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"Jordan B. Peterson ist ein verstörender Denker. Gerade noch im Auge unserer ideologischen Stürme, schreibt er nun ein Buch über Gott. Als klinischer Psychologe erklärt er fundiert und hochphilosophisch, wie uns die archetypischen Erzählungen der Bibel heute noch helfen können, unser Sein und unsere Psyche zu verstehen. Das Buch ist mutig, es ist tiefgründig und überrascht auf jeder Seite! Ein Vergnügen für den Geist – aber nur für die, die einen haben." Dieter Nuhr, Kabarettist Jordan Peterson begibt sich auf eine Reise zu den Ur-Geschichten der Menschheit. Es sind jene Erzählungen, auf denen die produktivsten, freiesten, stabilsten und friedlichsten Gesellschaften beruhen, die die Welt je gesehen hat. Es sind die Geschichten der großen Dialoge und des Ringens zwischen Gott und Mensch. Hier wurde Vertrauen gesät, Verstehen ermöglicht, das Paradoxe des Lebens integriert und Glauben erfahren. Es ist an der Zeit, dass wir diese Narrative tiefer verstehen, wissenschaftlich und spirituell. Dass wir uns der Struktur unserer Seelen und unserer Gesellschaften bewusst werden und dass wir uns selbst und andere wieder mit neuen Augen sehen.
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Seitenzahl: 1011
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Jordan B. PetersonGott – Das Ringen mit einem, der über allem steht
www.fontis-verlag.com
Für meine kürzlich verstorbene Mutter,Beverley Ann Peterson,die – wie wir alle – mit Gott rang.(Sie tat es meist mit Freude.)
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.
Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2024 vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.
Titel der englischen Originalausgabe:We Who Wrestle with God: Perceptions of the DivineCopyright © 2024 by Jordan Peterson
© der deutschsprachigen Ausgabe2024 by Fontis-Verlag BaselAlle Rechte vorbehalten.
Die verwendeten Bibelzitate stammen, soweit nicht anders angegeben, aus:Hoffnung für alle ©1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica Inc.Hrsg.: Fontis-Verlag Basel
Übersetzung: Karoline Kuhn, Ingo PotthastRedaktion: Dr. Dominik Klenk, Jonathan BühneUmschlag: René Graf, FontisFoto Jordan Peterson: © Dominik KlenkE-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Stefan Jäger
ISBN (EPUB) 978-3-03848-475-2
Vorwortvon Markus Spieker
Zum Geleit
Aases Wonne
Das Heilige und das Profane
VorbotenDie leise, sanfte Stimme
1 Im Anfang
1.1 Gott als schöpferischer Geist
1.2 Der Geist des Menschen an oberster Stelle
1.3 Die Realität und ihre Kodierung durch unsere Geschichten
1.4 Eva aus Adam entnommen
1.5 Nach Gottes Ebenbild
2 Adam und Eva, Stolz und Selbstbewusstheit und der Sündenfall
2.1 Gottes Ebenbilder im Garten Eden
2.2 Die Auflehnung gegen die heilige moralische Ordnung
2.3 Die Unvollkommenheit von Adam und die Erschaffung von Eva
2.4 Die Ur-Sünde von Eva und Adam
2.5 Der Höllendrache, der Widersacher als Schlange
2.6 Das Leid als Frucht der Sünde
2.7 Das verlorene Paradies und das Flammenschwert
3 Kain und Abel und die Bedeutung von Verzicht und Opfer
3.1 Identität diesseits und jenseits von Arbeit und Opfer
3.2 Die verfeindeten Brüder von Gut und Böse
3.3 Die heilige Strukturierung des Politischen
3.4 Der gute Hirte als archetypischer Anführer
3.5 Das gottgefällige Opfer
3.6 Besessen vom Geist des Grolls
3.7 Demut und Glaube versus Verzweiflung und rachsüchtige Wut
3.8 Der Abgrund des Brudermordes
4 Noah: Gottes Aufruf zur Vorbereitung
4.1 Riesen auf Erden
4.2 Die Sünde und die Rückkehr des Chaos
4.3 Erlösung durch die Weisen und die Wiederherstellung der Welt
4.4 Der treulose Sohn und der Verlust der Ehrfurcht
5 Der Turmbau zu Babel: Hybris als fehlgeleiteter Ehrgeiz
