Godland - Martin Schäuble - E-Book
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Godland E-Book

Martin Schäuble

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Beschreibung

Wenn die KI unser Leben kontrolliert: Spannung pur für alle Fans von Climate Fiction ab 14 Jahren Es ist die Zeit nach den Klimakriegen: Die Reichen haben sich ins virtuelle Godland hochladen lassen. Yolanda und ihre Freunde sind als echte Menschen für die Superrechner weit draußen im Ozean zuständig. Als Lohn winkt ihnen nach zwanzig Dienstjahren ebenfalls das virtuelle Paradies. Bis dahin wird ihr Leben von der KI Godmother bestimmt: Sie überwacht, befiehlt und bestraft. Aber sie sorgt sich auch um das Wohlergehen und das soziale Gefüge. Für Yolanda ist sie fast wie eine Mutter. Doch als Godmother sie zu einer furchtbaren Lüge zwingt, keimen Zweifel in Yolanda auf: Ist das ganze System nur ein Fake? Ein packender Roman von Martin Schäuble über die Verführung digitaler Welten, die Macht künstlicher Intelligenz und die Notwendigkeit des Widerstands Vom Autor von »Die Scanner« (unter dem Namen Robert M. Sonntag), »Sein Reich« und »Cleanland« Das sagen unsere Testleser*innen: »Ich finde, dass das Buch eines der besten ist, die ich je gelesen habe. Es hat mich so gefesselt, dass ich es an einem Tag durchgelesen habe.« Jacob, 13 Jahre »Noch nie hat mich eine Geschichte so in ihren Bann gezogen. Ich konnte mir alles total bildlich vorstellen. Ein super Buch!« Lisia, 12 Jahre »Eine spannende Geschichte, die auf erschreckend gefühlsergreifende Weise aktuellste Themen aufnimmt. Schäubles Erzählstil trägt einen durch die Seiten, so dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann.« Judika, 17 Jahre

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Seitenzahl: 338

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Martin Schäuble

Godland

Dein ewiges Leben hat einen Preis

 

 

Über dieses Buch

 

 

Spannend und hochaktuell: über das ewige Leben – und die Frage, wer es leben darf

Es ist die Zeit nach den Klimakriegen: Die Reichen haben sich ins virtuelle »Godland« hochladen lassen. Yolanda und ihre Freunde sind als echte Menschenfür die Superrechner  weit draußen im Ozean zuständig. Als Lohn winkt ihnen nach zwanzig Dienstjahren ebenfalls das virtuelle Paradies. Bis dahin wird ihr Leben von der KI Godmother bestimmt: Sie überwacht, befiehlt und straft. Aber sie sorgt sich auch um das Wohlergehen und das soziale Gefüge. Für Yolanda ist sie fast wie eine Mutter. Doch als Godmother sie zu einer furchtbaren Lüge zwingt, kommen ihr Zweifel: Ist das ganze System nur ein Fake? 

Ein brisantes Jugendbuch vom Autor von »Die Scanner«, »Sein Reich« und »Cleanland«

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Martin Schäuble, geboren 1978, ist für seine kritischen Jugendbücher bekannt. Bei Fischer KJB ist sind von ihm bereits »Sein Reich« und »Cleanland« sowie unter dem Pseudonym Robert M. Sonntag die Dilogie »Die Scanner/Die Gesannten« erschienen.  Bei Hanser veröffentlichte er den vielbeachteten Titel »Endland«. Als Sachbuch-Autor schrieb er mehrfach ausgezeichnete Titel zum Nahost-Konflikt (u.a. »Black Box Dschihad«).  

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Inhalt

Godland

»Die Erde ist [...]

Ich will euch [...]

Silver geht voran, [...]

Ich stolpere über [...]

»Ihr müsst euch [...]

Silver bleibt bei [...]

Meine Nacht war [...]

Es ist kühl [...]

»… Godland … besuchen [...]

Weiß.

»Mum!«

»Yolanda, Frühstück!«

Alle schauen zum [...]

Die Tage vergehen. [...]

Alle sprechen in [...]

Tian hält einen [...]

Viel früher als [...]

»Guten Morgen, Yolanda. [...]

Kaum sind Josie [...]

Für die anderen [...]

Der Gang mit [...]

Um sechs Uhr [...]

Ich renne den [...]

Aidan liegt auf [...]

»Wer bist du?«, [...]

Ich stolpere auf [...]

Atara erzählt Silver [...]

Atara bleibt neben [...]

Liam setzt sich [...]

Erschrocken blicke ich [...]

Mauro wartet auf [...]

Ich liege in [...]

Als ich aufwache, [...]

So enden Geschichten [...]

Hier gibt es [...]

Mark O’Connell recherchierte [...]

Godland

»Die Erde ist die Hölle! Komm ins Paradies. Komm nach Godland.«

 

»Lade dich hoch ins sorgenfreie Godland. Lebe glücklich und ewig.«

 

»Godland. Nie wieder Krankheiten, Kriege, Katastrophen.«

 

»Geh mit Körper und Geist online – geh godline!«

 

»Online ist Geschichte, godline ist Zukunft.«

 

 

Werbe-Slogans des Upload-Konzerns Godland

Ich will euch nicht langweilen, daher die Kurzfassung: Die Erde ist am Arsch: zu wenig sauberes Wasser, zu viel Müll, Dürre, Starkregen, kaum noch gesundes Essen, dreckige Luft, keine Natur. Kennt ihr ja alles. Ich bin auch gleich fertig.

