Wirkendes Wort - Ingolf U. Dalferth - E-Book

Wirkendes Wort E-Book

Ingolf U. Dalferth

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Beschreibung

Wieder einmal gibt es in der evangelischen Theologie und Kirche in Deutschland einen Streit um das Alte Testament und die Bedeutung von Schrift und Schriftauslegung. Das ist gut so. Ohne diesen Streit würde das, was sich in Kirche und Theologie eingebürgert hat, nur noch so verstanden, wie es gerade weithin verstanden wird: nämlich missverstanden. Missverstehen ist leicht. Das gilt gerade für die Schrift. Im Gegensatz zur geläufigen Annahme ist die eigentliche Herausforderung nicht, wie die Schrift zu verstehen ist, sondern, was man eigentlich verstehen will. Es geht nicht primär um die Methoden, sondern um den Gegenstand der Auslegung: die Schrift, die zur Kommunikation des Evangeliums gebraucht wird, durch das sich Gottes Wort im Leben der Menschen wirksam zur Geltung bringt. Seit Längerem neigt die Systematische Theologie dazu, den Umgang mit biblischen Texten aus der systematischen Reflexion des Glaubens auszublenden. Eine Neubesinnung auf die Aufgaben einer theologischen Lehre von der Schrift ist überfällig. Ingolf U. Dalferth bietet diese Neubesinnung in einem großen Wurf, der ein Jahrhundert nach Karl Barths Römerbrief die Theologie am Beginn des neuen Jahrtausends überall dort aufschrecken wird, wo ein theologisches Ethos überlebt hat, das sich Glauben und Kirche zugehörig weiß. Dalferth verbindet seine Ausführungen auch mit praktischen Reformüberlegungen. Das "Leben der Kirche" und das "Denken der Theologie" werden so neu aufeinander bezogen. [Verbum efficax. Bible, Scripture and Gospel in the Life of the Church and in Theology] Once again there is a dispute about the Old Testament and the significance of Scripture for theology and church in Protestant theology and churches in Germany. That's a good thing. Without this controversy, what has become the established view in church and theology would continue to be understood in the way in which it is in fact understood – namely misunderstood. Misunderstanding is easy, understanding requires a serious effort. This is especially true for understanding Scripture. For in contrast to the common assumption, the real challenge is not how to understand Scripture, but what one actually wants to understand. It is not primarily about methods, but about the subject of interpretation, namely Scripture that is used to communicate the Gospel, through which God's Word is effectively brought to bear on people's lives. For some time now, Systematic Theology has tended to ignore the interpretation of biblical texts in the systematic reflection of faith. A reconsideration of the tasks of a theological doctrine of Scripture is long overdue. One century after Karl Barth's Letter to the Romans, Ingolf U. Dalferth offers a reconsideration of these issues in a major monograph that will startle theologians at the beginning of the new millennium wherever a theological ethos that unites faith and church has survived. Dalferth also combines his remarks with practical reform considerations. The "Life of the Church" and the "Thinking of Theology" are thus interrelated in a new way.

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Wirkendes Wort

Ingolf U. Dalferth

Wirkendes Wort

Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover und Layout: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-05650-7

www.eva-leipzig.de

Für Uta

VORWORT

Wir stehen kulturell an der Schwelle zu einer Epoche, in der digitale Kommunikationsformen und nicht mehr die Fertigkeiten der Buchkultur den Ton angeben werden. Das wird die protestantische Theologie zu tiefgreifenden Revisionen nötigen. Wie kaum eine andere Disziplinengruppe hat sie sich sachlich und methodisch im Buch-Paradigma der Neuzeit eingerichtet. Das nur fortzusetzen, ist kein Weg in die Zukunft. Die protestantische Theologie der Gegenwart muss ihre eigene Geschichte kritisch reflektieren und angesichts der anstehenden Umbrüche die notwendigen Konsequenzen ziehen.

Welche das sind, ist umstritten, und die gegenwärtig diskutierten Revisionsvorschläge weisen in gegenläufige Richtungen. Mein Plädoyer ist, dass protestantische Theologie konsequent zur evangelischen Theologie werden sollte – zu keiner konfessionellen Theologie im überkommenen protestantischen Sinn, sondern zu einer Theologie, die sich, in welcher konfessionellen Tradition auch immer, auf das Wirken des Evangeliums im menschlichen Leben konzentriert. Evangelische Theologie in diesem Sinn orientiert sich an Gottes schöpferischer Gegenwart und dem transformierenden Wirken seiner Liebe in der Schöpfung und wird nicht aus methodischen Gründen zu einer historischen Textwissenschaft oder empirischen Religionswissenschaft des Christentums verkürzt. Nur wer die Welt von Gottes Gegenwart her betrachtet, wird sie als Resonanzraum des Schöpfers wahrnehmen. Wer dagegen Gottes Gegenwart finden will, ohne von ihr schon auszugehen, wird nur seine eigenen Schatten sehen und sein eigenes Echo vernehmen.

Die evangelische Orientierung an den Modi der Gegenwart Gottes ist kein Privileg protestantischer Theologie. Sie könnte vielmehr zum Ansatzpunkt einer wahrhaft ökumenischen Theologie werden, die sich nicht an alten konfessionellen Differenzen abarbeitet, sondern sich in der gemeinsamen Verantwortung für das Wirken des Evangeliums bemüht, das christliche Leben in seinen kirchlichen und nichtkirchlichen Formen kritisch zu reflektieren und konstruktiv zu begleiten.

Das Buch ist während meiner Leibniz-Professur an der Universität Leipzig im Wintersemester 2017/2018 entstanden. Ich danke der theologischen Fakultät in Leipzig, die mich für ein Semester als Gast aufgenommen hat, der Research Academy Leipzig, die mir den nötigen Freiraum zur Ausarbeitung der Überlegungen dieses Buches gewährt hat, und Frau Dr. Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig, die mich überzeugt hat, dass es sich vielleicht doch lohnen könnte, dieses Buch zu schreiben.

Dass meine Zeit in Leipzig nicht nur diesem Buch gegolten hat, sondern ebenso der Erkundung der Klangwelten dieser wunderbaren Musikstadt, verdanke ich der ansteckenden Hörlust meiner Frau. Das Leben ist eine komplexe Reihe von Variationen auf der Suche nach ihrem Thema. Was wir bestenfalls erahnen, lässt die Musik schon erklingen. Auch das habe ich von meiner Frau gelernt. Wer hört, sieht mehr und versteht besser. Das Buch ist ihr gewidmet.

Leipzig, im Januar 2018

Ingolf U. Dalferth

INHALT

Einleitung

I DIE KRISE DES SCHRIFTPRINZIPS

1 Die unklare Selbstverständlichkeit kirchlicher Rede von der Schrift

2 Der Anfang vom Ende der Bibliolatrie

3 Von der Heiligen Schrift

4 Die Aporie einer theologischen Begründungsfigur

II KOMMUNIKATION DES EVANGELIUMS

1 Das Kommen Gottes als Evangelium

2 Die Freiheit des Verstehens

3 Das Evangelium als Schrift

4 Vom Wort zum Buch

III KIRCHE, SCHRIFT UND BIBEL

1 Die Bedeutung der Schrift für die Kirche

2 Das reformatorische Interesse an der Schrift

3 Die Lehre von der Schrift in der lutherischen Orthodoxie

IV HEILIGE SCHRIFT

1 Die Bibel

2 Altes und Neues Testament

3 Der Kanon

4 Kanon und Interpretation

5 Kanon und Evangelium

V WORT GOTTES

1 Gott als Autor der Schrift

2 Gottes Wort als Inhalt der Schrift

3 Wort Gottes

VI DIE MITTE DER SCHRIFT

1 Die Frage nach der Mitte der Schrift

2 Schriftgebrauch und Gottesgegenwart

3 Vom Sinn des Singulars

4 Die Redefigur von der Mitte der Schrift

5 Das Außen des Innen

VII DIE SELBSTAUSLEGUNSGKRAFT DER SCHRIFT

1 Die Bedeutung der Schrift für die christliche Theologie

2 Sui ipsius interpres

3 Die Suche nach dem Kontext des Schrifttextes

VIII SCHRIFTTEXT UND SCHRIFTGEBRAUCH

1 Die Schrift als Text im Kontext der Kommunikation des Evangeliums

2 Schriftgebrauch und Wort Gottes

3 Von der Schrifthermeneutik zur Bibelhermeneutik

4 Vom Nutzen und Nachteil der Bibellektüre für das christliche Leben

5 Biblische Hermeneutik, kirchliche Hermeneutik und theologische Hermeneutik

IX DIE KRISE DER BUCHKULTUR

1 Der kulturelle Umbruch der Gegenwart

2 Potentiale und Aporien der Buchkultur

3 Protestantismus als Theologie der Buchkultur

4 Theologie am Übergang zu einer neuen Epoche

Veröffentlichungshinweise

REGISTER

Bibelstellen

Namen

Sachen

EINLEITUNG

Evangelische Theologie ist keine Textwissenschaft, sondern eine Interpretationspraxis – die vielschichtige und vieldimensionale Auslegung und Reflexion der Kommunikation des Evangeliums und ihrer Auswirkungen im Leben, Denken und Handeln von Menschen unterschiedlicher Zeiten und Kulturen.1 Als Auslegung der Kommunikation des Evangeliums bezieht sich evangelische Theologie auf eine komplexe menschliche Praxis – das christliche Leben, in dessen Zentrum die Kommunikationspraxis der Kirche steht, ohne die es kein christliches Leben gäbe. Als Auslegung der Kommunikation des Evangeliums bezieht sie sich auf das, worum es dieser menschlichen Praxis geht – die Auslegung des Lebens durch die Selbstkommunikation Gottes in, mit und unter der Kommunikation des Evangeliums. Das Evangelium ist die Auslegung des Lebens durch Gottes Gegenwart auf Gottes Gegenwart hin. Es entfaltet nicht nur, dass, sondern wie Gott der Gegenwart von Menschen gegenwärtig ist. Eben dadurch setzt das Evangelium Transformationsprozesse in Gang, die sich als Neuorientierung des Lebens von Menschen an Gottes Gegenwart vollziehen.