5.1 Luzifer und die Konstrukteure der Selbstverherrlichung
5.2 Hochmut kommt vor dem Fall
5.3 Gemeinsamer Boden versus die Unfähigkeit, sich zu verstehen
5.4 Gott und das Heilige oder der Absturz ins Chaos
6 Abraham: Gott als lebendiger Ruf zum Abenteuer
6.1 «Geh los»
6.2 Der Teufel am Scheideweg
6.3 Der gute Weg als Angeld auf die Zukunft
6.4 Sex, Treue und das egoistische Gen
6.5 Opfer und Wandel der Identität: Abram, Sarai und Jakob
6.6 Mit den Engeln in den Abgrund
6.7 Das größte Opfer
7 Mose I: Gott als furchterregender Geist der Freiheit
7.1 Die Juden als ungebetene Gäste und als Sklaven
7.2 Der brennende Dornbusch als Enthüllung von Sein und Werden
7.3 Rückkehr in das tyrannische Königreich
7.4 Zurück in das Land der eisernen Faust
7.5 Gottes wegweisender Geist als Rettung aus Tyrannei und Chaos
7.6 Der subsidiäre Staat als Alternative zu Tyrannei und Sklaverei
7.7 Die Gebote als ausdrückliche Offenbarung der Gebräuche und Sitten
8 Mose II: Hedonismus und infantile Versuchung
8.1 Materialismus und orgiastisches Feiern
8.2 Die verzweifelte Wiederherstellung des Bundes
9 Jona und der ewige Abgrund
9.1 Jona bereut seine gute Tat
Konklusion
Anmerkungen
Über den Autor
Die Welt ist aus den Fugen.Da ist guter Rat …… billig.
Den Eindruck vermitteln jedenfalls die unzähligen Influencer, die uns täglich mit Welterklärungsangeboten bombardieren – leicht verdaulich und mehr oder weniger preiswert. Besonders hilfreich ist das alles nicht. Keiner der vermeintlichen Experten kommt nur annähernd an Niveau und Erfolg des kanadischen Bestseller-Autors Jordan Peterson heran. Seine beiden Mega-Seller «12 Rules for life» und «Jenseits der Ordnung» sprechen für sich. Ebenso beachtenswert in den vergangenen Monaten waren seine Essays «Konservatives Manifest» und «Die Essenz des Seins».
Peterson gehört zweifelsohne zu den einflussreichsten Denkern unserer Zeit. Er könnte jetzt bequem in seiner Erfolgsspur bleiben. Kluge Lebenstipps hat er ausreichend parat – einerseits aus seiner psychiatrischen Praxis, andererseits von seinen politisch-philosophischen Erkundungen. Er könnte, wie andere Autoren auch, einfach die «Greatest Hits» seiner bisherigen Erfolge immer wieder unter neuen reißerischen Überschriften recyceln. Auflagenstark wäre das allemal.
Aber dann wäre der weltläufige Kanadier eben nicht der unermüdliche Wahrheitssucher, als den ihn seine Millionen Fans verehren.
Nun legt er sein neues Magnus Opus vor. Es ist allein vom Umfang her sein bisher kolossalstes Werk. Und es ist sein radikalstes, mutigstes, doch zugleich demütigstes Buch.
Denn Peterson bleibt als Autor zwar auf der Bühne. Das Scheinwerferlicht richtet er aber auf einen anderen.
Gott.Auf wen???
Das fragen sich die Zeitgenossen, die mit dem Allmächtigen eigentlich abgeschlossen haben. Und das sind heutzutage und hierzulande die meisten.
Die Anzahl der Kirchenmitglieder sinkt in den westlichen Industrienationen rapide. In Deutschland bewegt sie sich auf die 40-Prozent-Marke zu. An die zentralen Lehrinhalte des Christentums glauben noch weit weniger Menschen, Umfragen zufolge nicht einmal ein Fünftel. Aktiv engagiert in einer Kirche und persönlich vom Glauben ergriffen sind wiederum noch viel weniger Menschen.
Die Messen scheinen gesungen: Das Christentum im Westen ist auf dem Weg von einer Glaubensgemeinschaft über eine Mitgliedervereinigung zu einem Museum oder gar einer Ruine. Der christliche Gott hat für das Gros der Gesellschaft aufgehört, eine sinnstiftende und alltagsprägende Autorität zu sein. Die Versuche der Amtskirchen, ihre Relevanz mit Yoga-Kursen, Wokeness-Seminaren und Christopher-Street-Parade-Wagen aufzupimpen, laufen ins Nichts, von dem sie langsam, aber sicher selbst verschluckt werden.
