum Sein zu verwechseln. Nicht-Sein ist kein Zustand, sondern das Fehlen jeglichen Zustandes. Dieses Fehlen kann mir nicht als Mangel zugeschrieben werden, und die Möglichkeit, ihn zu überwinden, nicht als eine Fähigkeit.
Wir können jetzt sehen, was schief geht, wenn theologische Konzeptionen des Menschen als imago dei (Gottes Ebenbild) Möglichkeiten als Fähigkeiten und Gnade als intrinsische Potentialität des menschlichen Geschöpfes auslegen. Es ist möglich, dass wir zum Ort werden, an dem Gottes Gegenwart bei seiner Schöpfung anerkannt (Glaube) oder ignoriert und abgelehnt wird (Nicht-Glauben), denn wir alle belegen das. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Fähigkeit besitzen, Gottes Gegenwart wahrzunehmen17 oder uns unserer Nähe zu Gott bewusst zu sein, oder dass wir ein »Urgedächtnis des Unvordenklichen« besitzen, das uns rastlos, wenn auch unbewusst danach streben lässt, »Stabilität und Solidität« in Gott zu finden.18 Es ist ein modaler Fehler, Möglichkeiten als Fähigkeiten zu konzipieren und aus der Möglichkeit, sich der Gegenwart Gottes bewusst zu werden, eine menschliche Fähigkeit, dies zu tun, abzuleiten. Und es ist ein theologischer Fehler, das sola gratia, das uns »alle a priori zu Empfängern der Gnade Gottes« macht,19 als eine gottgegebene Fähigkeit zu interpretieren, die Menschen qua Menschen besitzen. Durch Gottes Gnade können wir der Ort werden, an dem Gottes Gegenwart in der Schöpfung bekannt und anerkannt wird, wenn es Gott gefällt, aber wir haben keine gottgegebene Fähigkeit zu einer solchen Anerkennung, die uns von allen anderen Geschöpfen unterschiede. Wir sind völlig abhängig von der sich selbst kommunizierenden Gegenwart Gottes, die uns zu Empfängern ihrer Selbstkommunikation macht. Aber wo die Gegenwart Gottes anerkannt wird, geschieht das nicht deshalb, weil wir dazu in der Lage sind oder einen besonderen Sinn für Gott hätten. Vielmehr schafft Gott mit der Gabe seiner Gegenwart auch die Voraussetzung für die Möglichkeit, sie zu verstehen und sie anzuerkennen.20 Wir müssen nicht Gott wahrnehmen können, sondern nur wahrnehmen können, um diese Möglichkeit zu verwirklichen, und wir müssen nicht Gott denken können, sondern nur denken können, um auf Gottes Gegenwart aufmerksam zu werden. Wenn wir es tun, liegt es nicht an uns, sondern an Gott. Nicht wir ändern uns, wenn wir es tun, sondern wir werden verändert durch das, was uns widerfährt. Alle Aktivität ist hier allein Gott zuzuschreiben und keinem Zusammenwirken von Gott und Geschöpf, während auf unserer Seite eine radikale Passivität vor liegt und keine Verknüpfung von göttlichem Geben und menschlichem Empfangen in einer gemeinsamen Aktivität von Schöpfer und Geschöpf.