Goebbels - Ralf Georg Reuth - E-Book

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Ralf Georg Reuth

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Beschreibung

Joseph Goebbels war als Propagandaminister und Bevollmächtigter für den Kriegseinsatz eine der zentralen Gestalten des »Dritten Reiches«. In seiner Person verbanden sich fanatischer Hass, sinnentleerter Glaube und intellektuelle Schärfe zu einer wohl einzigartigen Waffe im Dienste der Massenbeeinflussung. Der Mann mit dem Klumpfuß war es, der aus dem »Führer« in der Wahrnehmung der meisten Deutschen eine Art Erlöser-Figur werden ließ, der man willfährig in den Abgrund folgte. Anhand einer ungeheuer breiten Quellenbasis schildert Ralf Georg Reuth in seiner im In- und Ausland hoch gelobten Biographie das Leben des Joseph Goebbels. Jetzt hat er das packende, psychologisch stimmig erzählte Buch, das Maßstäbe gesetzt hat, aktualisiert und komplett überarbeitet.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen überarbeiteten und erweiterten Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-96045-8

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

© 1990, 2012 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagfoto: bpk/Bayerische Staatsbibliothek/Heinrich Hoffmann

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Vorwort zur überarbeiteten Neuausgabe

Spätestens mit seinem Auftritt im Berliner Sportpalast, als er im Februar 1943 das »Wollt ihr den totalen Krieg?« als Antwort auf die Katastrophe von Stalingrad hinausschrie, brannte er sich endgültig in das Bewußtsein der Welt ein – Joseph Goebbels. Von der Zeitgeschichte wurde er als eine »Schlüsselfigur« des Dritten Reiches bezeichnet. Und eine solche war er ohne Zweifel, steht doch sein Name für eine Propaganda, die ein ganzes Volk zum willfährigen Instrument in den Händen eines in Welteroberungsszenarien denkenden Diktators machte. Auch wenn Hitler es war, auf den die Prinzipien der nationalsozialistischen Propaganda zurückgingen, so lagen doch die Ursachen für ihren durchschlagenden Erfolg nicht zuletzt im Wesen des Joseph Goebbels. In seiner Person verbanden sich ein sozial motivierter und aus Minderwertigkeitskomplexen gespeister abgrundtiefer Haß, ein aus seiner katholischen Herkunft resultierendes unbeirrbares Glaubensbedürfnis und eine beachtliche intellektuelle Schärfe zu einer wohl einzigartigen Waffe im Dienste der Massenbeeinflussung. Der Mann mit dem Klumpfuß war die fatale Ergänzung zu Hitler, ja er war Teil einer folgenschweren Symbiose, die in der Wahrnehmung der meisten Deutschen aus dem »Führer« eine Art Erlöser-Figur werden ließ, der man willfährig in den Abgrund folgte.

Dies sind die Grundlinien der vorliegenden Biographie, in der Goebbels nicht als Sammelpunkt gesellschaftspolitischer Kräfte verstanden wird, sondern vielmehr als Individuum, das Geschichte mitgestaltet hat. Mit dem Buch, dessen Erscheinen nun schon mehr als 20 Jahre zurückliegt, war seinerzeit eine Bresche in das Wirrwarr der Goebbels-Deutungen geschlagen worden: In ihren Biographien hatten ihn Werner Stephan[1] und Curt Riess[2] nach Kriegsende dämonisiert und somit das für sie Unerklärbare zu erklären versucht. Manvell und Fraenkel deuteten Goebbels 1960 als den Zukurzgekommenen, der in der Weltanschauungs- und Führergläubigkeit Kompensation fand[3]. Helmut Heiber hatte in seinem zwei Jahre später erschienenen Buch[4] Goebbels als überzeugungslosen Opportunisten und »wildgewordenen Kleinbürger« beschrieben und diesen schließlich der Lächerlichkeit preisgegeben, indem er das »eigentliche Wesen« des leidenschaftlichen Agitators auf dessen nie überwundene pubertäre Emphase reduzierte. Victor Reimann[5] deutete ihn als rationalen Propaganda-Macher und Joachim Fest in einer Porträtskizze[6] als einen »Macchiavellisten der letzten Konsequenz«. Ganz anders Rolf Hochhuth, der Goebbels in einem Essay[7], schon recht realitätsnah, als »mitreißenden, weil mitgerissenen Gläubigen« deutete.

Es war nicht zuletzt die gegenüber diesen Arbeiten enorm verbreiterte Quellenbasis, die ein schlüssiges Gesamtbild der Person Goebbels ermöglichte und das vorliegende, in zahlreiche Sprachen übersetzte Buch zu einem Erfolg werden ließ. Genannt werden muß hier vor allem der dem Autor exklusiv überlassene und erstmals ausgewertete Goebbels-Nachlaß aus der Zeit vor 1924. Der Schweizer Rechtsanwalt und Goebbels-Verehrer François Genoud hatte über das urheberrechtliche Verwertungsrecht an den Papieren verfügt, so daß kein Weg an ihm vorbeiführte. Vieler Mühe und Geduld hatte es dann auch bedurft, ehe sich im Besprechungszimmer des Münchner Piper-Verlages erstmals für einen Biographen ein alter Stoffkoffer öffnete und mehrere hundert Briefe, zahlreiche literarische Versuche, sonstige Dokumente und ein paar in Seidenpapier eingeschlagene, vergilbte Fotos aus der Studentenzeit des Joseph Goebbels zu Tage traten. Diese Papiere, die vor kurzem in den Vereinigten Staaten versteigert wurden[8], vermitteln einen erschütternden Einblick in das entbehrungsreiche Leben eines gesellschaftlich ausgegrenzten Krüppels und verdeutlichen lehrstückhaft, wie dieser infolge immer wieder enttäuschter Hoffnungen zu einem Hasser wurde.

Neben dem Nachlaß, der den Zugang zum Wesenskern der Person Goebbels ermöglichte, standen dem Autor dieses Buches erstmals beträchtliche Teile der zeitlich daran anknüpfenden Goebbels-Tagebücher zur Verfügung. Bei aller darin zum Ausdruck kommenden eitlen Selbstbespiegelung und Lügenhaftigkeit, die einen besonders kritischen Umgang mit dieser Quelle erfordern[9], gewährten sie jedoch Einblicke in das Leben des Joseph Goebbels, wie sie vorher nicht getan werden konnten. Mußte der Autor dieser Biographie noch auf mehrere Teil-Editionen und verschiedene Archiv-Bestände zurückgreifen[10], was ihn veranlaßte, aus all dem 1992 eine fünfbändige, kommentierte Auswahl-Edition der damals verfügbaren Goebbels-Tagebücher herauszugeben[11], so liegt seit 2008 endlich eine Gesamtausgabe[12] vor. Das 32bändige, leider unkommentierte Tagebuch ist nach fast zwei Jahrzehnten Editionsarbeit von Elke Fröhlich im Auftrag des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands herausgegeben worden. Es basiert auf den in Moskau befindlichen Glasplatten-Verfilmungen der Tagebücher aus dem Jahr 1945, aber auch auf aus anderen Überlieferungen stammenden Teilmanuskripten. Das Projekt umfaßt somit nahezu alle Tagebuchaufzeichnungen des Joseph Goebbels, einmal abgesehen von den Eintragungen der letzten April-Tage, die der Goebbels-Mitarbeiter Werner Naumann beim Ausbruch aus dem Bunker verloren haben wollte.

Die Aktenbestände des Bundesarchivs, die vielen Schriften und Zeitungsaufsätze des Propagandaministers und die erstmals im Zusammenhang mit einer Goebbels-Biographie systematisch durchgesehenen Unterlagen zu den zahlreichen Gerichtsverfahren gegen Goebbels während der sogenannten »Kampfzeit«, die vom Autor teilweise auf dem Dachboden der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin-Moabit aufgestöbert wurden, bilden eine weitere Säule des diesem Buch zugrundeliegenden Quellenmaterials. Abgerundet wird es durch mehrere kleine Bestände aus in- und ausländischen Archiven. Darunter befinden sich auch die über die Wirkung des Berliner Gauleiters Aufschluß gebenden politischen Aufzeichnungen Horst Wessels aus der Jagiellonen-Bibliothek im polnischen Krakau, die lange als verschollen galten.

Doch was hat sich seit dem Erscheinen dieses Buches in der Goebbels-Forschung getan? Neben einigen wichtigen, die Aussagen dieses Buches bekräftigenden Detailstudien, zum Beispiel über das Werden seiner Ideologie[13], der Bedeutung seiner Rede im Berliner Sportpalast im Februar 1943[14] oder über sein Verhältnis zum Judentum[15] müssen hier zwei Goebbels-Biographien genannt werden: zum einen die von Toby Thacker[16], der das Hauptgewicht seiner Arbeit auf die Wechselwirkung zwischen dem privaten Goebbels und dem Politiker herausarbeitet und sein Buch nicht als eine umfassende Biographie verstanden wissen will; die zweite zu erwähnende Biographie ist die von Peter Longerich[17], für die der Verlag reklamiert, sie sei für die kommenden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, die maßgebliche Goebbels-Interpretation.