Welche Rolle spielt in diesem Geschehen die Schrift? Was ist darunter zu verstehen? Wie fungiert sie in der Kirche und im christlichen Leben? Wann wird die Schrift verstanden, und wann nicht? Das sind zentrale Fragen einer theologischen Hermeneutik der Schrift. Nach Schleiermachers kluger Einsicht ist Missverstehen das, was sich von selbst ergibt, während man sich um Verstehen nach allen Regeln hermeneutischer Kunst bemühen muss. Zu diesen Regeln gehört, dass man die richtigen Unterscheidungen macht. Nur dann kann man vermeiden, falsche Fragen zu stellen, und auf vernünftige Antworten hoffen. Und nur Unterscheidungen, die das leisten, sind richtige Unterscheidungen, weil sie weiterführen.

Auch richtige Unterscheidungen können allerdings nicht garantieren, dass verstanden wird. Verstehen ist frei und kein Resultat des geregelten Befolgens von Regeln. Es ist aber nicht willkürlich, als ob jeder verstehen könnte, wie und was er will, sondern es folgt Regeln, die zu entscheiden erlauben, ob man verstanden hat oder nicht. Nur sind das Kunstregeln, wie Schleiermacher sagt, deren Anwendung selbst nicht geregelt werden kann, sondern Urteilskraft erfordert, also die Fähigkeit, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, und damit auch die Bereitschaft, in den Streit einzutreten, was denn in einem gegebenen Fall für wen und aus welchen Gründen wichtig oder unwichtig ist, sein könnte oder sein sollte.

Welche Unterscheidungen sind in diesem Sinn in einer Hermeneutik der Schrift zu beachten? Es sind zum einen Unterscheidungen, bei denen es nicht primär um die Methoden der Auslegung geht, sondern zuerst und vor allem um die Bestimmung des Gegenstands der Auslegung.2 Die klassische Ausdifferenzierung hermeneutischer Aufgaben in der pietistischen Hermeneutik in die ars intelligendi (Kunst des Verstehens), ars explicandi (Kunst des Auslegens) und ars applicandi (Kunst der Anwendung des Verstehens) ist nicht nur, wie meist angenommen, eine Methodenunterscheidung, sondern weit mehr noch eine Unterscheidung in der Bestimmung der Gegenstände der Auslegung. Es ist eines, Texte zu verstehen, ein anderes, den Gebrauch von Texten zur Auslegung des Lebens zu verstehen. Auch wer meint, in der ersten Hinsicht von der Applikation absehen zu können (Verstehen der Bibel), wird es in der zweiten nicht tun können: die Applikation ist das, was es zu verstehen gilt (Verstehen der Schrift). Aber nur wenn klar ist, was auszulegen ist, kann man auch einen vernünftigen Streit über die Methoden führen, die dabei am besten zu befolgen sind. Zum anderen sind es Unterscheidungen, die im Blick auf diesen Gegenstand zu machen sind und ohne deren Beachtung man nicht beurteilen kann, ob man diesen Gegenstand verstanden oder recht ausgelegt hat. Was ist der Gegenstand, den man zu verstehen sucht? Und was ist die Frage (oder die Fragen, die Probleme, der ‚Ruf‘, die Herausforderung, die Aufgabe), auf die dieser Gegenstand eine Antwort zu geben versucht? Ohne Klärung der ersten Frage weiß man nicht, was man zu verstehen sucht. Ohne Klärung der zweiten Frage weiß man nicht, wie das, was man zu verstehen sucht, zu verstehen ist, um es in seinem Eigensinn verstanden zu haben.

Um diese Fragen geht es in diesem Buch. Wir glauben zu wissen, was wir meinen, wenn wir von der Schrift reden, oder von der Bibel, von Gottes Wort, oder vom Alten und Neuen Testament. Wir haben uns angewöhnt, die Bibel Heilige Schrift zu nennen und die biblischen Fächer der Theologie in die exegetischen Disziplinen des Alten und Neuen Testaments zu unterscheiden. Dafür gibt es gute Gründe angesichts der Differenz und Komplexität der Traditionen, der Vielzahl der Texte und Zeugnisse und der Vielfalt der Themen und Fragestellungen. Doch das steht nicht nur in Konflikt mit der exegetischen Auflösung des Kanons als Textbegrenzungsprinzip, sondern auch in gegenläufiger Weise mit der theologischen Bedeutung des Kanons im Leben der Kirche.

Auf der einen Seite steht die exegetische Fokussierung auf das Alte und Neue Testament in Spannung zu dem seit Jahrzehnten andauernden Trend, die exegetischen Fächer in religionsgeschichtliche bzw. religionswissenschaftliche Disziplinen der Kulturwissenschaft der Antike zu überführen,3 in denen jede Kanonbegrenzung „unter historischem Gesichtspunkt ein sträflicher Verstoß gegen das Kontextprinzip“4 ist: Es gibt immer noch weitere Kontexte und Traditionen im Zeitraum der Entstehung und der Wirkung dieser Schriften, die mitzubedenken und exegetisch zu berücksichtigen sind. Die Differenz zwischen kanonischen und außerkanonischen Schriften ist exegetisch keine brauchbare oder haltbare Unterscheidung,5 und eine rein deskriptive historische Exegese kann streng genommen weder von einem Alten noch von einem Neuen Testament reden.6

Wo das klar wird, zerfließen die Grenzen und gibt es kein Halten. Konsequent wird gefordert, „über eine allzu enge, innertheologische Hermeneutik hinaus“ zu denken, den Kanon, dieses „heilige Buch als wunderbare Quelle immerhin dreier Religionen“ zu schätzen, die jede religiöse oder theologische Abgrenzung anderen gegenüber zur abwegigen Willkür werden lässt, die Textarbeit ganz ad acta zu legen und die „historisch-kritische Forschung, eines der großen Emanzipationsprojekte der Aufklärung“, in eine konsequente evolutionär ausgerichtete Theologie zu überführen:

„Wenn Religion als breites Spektrum des Menschseins, als Beschwören, Vergewissern, Feiern, als Antwort auf Fragen nach Sinn und einem tragenden Grund, eine spezifische, heute weitgehend in der Evolutionsbiologie anerkannte Disposition von homo sapiens ist, dann sind auch religiöse Manifestationen, Texte, Riten, Gottesbilder und so weiter, Produkte eines großen evolutionären Werdens, Hervorbringungen der kulturellen Evolution. Judentum und Christentum davon auszunehmen, wäre vermessen.“7

Der Irrtum ist zu meinen, damit schon etwas theologisch Interessantes oder emanzipatorisch Zukunftsweisendes gesagt zu haben. Es zeigt nur die erstaunlich unkritische Blindheit, in der manche die Sicht der gegenwärtigen naturalistischen Ideologie zur Basis theologischen Denkens erklären, ohne sich überhaupt noch zu fragen, was man dabei eigentlich tut.

Auf der anderen Seite ist die Aufteilung der biblischen Disziplinen auf das Alte und Neue Testament auch theologisch fragwürdig, und zwar aus dem umgekehrten Grund, dass der Kanon nicht ernst genug genommen wird. Als theologische Disziplinen sind die exegetischen Disziplinen mit der Schrift beschäftigt, die Schrift aber fungiert in der christlichen Kirche als Einheit und nicht in der Vielzahl der Texttraditionen und Textrezensionen der biblischen Bücher. Deshalb wird sie ‚Wort Gottes‘ oder ‚Heilige Schrift‘ genannt – beides im Singular, weil sie nur so die Selbstmitteilung des einen und einzigen Gottes im Gebrauch der Schrift als Medium der Kommunikation des Evangeliums und als Schlüssel zur Aufdeckung der Gegenwart Gottes im Leben der Menschen hier und jetzt repräsentieren kann. Neben der exegetischen Beschäftigung mit den Texten der Bibel muss es daher eine systematische Beschäftigung mit der Schrift geben, um der Dynamik der Zentrifugalkräfte exegetischer Detailforschung durch die Konzentration auf den Gebrauch der Schrift zur Kommunikation des Evangeliums in Kirche und christlichem Leben entgegenzuwirken8 und zu verhindern, dass das intellektuell Interessante und das theologisch Relevante auseinanderfallen und sich nicht mehr gegenseitig befruchten.

Während die exegetische Arbeit an den biblischen Texten in den vergangenen Jahrzehnten in neue historische und kulturwissenschaftliche Richtungen gegangen ist und breite Diskussionen ausgelöst hat, kann man das von der theologischen Arbeit an der Schrift nicht sagen. Sie ist ein unterbelichtetes Feld gegenwärtiger systematischer Theologie.9 Zur Abwehr kurzschlüssiger Gleichsetzungen von Schrift und Wort Gottes in fundamentalistischen Reaktionen auf die Moderne neigt man dazu, Schrift und Bibel zu identifizieren, den Umgang mit biblischen Texten aus der systematischen Reflexion des Glaubens auszublenden, die Beschäftigung mit der Bibel zur historischen Arbeit zu erklären und sie der Exegese bzw. Kirchen- und Theologiegeschichte zu überlassen.10 Daran hat auch das aufwändige Gedenken an die Anfänge der Reformation vor 500 Jahren nicht viel geändert. Dass manche meinen, die Reformation dadurch vollenden zu müssen, dass man die Bindung von Kirche und Theologie an die Schrift der Vergangenheit überantwortet, zeigt nur, wie notwendig eine Neubesinnung auf die Aufgaben einer theologischen Lehre von der Schrift ist.

Dazu wollen die folgenden Überlegungen einen Beitrag leisten. Es geht mir nicht um eine Aufarbeitung der verzweigten Diskussionen um die exegetischen Methoden zeitgenössischer Kulturwissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten. Sie setzen eine Bestimmung des Gegenstands der Untersuchung voraus, die ich im Folgenden gerade in Frage stelle. Meine Überlegungen zielen auf die methodisch vorgeordnete Frage nach dem Gegenstand der Auslegung.11 Ihr Ziel ist es, vor allem einige grundlegende Unterscheidungen ins Bewusstsein zu rufen, ohne deren Beachtung man nicht weiß, worum man streitet, wenn man in Kirche und Theologie um die Bedeutung und das Verständnis der Schrift und um die Methoden ihrer sachgerechten Auslegung streitet.