Temperatur und Meeresspiegel sind enorm und schneller gestiegen, als jede Forscherin berechnet hatte. Mörderische Kriege folgten. Die Menschen kämpften nicht mehr um Erdöl wie in früheren Schlachten, sondern um den letzten Tropfen Trinkwasser. Flüchten konnte keiner mehr. Wohin denn auch?

Und hier hört die Kurzfassung schon auf.

Zumindest für die Hochgeladenen.

Also für alle, die per Upload nach Godland geflohen sind, oder besser gesagt: für all die, die sich verpisst haben. Wer genug Geld hatte, verließ das irdische Chaos, verabschiedete sich von seinem Körper und lebte digital weiter.

Geräte scannten ihre Gehirne, die Rechner speicherten das Bewusstsein. Nun simulieren Prozessoren ihr digitales Leben. In Godland lebt jeder ohne Trinkwasser, und das ewig.

Seither feiern die Hochgeladenen mit ihrem Avatar die Unsterblichkeit.

Sie sind godline.

Leute wie ich sind die Angepissten.

Ich heiße Yolanda, bin fünfzehn Jahre alt.

Und ich gehöre zu den Zurückgeblieben – im echten Leben.

Wir sind die Analogen.

Wir arbeiten auf Serverinseln mitten im Pazifik, kümmern uns um die Supercomputer tief unter uns, im eiskalten Wasser.

Hier bespielen die Superrechner für alle Hochgeladenen die virtuellen Welten.

Dort ist Party und alles, wovon man träumt.

Einen Upload für uns Analoge gibt es erst nach zwanzig Jahren Dienst auf der Serverinsel. Und dieser Dienst ist die Hölle, weil …

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep.

Na perfekt. So klingt unser Alarm.

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep.

Wenn ich nicht in zwei Minuten an der Meldestelle bin, gibt es Ärger. Und Strafen. Die schlimmste von allen: noch mehr Dienstjahre, noch mehr echtes Leben.

Ich drücke die rostige Tür meiner Schlafkoje auf. Vor mir steht mein Vater. Seine Koje liegt gegenüber von meiner.

Dad reibt sich den Schlaf aus den Augen. Sein Schutzanzug ist zu eng, und der Reißverschluss findet keinen Weg vom Bauchnabel zum Hals. Ich kann ihm nicht helfen, muss erst mal meine Stiefel finden. Da spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich mag es nicht, wenn mich jemand ohne zu fragen anfasst.

Mit einem gezielten Tritt nach hinten wäre das Problem gelöst. Doch bei der Hand auf meiner Schulter fehlt ein Finger. Die Hand gehört zu Tian, und ihm verzeihe ich alles. Fast alles. Er ist mein großer Bruder. Nicht echt jetzt, aber gefühlt schon.

Tian und ich sind mit dem gleichen Evakuierungsschiff vor zehn Jahren hier angekommen. Wir waren zusammen in der Schule in den unteren Decks der Serverinsel, wo Godmother uns unterrichtet hat.

»Lass mich mal durch«, nuschelt Tian verschlafen und schiebt mich zur Seite. Deswegen die Hand auf meiner Schulter.

Tian sieht so verpennt aus wie mein Vater. Offenbar war ich die Einzige hier, die hellwach in der Koje lag und nicht schlafen konnte.

Tian steht vor meinem Dad und spricht auf ihn ein: »Bauch einziehen und mal gerade hinstellen!«

Es ist nicht leicht, mit der Stimme gegen das Wiiiiieeeeep Wiiiiieeeeep Wiiiiieeeeep anzukommen.

Dad gehorcht. Auch er will später keinen Stress. Wer bei der Meldestelle den Schutzanzug nicht korrekt trägt, bekommt Ärger und Strafen.

So wie die zu spät Gekommenen.

Tian zieht den Reißverschluss meines Vaters nach oben. So sehr der Bauch spannt, das Material hält, und das grenzt schon fast an ein Wunder.

Ich mache meinem Vater keinen Vorwurf. Er ist krank. Sein Stoffwechsel funktioniert nicht so richtig. Obwohl wir zu wenig essen, nimmt er zu.

»Danke, Tian«, sagt Dad. »Und wenn du …«

Doch Tian ist schon weg.

»Alles klar?«, frage ich meinen Vater und schnalle seine Schutzstiefel fest. »Komm!«

Dad stolpert über eines der Rohre, die hier überall sind, fliegt aber nicht hin. In vielen davon sind Leitungen verlegt. Die ganze Technik der Serverinsel ist mit den Superrechnern tief unten im Meer verbunden. Und die wiederum sind vernetzt mit anderen Serverinseln auf dem Ozeangrund.

Ich ziehe Dad hinter mir her, vorbei an den Schlafkojen der anderen. Es wird höchste Zeit. Am Ende des Ganges stehen noch fünf Leute von meinem Deck an der Schleuse.

Sie drängeln und drücken, als wüssten sie es nicht besser. Durch jede Schleuse kommen wir nur einzeln durch!

Und es gibt für jeden verdammten Raum und jeden verdammten Gang eine verdammte Schleuse.

Tian ist schon auf der anderen Seite. Endlich bin ich dran.

Ein ernster Blick in die Kamera.

Piep.

Einen Finger auf den Sensor drücken.

Piep.

Ruhig stehen bleiben für die elektromagnetische Abtastung des Körperscanners.

Piep.

Die Schleuse aus Panzerglas lässt mich durch.

Kaum hat es Dad auch geschafft, laufen wir an den Waschräumen vorbei, an der Ausrüstungskammer und an der Kantine.