Longerichs mehr als 900 Seiten umfassendes Buch, das sich zumindest in den frühen Jahren des Propagandisten nahe an dieser Biographie orientiert, bestätigt im wesentlichen deren Deutung der Person Goebbels, auch wenn es sich weit weniger mit dieser auseinandersetzt. Anders als die vorliegende Biographie mit ihrem klassischen Ansatz, dem zufolge der Mensch im Mittelpunkt steht, ist das Buch des Londoner Sozialhistorikers eher eine Mischung aus Biographie und allgemeiner Geschichte des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Propaganda. Wie jeder Goebbels-Biograph stützt sich auch Longerich vor allem auf die Tagebücher. So unverzichtbar diese Aufzeichnungen als Quelle sind, so sind sie doch zum Teil mit Blick auf die Nachwelt geschrieben worden. Offenbar konnte sich Biograph Longerich dieser selbstdarstellerischen Intention nicht immer entziehen, wenn die Fachwelt ihm einhellig eine unzureichende, quellenkritische Distanz zu den Goebbels-Tagebüchern attestiert.[18]

Auch die Rezeption des Longerich-Buches hat dazu beigetragen, daß der Piper-Verlag dankenswerterweise die vorliegende Goebbels-Biographie als komplett überarbeitete Studienausgabe hat neu erscheinen lassen. Im Zentrum der Überarbeitung steht dabei die Berücksichtigung der kompletten Tagebücher. Dabei ging es jedoch nicht darum, den bisherigen Text mit Tagebuch-Zitaten »aufzupumpen«. Die Eintragungen, die für die Biographie von 1990 nicht zur Verfügung standen, wurden vielmehr herangezogen, um Sachverhalte wie etwa das Werden von Goebbels’ Judenhaß weiter zu erhellen oder – falls erforderlich – zu modifizieren. Dabei wurden auch die Zitate aus dem im Dritten Reich veröffentlichten Teil des Tagebuches (Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei) – sofern sinnvoll – durch die ursprünglichen Eintragungen ersetzt. Neben der Einbeziehung der wichtigsten neueren Literatur und der Überarbeitung des Anhangs wurden vereinzelt ergänzende Erläuterungen eingefügt. Auf die in der Zeitgeschichtsschreibung inzwischen gängigen moralischen Wertungen wurde nach wie vor verzichtet, sprechen doch die Lebensgeschichte und insbesondere die Rolle des Joseph Goebbels im Dritten Reich für sich.

Berlin, im Sommer 2012

Ralf Georg Reuth

1

Warum hatte Gott ihn so gemacht, daß die Menschen ihn verlachten und verspotteten?

(1897 – 1917)

Im Jahr 1897, als Paul Joseph Goebbels geboren wurde, stand das deutsche Kaiserreich in seiner Blüte. Seit seiner Gründung nach dem Sieg über Frankreich zweieinhalb Jahrzehnte zuvor war es mit atemberaubender Geschwindigkeit zur Großmacht aufgestiegen. Politisch wetteiferte es mit den großen Kolonialmächten um den »Platz an der Sonne«: »Weltpolitik als Aufgabe, Weltmacht als Ziel«, hieß die von Militär und Wirtschaft dafür ausgegebene und von Teilen des Groß- und Kleinbürgertums begeistert getragene Losung, die Deutschland zur französisch-russischen Entente auch noch in Konflikt mit dem britischen Empire gebracht hatte. In Goebbels’ Geburtsjahr trug Kaiser Wilhelm II. diesem Weltmachtstreben in besonderem Maße Rechnung. Er beauftragte den Staatssekretär im Reichsmarineamt, Tirpitz, mit dem Aufbau einer großen deutschen Flotte.

Diese Flotte sollte nicht nur Ausdruck imperialer Größe sein, sondern auch Garant neuer überseeischer Rohstoffquellen und Absatzmärkte. Das Deutschland des ausgehenden Jahrhunderts konnte nämlich vor allem auf eine rasante wirtschaftliche Entwicklung zurückblicken. Schon lag das junge Reich beim Welthandel an zweiter Stelle hinter England; in der industriellen Gesamtproduktion überflügelte es bereits die bislang führende Wirtschaftsmacht. Da sich die Herrschaft über die Natur mit jedem Tage erweiterte, die Horizonte des Wissens jeden Tag von neuem überschritten wurden, schienen dem Wachstum keine Grenzen gesetzt zu sein.

Und doch haftete dieser schnellentfalteten Blüte etwas Endliches an, das sich in den Widersprüchen der Zeit ausdrückte: So spielte Wilhelm II. mit den Formen und Farben des Großen Kurfürsten und des großen Friedrich, während längst die organisierten Interessen die Politik in die Hand genommen hatten; und wenn auch das Wirtschafts-, Finanz- und Bildungsbürgertum die Signatur des Zeitalters bestimmte, seine intellektuellen Kritiker von Marx bis Nietzsche, von Wagner bis Freud sahen das Ende dieser bürgerlichen Welt schon gekommen.

Wenngleich sich die neue Zeit insbesondere in den Metropolen ankündigte, so war dafür doch überall im Reich der Boden bereitet, auch am Niederrhein, der Region, aus der die Goebbels stammten. In der beschaulichen, vom Katholizismus geprägten Welt mit ihren alten bäuerlich-handwerklichen Traditionen hatte die Moderne schon Fuß gefaßt; aus den seit langem ansässigen Webereien und Spinnereien hatte sich eine Textilindustrie entwickelt. Die Arbeit in den Zentren lockte die Menschen aus den Dörfern an, eröffnete sie doch Perspektiven auf ein besseres Leben – Hoffnungen, die dann für viele im quälend-grauen Alltag eines immer größer werdenden städtischen Proletariats zerstoben.

Einer, der seinem Dorf den Rücken gekehrt hatte, um in Rheydt, jenem aufstrebenden Industriestädtchen »in der Nähe von Düsseldorf und nicht allzuweit von Cöln«, sein Glück zu machen, war Joseph Goebbels’ Großvater Konrad[1]. Der Landwirt aus Gevelsdorf bei Jülich (er schrieb sich noch mit »ö«)[2], der die Schneiderstochter Gertrud Margarete Roßkamp aus Beckrath geheiratet hatte, blieb jedoch zeitlebens ein einfacher Arbeiter in einer der zahlreichen Fabriken. Als armer Leute Kind mußte sein am 14. April 1867 geborener Sohn Fritz[3] – Joseph Goebbels’ Vater – schon früh mitverdienen. Er begann als Laufbursche bei der Rheydter Dochtfabrik W. H. Lennartz. Da auch in diesem Betrieb Leitung und Verwaltung immer aufwendiger wurden, boten sich für fleißige Arbeiter Aufstiegschancen. Fritz Goebbels, von dem sein Sohn Joseph später schrieb, er habe sich seiner Aufgabe, »so klein sie auch sein mochte«, ganz hingegeben[4], nutzte sie. Er brachte es zum kleinen Angestellten, besorgte als sogenannter »Stehkragenproletarier« Schreibarbeiten, ehe er im Weltkrieg zum Buchhalter avancierte. In den 20er Jahren erteilte ihm der Inhaber der Firma Lennartz, die inzwischen »Vereinigte Dochtfabriken GmbH« hieß, sogar Prokura, womit die Familie des Betriebsleiters endgültig einen Platz im Kleinbürgertum erobert hatte[5].

Im Jahre 1892 hatte Fritz Goebbels Katharina Odenhausen geheiratet. Sie war in Übach auf der holländischen Seite des Grenzflusses Wurm geboren worden und hatte ihre Jugend in Rheindahlen verbracht. Ihr Vater, der Hufschmied Johann Michael Odenhausen, war – noch nicht 60jährig – an einem Herzversagen gestorben. Seine Witwe, Johanna Maria Katharina geb. Coervers, besorgte, um auch die jüngsten der sechs Kinder, die aus der Ehe hervorgegangen waren, durchzubringen, einem entfernt verwandten »Oberpfarrer«, den sie ehrfurchtsvoll den »Här« nannten, den Haushalt. Da jeder Esser, der im Pfarrhaus weniger am Tisch saß, ihre schwierigen Lebensumstände nur erleichtern konnte, hatte sich ihre Tochter Katharina schon früh als Magd auf einem Bauernhof verdingen müssen, bis sie der Arbeiter Fritz Goebbels ehelichte.

Die Goebbels lebten sehr einfach und bescheiden in ihrer kleinen Etagenwohnung in der Odenkirchener Straße 186, der heutigen Nr. 202[6]. Nach Konrad, Hans und Maria, die schon früh starb, wurde hier am 29. Oktober 1897 ihr dritter Sohn Paul Joseph geboren. Zusammen mit seinen jeweils um zwei Jahre älteren Brüdern sowie den beiden nach der Jahrhundertwende geborenen Schwestern Elisabeth (1901) und Maria (1910) wuchs er in einer intakten Familie auf. Der Vater, Fritz Goebbels, war ein pflichtbewußter Mann von »preußischer Geradheit«[7], der seine Kinder liebte, »wie er Lieben verstand. Seine Frau liebte er fast noch mehr. Deshalb hatte er immer das Bedürfnis, sie durch kleine Finessen und Schikanen zu quälen, wie es wohl Menschen tuen, die fühlen, daß sie mehr lieben als geliebt werden.«[8] So sehr Joseph und seine Geschwister die »spartanische Zucht«[9] ihres Vaters fürchteten, so sehr schätzten sie die Güte ihrer zu Schwermut neigenden, schlichten Mutter. Mit ihr verband Joseph eine besonders innige Beziehung, und auch sie war ihrem Viertgeborenen sehr zugetan. Vielleicht habe sie ausgerechnet ihn so »abgöttisch« geliebt, weil sie bei seiner Geburt beinahe ihr Leben verloren hätte, meinte er später; sie habe wohl die Liebe, »die sie ihrem Manne schuldig geblieben« sei, diesem Sohn geschenkt. Die Mutter, die er später ihrer »rätselhaften Einfachheit« wegen geradezu verklärte[10] war ihm die »beste und treueste Bewunderin«[11]. Sie blieb zeitlebens sein Bezugspunkt im Elternhaus, das ihm bis Mitte der 20er Jahre eine Art Fluchtburg sein sollte.

Die Goebbels waren ernste Menschen. In ihren Adern floß das »schwere Blut«, das oft mit der Monotonie der Landschaft am Niederrhein und dem tief verwurzelten Katholizismus in Zusammenhang gebracht wird. Für die einfachen Leute, also auch für die Goebbels, war dieser Katholizismus ein bildhafter Glaube, dem zufolge der über allem thronende Herrgott im Diesseits straft und belohnt, und, je öfter man ihm den Rosenkranz betet, sich desto wohlgesonnener zeigt. Da man seinen Zorn fürchtete, hatte man ihm und seinen schwarzgewandeten Dienern auf Erden untertänigsten Respekt zu zollen. Der tägliche Kirchgang, die Beichte und das gemeinsame Gebet daheim, bei dem die Mutter den knieenden Kindern mit geweihtem Wasser das Kreuzzeichen auf die Stirn machte, gehörten zum Leben der Goebbels wie das tägliche Brot, für das der Vater bei der Dochtfabrik Lennartz schuftete.