Unter der Bezeichnung ‚christliche Theologie‘ verstehe ich dabei das methodisch geordnete Nachdenken über den christlichen Glauben in der Vielfalt seiner Verständnisse in Geschichte und Gegenwart vor dem Forum zeitgenössischen Wissens, Wollens, Fühlens, Vorstellens, Handelns und Hoffens; unter ‚reformatorische Theologie‘ die Reorientierung theologischen Denkens vom systematischen Durchdenken der Lehrtradition der Kirche auf das kritische Entfalten des dieser Tradition voraus- und zugrundeliegenden Glaubens, wie ihn die Schrift in vielfältiger und vielstimmiger Weise bezeugt (16. Jahrhundert); unter ‚altprotestantischer Theologie‘ die konfessionelle Ausarbeitung der Ansätze der reformatorischen Theologie im Rahmen des neoaristotelischen Wissenschaftsbegriffs der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert); unter ‚(neu)protestantische Theologie‘ das kritische Durchdenken des biblisch bezeugten Glaubens und seiner Sicht der Schöpfung im Horizont der Wissenschaften, wie es sich im Verlauf der Neuzeit, Moderne und Spätmoderne entwickelt hat (18.–20. Jahrhundert); und unter ‚evangelische Theologie‘ diejenige Version der Theologie – protestantisch oder nicht –, die sich dabei maßgeblich am Evangelium als der zentralen Botschaft des christlichen Glaubens orientiert und daher in ihrem Denken, Auslegen und Reflektieren von der Kommunikation des Evangeliums in der Vielzahl ihrer Formen und Vielfalt ihrer Gestalten ausgeht.

Die These, die in den folgenden Überlegungen entfaltet wird, lässt sich kurz so umreißen: Die protestantische Theologie in ihrer alt- und neuprotestantischen Version ist keine zeitlose Selbstverständlichkeit, sondern ein Medienphänomen, ein Produkt der Buchkultur und der buchbasierten Wissenschaftskultur von Neuzeit und Moderne.12 Theologisch ist sie aus dem Neuaufbruch der Reformation entstanden; methodisch verdankt sie sich den Neuansätzen des Humanismus; in ihrer konkreten Gestaltung und historischen Entwicklung wurde sie vor allem durch Gutenbergs Erfindung bestimmt. Sie begann in den reformatorischen Anfängen (im 16. Jahrhundert) als radikale Neuausrichtung an Gottes Gegenwart, an der Selbsterschließung dieser Gegenwart als wirksame Liebe in Jesus Christus und durch den heiligen Geist und in der Zuwendung zur Schrift als dem einzigen Ort, an dem Gottes Gegenwart unmissverständlich als Evangelium für die Menschen zur Sprache kommt. Aber sie verkürzte die Schrift zur Bibel (seit Mitte des 16. Jahrhunderts) und die Bibel zu einem historischen Dokument (seit dem 18. Jahrhundert). Der Münchener Systematiker Jörg Lauster hat den Vorgang knapp folgendermaßen beschrieben:

„Die Theologen der altprotestantischen Theologie haben […] aus Luthers sola scriptura ein geschlossenes System geformt, das die Worte der Schrift mit der Offenbarung identifiziert und damit die Bibel zum Wort Gottes erhebt. […] Im Prozeß der europäischen Aufklärung bildete sich ein historisches Bewußtsein aus, das einen kritischen Blick auf die Zuverlässigkeit und Echtheit der Texte warf. […] Die biblischen Texte erwiesen sich durch und durch als Werke von Menschen […]. Damit fiel auch die Annahme einer unmittelbaren göttlichen Autorschaft der historischen Vernunft zum Opfer. Es ist die Methode der historischen Kritik, die das altprotestantische Schriftprinzip auflöste. […] Der Protestantismus hat die Methode der historischen Kritik trotz anfänglicher Widerstände im Interesse der Erforschung der biblischen Texte selbst übernommen und fortentwickelt. […] Der Aufstieg der historisch-kritischen Bibelforschung bedeutet […] auch die Emanzipation der exegetischen Disziplinen. Durch sie hält das neuzeitliche Denken Einzug in die protestantische Theologie.“13

Lausters Beschreibung ist treffend, lässt aber den entscheidenden Punkt außer Betracht: die Gleichsetzung von Schrift und Bibel, Schriftforschung und Bibelforschung, Textarbeit und Theologie. Sie wird in seiner gesamten Untersuchung nicht in Frage gestellt. Doch der altprotestantische Fehler der Reduktion der Schrift auf die Texte der Bibel wird in der neuprotestantischen Anwendung der Methode der historischen Kritik auf die Texte der Bibel nicht etwa aufgehoben und korrigiert, sondern gerade fortgesetzt.14 Zu Recht wird betont, dass mit den Texten der Bibel anders umzugehen ist, als es das altprotestantische Schriftprinzip nahelegte. Aber weil Schrift und Bibel weiterhin gleichgesetzt werden, wird die historisch-kritische Arbeit an den Bibeltexten als die bessere, kontrollierbarere, nachprüfbarere und vernünftigere Methode zur Auslegung der Schrift propagiert.15

Doch das ist ein Irrtum. Im Kern geht es in dieser Debatte gar nicht um verschiedene Methoden zur Auslegung desselben Gegenstands, sondern um verschiedene Gegenstände der Auslegung: die biblischen Schrift-Texte (Bibel) bzw. der Handlungs-Text des Gebrauchs dieser Texte zur Kommunikation des Evangeliums (Schrift). Lausters Rekonstruktion der „Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart“ zeigt vor allem eines: dass die zentrale Herausforderung der protestantischen Theologie der Neuzeit kein Methodenproblem der Bibelforschung und nicht die Spannung zwischen „Prinzip und Methode“ im Umgang mit den biblischen Texten ist, sondern die unkritische Gleichsetzung von Schrift und Bibel. Sie ist das πρῶτον ψεῦδος des Protestantismus, der wider besseres Wissen in die Gutenberg-Falle geraten ist. Am Ende der Gutenberg-Galaxis16 und an der Schwelle zur digitalen Epoche der menschlichen Kulturgeschichte gilt es, das kritisch zu revidieren.

Denn mit dieser Gleichsetzung kam es zu einer doppelten Verschiebung, die bis heute die protestantische Theologie in allen ihren Versionen charakterisiert. Zum einen wurde die Schrift, die seit den Anfängen der Christenheit als Mittel zum Verstehen des Evangeliums fungierte, zum privilegierten Gegenstand des Verstehens: Anstatt mit Hilfe der Schrift das Evangelium zu verstehen, konzentrierte man die theologische Arbeit darauf, die Schrift zu verstehen.17 Indem man die Schrift aber mit der Bibel gleichsetzte und diese als ein historisches Textkonvolut verstand, kam es zum anderen zu einer Gabelung der Theologie in die kritische und historische Arbeit an religiösen Texten und kulturellen Entwicklungen (biblische und historische Theologie) auf der einen Seite und die systematische Entfaltung des Inhalts des christlichen Glaubens (dogmatische Theologie) und der Moralprinzipien des christlichen Lebens (moralische Theologie) auf der anderen. Die Theologie wurde damit aufgespannt zwischen den beiden Polen einer historisch-kulturwissenschaftlichen Disziplin, die sich mit geschichtlichen Sachverhalten des Christentums befasst, und einer ideologischen (also mit Ideen befassten) Disziplin, die sich mit begrifflichen und normativen Fragen auseinandersetzt.18

Das hatte weitreichende Folgen. Die reformatorische Orientierung an Gottes schöpferischer Gegenwart in seinem Wort und Geist wurde ersetzt durch die historische Beschäftigung mit Gottesvorstellungen aus Vergangenheit und Gegenwart (religiöses Bewusstsein, Religionsgeschichte) und die begriffliche Auseinandersetzung mit Gottesideen religiöser, theologischer und philosophischer Provenienz (religiöse Ideen, Religionsphilosophie). Die Beschäftigung mit dem religiösen Bewusstsein und seinen gesellschaftlichen und kulturellen Produkten und die kulturvergleichende Analyse religiöser und theologischer Ideen wurden so zum Hauptgeschäft der Theologie. Sie wurde, was Feuerbach auf seine Weise prognostiziert hatte: religiöse Anthropologie.19

Was im frühen 19. Jahrhundert noch wie ein Weg in die Zukunft aussah, ist inzwischen zu einer fatalen Belastung für die Theologie geworden. Die protestantische Theologie der Neuzeit verlor damit weithin das Thema ihrer reformatorischen Anfänge aus den Augen: Gottes wirksame Gegenwart im Leben seiner Schöpfung. Doch ohne deren Beachtung gibt es keine emanzipatorische Aufklärung über die tatsächliche Situation der Menschen in dieser Welt und damit auch keinen beachtenswerten Beitrag der Theologie zu den kulturellen Debatten der Gegenwart.20 Stattdessen handelt sich die Theologie einen Dauerkonflikt mit den historischen und empirischen Religions-, Kultur- und Sozialwissenschaften ein, in dem ihre wissenschaftliche Reputation aufgerieben wird.

Vor allem aber steht sie in Gefahr, auch ihre theologische Reputation zu verspielen, weil sie es nicht vermag, sich zu den gegenwärtigen Aufbrüchen in der Christenheit in den weltweiten pentekostalen Bewegungen in eine fruchtbare Beziehung zu setzen. Als Taschenausgabe der geisteswissenschaftlichen Disziplinen der europäischen Universitätstradition zur Erforschung von Religionsphänomenen ist sie in der Lage, sich in hochreflektierter Weise als Wissenschaft unter Wissenschaften zu definieren, auch wenn das heute außerhalb der Theologie kaum noch jemanden interessiert. Aber sie ist unfähig, sich produktiv mit den Spuren des Wirkens des Geistes im Leben der Menschen in der Gegenwart auseinanderzusetzen, also die Wirklichkeit denkend zu erhellen, der sich Glaube und Kirche verdanken. Am Wirken des Geistes versagen ihre textanalytischen, historischen und begrifflichen Instrumentarien.21 Das Wirken des Geistes aber ist die Herausforderung, der sich die Christenheit und damit auch die christliche Theologie im 21. Jahrhundert stellen muss.