Erst in fünf Stunden ist Frühstück, und mein Magen knurrt schon jetzt. Ich bin immer hungrig, so richtig satt werde ich nie. Wir essen Algen, Fisch und an guten Tagen das Laborzeug.

»Der Hunger treibt’s rein«, sagt mein Vater immer.

Ich hasse diesen Spruch. Aber es stimmt leider. Der Hunger befördert das schleimige Zeug durch die Speiseröhre in den Magen. Nur essen kann ich das nicht nennen, vielleicht verschlingen oder runterwürgen oder eben: reintreiben.

Vor ein paar Jahren hatten wir eine volle Vorratskammer hinter der Kantine. Ich erinnere mich an echte Gurken, an Äpfel, an Dosen mit roten Bohnen und Mais. Immer wieder kam ein Schiff und brachte etwas. Irgendwann kam keines mehr, und niemand konnte mir sagen, wieso.

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep.

Ich stehe mit Dad endlich im Treppenhaus, hier tropft das Meerwasser an manchen Stellen schon durch die Ritzen. Die rote Farbe blättert vom Metall ab.

In unseren Kojen und den anderen Räumen bessern wir so etwas aus. Im Treppenhaus stört es uns nicht so sehr. Untergehen wird diese schwimmende Insel deswegen nicht. Zumindest behauptet das mein Vater immer. Unseren regelmäßig stattfindenden Wir-saufen-nicht-ab-Dialog kenne ich auswendig.

Dad, platzen die Wände hier nicht auf?

Nein.

Reißt das Metall irgendwann?

Nein.

Aber es tropft immer mehr Wasser rein, oder?

Kann sein.

Machst du dir keine Sorgen?

Ich schwöre dir, da passiert nichts.

Das beruhigt mich natürlich wahnsinnig.

Vom Treppenhaus geht es drei Etagen nach unten – ein weiteres Deck mit Analogen wie wir, das Deck mit dem früheren Kindergarten und der alten Schule und das Wartungsdeck voller Maschinen und Generatoren.

Egal, was bei der Meldestelle von uns verlangt wird, Hauptsache, es ist nichts im Wartungsdeck passiert. In dem Dreckloch hat Tian bei einem Einsatz einen Finger verloren.

Gern schrubbe ich stattdessen mitten in der Nacht das Freideck oder putze die Solarzellen blank für den nächsten Sonnentag.

»Yolanda?« Die Stimme meines Vaters reißt mich aus den Gedanken.

Dad hat mich überholt und steht im Treppenhaus auf den Stufen nach oben. Er winkt mich zu sich. »Wir müssen uns beeilen!«

Sehr lustig – er hat doch die ganze Zeit getrödelt, nicht ich!

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep.

Über uns sind noch weitere Decks, alle über dem Wasser. Nur manchmal, bei starkem Wellengang, wird die ganze Insel vom Pazifikwasser zugeschüttet. Bei heftigen Unwettern ist das so.

Auf das Freideck dürfen wir dann nicht, das wäre zu gefährlich. Und keiner will schließlich vor dem Ende der Dienstzeit vom Deck gespült werden und ertrinken.

Wer vor seinem Upload stirbt, kann nicht hochgeladen werden. Ist logisch.

In den Decks über uns sind die Trainingshalle, das Kontrollzentrum und das Wichtigste überhaupt: die Himmelspforte.

Wir nennen diesen Ort so, weil dort die Uploads stattfinden. Zugang hat nur, wer seine Dienstzeit geschafft hat. Wer durch die Schleuse der Himmelspforte tritt, der geht godline.

Jedes Mal, wenn ich zum Freideck will, stapfe ich die Treppen an der Schleuse zur Himmelspforte vorbei. Tian meinte mal, das ist extra so. So werden wir ständig daran erinnert, wieso es sich lohnt, alle Regeln zu befolgen.

Die Himmelspforte ist der Grund, weshalb ich jeden Morgen aufstehe und an die Arbeit gehe. Nur sie führt nach Godland.

Dad will davon nichts wissen. Er hat die Himmelspforte einmal »das Tor zur Hölle« genannt. Na ja, er hat seine Gründe, aber dazu später mehr. Natürlich erhielt er sofort eine Bestrafung für die Höllen-Bemerkung.

Jetzt schnauft Dad vor mir die Stufen hoch, schleppt seinen viel zu schweren Körper voran. Endlich tritt er durch die Schleuse der Trainingshalle, ich folge ihm.

Diese Halle ist auch die Meldestelle bei jedem Alarm. Im Fall der Fälle passen alle von der Serverinsel in diesen Raum. Ich sehe aber nur die Leute von unserem Deck, also Deck A. Die zehn Leute von Deck B tauchen nicht auf.

Tian versucht, mich mit einem Lächeln aufzumuntern. Er steht neben Mauro, Aidan und Silver. Aidan und Silver sind fünfzehn, wie ich. Tian und Mauro sind zwei Jahre älter. Ich stelle mich zu ihnen, nicht weil es sein muss, das hat sich so ergeben.

Mein Vater drückt sich zwischen Conrad und Mary. Die beiden gehören zu den Ältesten auf dieser Serverinsel.

Mary streicht meinem Vater den zerknitterten Schutzanzug glatt. Conrad lächelt ihm zu. »Morgen, Jesper!«

»Eher gute Nacht«, sagt mein Vater laut genug, dass es alle hören, und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep, Wiii…

Endlich ist der nervende Alarm abgestellt. Stattdessen hören wir Godmother. »304 Sekunden! Gut gemacht.«

Ich bekomme Gänsehaut. Ihre Stimme klingt in der Trainingshalle noch tiefer und wärmer.