Etwa zwei Jahre nach Josephs Geburt sahen die Goebbels wieder allen Anlaß, dem Herrgott zu danken. Fritz Goebbels war zum Handlungsgehilfen aufgestiegen und verdiente nunmehr 2100 Mark im Jahr zuzüglich eines einmaligen Festbetrages von 250 Mark[12], so daß die Familie in eine komfortablere Wohnung in die Dahlener Straße umziehen konnte. Als zur Jahrhundertwende das vierte Kind, Elisabeth, zur Welt kam, wurde auch diese Wohnung zu eng. Sparsamkeit und Fleiß ermöglichten den Goebbels noch im gleichen Jahr den Kauf eines der für die Region typischen kleinen Reihenhäuser, ebenfalls an der Dahlener Straße, etwas näher in Richtung Stadtmitte. Dieses »unscheinbare« Häuschen mit der Nummer 140, der späteren 156, das die stürmischen Zeiten bis auf den heutigen Tag überdauert hat, betrachtete Joseph Goebbels als sein Vaterhaus, denn hier »erwachte« er »eigentlich zum Leben«[13].

Dieses Leben ließ sich für Joseph schwierig an. Als Kleinkind wäre er beinahe an einer Lungenentzündung »mit grausigen Fieberphantasien« gestorben: Er kam durch, blieb aber ein »schwächliches Kerlchen«. Kurz nach der Jahrhundertwende erkrankte Joseph an einer Knochenmarkentzündung[14], einem »der richtunggebenden Ereignisse« seiner Kindheit, wie er selbst meinte[15]. Am rechten Bein, schrieb er in seinen Erinnerungsblättern, habe sich nach einem ausgiebigen Spaziergang im Kreise der Familie wieder sein »altes Fußleiden« unter größten Schmerzen bemerkbar gemacht. Zwei Jahre lang bemühten sich Hausarzt und Masseur, die Lähmungen am rechten Bein zu beheben, die schon überwunden zu sein schienen. Doch dann mußten sie den verzweifelten Eltern eröffnen, daß Josephs Fuß »fürs Leben gelähmt« sei, im Wachstum zurückbleiben und sich allmählich zum Klumpfuß entwickeln werde. Fritz und Katharina Goebbels wollten sich damit nicht abfinden und sprachen mit Joseph sogar bei Bonner Universitätsprofessoren vor, was für einen kleinen Angestellten zu Beginn des Jahrhunderts weiß Gott keine Selbstverständlichkeit war. Doch auch den Kapazitäten blieb nur ein »Achselzucken«. Später, als er schon eine Zeitlang mit einer unansehnlichen orthopädischen Apparatur, die den gelähmten Fuß geradehalten und stützen sollte, durchs Leben gehumpelt war, operierten die Chirurgen des Maria-Hilf-Krankenhauses in Mönchengladbach den inzwischen zehn Jahre alten Jungen[16]. Der Eingriff mißlang, weshalb die Hoffnung, dem Knaben würde der Klumpfuß erspart bleiben, endgültig aufgegeben werden mußte.

Joseph Goebbels’ Schicksal wurde von seinen Eltern, besonders aber von der Mutter, als Heimsuchung empfunden, die auf der Familie lastete, verbanden sich doch im katholisch geprägten, einfachen Denken der Leute damit düstere Assoziationen. Immer wieder nahm Katharina Goebbels daher »ihr Jüppchen« an der Hand und führte ihn in die Rheydter Marienkirche, wo sie, neben ihm knieend, den Herrgott leise anflehte, er möge dem Kind Kraft geben und das Übel von ihm und der Familie wenden. Aus Angst vor dem Gerede der Nachbarschaft behauptete sie sogar, Josephs Leiden sei nicht auf eine Krankheit, sondern auf einen Unfall zurückzuführen. Sie habe nicht bemerkt, daß das Kleinkind mit dem Fuß in einer Bank hängengeblieben sei, als sie es herausgehoben habe[17]. Dennoch hieß es über den kleinen Joseph schon bald nach seiner Erkrankung, er sei »aus der Art geschlagen«[18].

Der Junge selbst konnte wohl die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen seinem Gebrechen und den Dingen des Glaubens nicht verstehen. Dies, vor allem aber die verletzenden, mitleidigen Blicke der Erwachsenen und die Hänseleien der Spielgefährten ließen ihm den körperlichen Makel als Abnormität der Person erscheinen, die alles überschattete[19]. So sah er sich bald als minderwertig an, mied die Straße und verkroch sich immer häufiger in seinem engen Zimmer im ersten Stockwerk des kleinen Hauses in der Dahlener Straße. In der Rückschau auf seine Jugend schrieb er als 22-Jähriger, er habe immer gedacht, die Kameraden schämten sich seiner, »weil er nicht mehr so laufen und springen könnte wie sie, und nun wurde ihm wohl manchmal seine Einsamkeit zur Qual. (…) der Gedanke, daß die andern ihn nicht bei ihren Spielen mochten, daß sein Alleinsein nicht sein eigener Wille nur sei, der machte ihn einsam. Und nicht nur einsam machte er ihn, er verbitterte ihn auch. Wenn er so sah, wie die anderen liefen und tollten und sprangen, dann murrte er gegen seinen Gott, der ihm (…) das angetan hatte, dann haßte er die andern, daß sie nicht auch waren wie er, dann lachte er über seine Mutter, daß sie solch einen Krüppel noch gern haben mochte.«[20]

An der Not des schmächtigen, linkisch wirkenden Jungen mit dem überproportional großen Kopf und dem verkümmernden Fuß änderte sich nichts, als er ab Ostern 1904 die Volksschule in unmittelbarer Nähe des Elternhauses besuchte. Die Kameraden mochten ihn nicht, weil er verschlossen war und sich absonderte; die Lehrer, weil er ein eigensinniger, »frühreifer Knabe« war, dessen Fleiß zudem zu wünschen übrigließ. Wenn er wieder einmal seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte oder wenn er sie einfach nur provozierte, schlugen sie ihn mitunter. Wohl auch deshalb verband er mit seiner Elementarschulzeit, vor allem aber mit seinen Lehrern, vorwiegend schlechte Erinnerungen. Den einen bezeichnete er als »Schubiak und Lump, der uns Kinder mißhandelte«, den anderen als »Lügenfritze«, der »allerlei dummes Zeug« ausgepackt habe. Nur ein Lehrer, der »mit rechter Begeisterung erzählen konnte«[21], war ihm lieb, verstand er es doch, die Phantasie des Jungen anzuregen.

Als er infolge der Fußoperation drei Wochen im Krankenhaus verbringen mußte, las er von morgens bis abends Märchenbücher, die er von einem Klassenkameraden erhalten hatte. »Diese Bücher weckten erst meine Freude am Lesen. Von da ab verschlang ich alles Gedruckte einschließlich Zeitungen, auch die Politik, ohne das Mindeste davon zu verstehen.«[22] Ausführlich beschäftigte er sich mit der veralteten zweibändigen Ausgabe eines Konversationslexikons, dem Kleinen Meyer[23], das sein Vater einmal erstanden hatte. Bald begriff er, daß er auf dem Gebiet des Wissens seine körperliche Benachteiligung auszugleichen imstande war. Das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit trieb ihn zu ständiger Überkompensation. Er habe es nicht ertragen können, daß einer »seine Sachen besser wußte als er, denn er hielt die anderen alle für schlecht genug, ihn auch geistig aus ihrer Gemeinschaft ausschließen zu wollen. Und dieser Gedanke gab ihm Fleiß und Energie.« In seiner Klasse war er schließlich einer der Besten[24].

Fritz Goebbels und seine Frau, von dem Willen beseelt, daß ihre Kinder es einmal besser haben sollten als sie, registrierten Josephs Lerneifer mit Genugtuung. Sie taten alles, um dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Und das fiel ihnen nicht leicht, denn der soziale Aufstieg der Familie war mit Aufwendungen verbunden, die das Mehrverdiente sogleich wieder verschlangen. Als Angestellter mußte Fritz Goebbels einen steifen weißen Kragen und auch alltags einen steifen Hut tragen. Die Familie war es ihrer sozialen Stellung nunmehr schuldig, eine »gute Stube« vorweisen zu können, die mit Plüschsesseln, Sofa, Vertiko, zwei goldgerahmten Bildern von Großmutter und Großvater und einer stattlichen Anzahl von Nippessachen ausgestattet war – und die freilich nur bei ganz besonderen Anlässen benutzt wurde[25].

Obwohl Fritz Goebbels jeden ausgegebenen Pfennig in einem blauen Kontoheftchen verbuchte[26], um am Ende des Monats zu überprüfen, wo vielleicht der ein oder andere Groschen eingespart werden könnte, mußten die Goebbels durch Heimarbeit dazuverdienen. »Wir machten Lampendochte, eine sehr mühselige Arbeit, bei der Augen und Rücken bald zu schmerzen begannen. Auch Vater beteiligte sich daran, wenn er abends aus dem Büro nach Hause kam und die Zeitung gelesen hatte. Diese Arbeit brachte natürlich nur Pfennige ein. Aber jeder Pfennig wurde gebraucht, um die nächsthöhere Sprosse auf der Stufenleiter des sozialen Aufstiegs zu erklimmen«[27], wobei das Hauptaugenmerk der Eltern Goebbels der guten Ausbildung ihrer Kinder galt.