Will die protestantische Theologie dazu einen Beitrag leisten und nicht zur bloßen Erinnerung ihrer eigenen Geschichte werden, muss sie sich von Grund auf reformieren und wieder lernen, von Gott – und damit auch von Gottes Wort, Gottes Geist und Gottes Wirken – nicht nur im Modus des Zitats und der Fremdbegriffe anderer, sondern in direkter Rede und in eigener Verantwortung zu sprechen. Der erste Schritt dazu ist, dass sie zur evangelischen Theologie wird, die hermeneutisch nicht die Bibel, sondern die Schrift ins Zentrum ihrer theologischen Bemühungen stellt.

I

DIE KRISE DES SCHRIFTPRINZIPS

Der Streit um die Stellung der Schrift im Leben der Kirche und im Denken der Theologie hat die reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts von Anfang an bewegt.22 Erst in den kontroverstheologischen Debatten der Folgezeit hat das zur Ausbildung einer Lehre von der Schrift in den Prolegomena der Dogmatik und zum Konstrukt der Schrift als Erkenntnisprinzip der Dogmatik geführt.23 Diese dogmatische Argumentationsfigur geriet im 18. Jahrhundert im Zuge der sich ausbreitenden historisch-kritischen Bibelforschung der Aufklärung in eine tiefgreifende Krise.24 Im Gegenzug wurde im Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts das Schriftprinzip zum Wesensmerkmal des Protestantismus erklärt, mit dessen Hilfe sich dieser von anderen Gestalten des Christentums, insbesondere von der römisch-katholischen Kirche und Theologie, unterscheiden lasse.25 Dieses Schibboleth des neuzeitlichen Protestantismus wurde im 20. Jahrhundert von theologischer wie von nichttheologischer Seite umfassend kritisiert.26 Seither ist von der Schrift theologisch vor allem mit Verweis auf die Krise des Schriftprinzips die Rede.27 Während die einen daraus eine Dauerkrise des Protestantismus ableiten und die strikte Verabschiedung oder gründliche Revision des Schriftprinzips fordern,28 versuchen andere auf verschiedenen Wegen für eine Zukunft des Schriftprinzips zu argumentieren.29 Beides ist nur dann kein Schritt zurück in die Problemlagen des 19. Jahrhunderts, wenn zugleich die offenen Aufgaben einer theologischen Lehre von der Schrift in Angriff genommen werden. Dabei sind die Unklarheiten vergangener Debatten und Lehrbildungen zu vermeiden, ohne die Bedeutung der Schrift für das Leben der Kirche auszublenden oder zu unterschätzen. Denn dass die Schrift in den christlichen Kirchen aller Traditionen eine zentrale Bedeutung hat, lässt sich kaum bestreiten. Doch wie diese Bedeutung theologisch zu verstehen und zu würdigen ist, ist tiefgreifend strittig.

1  DIE UNKLARE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT KIRCHLICHER REDE VON DER SCHRIFT

Alle christlichen Kirchen gebrauchen und verweisen auf die Schrift. Aber ist auch klar, was sie damit meinen und wovon sie dabei reden? Reden sie von demselben? Diese Fragen lassen sich nicht ohne Weiteres bejahen. Was in offiziellen Dokumenten der evangelischen Kirchen und protestantischen Ökumene mit ‚Schrift‘ gemeint wird, ist erstaunlich unklar. Ich beschränke mich auf vier Beispiele.30

1.1 DIE BASISFORMEL DES ÖKUMENISCHEN RATES DER KIRCHEN

Seit 1961 definiert sich der Ökumenische Rat der Kirchen mit folgender Formel: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“31

Was heißt hier „gemäß der Heiligen Schrift“? Was würde fehlen, wenn nur von der Gemeinschaft der Kirchen die Rede wäre, „die den Herrn Jesus Christus […] als Gott und Heiland bekennen“? So ähnlich lautete der Vorläufer der Basisformel – das christologische Bekenntnis des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948: „Der Ökumenische Rat der Kirchen setzt sich zusammen aus Kirchen, die Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen.“ Von der Schrift war hier keine Rede. Warum wird in der Basisformel von 1961 ausdrücklich auf die ‚Heilige Schrift‘ verwiesen? Was ist dadurch gewonnen bzw. was ginge verloren, wenn man diesen Zusatz wegließe?

Offenbar wäre die Formel viel laxer. Jesus Christus als Gott bekennen kann man auf viele und keineswegs miteinander zu vereinbarende Weisen. Man kann einen Menschen meinen, der in den Status eines Gottes erhoben wurde. Man kann einen Gott meinen, der dem einen Gott Vater beigeordnet oder subordiniert ist. Man kann von dem reden, der in der Basisformel als Gott der Sohn bezeichnet wird. Man kann dies als den Versuch verstehen, eine Differenz zwischen Vater und Sohn zum Ausdruck zu bringen, oder umgekehrt, die intime Nähe zwischen ihnen zu betonen. Das sind sehr verschiedene Möglichkeiten, die nicht nur in den dogmatischen Auseinandersetzungen der frühen Kirche intensiv umstritten waren. Zudem: Was heißt hier Jesus Christus „als Gott und Heiland bekennen“? Ist gemeint „als einen Gott bekennen“ oder „als den Gott bekennen“? „Soll“, wie Bultmann schon 1951 fragte,32 „mit der Bezeichnung Christi als ‚Gottes‘ seine Natur bezeichnet werden, sein metaphysisches Wesen oder seine Bedeutsamkeit? Hat die Aussage soteriologischen oder kosmologischen Charakter oder beides? Nun, jede der im Ökumenischen Rat vereinigten Kirchen kann es halten, wie sie will.“33

Es liegt nahe, dass 1961 durch den Zusatz „gemäß der Heiligen Schrift“ eben diese vieldeutige Mannigfaltigkeit reduziert, die Aussage also eindeutiger gemacht werden sollte. Doch wird sie das? Was meint denn „Heilige Schrift“ und was heißt es, ihr gemäß Jesus Christus als Gott zu bekennen? Ist mit ‚Heilige Schrift‘ das Neue Testament gemeint, dann wird Jesus Christus ausdrücklich und uneingeschränkt nur an einer Stelle als Gott bekannt, nämlich am Schluss der Thomas-Geschichte (Joh 20,28). Betrachtet man die übrigen Stellen, an denen das angedeutet, vorausgesetzt oder impliziert ist, dann gerät man sogleich wieder in die Vielfalt der christologischen Vorstellungen, der man durch den Hinweis auf die Heilige Schrift doch zu entgehen suchte. Oder werden damit überhaupt keine bestimmten Texte oder Stellen gemeint, sondern die „story“ von Jesus, die diese Texte erzählen, wie Dietrich Ritschl vor Jahren meinte?34 So oder so lässt sich die Heilige Schrift nicht gut als normative Instanz für das Bekenntnis von Jesus Christus als Gott und Heiland anführen, wenn nicht klar ist, wie diese Instanz verstanden werden soll. Das ist ein anderes Problem als die Frage, warum gerade die Schrift als solche normative Instanz in Anspruch genommen wird. Als normative Instanz kann die Heilige Schrift nur fungieren, wenn sich sagen lässt, was es heißt, „gemäß der Heiligen Schrift“ Jesus Christus als Gott und Heiland zu bekennen. Das setzt Klarheit darüber voraus, was unter dem Titel „Heilige Schrift“ als normative Instanz in Anspruch genommen wird. Sonst ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sich hinter dieser Zustimmung heischenden Formel letztlich nichts mehr verbirgt als eine verbal kaschierte Konfusion.

1.2 DIE VERFASSUNG DES LUTHERISCHEN WELTBUNDES

Das Problem stellt sich ähnlich in der Verfassung des Lutherischen Weltbundes, auch wenn dieser seine Lehrgrundlagen präziser bestimmt:

„Der Lutherische Weltbund bekennt die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes als die alleinige Quelle und Norm seiner Lehre, seines Lebens und seines Dienstes. Er sieht in den drei ökumenischen Glaubensbekenntnissen und in den Bekenntnissen der lutherischen Kirche, insbesondere in der unveränderten Augsburgischen Konfession und in dem Kleinen Katechismus Martin Luthers eine zutreffende Auslegung des Wortes Gottes.“35

Die Heilige Schrift wird jetzt präziser als Altes und Neues Testament bestimmt – nicht als die Schriften des Alten Testaments und des Neuen Testaments (was ganz irreführend wäre), sondern als die eine Schrift des Alten und Neuen Testaments (was allein den Kanon der Kirche angemessen bezeichnet). Es werden sogar Aussagen über den so gekennzeichneten Gegenstand gemacht, die auf Lehrsätze über die Schrift hinauslaufen: Sie wird als „die alleinige Quelle und Norm“ aller Lehre und des ganzen Lebens und Handelns des Weltbundes bekannt. In der früheren Version dieses Verfassungsartikels von 1947 hieß es noch: „Der Lutherische Weltbund erkennt die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes als die alleinige Quelle und unfehlbare Norm aller Lehre und allen Handelns der Kirche an“36.

Drei Punkte fallen am neuen Text auf. Zum einen wird in der geltenden Fassung des Artikels nicht mehr von der Unfehlbarkeit der Norm der Heiligen Schrift gesprochen. Zwar wird nicht gesagt, dass sie das nicht wäre, aber es wird auch nicht mehr zum Thema gemacht. Zum anderen wird auch nicht mehr nahegelegt, dass der Lutherische Weltbund selbst Kirche sei. Zwar wird das auch nicht bestritten, aber es wird jetzt ausschließlich von der Lehre, dem Leben und dem Dienst des Weltbundes gesprochen. Zum dritten wird nicht mehr von der Anerkennung der Heiligen Schrift als alleiniger Quelle und Norm gesprochen, sondern vom Bekenntnis dazu.