»Eure Dienstzeit verkürzt sich hiermit um zehn Tage.«

Mauro und Aidan klatschen sich ab. Ich suche Tians und Silvers Blicke. Sie lächeln mir zu. Wir sind seit meinem ersten Jahr auf der Insel beste Freunde.

Zehn Tage weniger Arbeiten bis zum Upload!

Mein Vater und die anderen Alten zeigen keine Reaktion. Kann ich verstehen. Godmother belohnt nicht nur, sie bestraft auch. Diese geschenkten Arbeitstage können schnell wieder durch zusätzliche Dienste ausgeglichen werden.

»Danke«, sagt Godmother, »dass ihr euch so beeilt habt.«

Ihre Stimme klingt so stolz und glücklich, als wären wir ihre Kinder.

Schon klar, sie ist nicht echt. Godmother ist kein Mensch. Sie ist die Stimme von Godland. Die Worte kommen von den Superrechnern Tausende Meter unter uns.

Die Megacomputer am Ozeanboden entscheiden, was Godmother zu uns sagt. Und doch klingt sie echter als alles andere. Wenn Godland so aussieht wie Godmothers Stimme klingt, dann muss dieser Ort wirklich paradiesisch sein.

Godmother räuspert sich. »Manche von euch sind etwas aus der Puste.«

Ich schaue zu meinem Vater, und er merkt es. Na ja, er weiß auch ohne meinen Blick, dass er gemeint ist. Inzwischen gaffen ihn auch Mauro, Aidan und Silver an. Das tut mir leid für Dad.

»Was können wir da tun, Jesper?«, fragt Godmother.

Mein Vater tritt einen Schritt vor, schaut in eine der Kameras über uns. »Mehr Sport. Ich werde mehr Sport machen, Godmother.«

Das war eine gute Antwort. Dad hätte sich auch über fehlende Medikamente beschweren können oder das schlechte Essen. Aber Godmother mag keine Kritik, denn sie kann ja nichts an der Situation ändern.

Die Speisekammer ist nahezu leer. Im Labor fehlt es an allem. Es können nur noch wenige Medikamente hergestellt werden. Ein Schiff mit Containern voll Nachschub ist schon lange nicht mehr gekommen.

»Mehr Sport. Gute Idee«, sagt Godmother. »Fang jetzt damit an, Jesper.«

»Ja, Godmother«, verspricht Dad und zögert. Ich verstehe seine Bedenken. Es ist mitten in der Nacht. Und ist der Alarm nicht wichtiger? Soll er wirklich jetzt Sport machen?

Godmother hilft meinem Vater bei der Entscheidung. Eines der Rudergeräte am Ende der Halle blinkt grün.

Dad läuft dorthin und beginnt zu rudern, sein Schutzanzug spannt dabei noch mehr, und ich hoffe, der Stoff hält. Godmother lässt ihm nicht einmal Zeit, seine Sportsachen aus der Schlafkoje zu holen.

»Nun zum Alarm«, sagt Godmother. »Wir haben eine Fehlermeldung bei der Entsalzungsanlage.«

Ich lasse den Kopf hängen.

Nein.

Bitte nicht dort!

Die Anlage zum Entsalzen des Ozeanwassers ist im Wartungsdeck, dem Dreckloch!

Ich blicke zu Tian, der den Boden anstarrt. Oder schaut er zu seiner Hand mit dem fehlenden Finger?

Godmother holt tief Luft, als würde ihr das, was gleich folgt, nicht leichtfallen. »Ohne diese Anlage haben wir kein Trinkwasser. Ohne Trinkwasser könnt ihr nicht überleben.«

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ohne diese Anlage gibt es auch bald kein Godland mehr.

Wenn wir verdursten, kann sich keiner mehr um die Serverinsel kümmern, um die Stromproduktion, um die Reparaturen, um das Kontrollzentrum, um alles, was Godland am Laufen hält.

Der Strom kommt von den Solarzellen auf dem Freideck, von dem riesigen Windrad und von dem gigantischen Wellenkraftwerk an der Außenwand der Insel.

Immer wieder gibt es eine Panne, eine verstopfte Turbine, eine Fehlermeldung irgendwo im System. Für all das sind wir Analogen zuständig.

Ohne uns geht den Hochgeladenen der Saft aus.

Ihre Seelen wären offline.

Für immer.

Godmothers Stimme wird sehr ernst. »Wir müssen das jetzt reparieren.«

Alle schweigen, keiner will runter zur letzten Ebene der Serverinsel, ins Wartungsdeck.

»Wir brauchen drei Analoge für diese Arbeit. Wer meldet sich freiwillig?«, fragt Godmother.

Keiner rührt sich.

»Keine Freiwilligen?«

Inzwischen starren wir alle auf den Boden, in die Kameras will keiner sehen. Mein Vater bekommt von all dem nichts mit, er rudert Zug um Zug, schwitzt und schnauft.

»Tian, du wirst runtergehen«, sagt Godmother so leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte. »Du kennst dich dort sehr gut aus. Und du passt jetzt besser auf als damals.«

Tian schwankt, macht aber einen Schritt nach vorn. »Ja, Godmother.«

Godmother spricht lauter. »Gut. Tian, du wirst begleitet von Silver.«

Ausgerechnet meine zwei Freunde!

»Silver, du bist sehr beweglich und wirst in die Filtersysteme klettern.«

Silver flucht etwas, was ich nicht verstehe und was Godmother netterweise überhört.

Silver tritt vor. »Ja, Godmother.«

Godmother macht eine Pause, holt noch einmal tief Luft. Sie muss nicht wirklich atmen, sie braucht keinen Sauerstoff. Das ist ein schöner Trick, und ich falle oft genug darauf rein. Sie klingt mit diesem Atemding sehr menschlich.