Ein Ersatz ist freilich nicht in Sicht. Trends taugen eben nicht als Lückenfüller für jahrhundertealte Traditionen. Oder, um den christlichen Romantiker Novalis zu zitieren: «Wo keine Götter sind, da walten Gespenster.» Dass Superstars wie Taylor Swift mit ihren Verlautbarungen zu moralischen Fragen der Zeit eine höhere Reichweite erzielen als der Papst, mag ihre Fans freuen. Aus kulturhistorischer Sicht ist es eine Katastrophe.
Das abendländische Fundament erodiert.Der Abgrund gähnt.Es wird dunkel.Und Jordan Peterson?
Gleich Nietzsches «tollem Mensch» zündet er eine Laterne an und ruft uns sinngemäß zu: «Gott ist NICHT tot. ER ist und bleibt der Standard, an dem wir unsere Werte bilden und messen lassen.»
Dem Spuk der postreligiösen Gespenstershow setzt Peterson die Haltung des Glaubens entgegen. Auch wenn er sich mit persönlichen Bekenntnissen zurückhält, macht er unmissverständlich deutlich: Gott ist für ihn kein philosophisches Prinzip oder eine universalistische Chiffre, sondern der Gott der Bibel. Den wir dringender brauchen denn je.
Damit tritt Peterson für nichts Geringeres ein als eine geistige 180-Grad-Wende. Er stellt die intellektuellen Verhältnisse vom Kopf zurück auf die Füße: von modischen Hirngespinsten auf die Basis der biblischen Offenbarung. So bietet sein Buch das, was auch die beste IMAX-Projektionstechnik und die wattstärksten Stadionlautsprecher nicht hervorrufen können:
Größe.
Das Buch atmet die Allmacht einer höchsten Instanz und gibt aktuellen Streitfragen somit die richtigen Proportionen. Petersons «Bibelkritik» läuft allen wissenschaftlichen Standards zuwider. Bei ihm sind es nicht wir, die die heiligen Texte kritisieren, analysieren, dekonstruieren. Sondern umgekehrt. Peterson lässt die Texte uns kritisieren: Gott der Ansager, wir die Adressaten.
Wer anbiedernd-apologetische Einführungen erwartet, wird schon auf den ersten Seiten enttäuscht. Der Gott, mit dem der Autor ringt, ist nicht begründungspflichtig und beifallheischend. Seine Existenz ist für den Menschen- und Naturkenner Peterson selbstevident. Ebenso verzichtet er darauf, den Offenbarungsgehalt der biblischen Schriften zu erläutern. Das erübrigt sich für ihn angesichts der historischen Bilanz. Die biblischen Bücher sind über viele Jahrhunderte hinweg gewogen und für gewichtig befunden worden. Ihre Substanz ist der Boden, auf dem Humanismus und Aufklärung entstanden sind, nicht umgekehrt.
Aber keine Angst: Dies ist kein theologisch-abstraktes Werk, schon gar kein frömmelnd-engstirniges. Peterson schreibt aus dem prallen Leben, nicht zuletzt seinem eigenen. Er gibt Anekdoten zum Besten, schildert persönliche Herausforderungen, lässt seine Lieblingsdenker wie Kierkegaard, Dostojewski und Nietzsche zu Wort kommen, gibt Superman und Batman Gastauftritte. Aber eben als Statisten. Denn die Protagonisten sind andere: die irrlichternden Heroen der großen Bibelerzählung: etwa der verführte Adam, der mordende Kain, der weise Noah, der nomadisierende Abraham, der revoltierende Mose, der unwillige Jona.
Letzterem fällt dabei eine besondere Rolle zu. Es scheint, als wären Jona, der Wal-Verschluckte, und Jordan Peterson in gewisser Weise seelenverwandt. Jona bleibt nichts anderes übrig, als seine Bequemlichkeitswünsche und Ablehnungsängste hintanzustellen. Er ist dazu berufen, dem Unrechtsregime der Assyrer die Wahrheit zu bezeugen. Eine hochriskante Initiative, die gegen alle Wahrscheinlichkeit zum durchschlagenden Erfolg wird. Ähnlich versteht Jordan Peterson, so kann man mutmaßen, seine eigene Mission: «Truth to power» zu sprechen – die Mächte der Welt mit dem zeitlos Gültigen zu konfrontieren.