Bei Joseph, dem intellektuell Begabtesten, verstand es sich von selbst, daß er wie seine beiden Brüder Konrad und Hans die städtische Oberrealschule mit Reformgymnasium in der Rheydter Augustastraße besuchen würde. Noch bevor es Ostern 1908 soweit war[28], hatte Fritz Goebbels eine Änderung des letzten Volksschulzeugnisses bewirkt: Die Zahl der wegen seines Gebrechens versäumten Tage innerhalb des vergangenen Schul-Tertials wurde verringert und alle Noten von »Gut« auf »Sehr gut« angehoben.

Joseph Goebbels freute sich, die höhere Schule besuchen zu dürfen, vor allem deshalb, »weil er jetzt über seine Kameraden, die ihn verlachten und verspotteten, triumphieren zu können glaubte«[29]. Wenn seine neuen Mitschüler ihn, wie er sich selbst einredete, wegen seines Gebrechens schmähten, dann sollten sie ihn ihrerseits doch auch »fürchten lernen«; durch seine schulischen Leistungen wollte er alle übertreffen, und dafür arbeitete er vom ersten Schultag an verbissen. Seine Mitschüler mußten ihn schon bald um Hilfe bitten. Er ließ sie seine Überlegenheit spüren und »freute (…) sich in seinem Inneren, denn er sah, daß der Weg, den er ging, der richtige war«[30].

Keine Anstrengung war Joseph Goebbels zu schwer. Überall tat er sich hervor, wurde Bester, ob in Latein, Geographie, Deutsch oder Mathematik[31]. Auch in den musischen Disziplinen, Kunsterziehung und Musik, entwickelte er einen geradezu krankhaften Ehrgeiz, der durch die gutgemeinte Förderung des Vaters noch verstärkt wurde. Im Jahr 1909 wurde für den gelehrigen Sohn sogar ein Klavier gekauft. Mehr als 30 Jahre später erzählte Joseph Goebbels seinem Adjutanten, wie er zum Vater gerufen worden sei und dieser ihm seine Absicht eröffnet habe. »Wir gingen zusammen, es uns anzusehen. Es sollte 300 Mark kosten und war natürlich gebraucht und schon ziemlich klapprig.« Aber es war zugleich der »Inbegriff von Bildung und Wohlstand, Wahrzeichen einer gehobenen Lebensführung, Symbol des Bürgertums«[32], an dessen Schwelle die Goebbels am Ende des ersten Dezenniums des Jahrhunderts standen. An diesem Klavier übte Joseph Goebbels unter der strengen Aufsicht des Vaters nach einem schon reichlich zerfledderten Exemplar der Dammschen Klavierschule.

Eine besondere Begabung entwickelte Joseph Goebbels für das Theaterspielen. Schon als Kind hatte er daheim »Schauertragödien« verfaßt. Bei den alljährlichen Schulaufführungen bestach er jetzt durch sein schauspielerisches Talent. Das effektvolle Sichmitteilen, Gesten und Gebärden waren seine Stärke. Aber er setzte sich nicht nur auf der Laienbühne, sondern auch im Alltag in Szene; eingebildet und arrogant, war er häufig gar nicht mehr er selbst, denn alles war auf Wirkung abgestellt[33]. Mitunter log und schwindelte er, und dies belastete ihn dann schwer. Erleichterung verschaffte er seinem Gewissen, wenn er sein Gebetbuch nahm, in die Kirche ging und ihm der Priester die Beichte abnahm[34].

Entsprechend wichtig waren ihm auch die Religionsstunden, die Kaplan Johannes Mollen gab, peinigte ihn doch immer wieder die Frage: »Warum hatte Gott ihn so gemacht, daß die Menschen ihn verlachten und verspotteten? Warum durfte er nicht wie die anderen sich und das Leben lieben? Warum mußte er hassen, wo er lieben wollte und lieben mußte?« Er haderte daher mit seinem Gott. »Oft glaubte er gar nicht, daß dieser überhaupt da sei.«[35] Und doch setzte er seine ganze Hoffnung in ihn, denn nur Gott ließ ihn hoffen, auch er fände einmal Anerkennung und Liebe.

Anfang April 1910 ging Mollens gelehrigster Schüler mit seinen Klassenkameraden, denen er kein guter Kamerad war, bei dem verehrten Kaplan zur Ersten heiligen Kommunion. Auf dem Faltblättchen, das Maria mit dem Kind zeigte, heißt es aus dem Hohelied 3.4: »Ich habe gefunden, den meine Seele liebt.«[36] Diesem Spruch wollte der 13 Jahre alte Pennäler, in der Hoffnung, ihm widerführe dann Gerechtigkeit, fortan sein ganzes Leben widmen. Er träumte davon, dereinst als »Hochwürden« die heilige Messe zu zelebrieren oder der Rheydter Fronleichnamsprozession im prächtigen Ornat voranzuschreiten. Die Eltern bestärkten den Jungen in dem Streben, Theologie zu studieren, nicht allein aus Überzeugung und Prestigegründen, sondern auch, weil das Theologiestudium noch am ehesten in Betracht kam, da für dessen Kosten die Kirche aufkam.

Ebenso prägten den Knaben die zeittypischen Auffassungen, wie sie etwa der Geschichtsunterricht vermittelte. »Da saßen wir und ballten die Fäuste und hingen mit glänzenden Augen an seinen Lippen«[37], schrieb Goebbels später in verklärender Rückschau über Oberlehrer Bartels, in dessen Geschichtsstunden die Eroberungszüge des großen Alexander durchgenommen wurden. Es war die Geschichte von den Heldentaten großer Männer, die große Zeiten machten, und der Makedone versinnbildlichte die Größe, die sich des Kaisers Deutschland soeben anschickte zu erlangen. Der entscheidende Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71, für den der Name »Sedan« zum Symbol geworden war, stand für Preußen. Deutschlands Aufstieg. Historiker wie Heinrich von Treitschke, Max Lenz oder Erich Marks, ebenso wie die Geschichtslehrer, sahen nunmehr in der Rivalität mit England die Fortsetzung dieser Entwicklung, die Deutschland alsbald zur Weltmacht führen sollte. Sie begründeten diese Haltung, wie es der Zeit entsprach, mit den Lehren Darwins, nach denen die politische Expansion die Bestätigung der eigenen Vitalität und zugleich eine nationale Mission war, die der Ausbreitung der höher bewerteten eigenen Kultur zu dienen hatte.

Wenngleich Joseph Goebbels glaubte, sein Herrgott habe ihn gestraft, weil er ihn als Krüppel in einer Welt leben ließ, die dem Typus des Kraftmenschen huldigte, waren doch Vaterland und Glaube Konstanten seines Denkens. Zu seiner Hoffnung auf Gott traten Träumereien, die ihn der Wirklichkeit entrückten. Bücher, denen er den größten Teil seiner Zeit widmete[38], eröffneten sie ihm. Oft versetzte er sich dabei in die Rolle des Helden, der er im Leben nicht sein konnte. »Dann empfand er es nicht mehr so bitter, daß er nicht mehr wie die anderen herumtollen konnte, dann freute er sich, daß es auch noch für ihn, den Krüppel, eine Welt des Genießens gäbe.«[39]

Er begann diese Empfindungen zu kultivieren, griff selbst zur Feder und schrieb 1912 sein erstes Gedicht, dessen Anlaß der Tod des Unternehmersohns Lennartz war, der während einer Operation gestorben war. Joseph Goebbels reimte darüber, von der Fiktion beseelt, er habe einen »wahren Freund« verloren: »Hier steh’ ich an der Totenbahre, / Schau deine kalten Glieder an, / Du warst der Freund mir, ja, der wahre, / Den ich im Leben liebgewann. / Du mußtest jetzt schon von mir scheiden, / Ließest das Leben, das dir winkt, / Ließest die Welt mit ihren Freuden, / Ließest die Hoffnung, die hier blinkt.«[40]

Neben solch »typische Pennälerklage«, wie er später selbstkritisch anmerkte, traten bald ähnlich schwülstige, dabei durchaus dem Zeitgeist entsprechende Gedichte – etwa ein Frühlingsgedicht[41]–, in denen er seine Empfindungen zum Ausdruck brachte. Mitunter meinte er jetzt, er gehöre durch sein Dichtertum zu den Ausnahmemenschen, die Gott mit einer besonderen Gabe ausgestattet habe: »Wohl weil Gott ihn an seinem Körper gezeichnet hatte.«[42]

Die Fertigkeit, die er allmählich im Umgang mit der Sprache erlangte, sein Interesse für Literatur und Lyrik förderte sein Deutschlehrer Voss. Ihm gelang es, die Mauer des Mißtrauens, die Joseph Goebbels um sich aufgerichtet hatte, zu durchbrechen. Auch Voss hatte in seiner Jugend »zu kämpfen gehabt«. Wohl deshalb – so spekulierte Goebbels später – habe er ihn zu verstehen versucht. Der Lehrer lud den behinderten Jungen zu sich nach Hause ein, empfahl ihm Bücher und unterhielt sich mit ihm. »Manchmal konnte es den Anschein haben, als wenn der Lehrer seinen sonderbaren Schüler ob seiner Eigenheiten bewunderte«, mutmaßte Goebbels über den »ersten Freund in seinem Leben«[43], der in seiner Schulzeit den »größten Einfluß« auf ihn ausübte[44].