Einen Analogen braucht Godmother noch – sie wollte drei von uns. Aber ich kann mich nicht freiwillig melden. Nicht für das Wartungsdeck! Ich bin Silver und Tian überhaupt keine Hilfe da unten.

Falsch, das ist nicht der wahre Grund.

Ich hab einfach nur Angst, das ist es.

Und deswegen lasse ich meine besten Freunde im Stich? Ich schäme mich für meine Feigheit.

Schließlich beendet Godmother ihre gekünstelte Pause. »Tian und Silver werden von Yolanda begleitet.«

Kurz wird mir schwindlig. Ich konzentriere mich, hole tief Luft, so wie Godmother. Aber ich brauche den Sauerstoff in echt.

Verdammt!

Ich schlucke meinen Zorn und meine Angst runter. »Ja, Godmother.«

Silver reicht mir die Hand. Sie schaut mich mit großen Augen an. Wieso? Was hat sie denn?

Aidan und Mauro drücken mich in den Rücken. Was wollen die alle von mir?

»Yolanda?«, fragt Godmother sehr besorgt.

Da kapiere ich es.

Natürlich!

Ich muss einen Schritt nach vorn treten, so haben wir es gelernt.

Ich ergreife Silvers warme Hand, mache einen Schritt und sage noch einmal: »Ja, Godmother.«

»Danke«, flüstere ich Silver zu.

»Hab keine Angst«, sagt Silver leise. »Du kannst das!«

Silver wirkt entspannt, ich zittere am ganzen Körper.

Ich kann das?

Von wegen!

Silver geht voran, Tian und ich folgen. Wir laufen die Treppen runter an den anderen Decks vorbei. Stufe für Stufe werden die Wände rostiger.

Das liegt am Druck. Je tiefer die Decks, desto kräftiger drückt das Wasser von draußen auf die Metallschicht. Und umso mehr geht kaputt.

Musste ich alles bei Godmother in der Schule lernen. Doch damit ist seit einigen Monaten Schluss. Mit fünfzehn Jahren hört der Unterricht auf, und die Dienstzeit beginnt.

Nur noch ein paar Stufen bis wir ganz unten angekommen sind. Ich hole Tian ein. »Warte mal, geht’s dir gut?«

»Gut?«, fragt Tian.

Er bleibt stehen und lächelt in eine der Deckenkameras. »Mir geht es wirklich phantastisch heute.«

Ich kapiere, wie doof meine Frage war.

Was soll Tian sonst sagen? Er will keinen Ärger mit Godmother. Wenn ich wissen will, wie es ihm wirklich geht, muss ich ihn später fragen. Wenn wir auf dem Freideck sind. Nur dort versagt Godmothers Überwachung.

Die Kameras sind draußen immer nassgespritzt oder beschlagen. Und die Mikrophone sind mit dem Lärm überfordert. Wenn die Wellen an der Serverinsel brechen, verstehen wir uns selbst schreiend auf dem Freideck kaum.

»Auf jeden Fall brauchen wir später frische Luft«, sage ich laut in die Kamera.

Ich will meine dumme Frage – Geht’s dir gut? – wieder wettmachen. Und Tian versteht meine Andeutung. Wir lächeln uns zu. Das darf Godmother ruhig sehen, wir sind doch Freunde.

Silver wartet auf der untersten Etage vor der Schleuse. Hinter dem Panzerglas beginnt das Wartungsdeck.

»Endlich fertig geflirtet?«, fragt Silver.

Ich verdrehe die Augen. Tian ist für mich wie ein Familienmitglied, und das weiß sie. Mehr ist da nicht. Und selbst wenn, wäre das ein Problem für Silver?

Wir drei bleiben Freunde, egal, was kommt.

Silver klopft auf das Panzerglas der Schleuse. »Wie machen wir das gleich da drinnen?«

Tian streckt uns die Hand entgegen, bei der ein Finger fehlt. »Wenn ich ein paar Tipps für das Wartungsdeck geben darf?«

Silver und ich schweigen.

»Wir müssen immer mit Godmother reden. Verstanden? Immer! Sie steuert hier drinnen alles und hört alles. Aber bei dem Dampf und der Hitze funktionieren die Kameras nicht immer.«

»Das ist wirklich ein ernstes Problem«, ergänzt Godmother.

»Ist ja wie auf dem Freideck«, sagt Silver eine Spur zu fröhlich.

Ich würde ihr am liebsten den Mund zuhalten. Godmother soll sich nicht fragen, warum wir so gern Zeit dort oben verbringen.

Tian zeigt uns noch einmal die Hand mit dem fehlenden Finger. »Godmother hilft uns, in die Anlage reinzukommen und heil wieder rauszukommen.«

Er fixiert erst mich, dann Silver. »Keiner lässt den anderen dabei aus den Augen, und jeder sagt sofort, wenn etwas nicht stimmt.«

Silver und ich schauen uns kurz an. Klingt fast so, als würde er Godmothers Worten im Wartungsdeck nicht trauen. Dabei konnte sie nichts für das, was damals geschehen war. Tian hatte mit Emre eine der mächtigen Pumpen repariert.

»Geschafft«, verkündete Emre.

Da löste sich eine Schraube, und Tian fischte sie mit den Fingern heraus.

Godmother konnte nicht sehen, dass Tians Hand schon wieder in der Pumpe steckte. Emre hatte »geschafft!« gerufen, also schaltete sie die Pumpe wieder ein.