An dieser letzten Änderung sind zwei Dinge hervorzuheben. Auf der einen Seite wird durch die Rede vom Bekennen eher noch verstärkt, was mit der Rede vom Anerkennen zum Ausdruck gebracht worden war: dass die Heilige Schrift eine der Kirche vorgegebene Quelle und normative Instanz darstellt, zu der sich die Kirche nur bekennen, die sie aber nicht selbst setzen oder hervorbringen kann. Die Heilige Schrift verdankt sich nicht der Kirche, sondern ist ihr als Quelle und Norm vorgegeben. Indem sich die Kirche dazu verpflichtet, sich in all ihren Vollzügen an der Heiligen Schrift zu orientieren, unterstellt sie sich einer Norm, die nicht sie gesetzt hat und über die nicht sie urteilt, sondern die für sie gesetzt ist und die über sie urteilt. ‚Heilig‘ wird die Schrift gerade deshalb genannt, weil sie für Gottes Wirken steht und kein Werk der Menschen ist. Sie ist kein Geschöpf der Kirche, sondern diese ist ein Geschöpf des Wortes Gottes (creatura verbi), an dessen schöpferische Vorgängigkeit und prinzipielle Priorität die Kirche durch die Schrift permanent erinnert wird. Der Bezug auf die ‚Schrift‘ verweist daher auf kein Menschenwerk, sondern auf dasjenige Wirken Gottes, durch das die Kirche wird, was sie ist (Leib Christi und Gemeinschaft der Heiligen). Indem die Kirche sich zu diesem ihr unverfügbaren Heilswirken Gottes als der für sie allein maßgeblichen Norm bekennt, anerkennt sie Gottes wirkendes Wort als das grundlegende Geschehen ihrer Existenz und ihres Lebens.

Auf der anderen Seite wird nun aber eben durch diesen Klärungsversuch in der Formulierung des Artikels ein anderes Problem geschaffen und verschärft. So ist in diesem kurzen Text nicht nur von den ökumenischen Glaubensbekenntnissen und den Bekenntnissen der lutherischen Kirche die Rede, sondern auch vom Bekenntnis des Weltbundes zur Heiligen Schrift. Wie verhalten sich diese Bekenntnisse zueinander? Was verbindet und unterscheidet die Heilige Schrift, die ökumenischen Bekenntnisse, die unveränderte Augsburgische Konfession, Luthers Kleiner Katechismus, Wort Gottes und das Bekenntnis zur Heiligen Schrift als alleiniger Quelle und Norm? Die Bekenntnisse der lutherischen Kirche, die Augsburgische Konfession und Luthers Kleiner Katechismus werden als „zutreffende Auslegung des Wortes Gottes“ charakterisiert, diesem also als menschliche Worte nachgeordnet. Doch wie verhalten sich „Heilige Schrift“ und „Wort Gottes“ zueinander? Handelt es sich um zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache oder um zwei verschiedene Sachen? Legen die Bekenntnisse Gottes Wort aus oder legen sie die Schrift aus? Und wie verhält sich das Bekenntnis zum Wort Gottes, das in der Schrift zur Sprache kommt, zum Bekenntnis zur Heiligen Schrift, das Gottes Wort zur Sprache bringt? Wird ‚Bekenntnis‘ hier im gleichen oder in verschiedenem Sinn gebraucht? Und wenn die Heilige Schrift die „alleinige Quelle und Norm“ aller Lehre und allen Bekennens ist, genügt es dann nicht, sich zur Heiligen Schrift zu bekennen und auf alle weiteren Bekenntnisse zu verzichten? Wer glaubt, was die Schrift glaubt, glaubt doch dann alles, was zu glauben gut, möglich und nötig ist?

Offenkundig besteht an dieser Stelle gründlicher Klärungsbedarf. Schon vor Jahrzehnten notierte der lutherische Dogmatiker Hermann Sasse:

„Es besteht zwischen den Kirchen Augsburgischer Konfession kein Konsensus mehr über die Heilige Schrift; ja der Dissensus darüber trennt unsere Kirchen tiefer als irgendeine andere Frage. […] Es gibt wohl keine Lehre, die innerhalb der lutherischen Kirche der Gegenwart so umstritten wäre wie die Lehre De Sacra Scriptura.“37

Wenn das schon für eine Kirche gilt, die unter dem Banner sola scriptura ihren Weg in die Geschichte antrat, was muss dann wohl erst von anderen Kirchen befürchtet werden?

1.3 DIE VERFASSUNG DER EVANGELISCHEN LANDESKIRCHE IN WÜRTTEMBERG

Dieselbe Frage nach der Klarheit dessen, was mit der Berufung auf die Heilige Schrift gemeint sei, stellt sich auch bei der Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Deren §1 lautet:

„Die evangelisch-lutherische Kirche in Württemberg, getreu dem Erbe der Väter, steht auf dem in der Heiligen Schrift gegebenen, in den Bekenntnissen der Reformation bezeugten Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn. Dieses Evangelium ist für die Arbeit und Gemeinschaft der Kirche unantastbare Grundlage.“38

Weil diese Grundlage unantastbar ist, kann die Kirche sie auf keine Weise verändern oder außer Kraft setzen: Das Evangelium von Jesus Christus ist das, ohne das es sie nicht gäbe. Es verdankt seine Geltung keinem kirchlichen fiat, sondern geht jedem Akt der Kirche prinzipiell voraus, weil sie ihn überhaupt erst ermöglicht. Es ist kein Werk der Kirche, sondern deren Grundlage.

Aber was genau heißt das? In welchem Sinn ist diese Grundlage eine Grundlage? Als Fundament, auf das die Kirche baut? Dann ist es kein Fundament, das die Kirche selbst gelegt hat. Als letzter Grund für alles theologische Begründen? Dann ist es kein Grund, den theologisches Begründen sich selbst voraussetzt. Als das, was Menschen einen sicheren Ort auf schwankendem Boden verschafft? Dann ist es nichts, was Menschen sich selbst verschaffen könnten. Offensichtlich lässt sich die Metapher von der ‚Grundlage‘ verschieden verstehen und entwickeln. Wie sie hier zu verstehen ist, wird nicht gesagt. Nur eines wird klargestellt: Das Evangelium ist die Grundlage der Kirche, nicht deren Grundnorm. Es ist keine Norm, deren Geltung sich einer Setzung verdankt oder die ihre Pointe verliert, wenn sie nicht akzeptiert und befolgt wird. Und es ist kein Rechtsprinzip, aus dem sich Rechtsfolgen ableiten ließen, die mit Sanktionen durchgesetzt werden könnten.39

Dem Evangelium nachgeordnet, und zwar in verschiedener Weise, sind die Heilige Schrift und die Bekenntnisse: In der Heiligen Schrift ist das Evangelium gegeben, in den Bekenntnissen der Reformation wird es bezeugt.40 Dass das Evangelium in der Heiligen Schrift ‚gegeben‘ ist, expliziert das, was in anderen Texten mit der Rede von der Schrift als ‚Quelle‘ gesagt wird und markiert eine nicht zu unterschlagende Differenz: Die Heilige Schrift ist nicht das Evangelium, sondern sie enthält es bzw. gibt es. Nur sie? Darüber wird nichts gesagt. Es wird nur das Faktum konstatiert, dass sie es gibt. Damit wird etwas über die Heilige Schrift gesagt, ohne dass ausdrückliche Lehraussagen über sie gemacht würden, nämlich dass sie die Quelle des Evangeliums sei. Als Norm wird sie nicht bezeichnet, wohl aber als dessen Quelle, ohne dass genauer ausgeführt würde, was das heißt. Ähnlich ungeklärt bleibt, was man sich unter der Heiligen Schrift, die das Evangelium vermittelt, konkret zu denken hat, warum sie ‚heilig‘ genannt wird oder warum von ‚Schrift‘ im Singular die Rede ist. All das wird offenbar ebenso als etwas angesehen, das sich von selbst versteht, wie das, was mit dem ‚Evangelium von Jesus Christus‘ gemeint ist, auf das der Gedankengang hinläuft. Doch was soll dann heißen, dass das Evangelium in der Heiligen Schrift gegeben sei? Wo und wie und durch wen oder als was ist es wem gegeben? Wieder ist es gerade die Selbstverständlichkeit, in der von der Heiligen Schrift und vom Evangelium geredet wird, die nach theologischer Klärung ruft.

1.4 DIE THEOLOGISCHE ERKLÄRUNG VON BARMEN

Als letztes Beispiel nenne ich die erste These der Theologischen Erklärung von Barmen von 1934. Sie lautet:

„Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh. 14,6) / Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und Räuber. Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden. (Joh 10,1.9) / Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. / Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“41

Wiederum ist von der Heiligen Schrift die Rede, aber wiederum anders als in den vorherigen Beispielen. Hatte es in der Verfassung der Württembergischen Landeskirche geheißen, dass die Heilige Schrift das Evangelium gebe, das die Bekenntnisse bezeugen, so wird hier ein solches Bezeugen gerade der Heiligen Schrift zugesprochen: Sie bezeugt Jesus Christus, das eine Wort Gottes. Das und nur das ist hier ihre Funktion. Nicht sie ist die Quelle der Verkündigung, wie es oben hieß, sondern das von ihr bezeugte Wort Gottes. Was aber besagt hier ‚bezeugen‘? Meint es etwas anderes als das, was die Württemberger ‚geben‘ nennen?

Eine mögliche Antwort deuten die vorangestellten Verse aus dem Johannesevangelium an. Sie sind einerseits Zitate aus einer neutestamentlichen Schrift, führen andererseits aber Jesus Christus selbst als sprechendes Subjekt an: Jesus Christus, das eine Wort Gottes, ist die sprechende Instanz, die Heilige Schrift dagegen ist diejenige Instanz, die den sprechenden Jesus Christus uns zu Gehör bringt und für uns vernehmlich macht. Ist das die hier zum Ausdruck kommende Auffassung der Schrift? Falls ja, gilt das nur für die zitierten johanneischen Texte oder auch für andere oder gar alle Texte der Schrift? Wie ist das Verhältnis zwischen Wort Gottes, Evangelium und Schrift genauer zu fassen? Und wie verhält sich all das zu dem, was ‚Gottes Offenbarung‘ genannt wird? Wieder wirft der Versuch, die wie selbstverständlich in Anspruch genommene Rede von Heiliger Schrift klarer zu fassen, eine Reihe von Fragen auf, die sich nicht ohne weiteres beantworten lassen.