Voss half auch, als Joseph Goebbels’ Vater für das Schulgeld und die anderen Ausbildungskosten seines Sohnes nicht mehr aufkommen konnte. Er vermittelte ihm Kinder wohlhabender Eltern als Nachhilfeschüler. »Sein Lehrer hatte für ihn geredet, und so wurde er überall sehr lieb und freundlich aufgenommen.«[45] Es entsprach dem ausgeprägten Bedürfnis des Pubertierenden nach Liebe und Anerkennung, daß er sogleich die ihn umhegende und verwöhnende Mutter eines der ihm anvertrauten Nachhilfeschüler anhimmelte. Zum ersten Male begann er jetzt auf sein Äußeres zu achten, wurde etwas weniger verschlossen, ja mitunter sogar ausgelassen. »Und daß niemand davon wußte, selbst der Gegenstand seiner Liebe nicht, das machte ihn doppelt so glücklich (…). Wenn er wach in seinem Bette lag und seine Geschwister schliefen, dann machte er Verse, trug sie sich laut vor und meinte, sie hörte ihm zu und lobte ihn. Das war seine höchste Freude.«[46]

Bestimmend für seine Jugendjahre blieb dennoch die Kluft zwischen der bitteren Wirklichkeit und der fiktiven Existenz, in die er auswich. Mitunter wurde ihm dies allzu schroff deutlich gemacht, so, als er die der Mutter seines Nachhilfeschülers zugeeigneten Gedichte unter seinem Pult liegengelassen hatte und diese am darauffolgenden Tag vor versammelter Klasse unter allerlei Anspielungen auf sein Gebrechen rezitiert wurden[47]. Nicht minder katastrophal muß der Junge dann auch seine ersten Versuche, sich dem anderen Geschlecht zu nähern, empfunden haben. Ziel seines Strebens war dabei ausgerechnet der Schwarm seines Bruders, eine gewisse Maria Liffers, die wie er die Oberrealschule besuchte. Als er ihr eindeutige Anträge machte und obendrein Liebesbriefe an sie fälschte, wurde die Sache ruchbar, und es kam zum Eklat. Daheim, wo die Eltern des Mädchens vorstellig geworden waren, ging Bruder Hans mit dem Rasiermesser auf ihn los; an der Oberrealschule wurde ihm ein städtisches Stipendium verweigert, mit dem Fritz Goebbels sicher gerechnet hatte. Obwohl es dem Vater nicht leichtfiel, für die weitere Ausbildung seines Sohnes aufzukommen, sollte dieser trotz seiner schweren Verfehlung, anders als seine beiden älteren Brüder, auch die drei Klassen des der Oberrealschule angeschlossenen Reformgymnasiums bis zum Abitur besuchen, der Voraussetzung für das Theologiestudium.

Nach den Osterferien 1914 wurde Joseph Goebbels in die Obersekunda versetzt. Von dem »schweren Alpdruck«, der – wie Hitler zehn Jahre später in Landsberger Festungshaft schreiben sollte – »brütend wie fiebrige Tropenglut« damals auf den Menschen gelegen habe[48], spürte der halbwüchsige Pennäler wenig. Sicher aber registrierte auch er die Diskussionen darüber, ob der Krieg wohl käme, der die innenpolitischen Spannungen hinwegfegen würde. Denn längst paßten die neuen mechanisierten Arbeitsweisen und die sich mit ihnen verändernden sozialen Strukturen nicht mehr zur Ordnung dieses Kaiserreiches. Unüberbrückbare Gegensätze und rasante Veränderungen prägten die Epoche, der aus der Sicht vieler Zeitgenossen etwas allzu Rational-Nüchternes, »Seelenloses« und damit Angsteinflößendes anhaftete, das düster über der Epoche zu lasten schien. Wie eine Erlösung von all dem empfanden deshalb die meisten den heraufziehenden Krieg.

Als am 28. Juni in Sarajewo die Schüsse auf den österreichischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, fielen und bald darauf mit den Mobilmachungen ein unaufhaltsamer, tödlicher Mechanismus in Gang gesetzt wurde, als die Menschen, wie überall im Reich, auch in dem kleinen Industriestädtchen am Niederrhein begeistert dem Krieg entgegentaumelten, stimmte Joseph Goebbels in den vaterländischen Chor ein, der des Kaisers Truppen bereits über die elysischen Felder in Frankreichs Hauptstadt paradieren sah; dies schien die Erfüllung dessen, was er in seinen Geschichtsstunden gelernt, was der Kaplan von der Kanzel gepredigt hatte und was auch vom Kleinbürgertum, dem er entstammte, begeistert propagiert wurde.

Das Gemeinschaftserlebnis jener Tage verfehlte auf den jungen Goebbels seine Wirkung nicht. Denn für den 16jährigen barg der Krieg die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Von Kindheit an hatte er sich gewünscht, »dazuzugehören«, nun spürte er endlich das Geborgenheit vermittelnde Gefühl der Solidarität, wenn er nach der Mobilmachung Anfang August in der Menge stand und den im Gleichschritt Vereinten zujubelte; niemand achtete dabei auf sein Gebrechen. Es war ihm dann wie während des Gottesdienstes, nur, daß er nicht in der Kirche kniete, sondern am Straßenrand stand und anstelle des »Lobet den Herrn« das »Deutschland, Deutschland über alles« mitanstimmte.

Gerne wäre er bei denen gewesen, die wie sein älterer Bruder Hans, sein Schulkamerad Fritz Prang oder ein gewisser Richard Flisges, den er soeben kennengelernt hatte, sogleich für das Vaterland ins Felde ziehen durften, denn »der Soldat« – so schrieb er in einem Aufsatz –, »der für Weib und Kind, für Herd und Haus, für Heimat und Vaterland hinauszieht, um sein frisches junges Leben dahinzugeben, leistet dem Vaterland den vornehmsten und ehrenvollsten Dienst«[49]. Aber das von ihm schon so oft verfluchte Gebrechen degradierte ihn einmal mehr zum Außenseiter, woran auch das »Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst«[50] nichts zu ändern vermochte, das er sich noch Ostern hatte ausstellen lassen. Vielleicht um nicht ständig mit diesem Defizit konfrontiert zu sein, interessierte sich Joseph Goebbels, der während des ersten Kriegswinters einige Wochen eine Art Ersatzdienst bei der Reichsbank tat, nur wenig für den detaillierten Verlauf der Kampfhandlungen. Er begnügte sich statt dessen mit allgemeinen Informationen, ob die Dinge an den Fronten gut oder weniger gut ständen, denn schlecht konnten sie ja ohnehin nicht stehen.

Da nicht allein das tapfere Heer »zum endgültigen Sieg« führe, wie er in einem anderen Schulaufsatz schrieb[51], sah er nunmehr seinen Beitrag darin, in der »tüchtigen Schar« der nicht minder entbehrlichen »Nichtkämpfer« mitzuwirken. Er achtete genau, wie es die vielerorts plakatierten Weisungen des Generalkommandos für die Zivilbevölkerung verlangten, auf Verdächtige an der Heimatfront oder entwickelte besondere Geschäftigkeit, als der Direktor der Schule den Auftrag erteilte, die »Weihnachtsliebesgaben« der Stadt Rheydt für ihre Söhne im Felde zu verpacken und mit Adressen zu versehen[52]. So hatte sich auch Joseph Goebbels eine Aufgabe geschaffen, die ihm in diesen Tagen das Gefühl gab, dazuzugehören, wenn er schon nicht »vorne« dabeisein konnte.

Er öffnete sich nun auch seinen Klassenkameraden mehr und gewann in Hubert Hompesch und Willy Zilles Freunde. Als sie einrückten, schrieb er ihnen regelmäßig die Neuigkeiten aus der Heimat, insbesondere von der Schule, wo sich die oberen Klassen zunehmend zu leeren begannen. Sie wiederum berichteten ihm, »dem Urwaldbewohner (…) im fernen Nordwesten«[53], begeistert von ihren Erlebnissen beim Militär. Tausendmal besser gefalle ihm sein jetziges Leben als vorher die Schulzeit, schrieb der von Joseph Goebbels beneidete Füsilier Willy Zilles[54], der wie alle »Feldgrauen« davon träumte, einmal mit dem Eisernen Kreuze als Held in die Heimat zurückzukehren.

Die nationale Euphorie, die besonders die junge Generation erfaßt hatte, kaschierte auch die Herkunft des Joseph Goebbels, die in Friedenszeiten dem fast erwachsenen Sohn des »Stehkragenproletariers« an der gymnasialen Oberstufe unter den Kindern von Kaufleuten, Beamten und Ärzten sicherlich mehr zu schaffen gemacht hätte als nun im Kriege. Nicht zuletzt auch deshalb konnte in dem Jugendlichen die Vision einer »wahren Volksgemeinschaft« reifen, zu der die einfachen Leute, die »Lüt« – zu denen er sich selbst kraft seiner hervorragenden schulischen Leistungen freilich nicht mehr zählte –, genauso gehörten wie die Reichen. »Wohl niemals« – so schrieb er im Juli 1915 an den inzwischen in einem schlesischen Lazarett liegenden Willy Zilles – werde er in den Ruf aus dem Horaz einstimmen können »Odi profanum vulgus« (Ich hasse das niedere Volk). Statt dessen wolle er sich von einem Wort des Schriftstellers Wilhelm Raabe leiten lassen, der das Volk verstanden habe wie kein zweiter. Dessen »Hab’ acht auf die Gassen!« verstehe er als Hinwendung zum niederen Volk, ohne dabei aber »unsere höhere Aufgabe«, das »Streben nach oben« zu vergessen, das anklinge in Raabes Worten »Sieh’ auf zu den Sternen!«[55]

Raabe war ihm, anders als Gottfried Keller oder Theodor Storm, die er neben den Klassikern sehr schätzte[56], vor allem deshalb ein »leuchtendes Vorbild«[57], weil der Dichter in dem zitierten alten Ulex aus dem Roman Die Leute aus dem Walde Goebbels’ Meinung zufolge das »Urbild des deutschen Idealisten und Träumers«[58] geschaffen habe. Da sich Goebbels sowohl im Helden als auch in dessen Schöpfer wiederzuerkennen glaubte, schrieb er über letzteren und seine Vision einer deutschen Volksgemeinschaft, Raabe habe stets hinaufgeschaut in seinem Leben: »so hat er die jahrelange Zurücksetzung ertragen können, ohne seinen Humor, seinen Lebensmut zu verlieren, so hat er rastlos weitergearbeitet an seinem Lebenswerk, gewürdigt nur von wenigen Freunden, verkannt fast von ganz Deutschland, aber überzeugt von seinem hohen Beruf. So hat er weiter gestrebt, wenn nicht für seine Mitmenschen, so doch für eine spätere Generation. Sind wir diese Generation?«[59]

Da der Krieg Joseph Goebbels aus dem kleinen Haus in der Dahlener Straße eine bessere Welt oder jedenfalls einen Teil dessen, was ihm bislang versagt geblieben war, zu bescheren schien, empfand er ihn letztlich als Ausdruck göttlichen Wirkens. Die flammenden Aufsätze, die er in den ersten Kriegsmonaten während der Deutschstunden bei Voss verfaßte[60], spiegeln dies wider. Da zitierte er die alten Weisen der Befreiungskriege vom »Gott, der Eisen wachsen ließ«, beschwor die Mythen längst vergangener Zeiten, als die Vorfahren derer, die bei Langemarck zum Sturmangriff antraten, »mit Gesang und Jubel in die Schlacht zogen«. Der anonyme Tod im Felde mutete dem Daheimgebliebenen »schön und ehrenvoll« an, wurde zum sakralen Akt, zum Opfer auf dem »Altar des Vaterlandes« verklärt, zum Opfer, wie es einst Christus auf Golgatha für die Menschheit gebracht hatte. Religion und Patriotismus schienen in der Weltsicht des Joseph Goebbels zu verschmelzen.