Tians Finger wurde zerquetscht und musste auf unserer winzigen Krankenstation amputiert werden. Er lag in einem der zwei Betten, umgeben von veralteten, medizinischen Geräten.

Mary führte die Amputation durch, sie ist in unserer Gruppe so eine Art Ärztin. Silver half ihr dabei. Sie wurde schon damals von Mary ausgebildet, obwohl sie noch mit mir die Schule besuchte.

»Bitte fangt an!«, sagt Godmother und holt mich aus meinen Gedanken.

Sie hat recht, es wird Zeit, dass Silver, Tian und ich es hinter uns bringen.

Tian verschwindet in der Schleuse zum Wartungsdeck.

»Warte«, sagt Silver.

Sie zieht Tian aus der Schleuse und nimmt seinen Platz ein. »Ich gehe zuerst rein.«

Tian protestiert nicht und geht als Zweiter.

Dann gehe ich.

Ein Blick in die Kamera.

Piep.

Ein Finger auf den Sensor.

Piep.

Die elektromagnetische Abtastung.

Piep.

Die Schleusen verschließen alles luftdicht, damit im Brandfall das Feuer erstickt und sich nicht auf allen Decks ausbreiten kann.

Wir stehen im dunklen Wartungsdeck, nur durch das Panzerglas hinter uns dringt ein wenig Licht vom Treppenhaus.

Ich rieche die öligen Maschinen und höre ihren Lärm. Godmother macht uns ein wenig Licht. Mit den Deckenstrahlern könnte sie alles grell beleuchten, will sie aber nicht, sie will immer ein Vorbild sein. Sie spart Strom.

Eine Leuchtspur am Boden blinkt grün.

»Folgt bitte diesem Weg«, sagt Godmother. »Er führt euch zur Entsalzungsanlage.«

Ich lasse Silver und Tian vorausgehen, versuche, in den dunklen Ecken und Gängen mehr zu erkennen. Ich war während meiner Schulzeit ein paarmal hier.

Wir mussten die Namen der über einhundert verschiedenen Geräte auswendig lernen. Wir erfuhren, wo die Ersatzteile lagern und wie wir manche im Notfall selbst in der Werkstatt herstellen können.

Später übten wir alle möglichen Reparaturen, aber nicht hier unten, sondern im Unterrichtsraum – eine Etage über dem Wartungsdeck. Dazu trugen wir ziemlich abgenutzte VR-Brillen und sahen die Pumpen, Generatoren oder Tanks vor uns. Es sah realistisch aus, auch wenn wir nur in der Luft herumschraubten.

»Moment bitte«, sagt Godmother, und ich stoße gegen Tian, der schneller anhält als ich. Er ist übervorsichtig.

Ein Schrank links von uns blinkt grün. »Yolanda, nimm dir eine der Trageleuchten mit.«

Ich suche mir die größte aus und ziehe sie aus der Halterung.

»Silver, du musst das lange Messer einpacken.«

Silver vergleicht die Längen und nimmt sich das größte.

»Tian, du bist ab jetzt mein Auge. Ich sehe im nächsten Abschnitt vieles nur verschwommen.«

»Ja, ich passe auf, Godmother«, sagt Tian.

Das mit der Pumpe damals darf sich nicht wiederholen. Godland braucht unsere Finger.

Wir folgen weiter den grünen Lichtpunkten auf dem Boden. Vor uns schieben sich Tore auf und verschließen sich hinter uns sofort wieder.

Wir gehen von Raum zu Raum, vorbei an riesigen Generatoren. Ich halte mir mit der freien Hand ein Ohr zu, so laut brummen diese Maschinen.

Silver bleibt stehen, der Weg endet vor einer riesigen Luke am Boden. Ich schalte die Trageleuchte ein und lese die Aufschrift ESA-1. Die Abkürzung kenne ich noch aus der Schule, ESAsteht für Entsalzungsanlage.

Ich strahle mit der Leuchte nach links und sehe die drei Luken von ESA-2, ESA-3 und ESA-4.

Silver fragt das, was ich denke. »Godmother, funktioniert keine der Anlagen mehr?«

»So ist es, Silver – leider. Es gibt nur eine gemeinsame Filteranlage in ESA-1. Und sie ist defekt.«

»Da hat früher aber jemand an der falschen Stelle gespart«, flüstert Tian. »Ein Filter für die ganze Insel ist ein Witz.«

»Wie bitte, Tian?«, fragt Godmother. »Ich verstehe dich kaum hier unten bei den vielen Geräuschen.«

Tian spricht lauter. »Da haben wir jetzt ein Problem.«

»Richtig. Doch ihr löst das Problem.« Godmother klingt prächtig gelaunt. Sie hat ja auch keine Finger, die sie dabei verlieren kann. Vermutlich soll es motivierend klingen.

»Bereit?«, fragt Tian.

»Ja«, antworten Silver und ich gleichzeitig.

»Godmother, bitte öffne die Luke«, sagt Tian.

»Geht vorher auf die Seite«, sagt Godmother. »Seid ihr in Sicherheit?«

»Sind wir, Godmother«, schreit Tian. So laut muss er auch wieder nicht sein.

Die Luke quietscht fürchterlich, und ein schwarzes Loch tut sich vor uns auf. Ich strahle mit der Leuchte hinein, und unter uns funkelt Wasser.

Verdammt.

»Wenn wir zum Filter wollen, müssen wir schwimmen«, sage ich.

»Und tauchen«, ergänzt Tian.