Alle vier betrachteten Texte reden wie selbstverständlich von der Schrift. Aber jeder dieser Texte stellt den Schriftbegriff in andere Zusammenhänge und setzt ihn in Bezug zu anderen Ausdrücken, die über sein Verständnis mitentscheiden: Wort Gottes, Bekenntnis, Zeugnis, Auslegung, Katechismus, Evangelium, Jesus Christus, Offenbarung. Obgleich die betrachteten Texte alle aus dem ungefähr gleichen Zeitraum des 20. Jahrhunderts stammen und ähnlich grundsätzliche Funktionen haben, sind sie nur schwer vergleichend aufeinander zu beziehen. In jedem Text sind die Bezugs- und Kontrastbegriffe etwas anders, und deshalb ist es keineswegs klar, ob der Schriftbegriff in den verschiedenen Texten im gleichen Sinn verstanden wird. Offenbar lässt sich das, was so selbstverständlich mit Wendungen wie ‚Schrift‘, ‚Heilige Schrift‘ oder ‚gemäß der Schrift‘ angesprochen wird, keineswegs so ohne weiteres auch begrifflich klar explizieren.42 Gerade das aber wäre nötig, um zu einem wirklichen Konsens über das Verständnis von ‚Heilige Schrift‘ zu kommen. Ohne einen solchen Konsens ist jede behauptete Orientierung an der Schrift und jede Berufung auf sie ein trügerisches Zeichen theologischer, kirchlicher oder ökumenischer Einheit. Zu den drängenden Aufgaben einer ökumenisch verantwortlichen Theologie gehört daher die Ausarbeitung einer konsensfähigen Lehre von der Schrift. Aber das ist nicht der einzige Grund, sich um dieses vernachlässigte Thema zu kümmern.

2  DER ANFANG VOM ENDE DER BIBLIOLATRIE

2.1 DAS WÜRTTEMBERGISCHE GENERAL-RESKRIPT VOM 12. FEBRUAR 1780

Am 12. Februar 1780 wurde in Stuttgart ein landesherrliches General- Reskript gegen die „Verbotene Ausbreitung pelagianischer, socianischer, und naturalistischer Grundsätze“ erlassen, das seinen Niederschlag im siebten Paragraphen der Religionsverfassung des alten Herzogtums Wirtemberg fand. Dort werden als „Verbotene Lehren gegen Hauptgrundsätze der Religion“ ausdrücklich alle Sätze genannt, „welche den Lehren von der Göttlichkeit der heiligen Schrift, von dem Versöhnungstod und der Gottheit Christi, von der Dreieinigkeit und von den Gnadenwirkungen des heiligen Geistes zuwiderlaufen“, und es wird gefordert, solche Ansichten sollen „in Kirchen und Schulen nicht gelehrt, noch zur Ausbreitung solcher Lehren unter dem Volk oder unter der studierenden Jugend mündlich oder schriftlich etwas beigetragen werden. Widrigenfalls sind dergleichen Vorgänge scharf zu ahnden, und diejenigen Personen, welche sich derselben schuldig gemacht haben, nach befindlichen Umständen, ihres Amts zu entlassen.“43

Anlass für diese Anordnung war, wie das Reskript mitteilt, dass

„einige Theologi und Ministri Ecclesiae […] die Fundamental-Articul der christlichen Lehre […] auf das spitzfündigste und vermessenste zu bezweifeln und anzugreifen, ja sogar bey dem öffentlichen Vortrag und anderen Gelegenheiten solche […] Meinungen unter das Volk auszustreuen, oder auch durch offentlichen Druk bekannt zu machen keine Scheue getragen haben. Welch schädliche und gefährliche Folgen nun dieser aus einer Neuerung- und Bezweiflungs-Sucht herrührende Lehr-Dissensus in dem Staat und in der Kirche theils allbereits nach sich gezogen, theils noch inskünftige nach sich ziehen werde, wird ein jeglicher, der nicht nur eine mittelmäsige Menschen- Kenntnuß besizet, von selbst ermessen können, bevorab, da zu befürchten stehet, es möchte die studierende Jugend Unserer Herzogl. Landen, welche dem Lehr-Amt auf künftige Zeiten gewidmet ist, bey ihrem Hang zum Neuen, und ihrer Abneigung von einer reifen und gesetzten Prüfung […] mit dergleichen schädlichen Meynungen angesteket, folglich die Kirche durch ärgerliche Spaltung zerrüttet, unberichtete und schwache Seelen aber, welche zu Prüfung solcher Lehren, oder zur Beantwortung der gemachten zweifel weder Gaben noch Geschik haben, in ihrem Glauben, und nöthiger Sorge vor ihr ewiges Gnaden-Heil irre gemacht und geärgert werden.“44

Um das – wie es heißt – „nach denen von Gott Uns aufgelegten Christ- Fürstlichen Pflichten“45 zu verhindern, wird „gnädigst befohlen, pünktlich […] im Predigen, Catechisieren, Praeparation der Confirmations-Kinder, Disputationen, oder wo sonsten eine Gelegenheit erbaulich zu lehren sich äussern würde, das Fürbild der gesunden Evangelischen Lehre vor Auge zu haben“46. Und um alle Missverständnisse zu vermeiden, wird hinzugefügt, dass dies nicht nur für die amtlichen Tätigkeiten gelte, für die man ja bei „Dienst-Eintritt“ den Amtseid auf die „Formula Concordiae und übrigen Libris Symbolicis“ abgelegt „und stipulata manu an Eydesstatt, offentlich und privatim nach demselben zu lehren sich verpflichtet“47 habe, sondern dass das auch für alle wissenschaftlichen Äußerungen gelte:

„Im Fall auch einer oder der andere von den Ministris Ecclesiae seine theologischen Kentnüsse der gelehrten Welt durch den Druk mitzutheilen entschlossen wäre; solle er solches nicht anderst, als unter vorgängiger Censur Unseres Herzogl. Consistorii, oder der theologischen Facultaet zu Tübingen bewerkstelligen sich befugt erachten.“48

Dass die landesherrliche Besorgnis nicht ganz unberechtigt war, belegt die Theologiegeschichte der letzten 250 Jahre. Dass gesetzliche Verfügungen nicht das probate Mittel waren, die befürchteten Unruhen und Spaltungen in der Kirche zu verhindern, freilich nicht weniger. Wir haben hier ein exemplarisches Dokument für die nervöse Reaktion der etablierten Kirche und Theologie auf die Anfragen der Aufklärung. Zu denken ist hier vor allem an den zu eben jener Zeit die Gemüter erhitzenden Fragmentenstreit, den Gotthold Ephraim Lessing auslöste, als er unter dem Titel „Fragmente des Wolfenbüttelschen Unbekannten“ 1774, 1777 und 1778 insgesamt sieben ausgewählte Stücke aus der bis dahin ungedruckten Schrift des Hamburger Orientalisten Herman Samuel Reimarus mit dem Titel „Apologie oder Schutzschrift für die Vernünftigen Verehrer Gottes“ veröffentlichte, und zwar zensurfrei, wozu er als Bibliothekar der Wolfenbüttelschen Bibliothek das Recht hatte. In den publizierten Fragmenten führt Reimarus, ein Anhänger des radikalen englischen Deismus, einen geharnischten Angriff auf den altprotestantischen Bibelglauben, indem er die christliche Deutung des Alten Testaments, die Schlüssigkeit der Wunder- und Weissagungsbeweise und die Stichhaltigkeit der Auferstehungsberichte widerlegt. Die Wirkung dieser Veröffentlichung, die Erregung, die sie auslöste, und der theologisch-literarische Streit, der sich anschloss, war ein geschichtliches Ereignis, das den Umgang mit der Bibel in der deutschen protestantischen Theologie nachhaltig veränderte. In der Theologie kam damit das Zeitalter der „Bibliolatrie“ – ein von Lessing in Analogie zu Idolatrie gebildetes Wort – zu einem unwiderruflichen Ende. Man konnte, wie Emanuel Hirsch es formulierte, von einer zweiten Befreiung sprechen: „Luther hat uns von dem Joche der kirchlichen Überlieferung erlöst. Aber noch unerträglicher als dies ist das Joch des Bibelbuchstabens […]“, auf dem „seiner nicht würdige Nachfolger, die protestantischen Geistlichen, eine neue Tyrannei und Gewissensherrschaft aufzurichten gesucht“ haben.49

Wir stehen hier am Anfang des Endes der altprotestantischen Lehre von der Schrift, die in der reformatorischen Auflehnung gegen die Gesetzlichkeit eines kirchlichen Lehramts ihre Wurzeln hatte, das die Freiheit nicht nur der Lehre, sondern des Glaubens behinderte, und die nun – nicht nur in Württemberg – trotz Sanktionen und Einschärfung als Kirchengesetz ihr Ende findet. Aus der Berufung auf die Schrift war das kirchenregimentliche Pochen auf eine bestimmte Lehre über die Schrift geworden, damit aber gerade das eingetreten, wogegen sich der Protestruf sola scriptura ursprünglich gerichtet hatte: die Verwechslung von Gotteswort und Menschenwort, das Insistieren auf die Autorität menschlicher Lehre, wo es allein um die Autorität des göttlichen Wortes geht. Dieser Vorgang hat weit in die Geschichte zurückreichende Vorläufer.50 Aber die Bedeutung dieser Entwicklung wird man nicht verstehen können, ohne sich zu fragen: Was ging der evangelischen Theologie mit dem Zusammenbruch der altprotestantischen Schriftlehre eigentlich verloren?