Unter seinen Lehrern glaubte er – mit Ausnahme von Voss und Bartels, der soeben mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war – eine »allgemeine Drückebergerei« feststellen zu müssen, und ausgerechnet Kaplan Mollen teilte die vaterländische Hochstimmung nicht. Schon vor dem August 1914 hatte er sich pessimistisch gegeben und seinen Schülern die Schrecken des noch Bevorstehenden vor Augen geführt[61]. Da er weiterhin wider den Zeitgeist sprach, nahm Joseph Goebbels ihm gegenüber eine zunehmend skeptischere Haltung ein, ohne jedoch dessen Autorität dadurch grundsätzlich in Frage zu stellen.

Bald mußte der Pennäler jedoch erfahren, daß Mollens Mahnungen durchaus angebracht gewesen waren; an der Oberrealschule in der Augustastraße war immer wieder der »Heldentod« eines »Ehemaligen« für Kaiser und Vaterland zu beklagen. Angesichts der Opfer stand man im Hause Goebbels der Einberufung Konrads zum 1. August 1915[62] nicht mehr mit dem uneingeschränkten Hochgefühl des Vorjahres gegenüber, sondern mit eher gemischten Empfindungen. Einerseits war man stolz, daß nun auch er in des Kaisers Rock für Deutschland ins Felde ziehen durfte, andererseits schauderte man vor dem, was ihm dann möglicherweise drohte.

Zusätzlichen Kummer bereitete der Familie im Herbst 1915 eine Krankheit Elisabeths. Zu Allerseelen wurde aus dem Kummer Schmerz. Die Schwindsucht, wie man die Lungentuberkulose damals zu nennen pflegte, hatte das Mädchen hinweggerafft. Joseph und Fritz Goebbels beteten an ihrem Bett das Vaterunser[63], und Oberlehrer Voss, der vorübergehend nach Aachen zum Militärdienst eingezogen worden war, schrieb seinem begabten Zögling, daß es wohl in diesen Tagen keinen gebe, »der nicht ein Liebes verliert (…), und so müssen wir uns, der eine an dem anderen trösten und den Kopf hochhalten. Denn noch sind wir nicht am Ende, und wir wissen nicht, was wir noch durchzumachen haben werden, bis endlich die große, glückliche Stunde des Friedens schlägt.«[64]

Zum Schmerz über den Tod seiner jüngeren Schwester, den er wiederum in Verse faßte, sollte im Frühsommer des darauffolgenden Jahres die quälende Sorge um das Leben seines auf dem westlichen Kriegsschauplatz kämpfenden Bruders Hans treten, von dem man wochenlang kein Lebenszeichen erhalten hatte[65]. Hinzu kam der ohnehin triste, durch den sich verlängernden Krieg vielfach belastete Alltag. Auf dem »Pennal«, wo nur noch wenige in den oberen Klassen saßen und ihm die Ansprechpartner fehlten, kreisten die Themenstellungen der Schulaufsätze nur noch um die Frage »Warum müssen, wollen und werden wir siegen?«. Der zurückgekehrte Voss ließ jetzt auch schon einmal über die Kraft der Hoffnung schreiben, von der Joseph Goebbels meinte, sie sei es, »die uns diese gewaltige, von Blut und Tränen reiche Zeit ertragen (läßt)«, um dann aus dem Uhlandschen Werk zu zitieren: »Oh, armes Herz, vergiß die Qual, Bald muß sich alles, alles wenden.«[66]

Obwohl die Goebbels in der Dahlener Straße die beruhigende Nachricht erhielten, daß Hans sich unversehrt in französischer Gefangenschaft befinde, war bei Joseph von der anfänglichen Euphorie wenig übriggeblieben. Die Meldungen über deutsche Siege, die jedoch niemals zum Sieg führten, hatten auch ihm klargemacht, daß noch ein langer und schwerer Weg zurückzulegen war, ehe die Entscheidung fallen und die an sie geknüpften Erwartungen und Hoffnungen Wirklichkeit werden würden. Die Briefe, die er jetzt von seinen Kameraden aus dem Felde erhielt, schienen ihm dies zu bestätigen. Die allzu pathetischen Floskeln waren nüchternen Schilderungen des entbehrungsreichen Lebens gewichen, das nach wie vor von einer strengen Pflichtauffassung gegenüber dem Vaterland geprägt war, wenn ihm zum Beispiel sein Klassenkamerad, der Unteroffizier Hompesch, schrieb, er wolle lieber »bis zum Letzten« aushalten, ehe »der Feind ins innere Land dringt, ehe unsere Familien zu Hause, unser Hab und Gut in der Heimat in Gefahr kommt«[67].

Allmählich entfremdeten sich die Briefschreiber einander, lebten sie doch in zu verschiedenen Welten. Ein Gutteil dazu beigetragen hatte auch die sich seit Ostern 1916 – zur Zeit der »Hölle von Verdun« – zwischen Joseph Goebbels und einem Mädchen aus dem benachbarten Rheindahlen anbahnende erste Liebesbeziehung[68]. Lene Krage, wie sie hieß, sei zwar »nicht klug«, aber sehr schön für ihre Jahre gewesen[69]. Als sie sich erstmals auf der Rheydter Gartenstraße näherkamen, sei er, wie er später schrieb, der »glücklichste Mensch auf Erden« gewesen, konnte er es doch kaum fassen, daß er, »der arme Krüppel (…) das schönste Mädchen geküßt (hatte)«. Lene wiederum bewunderte ihren »Herzensbub« seiner Intelligenz wegen: »Wie klein ich im Gegensatz zu Dir bin. (…) Ja anbetungswürdig scheinst Du mir. Ich könnte in eine Vergötterung ausarten«, schrieb sie in einem ihrer vielen Briefe[70]. Er jedoch fragte sich schon bald, weshalb er ein Mädchen lieben konnte, das er für dumm hielt, und kam zu dem Schluß, daß »dieser Liebe, so harmlos sie auch war, etwas Unreines anhafte«[71]. Sein »dunkles«, wie er meinte, nur der Triebhaftigkeit verschriebenes Sehnen, ja Sexualität überhaupt, hielt er für verwerflich, war sie doch für ihn die Versuchung des Bösen schlechthin. Er »kämpfte« deshalb mit »dem Geschlecht« und glaubte schließlich, krank zu sein, weil er in diesem Kampf zu unterliegen drohte. Als er sich mit Lene Krage nachts im Rheydter Kaiserpark einschließen ließ und sie zum »liebenden Weib« wurde, hätte er ihn endgültig verloren und mit ihm sein reines Gewissen.

Im März des Hungerjahres 1917 bestand Joseph Goebbels das Abitur. Sein Reifezeugnis konnte sich, wie schon die vorangegangenen Zeugnisse, sehen lassen. »Sehr gut« in Religion, Deutsch und Latein; »Gut« in Griechisch, Französisch, Geschichte, Erdkunde und sogar in Physik und Mathematik, Fächern, für die er nach eigenem Bekunden »keine Begabung« hatte. Vom »Mündlichen« war er damit befreit, und weil er den besten Deutschaufsatz geschrieben hatte, durfte er die Abgangsrede seines Jahrgangs halten – formvollendet und über den ohnehin schon von allzu pathetischer Vaterlandsliebe geprägten Geist seiner Zeit noch hinausschießend. In dem, was der schmächtige Joseph Goebbels an jenem 21. März[72] hinter dem Katheder in der Aula dem Lehrerkollegium, der Schulleitung und den Pennälern vortrug, fanden sich all jene Vorstellungen wieder, die das Weltbild seiner Generation, das er ganz besonders verinnerlicht hatte, bestimmten. Mit aufgeregter Stimme rief er den Zuhörern zu, daß sie »die Glieder jenes großen Deutschland sind, auf das eine ganze Welt mit Schrecken und Bewunderung sieht«. Da beschwor er die »globale Mission« des Volkes »der Dichter und Denker«, das jetzt beweisen müsse, »daß es mehr ist als dieses, daß es die Berechtigung in sich trägt, die politische und geistige Führerin der Welt zu sein«. Martialisch sprach er von Bismarck, dem Mann »so hart wie Stahl und Eisen«, von »unserem Kaiser«, der »unbefangen gegen Gott und die Welt« das Schwert gezogen habe. Am Ende gipfelte dann alles in göttlicher Erhöhung: »Und Du Deutschland, starkes Vaterland, Du heiliges Land unserer Väter, steh fest, fest in Not und Tod. Du hast Deine Heldenkraft gezeigt und wirst auch aus dem Endkampf siegreich hervorgehen. (…) Uns ist nicht bange um Dich. Wir trauen auf den ewigen Gott, der will, daß das Recht siegreich sei, in dessen Hand die Zukunft liegt. (…) Gott segne das Vaterland.«[73]

Nach diesem Vortrag soll ihm sein Schulleiter auf die Schulter geklopft und gesagt haben, er sei zum Redner leider nicht geboren[74]. Doch Redner beabsichtigte Joseph Goebbels nicht zu werden, und auch von der Kanzel wollte er nicht mehr predigen. Zur Enttäuschung der Eltern hatte er längst seinen Plan verworfen, Theologie zu studieren. Schon 1915 hatte ihm Voss geraten, unter anderem Deutsch zu studieren und gleichsam als Ergänzung dazu Niederländisch zu lernen. Wohl mit Blick auf zukünftige Annexionen hatte Voss damals die Auffassung vertreten, daß sein Schüler auf diesem Wege nach dem Kriege »in ganz kurzer Zeit« Staatsexamen machen könne. Obwohl Joseph Goebbels durch einige Ferienaufenthalte in der Nähe Aachens, wo seine Mutter aufgewachsen war, bereits gute Fortschritte beim Erlernen der niederländischen Sprache gemacht hatte[75], erwog er vorübergehend ein Medizinstudium, das ihm Voss dann allerdings wieder ausredete. Auf dessen Drängen hin entschied er sich doch für Altphilologie, Germanistik und Geschichte.