Silver fasst unsere Beobachtungen treffend zusammen. »So eine Scheiße.«

Godmother räuspert sich. »Tian, könntest du das Problem bitte etwas differenzierter darstellen?«

Tian kniet sich hin und versucht, im Wasser mehr zu erkennen. »Nicht nur der Filter ist im Eimer.«

Godmother wird ernster. »Bitte mach genauere Angaben.«

»Wir sehen Wasser, es ist etwa so tief wie …« Tian sucht im Raum nach einem Vergleich, irgendetwas, womit er die Tiefe beschreiben könnte. Dabei verstummt er plötzlich. Er reißt den Mund auf und starrt auf eine Stelle direkt über mir.

Ich blicke hoch und sehe die kaputte Kamera. Sie hängt von der Decke.

Ich stupse Silver an, zeige hoch, und wir drei sehen uns an. Die Kamera ist aus der Fassung gerissen, das passiert nicht einfach so. Das hat jemand gemacht.

»Tian, was ist los?«, fragt Godmother. »Wieso redest du nicht weiter?«

Tian konzentriert sich wieder. »Das Wasser ist vielleicht drei Meter tief.«

»Dann ist der Abfluss verstopft«, sagt Godmother. »Wenn der Filter defekt ist, kommt zu viel Dreck und Abfall in die Anlage. Das Problem könnt ihr lösen.«

Ein paar Meter neben uns blinkt eine Kiste grün. Silver holt einen Taucheranzug in ihrer Größe heraus.

»Wieso du?«, frage ich.

Sie schaut mich gereizt an. »Gibt es etwa Freiwillige?«

Silver will ihren Schutzanzug ausziehen und öffnet den Reißverschluss. »Umdrehen!«, sagt sie zu Tian, und der schaut wieder ins Wasser der Entsalzungsanlage.

Kaum hat Silver den Taucheranzug an, helfen wir ihr mit den Flossen, der Brille und der kleinen Sauerstoffflasche. Tian prüft die Ventile und reicht ihr das Mundstück.

Silver klettert in die Anlage, ich leuchte ihr den Weg zum Wasser runter und folge ihr. Ich will so nah wie möglich bei ihr sein, falls sie Hilfe benötigt.

Die Metallleiter ist schmal und glitschig.

Tian schaut von oben zu und sagt Godmother, was wir machen.

Plötzlich rutsche ich aus, die Leuchte fällt mir aus der Hand und platscht ins Wasser, ich suche Halt mit den Füßen, doch sie gleiten von der glibberigen Stange weg.

Ich greife nach den Leitersprossen, verfehle sie um ein paar Zentimeter.

Schreiend stürze ich an Silver vorbei ins Wasser, direkt neben die Leuchte, die langsam nach unten sinkt. Sie ist wasserdicht, mein Schutzanzug nicht. Ich fühle das kalte Wasser überall.

»Yolanda!«, ruft Silver.

Sie springt ins Wasser und schwimmt mit den Flossen zu mir. »Hast du dich verletzt?«

»Ich bin okay.«

»Was ist passiert?«, fragt Godmother mit besorgter Stimme.

Tian blickt zu mir runter, ich klettere ein paar Sprossen der Leiter hoch und zeige ihm den ausgestreckten Daumen.

»Alles ist okay«, sagt Tian und verzichtet auf Details.

Ich bin froh darüber. Die Sache war peinlich genug, und es ist gut, wenn sie unter uns bleibt.

Silver taucht, das große Messer hält sie in einer Hand. Meine Trageleuchte ist am Boden der Anlage angekommen. Sie strahlt durch das Wasser hoch zu uns.

Silver bleibt an einer Stelle tief unten, vermutlich reinigt sie den Abfluss mit dem Messer. Minuten vergehen, und Tian und ich können nichts machen außer warten.

»Taucht Silver noch?«, fragt Godmother.

Tian betrachtet den Müll, der auf der Wasseroberfläche treibt. Es wird immer mehr, das meiste ist aus Plastik. »Ja, sie holt da einiges aus dem Abfluss raus.«

Weitere zwei Minuten vergehen. Wieso dauert das so lange? Ich mache mir Sorgen um Silver, Godmother sich offenbar auch. »Welche Sauerstoffflasche trägt sie?«

»Eine rote«, sage ich. Oder war sie braun? Im dreckigen Wasser ist nichts mehr zu erkennen.

»Dann reicht ihr Sauerstoff nur noch für 50 Sekunden«, sagt Godmother.

»Erkennst du was?«, ruft Tian zu mir runter.

Doch ich sehe nur Müll.

»Noch dreißig Sekunden«, sagt Godmother.

»Tian!«, rufe ich.

»Was?«

»Ich tauche zu ihr!«

Seine Antwort verstehe ich schon nicht mehr. Ich hole tief Luft und springe von der Leiter ins Wasser. Nass bin ich ja sowieso schon.

Das Wasser ist dreckig, und ich kann nichts erkennen. Ich tauche noch einmal auf, um Luft zu holen, stoße mich von der Wand ab und tauche wieder zu Silver runter.

Sie entdeckt mich und hämmert mit der Hand auf ihren Fuß. Die Schwimmflosse ist fort, das Bein steckt im Dreck fest. Das Messer liegt am Boden.

Ich habe kaum noch Luft, darf aber nicht noch einmal auftauchen. Silver erstickt hier unten!

Mit beiden Händen versuche ich, ihren Fuß aus dem Dreck zu ziehen. Ihr Bein bewegt sich keinen Zentimeter. Auf einmal bekomme ich ein Netz zu greifen. Ihr Fuß hat sich in einem Netz verfangen!

Mir wird schwarz vor Augen, ich muss hoch, kurz Luft holen. Aber ich darf jetzt nicht.