Bei dem zitierten Gesetz der württembergischen Religionsverfassung fällt auf, dass die Lehre von der Göttlichkeit der heiligen Schrift unter die Hauptgrundsätze der Religion eingeordnet und den zentralen soteriologisch-christologischen (Versöhnungstod und Gottheit Christi), trinitarischen (Dreieinigkeit) und pneumatologischen (Gnadenwirkungen des heiligen Geistes) Lehraussagen gleichgestellt wird. Doch kann man die Lehre von der Schrift mit Christologie und Rechtfertigungslehre, Trinitätslehre und Pneumatologie auf eine Stufe stellen? Die Göttlichkeit der Schrift ist kein Glaubensartikel. Sie wird in keinem der altkirchlichen Bekenntnisse bekannt, und nicht von ungefähr verhandelte die traditionelle protestantische Dogmatik dieses Lehrstück im Unterschied zu den anderen genannten nicht im materialen Teil, sondern in den Prolegomena der Dogmatik. Gehört die Lehre von der Schrift also tatsächlich wie die Trinitätslehre zu den „Fundamental-Articul[en] der christlichen Lehre“, wie es in dem erwähnten Reskript heißt, oder handelt es sich dabei nicht um eine spezifisch protestantische Sonderlehre, die sich erst allmählich in der kontroverstheologischen Auseinandersetzung mit der römischen Kirche herausgebildet hat?

2.2 KEIN PROTESTANTISCHES DOGMA DE SACRA SCRIPTURA

Man wird auf diese Frage eine historische und eine methodische Antwort geben müssen. Historisch ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Formel sola scriptura als charakteristische Formel lutherisch-protestantischer Theologie gilt, dass aber gerade die lutherische Kirche bis heute kein formuliertes Dogma von der heiligen Schrift hat. Es ist im Gegenteil die römisch-katholische Kirche, die 1546 in der IV. Session des Konzils von Trient ein solches Dogma über die Schrift formuliert hat. Die lutherischen Bekenntnisschriften enthalten keinen Artikel über die Schrift. Nur in der Präambel der Konkordienformel wird die faktische Autorität der Schrift konstatiert, jedoch kein Ansatz zu ihrer dogmatischen Begründung unternommen. Erst die reformierten Bekenntnisse – die Confessio Helvetica Prior und Posterior, der Genfer Katechismus, die Confessio Galicana und Belgica sowie die Anglikanischen Artikel – haben im Anschluss an Calvin am Anfang oder nach der Lehre von Gott ein Schriftprinzip statuiert und zugleich den Umfang des Kanons festgelegt.

Daraus darf man aber nicht „den Schluß ziehen, die Lutherische Kirche sei am Schriftprinzip weniger interessiert, wie man auf reformierter Seite behauptet hat, oder ein Dogma De Sacra Scriptura könne es nur in der Reformierten und in der Römischen Kirche geben“.51 Denn das theologische Interesse an der Schrift ist keineswegs an eine bestimmte Lehre über die Schrift gebunden. Zudem enthält die erste Bekenntnisschrift des Luthertums, der Ansbacher Ratschlag von 1524, eine ausführliche Lehre von der Schrift und ihrer Auslegung in 12 Artikeln. Und auch in der Württembergischen Confession von 1552, die als Lehrgrundlage in die Große Kirchenordnung des Herzogs Christoph von Württemberg von 1559 einging, findet sich ein ausführlicher Artikel „Von der heiligen Schrift“.

Von einer protestantischen Sonderlehre, die bei den Lutherischen zudem überhaupt nicht formuliert sei, kann also nicht geredet werden. Dennoch behält der Satz Wyclifs seine Gültigkeit: „credimus toti scripture sacre sed non in scripturam“ („Wir glauben der ganzen heiligen Schrift, aber nicht an die Schrift.“)52 Im Unterschied zu Gott Vater, Sohn und Geist ist die Schrift kein Glaubensgegenstand. Wie aber kann sie dann ein fundamentaler Lehrgegenstand sein?

In der Theologie gibt es viele Themen oder Lehrgegenstände, die in Bekenntnissen des christlichen Glaubens, in der Kirche und im christlichen Leben keine Glaubensgegenstände sind, also nicht zu dem gehören, was in Glaubensbekenntnissen aufgeführt würde. Lehraussagen kennen die christlichen Kirchen in drei Gestalten: in Gestalt des Credos, des Dogmas und der theologischen Lehre.53 Diese Aussagen haben aber eine ganz unterschiedliche Funktion, unterschiedliche Adressaten und unterschiedlichen Charakter. „Credos, und teilweise auch Dogmen, haben ursprünglich doxologischen Charakter. Sie wurden nicht nur Menschen, sondern primär Gott zugerufen.“54 Kirchliche Dogmen und theologische Lehraussagen dagegen sind nicht Gegenstand des Glaubens, „vielmehr sind sie Hilfe für das Verstehen und für die Artikulation des Glaubens“.55 Deshalb müssen sie auch Fragen und Probleme explizit thematisieren, die dem christlichen Glauben ganz selbstverständlich sind. Sie haben, so D. Ritschl, eine eher regulative Funktion, wollen also „nicht eigentlich ‚Antworten‘ auf ‚Fragen‘“ sein, sondern „Richtungsangaben, Ortungen, Gewichtungen, Klärungen, Einladungen“.5 Theologische Lehren, so verstanden, sind daher nicht doktrinale Reformulierungen des Glaubens, sondern „Komplexe von regulativen Sätzen, die das Denken, Sprechen und Handeln der Gläubigen regulieren, testen und auf ihre Wahrheit hin befragen helfen“57.

Das damit angedeutete Theologieverständnis unterscheidet strikt zwischen christlichem Glauben und Theologie, auch wenn es beides in wesentlicher Bezogenheit aufeinander denkt. „Der christliche Glaube wird“, so Eilert Herms, „als die vorgängige Möglichkeitsbedingung aller Theologie erfaßt“.58 Das heißt: Ohne Glaube keine Theologie. Aber das heißt keineswegs, dass auch die Umkehrung gültig wäre. Im Gegenteil, der Satz ‚Ohne Theologie kein Glaube‘ ist eindeutig falsch, wie immer man ‚Theologie‘ versteht.

‚Ohne Glaube keine Theologie‘ heißt aber auch nicht, dass Glaube und Theologie, Glaubensrede in Gebet, Bekenntnis, Verkündigung und Unterweisung auf der einen Seite und theologische Reflexion und Lehre auf der anderen Seite in sachlicher Hinsicht ein und dasselbe wären. Ist Theologie die umfassende methodische Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens über sich selbst in seiner kirchlichen Wirklichkeit in der Welt, dann lässt sich Theologie schon deshalb nicht dem Glauben sachlich gleichsetzen, weil Theologie immer auch über den Glauben sprechen muss. Sie benötigt ein gegenüber dem Glauben metasprach-liches Vokabular, weil sie nicht nur wiederholt, was der Glaube sagt, sondern kritisch reflektiert, warum und in welchem Sinn er sagt, was er sagt, und tut, was er tut. Theologie muss in der Lage sein, mehr zu sagen als die Bekenntnisse des Glaubens, weil sie auch das explizit thematisieren muss, was Glaubenden ganz selbstverständlich ist – Gottes Existenz etwa. Andererseits kann nichts Thema der Theologie sein, das nicht zur Existenz des christlichen Glaubens im Leben der Christenheit gehört, die theologischer Reflexion vorgegeben ist, auch wenn sie dieses mitgestaltet. Theologie schafft sich ihre Themen nicht selbst in spekulativer Durchdringung der Weltwirklichkeit, sondern sie entfaltet einen ihr vorgegeben Gegenstand hinsichtlich seiner verschiedenen Aspekte im argumentativ nachvollziehbaren Zusammenhang eines systematischen Lehrbegriffs.

Dieser Gegenstand ist der Glaube in seiner Selbstunterscheidung von allem Nichtglauben und Unglauben. Wer aber Glaube sagt, der sagt auch Kirche, und wer Kirche sagt, der spricht vom Leben des Glaubens unter den Bedingungen und im Zusammenhang der Wirklichkeiten und Möglichkeiten dieser Welt. Zum theologisch zu entfaltenden christlichen Glauben gehört deshalb nicht nur das, was Christen glauben und als ihren Glauben bekennen, sondern auch das, was bei diesem Glauben und Bekennen ungesagt immer schon mitgesagt und vorausgesetzt wird und wie dieser Glaube sich in der Wirklichkeit dieser Welt kirchlich und existenziell vollzieht.

Zum kirchlich-gemeinschaftlichen Lebensvollzug des christlichen Glaubens gehört nun aber konstitutiv der Umgang mit der Schrift, und das nötigt theologische Reflexion zur Ausbildung einer Lehre von der Schrift. Eine theologische Lehre von der Schrift ist unerlässlich, wenn man die kirchliche Wirklichkeit christlichen Glaubenslebens hermeneutisch adäquat verstehen und theologisch zureichend reflektieren will. Denn Theologie hat nicht nur den Inhalt bzw. die Gegenstände des Glaubens anhand der Bekenntnisse des Glaubens zu explizieren, systematisch zu entfalten und kritisch zu reflektieren, sondern auch die Voraussetzungen und Vollzüge des christlichen Glaubenslebens, die so selbstverständlich sind, dass man sie meist gar nicht ausdrücklich zum Thema macht. Dazu gehört im gemeinsamen Leben der Christen in der Kirche wesentlich der Umgang mit der Schrift.

Das zeigt sich exemplarisch an den im württembergischen Reskript genannten Fundamentalartikeln des christlichen Glaubens. Drei von ihnen gehören zu denen, die den Gegenstand des Glaubens inhaltlich entfalten (die Artikel von der Versöhnung und der Gottheit Christi, von der Dreieinigkeit und von den Gnadenwirkungen des heiligen Geistes). Was sie lehrhaft formulieren, gehört zum Inhalt des Credo. Das gilt nicht vom Artikel von der Göttlichkeit der heiligen Schrift. Dieser entfaltet keinen bestimmten Inhalt des Credo, sondern einen wesentlichen Aspekt der kirchlichen Wirklichkeit, in der das Credo seinen Ort hat. Wie aber kann man dann die Lehre von der heiligen Schrift mit jenen zusammen als Fundamentalartikel des christlichen Glaubens apostrophieren und einschärfen?