Die »langersehnte Stunde«, »die uns frei macht«, war nun da. Doch so wie sie Goebbels in der Abiturrede zelebriert hatte, sah sie gewiß nicht aus. Weder lag die Welt »im jungen, frischen Morgenrot des ersten Maientages« vor ihm, noch war ein Grund gegeben, »trunkenen Auges« in »alle Schönheit und alles Glück der Erde« hineinzuschauen und »in all die Herrlichkeit« hinauszujubeln: »O, Welt, du schöne Welt du, man sieht dich vor Blüten kaum!« Hinter dem Motto, das Goebbels und die anderen Abiturienten in »trotzigem Optimismus« dem Festakt gegeben hatten[76], verbargen sich aus der Not geborene, überschäumende Träume – Sehnsüchte nach drei auch für die Zivilbevölkerung entbehrungsreichen Kriegsjahren.

Wenn in dieser schwierigen Zeit Fritz Goebbels für seinen Sohn dennoch an etwas anderes als an ein Theologiestudium zu denken wagte, dann auch deshalb, weil das Familienoberhaupt in diesem Jahr 1917 zum Buchhalter der Dochtfabrik Lennartz aufgestiegen war und ein paar Mark mehr verdiente. Mit der bescheidenen Unterstützung des Vaters und dem aus Nachhilfestunden Ersparten werde er schon durchkommen, hoffte Joseph Goebbels, bis sich nach dem erwarteten Sieg Deutschlands im Weltkrieg die Dinge auch für ihn maßgeblich verbessern würden.

2

Chaos in mir

(1917 – 1921)

Es waren neue Horizonte für die Familie, zu denen der verträumte Junge mit dem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex und dem ausgeprägten Drang nach Anerkennung und Geborgenheit im April 1917 aufbrach. Einerseits erfüllte es ihn mit Stolz, als Sohn eines kleinen Angestellten mit der Elite der deutschen Jugend studieren zu dürfen; andererseits war ihm auch etwas bange, wußte er doch nicht, wie die Kommilitonen ihn, den Krüppel, aufnehmen würden. Wohl auch deshalb empfand er den Frühlingstag, an dem er sein Elternhaus sowie seine Freundin Lene Krage zurückließ, um sich an der Bonner Universität einzuschreiben, als »rauh und kalt«[1].

In der Koblenzer Straße bezog Joseph Goebbels ein bescheidenes Möblierzimmer und machte sich, wie jeder Neuankömmling, mit der Residenzstadt und ihrer Alma mater vertraut, an der trotz der schlechten Zeiten das studentische Leben seinen althergebrachten Gang nahm. Beherrschend waren dabei die Vereinigungen und Verbindungen der farbentragenden Studenten, die trotz aller Unterschiede die tiefe Verehrung für den Kaiser und die Liebe zum Vaterland miteinander verband. Und selbstverständlich suchte auch der junge Student, fasziniert von der vielbesungenen Burschenherrlichkeit, sogleich dort Anschluß. Dem Rat seines früheren Religionslehrers Kaplan Mollen folgend, trat er schon kurz nach Semesterbeginn dem katholischen Studentenverein Unitas Sigfridia bei, wo seine kleinbürgerliche Herkunft eine geringere Rolle spielte als in manch elitärer Burschenschaft[2]. Im Kreise der Vereinsmitglieder gab er sich jetzt den Namen »Ulex«. Er habe ihn gewählt, bekundete er selbst, weil er einen Roman von Raabe so sehr liebe, in dem der Held diesen Namen trage, »ein alter deutscher Idealist, tief und träumerisch, wie wir Deutschen alle sind, trotz aller Industrie und materialistischer Zeitströmungen«[3].

In der durch Einberufungen und Kriegsfreiwilligen-Meldungen stark dezimierten Bonner Korporation fand Joseph Goebbels Ersatz für das Elternhaus und in dem sogleich überschwenglich verehrten Jurastudenten Karl Heinz Kölsch, genannt »Pille«, einen guten Kameraden. An seiner Seite trat der »Fuchs« fortan unermüdlich – vielleicht auch um seine Felduntauglichkeit zu kompensieren – für den Zusammenhalt des katholischen Vereins ein. Besonders in Szene zu setzen verstand er sich auf den zumeist von ihm selbst organisierten Veranstaltungen der Unitas Sigfridia, die der vaterländischen Erbauung und der Stärkung des Glaubens dienen sollten. So hielt er schon kurz nach seinem Eintritt auf einem Vereinsfest am 24. Juni 1917 einen vielgelobten Vortrag über Wilhelm Raabe[4]. Bei anderer Gelegenheit sprach er über Kirchenkunst, und nach dem Urteil eines bekannten Bonner Professors war dies das beste Referat, das er jemals von einem Studenten gehört habe[5]. Ganz ähnlich äußerte sich 40 Jahre später auch Kaplan Mollen, der auf Drängen seines früheren Schülers nach Bonn kam, um den »Sigfriden« einen Vortrag über Kirchengeschichte zu halten. Daß er jenen anregenden Abend – so Mollen – auch noch nach langer Zeit in angenehmer Erinnerung habe, sei wohl durch die ganz besondere Freude zu erklären, die ihm sein früherer Schüler durch seine lebhafte Anteilnahme gemacht habe[6].

Zum »unitarischen Leben« gehörten, selbst in diesen Kriegszeiten, deftige Zechereien, denen sich Joseph Goebbels nicht verweigerte. Sie verschlangen aber Geld, so daß es ihm bald zur Gewißheit wurde, daß die mitgebrachten Mittel, die er noch daheim hatte beiseite legen können, trotz sparsamster Lebensführung und oftmals leerem Magen nicht einmal für ein Semester ausreichen würden. Das Dazuverdiente aus den schlecht bezahlten Nachhilfestunden, die er den Söhnen gutsituierter Beamter der rheinischen Residenzstadt gab, vermochte daran nichts zu ändern. Der Einberufungsbescheid zum militärischen Hilfsdienst[7] bewahrte ihn schließlich vor der Peinlichkeit, aus finanziellen Gründen die Universität vorzeitig verlassen zu müssen. Mit Schuldscheinen und unbezahlten Rechnungen im Gepäck kehrte er im Juni 1917 verbittert in sein Rheydter Elternhaus zurück.

Daheim floh Joseph Goebbels zunächst wieder in seine Traumwelt, die er sich unter der Überschrift Die die Sonne lieben[8]zusammendachte, ehe an die Stelle der Schwärmereien über »Liebe, Leben und Glück, die Dinge, die zusammengehören, wie Luft und Wasser« der nüchterne Dienst als Bürosoldat beim Vaterländischen Hilfswerk trat. Da seine Vorgesetzten mit dem so unsoldatisch aussehenden, schwächlichen und hinkenden Mann wenig anzufangen wußten, schickten sie ihn bald wieder nach Hause. Dort vollendete er seine begonnene »Novelle« und schrieb eine zweite, der er den Titel gab: Bin ein fahrender Schüler, ein wüster Gesell …[9]. Das seinem »lieben Leibburschen Karl Heinz Kölsch« gewidmete Stück handelte von rheinischer Studentenherrlichkeit, Liebe und Tod. Beide Arbeiten tat er bald darauf, durchaus selbstkritisch, als »schwülstig sentimental« und »kaum noch genießbar« ab, nachdem sie ihm von der Kölnischen Zeitung – wohin er sie mit der Bitte um Veröffentlichung geschickt hatte – wieder zurückgesandt worden waren[10].

Wichtiger mußte für Joseph Goebbels die Vorsorge für das kommende Bonner Wintersemester sein. Wieder war es Kaplan Mollen, der weiterwußte. Auf dessen Rat hin reichte er Anfang September 1917 beim altehrwürdigen katholischen Albertus-Magnus-Verein in Köln ein Gesuch um Studienbeihilfe ein. Er schrieb, sein Vater bekleide eine Stellung als Buchhalter, und er könne von den spärlichen Geldern, die diesem bei der heute so verteuerten Lebensweise von seinem Gehalt noch zur freien Verfügung stünden, gar nichts beanspruchen. An den Patriotismus des Adressaten appellierend, wies Goebbels darauf hin, daß diese Gelder vielmehr der Unterstützung seiner beiden Brüder dienten, von denen der ältere auf dem westlichen Kriegsschauplatz weile, während der jüngere sich in französischer Gefangenschaft befinde. Wegen eines Fußleidens sei er selbst vom Militärdienst frei. Da er seine Studien fortsetzen wolle, sei er »vollständig auf die Mildtätigkeit meiner katholischen Glaubensgenossen angewiesen«[11]. Es bedurfte noch einiger Briefe und Dokumente des Bittstellers sowie der schriftlichen Versicherung des Kaplans, daß dieser von »braven, katholischen Eltern« abstamme und »wegen seines religiösen und sittlichen Verhaltens« die beste Empfehlung verdiene[12], ehe der Albertus-Magnus-Verein sich mildtätig zeigte. Anfang Oktober, gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Wintersemesters, bewilligte man Joseph Goebbels ein Darlehen in Höhe von 180 Mark. Dieser Betrag und die 780 Mark, die ihm während der folgenden fünf Semester ausgezahlt werden sollten, wären wohl nie genehmigt worden, hätte man beim Albertus-Magnus-Verein geahnt, daß erst 1930, veranlaßt durch mehrere Verfahren und Pfändungen, der spätere Gauleiter von Berlin 400 Mark in Ratenzahlung zurückerstatten würde[13].