Da sehe ich zwei Hände am Netz. Sie bewegen sich! Sie reißen und rütteln an Silvers Fuß.

Wie kommen diese Hände hierher? Wer ist das?

Bei einer Hand fehlt ein Finger.

Tian!

Er ist zu uns getaucht.

Gemeinsam ziehen Tian und ich an Silvers Fuß. Beim ersten Ruck tut sich nichts, beim zweiten bewegt sich etwas. Beim dritten platzt das Netz auf. Silver ist frei, und wir schießen zu dritt hoch an die Wasseroberfläche.

Ich hole so tief Luft wie noch nie in meinem Leben. Silver hustet und keucht. Wir halten uns alle an der Leiter fest.

Ich verstehe nicht, was Godmother uns zuruft, die Lautsprecher sind zu weit weg. Tian spuckt den Dreck aus, den er unter Wasser geschluckt hat.

»Silver hat sich verfangen«, rufe ich hoch zu den Mikrophonen von Godmother. »Wir konnten sie retten.«

Während wir drei nach Luft schnappen und uns erholen, rutschen unsere Hände die Leiter runter. Ein gutes Zeichen: Das Wasser sinkt, der Abfluss ist frei!

Nach ein paar Sekunden berühren meine Füße den Boden der Anlage.

»Danke Leute. Das war knapp«, sagt Silver.

Ihre Stimme ist brüchig, doch ich bin froh, sie zu hören. Silver umarmt mich und Tian gleichzeitig. Sie drückt uns an sich, bis ihr die Taucherbrille vom Gesicht rutscht.

Wir warten, bis das ganze Wasser durch den Abfluss geronnen ist, bis nur noch Pfützen übrig bleiben.

Tian klettert die Leiter hoch, nimmt die Sauerstoffflasche und die Flossen mit, von der linken fehlt die Hälfte. Was er oben Godmother erzählt, kann ich nicht verstehen. Fragen hat sie sicherlich eine Menge.

Mit Godmothers Hilfe besorgt Tian eine Blechwanne. Er lässt das schwere Ding an einer Seilwinde zu uns runter. »Da müssen wir den Müll reinmachen!«

Ich hebe die Trageleuchte auf. Sie hat keinen Schaden genommen, und ich richte sie auf den verschlammten Boden. Silver und ich sammeln alles ein. Sogar ein kaputter Reifen hat sich im Netz verfangen.

Wir hieven das Ding in die Wanne, und etwas scheppert. Mich interessiert das nicht, Müll ist Müll, und sowieso will ich endlich fertig werden und etwas essen. Der Alarm war mitten in der Nacht. Wir hatten noch kein Frühstück!

Inzwischen knurrt mein Magen so laut, dass es selbst Godmother oben bei Tian hören muss. Okay, ich übertreibe. Aber nur ein bisschen.

Silver beugt sich über die Blechwanne und zieht etwas aus dem Netz. Es ist eine kleine Kiste aus Metall.

Sie grinst über das ganze Gesicht. »Klare Sache. Ein Piratenschatz.«

Dafür, dass sie vor ein paar Minuten fast erstickt wäre, hat sie ziemlich gute Laune.

Ich bin dagegen überhaupt nicht gut drauf und trete auf den schlammigen Boden. »Nur Müll! Müll wie alles hier!«

Tian wirft mir zwei Schaufeln runter. »Kann ich euch helfen?«

Ich winke ab, wir brauchen nicht mehr lange.

Ich hebe Silvers Messer auf, aber sie zieht es mir aus der Hand. Sie fuchtelt mit der Spitze aufgeregt an der kleinen Kiste herum.

Soll sie doch! Das stört mich nicht, den Rest schaffe ich allein. Hauptsache, wir haben das Messer wiedergefunden. Godmother ist sehr wütend, wenn wir etwas kaputt machen oder verlieren. Hoffentlich können wir später die abgebrochene Flosse wieder ankleben.

Der Deckel der Metallkiste springt auf, und ich blicke zu Silver. Neugierig bin ich natürlich schon.

Sie packt ein Marmeladenglas aus.

Ich klopfe ihr auf die Schulter. »Marmelade! Besser als jeder Piratenschatz!«

Das meine ich ernst. Die letzte Marmelade habe ich mir vor vielleicht fünf Jahren auf ein Brot geschmiert. Das ist ein halbes Jahrzehnt! Inzwischen stehen die Gläser leer im Regal der Kantine. Eine kleine Erinnerung an bessere Zeiten.

Silver öffnet vorsichtig den Deckel. In dem Glas ist keine Marmelade, sondern ein Stück Papier.

Verdammt.

Ich schüttele enttäuscht den Kopf, doch Silver ist ganz aufgeregt.

»Komm«, sage ich, »lass uns fertig werden!«

Silver beachtet mit nicht und zieht den Zettel raus.

Für mich ist das Kinderkram. Da hat sich jemand vor langer Zeit einen Scherz erlaubt. Schön, die hatten früher ihren Spaß. Von wegen geheimnisvolle Schatzsuche und so. Es sei ihnen gegönnt. Aber was hab ich davon?

Der Filter muss auch noch gereinigt werden! Abfluss und Filter – so lautet der Auftrag von Godmother. Wir sind erst mit dem Abfluss fertig.

Silver strahlt den zusammengeknüllten Zettel an, als wäre sie auf echte Marmelade gestoßen – Erdbeere oder Aprikose vielleicht. Das waren unsere Lieblingssorten.

Sie entfaltet das Papier und liest, was darauf steht.

Plötzlich verschwindet ihr Grinsen.