3  VON DER HEILIGEN SCHRIFT

Eine Antwort auf diese Frage wird sich zu vergegenwärtigen haben, dass der betrachtete Text aus einem württembergischen Kirchengesetz stammt. Württemberg aber besitzt in der 1551 von Johannes Brenz verfassten, 1552 dem Trienter Konzil übergebenen und 1559 in die Große Kirchenordnung aufgenommenen Confessio Virtembergica einen ausdrücklichen Artikel Von der heiligen Schrift. Es lohnt sich, diesen (ungezählten) 30. Artikel der Confessio genauer zu betrachten.59 In ihm wird zunächst der Schriftbegriff definiert 1), dann die Schrift charakterisiert 2), darauf das Problem der Vollständigkeit oder Suffizienz der Schrift aufgeworfen 3) und schließlich ausführlich die Frage der Schriftauslegung erörtert 4). Das geschieht jeweils so, dass die entsprechenden Bekenntnisaussagen durch Schrift- und Väterzitate (Chrysostomos, Hieronymus, Augustinus) belegt und ausgewiesen werden. Ich gehe auf diese vier Punkte kurz ein.

3.1 DIE DEFINITION DER SCHRIFT

Zu Beginn des Artikels wird die Schrift folgendermaßen definiert: „Die heilige Schrift nennen wir / die Bücher / des alten un newen Testaments/ an deren Glaubwirdigkeit in der Kirchen nie kein Zweifel gewesen ist.“60 Abgesehen von dem typisch schwäbischen Gebrauch der doppelten Negation erweckt die Definition den Eindruck, etwas zu formulieren, was sich von selbst versteht. Es werden keine Ausführungen darüber gemacht, welche Bücher des Alten und Neuen Testaments zu den „ordentlichen/bestätigten“ Büchern gehören. Erst an späterer Stelle ist von den „Schriften der Propheten und Aposteln“ die Rede, ohne dass eine Liste der kanonischen Bücher angefügt würde, wie das in den reformierten Symbolen der Confessio Gallicana, Confessio Belgica, Confessio Helvetica posterior oder auch den 39 Articles of the Church of England geschieht.

Dennoch ist diese Definition schärfer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das Definiens „an deren Glaubwirdigkeit in der Kirchen nie kein Zweifel gewesen ist“ gibt einen eindeutigen Hinweis. Damit sind die sog. Homologumena gemeint, also diejenigen Bücher der Schrift, die nie strittig waren. Diese Kategorie geht auf Origenes zurück, der – wie Eusebius in Buch VI, cap. 25 seiner Ἐκκλησιαστικὴ Ἱστορία berichtet – folgende drei Kategorien kirchlich gebrauchter Schriften unterschied: 1) die ὁμολογούμενα, also diejenigen Schriften, die allgemeine Anerkennung genießen; 2) die ἀμφιβαλλόμενα, d. h. diejenigen Schriften, über deren Echtheit Zweifel bestehen (etwa der 2. Petrusbrief oder Hermas); und 3) die ψευδῆ, d. h. diejenigen Schriften, die von Häretikern unterschobene Lügenschriften sind (z. B. das Ägypterevangelium).

Eusebius nimmt diese Klassifizierung in Buch III, cap. 25 seiner Ἐκκλησιαστικὴ Ἱστορία auf, indem er die Bücher des Neuen Testaments in drei Kategorien einteilt: 1) Zu den ὁμολογούμενα gehören die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, 14 Paulusbriefe (darunter der strittige Hebräerbrief), der 1. Johannesbrief und der 1. Petrusbrief. Über die Zugehörigkeit der Offenbarung zu dieser Kategorie besteht keine Einigkeit. 2) Zu den ἀντιλεγόμενα, d. h. den Schriften, die umstritten sind, gehören der Judasbrief, der Jakobusbrief, der 2. Petrusbrief sowie der 2. und 3. Johannesbrief. 3) Zu den νόθα schließlich, d. h. den illegitimen, unechten und verworfenen Schriften, werden die Paulusakten gerechnet, Hermas, die Petrusapokalypse, der Barnabasbrief, die Didache und (für manche) die Offenbarung und der Hebräerbrief.

Luther hatte an dieser Unterscheidung zwischen den Homologumena und Antilegomena entschieden festgehalten und seine Sicht der Dinge in der Stellung zum Ausdruck gebracht, die er den entsprechenden Schriften in seiner Bibelübersetzung gab. So ließ er zwar den 2. Petrusbrief beim 1. Petrusbrief stehen, alle übrigen Antilegomena aber ordnete er den Homologumena nach. Während sie die Vulgata in der Reihenfolge bietet: Philemon, Hebräer, Jakobus, 1. Petrus, 2. Petrus, 1. Johannes, 2. Johannes, 3. Johannes, Judas, Offenbarung, ordnet Luther diese Schriften folgendermaßen: Philemon, 1. Petrus, 2. Petrus, 1. Johannes, 2. Johannes, 3. Johannes, Hebräer, Jakobus, Judas, Offenbarung. Die Differenz zwischen Homologumena und Antilegomena wird in der lutherischen Theologie zunächst strikt festgehalten. Chemnitz etwa stellte die neutestamentlichen Antilegomena auf dieselbe Stufe wie die Apokryphen des Alten Testaments. Später sprach man wie Quenstedt dann stattdessen von den libri protocanonici und den libri deuterocanonici, bis man auf den Unterschied ganz verzichtete.

Ähnlich wie im Hinblick auf die neutestamentlichen Schriften differenzierte Luthers Bibelübersetzung auch im Hinblick auf die alttestamentlichen Schriften, insofern er die nach dem hebräischen Kanon aufgeführten Bücher des Alten Testaments betont von den Apocrypha unterscheidet: „APOCRYPHA: DAS SIND BÜCHER: so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten / vnd doch nützlich vnd gut zu lesen sind/ Als nemlich/I Judith. II Sapientia. III Tobias. IIII Syrach. V Baruch. VI Maccabeorum. VII Stücke in Esther. VIII Stücke in Daniel.“61 Wiederum wird damit betont eine Differenz gegenüber der Vulgata zum Ausdruck gebracht, die diese Schriften an entsprechender Stelle unter die Libri Historici (Tobias, Judith, Esther), Libri Didactici (Sapientia), Libri Prophetici (Baruch, Daniel) und Libri Historici Novissimi (Macchabaeorum) einreihte.

Vergegenwärtigt man sich diese Sachverhalte, dann gibt es guten Grund zu vermuten, dass die Württemberger mit ‚heilige Schrift‘ vorzüglich die nichtapokryphen Bücher des Alten Testaments und die Homologumena des Neuen Testaments meinten.

3.2 DIE HEILIGKEIT UND GÖTTLICHKEIT DER SCHRIFT

Die so verstandene Schrift wird folgendermaßen charakterisiert:

„Hierauff glauben vnd bekenen wir / das diese Schrifft / seie ein wahrhafftige / gewisse Predig des heiligen Geists / wölche mit himmlischen Zeugnnussen / dieser gstalt bestätiget ist / das wann ein Engel von Himmel ein anders predigt / soll er verflucht sein. Darum verwerffen wir alle Leer / Gottsdienst vnd Religion / die dieser Schrifft widerwertig seind.“62

Nach der definitorischen Bestimmung und dem darin implizit mitgesetzten Bezugsfeld des Ausdrucks ‚heilige Schrift‘, wird deren ‚Heiligkeit‘ dadurch erklärt, dass sie als Predigt des heiligen Geistes bestimmt wird. Als solche ist sie 1) wahrhaftig, 2) gewiss und 3) durch himmlische Zeugnisse als wahrhaftig und als gewiss so unwiderruflich bestätigt, dass selbst eine Engel vom Himmel ihr nicht widersprechen, d. h. anders als sie predigen kann. Wiederum ist auf die Feinheiten der Formulierung zu achten.

Dass die Schrift als Predigt, und zwar als Predigt des heiligen Geistes charakterisiert wird, verweist auf fundamentale Spannungen in dem hier vorgelegten Schriftbegriff. Als Predigt ist die Schrift ein konkreter Kommunikationsakt, kein Werk-Text, sondern ein Handlungs-Text,63 kein toter Buchstabe, sondern lebendiges Wort, keine fixierte Abhandlung, sondern konkrete Anrede. Wie vom Heiligen Geist theologisch nicht geredet werden kann, ohne ihn als heilendes und heiligendes Wirken Gottes im Leben der Menschen und der ganzen Schöpfung zu thematisieren, so kann von der Schrift theologisch nicht als Predigt des heiligen Geistes geredet werden, ohne sie als ein konkretes Kommunikationsgeschehen zu verstehen, in dem Gott als Geist durch sein Wort so verstehbar und verständlich wirkt, dass Menschen dadurch verändert, erneuert und geheiligt werden. Als Geist ist Gott wirkend am Werk, und als Wort macht er verständlich, wie er am Werk ist. Gott sagt, was er tut, und er tut, was er sagt. Menschen können dieses Reden verstehen, weil sich Gott als Wort verständlich macht, und sie können sich ihm nicht entziehen, weil Gott als Geist wirkend so gegenwärtig ist, dass man durch seine Kommunikation unentrinnbar bestimmt wird. Menschen müssen darauf reagieren, und sie tun es, indem sie Gott glauben oder das nicht tun. Wo Gott kommuniziert, können Menschen sich nicht neutral verhalten, weil alles, was sie tun – ob sie weghören oder zuhören, zustimmen oder widersprechen –, in Fortsetzung dieser Kommunikation geschieht. Wo Gott anfängt, werden Menschen verändert, ob sie das wollen oder nicht. Kurz: Wird die Schrift als Predigt des heiligen Geistes verstanden, dann ist Gott der Geist derjenige, der hier handelt, Menschen sind die, an denen gehandelt wird, und zwar handelt Gott so an ihnen, dass er für sie nicht nur verstehbar wird, sondern sie so wirkungsvoll anredet, dass sie nicht umhin kommen, entweder ‚Amen‘ dazu zu sagen oder das ausdrücklich nicht zu tun.