Zurück in Bonn, schlüpfte Goebbels in jenem Spätherbst, in dem die russische Revolution wenigstens im Osten auf ein baldiges Ende des Krieges hoffen ließ, an der Seite »Pille« Kölschs wieder in die Rolle des Korporationsstudenten. Im Vereinsbericht schrieb er von »großen, fähigen Kneipen«, die sie »geschlagen« und die teilweise einen »glänzenden Verlauf« genommen hätten. Auch ist die Rede von »lustigen Fahrten ins weite, schöne, deutsche Land, die die Aktivitas fast jeden Samstag und Sonntag unternimmt«[14]. Ein Höhepunkt im Vereinsleben der Bonner Sigfriden war die Teilnahme am Stiftungsfest der Unitas in Frankfurt. Der übereifrige Goebbels reiste mit Schlägern und Wichs an und zeigte sich enttäuscht, als seine Frankfurter Bundesbrüder ihm erklärten, wegen des Ernstes der Zeit und angesichts der vielen Gefallenen aus dem Unitas-Verband wolle man diesmal auf die sonst üblichen altstudentischen Bräuche verzichten. Goebbels scheint dies jedoch nicht nachhaltig erschüttert zu haben; einem Frankfurter »Alten Herren« schrieb er am selben Abend noch ins Liederbuch: »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang.«[15]

Getreu diesem Motto verliebte sich Joseph Goebbels in Kölschs jüngere Schwester Agnes, die er bei einem Besuch im Elternhaus des Kommilitonen in Werl kennengelernt hatte. Der hagere, nicht unsympathisch wirkende Mann mit der sonoren Stimme war dort herzlich aufgenommen worden. Der großzügige Lebensstil der Familie, die Liebenswürdigkeit der Dame des Hauses, die sich darin gefiel, sich als sein »Mütterchen Nr. 2« zu betrachten[16], vor allem aber deren Tochter Agnes hatten es ihm angetan[17]. Goebbels verbrachte in der zweiten Hälfte des Wintersemesters fast mehr Zeit in Werl als an der Universität in Bonn. Dort teilte er unterdessen mit »Pille« Kölsch das Zimmer. Als dieser sich im Frühjahr 1918 entschloß, fortan in Freiburg weiterzustudieren, folgte Goebbels seinem »Ideal« in das entfernte Universitätsstädtchen am Fuße des Schwarzwaldes.

Nicht nur Agnes Kölsch, auch die Sigfriden bedauerten den Weggang der beiden zutiefst. In den Berichten der Unitas heißt es über sie: »Mit nie erlahmender Kraft hielten sie die Zügel des Vereins straff in ihren Händen, verstanden es, die Mitglieder zu immer wieder neuem Mitwirken anzufeuern und während der Zeit ihrer gemeinsamen Tätigkeit ein blühendes Vereinsleben zu entfalten.« Wie sehr doch Goebbels die studentische Frohnatur hervorgekehrt hatte, zeigt der Fortgang des Berichts: »Sie haben durch ihr geselliges Wesen und ihren sonnigen Humor viele neue Mitglieder für den Verein zu gewinnen gewußt (…). Auf der Abschiedskneipe in Römlinghoven konnte man an der großen Zahl der Erschienenen sehen, (…) wie viele Herzen sie sich in den beiden Semestern im Sturme erobert hatten (…). An dieser Stelle sei ihnen der Dank abgestattet für alles, was sie an Zeit und Arbeit für die Sache des Vereins geopfert haben, und es sei ihnen auch die Versicherung gegeben, daß die Erinnerung an sie für immer in uns wurzeln wird.«[18]

Im Mai 1918 – zur gleichen Zeit erstarrte die letzte große Offensive des kaiserlichen Heeres, die im Westen die Entscheidung bringen sollte – reiste Joseph Goebbels nach Freiburg. »Eine wunderbare Fahrt den ganzen Süden. Um 6 h Ankunft. Kölsch umarmt mich. Ich wohne mit ihm zusammen. Breisacher Straße.«[19] Er engagierte sich neben seinem Studium sogleich wieder an der Seite des Kommilitonen tatkräftig im Unitas-Verein[20]. Ihre Freundschaft sollte jedoch bald zerbrechen. Der Werler hatte sich mit der Volkswirtschafts- und Jura-Studentin Anka Stalherm angefreundet, die den Kommilitonen seiner Eloquenz und Bildung wegen bewunderte. Während der Vorlesungen des Archäologen Thiersch über Winckelmanns Leben und Werk war sie Goebbels aufgefallen, und als sie ihm von Kölsch vorgestellt wurde, war er ebenfalls begeistert. Sein Interesse galt fortan ganz der jungen Frau mit dem »ungemein schwärmerischen Mund« und dem »blondbraunen Haar, das in schweren Knoten auf diesem wunderbaren Nacken« lag[21]. Allmählich kamen sie sich näher. »Anka und ich lachen uns immer an.« Aus dem Habenichts und der Tochter aus reicher Recklinghausener Familie wurde schließlich ein Paar. »In mir ist eine Erfüllung ohne Maß und Ziel geworden.«[22]

Zwischen Kölsch und Goebbels kam es infolgedessen zu »schrecklichen Szenen«, und die enttäuschte Agnes Kölsch empörte sich aus der Ferne, sie habe ihn »leider viel zu hoch, zu edel und zu reif eingeschätzt«. Ihr »so leb denn wohl, es hat nicht sollen sein«[23] kümmerte Goebbels wenig. Die Liebe zu Anka Stalherm ließ den »armen Teufel«, wie er sich selbst bezeichnete, das Ende seiner Freundschaft mit den Kölschs, seine ewige Geldknappheit und sogar seinen Klumpfuß vergessen. Sechs Jahre später schrieb er über jenes Freiburger Sommersemester, es sei vielleicht die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Erst der nächtliche Angriff französischer Doppeldecker auf das verschlafene Universitätsstädtchen erinnerte ihn wieder daran, daß noch immer Krieg war[24].

Der kümmerte die beiden Liebenden auch nicht, als sie sich gegen Ende des Sommersemesters trennen mußten. Anka Stalherm fuhr nach Recklinghausen zu ihren Eltern, und auch Joseph Goebbels mußte, da er allein kaum hätte durchkommen können, seine Zelte in Freiburg abbrechen. Was er von dort mitnahm, als er am 4. August 1918 in Richtung Heimat aufbrach, war die aus zwei Semestern und auch im Umgang mit der wohlhabenden Anka Stalherm gewonnene Erkenntnis, daß er sich zwar als Sohn der Alma mater in einer gehobenen Gesellschaftsschicht befand, »aber ich war doch in ihr ein Paria, ein Verfemter, ein nur Geduldeter, nicht etwa weil ich weniger leistete oder weniger klug war als die anderen, sondern allein weil mir das Geld fehlte, das den anderen aus der Tasche ihrer Väter so überreichlich zufloß«[25].

Die Ungerechtigkeit, die er darin sah, inspirierte Joseph Goebbels zu einem Drama, das er noch in Freiburg konzipiert und begonnen hatte; daheim in Rheydt zog er sich in seine Kammer zurück und arbeitete daran wie ein Besessener. In täglichen langen Briefen berichtete er darüber Anka Stalherm, die ihm, wie er meinte, die Kraft dazu gab. Schon am 21. August konnte er ihr mitteilen, daß der letzte Strich an seinem Judas Iscariot, der »biblischen Tragödie«[26] getan sei. Sie sollte ihr »all das erzählen, was mein übervolles Herz in diesem Augenblick durchzieht«[27]. Auf mehr als 100 Seiten, beschrieben in kleiner, steiler Sütterlin-Schrift, las Anka Stalherm, der er das Manuskript sogleich geschickt hatte, die Geschichte des Judas, des »Außenseiters« und »Schwärmers«, der dem folgen will, von dem er glaubt, er errichte ein »neues, schier unermeßliches Reich«. Als Judas der Jünger Jesu geworden ist, muß er zu seiner Enttäuschung feststellen, daß dessen Vaters Reich nicht von dieser Erde ist: »Und da in dieser Stunde fromme Sprüche/ einem bedrängten Volk ins Ohr zu blasen/ Zu reden von dem Reich in anderen Welten,/ daß Herrlichkeit ohn’ Ende sei und Grenzen,/ Das zeichnet mir den kleinen Kopf und Geist«[28], läßt Goebbels seinen Helden über Christus sagen. Der verrät schließlich seinen Meister, um selbst, an Jesu Stelle, das Reich Gottes auf dieser Erde zu errichten. Nach der Tat offenbart sich für Judas die ganze Tragik seines Handelns, das ausschließlich der Verwirklichung einer gerechten Welt dienen sollte. »Und doch, der Himmel ist mein Zeuge, Judas / Ward nicht um des Geldes Willen zum Verräter.«[29] Judas bleibt schließlich nur, sich durch den Freitod von der Schuld zu erlösen.

Die unter dem Einfluß der Lektüre von Nietzsches Also sprach Zarathustra entstandene Schrift[30], die Joseph Goebbels’ Zweifel weniger an der Existenz Gottes als an der Prämisse widerspiegelt, daß aus dem katholischen Glauben die ersehnte Gerechtigkeit erwachsen könnte, stieß auf Widerspruch. Er kam von Kaplan Mollen, der von der Arbeit Goebbels’ erfahren und ihn deshalb zu einem Gespräch zu sich gebeten hatte. Da Goebbels ahnte, was ihn erwartete, machte er sich Mut, indem er Anka Stalherm schrieb, er wolle Mollen »den Marsch blasen«[31]