Wer nun aufspringen und Peterson mit erhobenem Zeigefinger als «falschen Propheten» deklarieren will, der bleibe noch einen Moment sitzen. «Falsche Propheten» erkennt man nach Definition des Schweizer Kulturwissenschaftlers Walter Muschg daran, dass sie die Verachtung der Welt nicht aushalten. Diesem Vorwurf setzt sich Jordan Peterson mit seinem Buch keinesfalls aus. Er traut sich was und uns viel zu: eine mehr als 600 Seiten lange Reflexion über das Menschsein und die Fragen, auf die ChatGPT keine Antworten hat: Wie, woher, wozu können und sollen wir leben?
Wer sich auf den Parforceritt durch Bibel und Geistesgeschichte einlässt, findet nicht zuletzt ein spannendes Identitätsangebot: der Mensch – nicht eine unbeseelte Molekülansammlung, sondern ein zur Freiheit herausgefordertes Geschöpf.
Der Weg der Freiheit ist kein leichter und die Begegnung mit Gott nicht konfliktfrei. Peterson verniedlicht den Glauben nicht zum Wellnessprogramm. Unsere Ansprüche, die Anforderungen unserer Umwelt und die Vorgaben Gottes kollidieren miteinander. Kurskorrekturen sind notwendig, narzisstische Kränkungen unvermeidlich, Opfer erforderlich.
Peterson hilft, die vom zeitgenössischen materialistischen Nihilismus leer gepumpten Seelen neu zu füllen – mit erfahrungsgestütztem Wissen um das wirklich Wichtige.
Damit genug der Vorrede.Auf in den Kampf.
Dr. Markus Spieker ist Fernsehjournalist und arbeitet als Chefreporter in Leipzig. Als Buchautor schrieb er unter anderem die Bestseller «Jesus. Eine Weltgeschichte» und «Jäger des verlorenen Verstandes. Eine Weisheitsschule».
Nein, ich werd’ nicht, Aases Wonne, Verzweiflung, mich laben an dir,
nicht entwirren – und seien sie auch schon lose – in dem Mann
die Fäden oder, ganz ermattet, schreien «Ich kann nicht mehr». Ich kann.
Kann etwas, hoffen, wünschen, es komme Tag, will nicht das Leben nehmen mir.
Doch ach und weh, du Schrecklicher, warum willst roh du auf mir wiegen
deinen weltwürgenden rechten Fuß? Eine Löwenpranke gegen mich recken?
Mit deinen verschlingenden schwarzen Augen mein gebrochenes Gebein belecken?
und oh! mit stürmischen Böen entfachen meinen Elendshaufen? Mich, der eilt, dir zu entfliegen?
Warum? Daß meine Spreu soll fliegen, meine Samen liegen, klar und rein.
Nein, in all dem Schinden und Sich-Winden, seit ich (scheint’s) geküsst, den er geschwungen,
den Ziemer, noch mehr die Hand, sieh, mein Herz, es leckte Kraft, stahl Freude, möchte lachen, Jubel schrein.
Jubeln? Doch wem? Dem Helden, der den Himmel haltend mit Tritten mich bezwungen?
Oder mir, der mit ihm focht? Wem von beiden? Jedem? Diese Nacht, dieses Jahr in Pein,
in dieser Finsternis, lag ich am Boden und habe (mein Gott!) mit meinem Gott gerungen.1
Gerald Manley Hopkins (1885)
Die Geschichte der höchsten Wesen, deren Struktur himmlisch ist, ist von größter Bedeutung für das Verständnis der religiösen Geschichte der gesamten Menschheit. Wir können nicht einmal in Erwägung ziehen, diese Geschichte hier auf ein paar Seiten festzuhalten. Aber wir müssen zumindest auf eine Tatsache hinweisen, die uns wichtig erscheint: Himmlisch strukturierte höchste Wesen neigen dazu, aus der Religionsausübung, aus dem Kult zu verschwinden; sie ziehen sich aus der Mitte der Menschen zurück, ziehen sich in den Himmel zurück und werden zu entfernten, untätigen Göttern (dei otiosi). Kurz gesagt kann man von diesen Göttern behaupten, dass sie nach der Erschaffung des Kosmos, des Lebens und des Menschen eine Art Müdigkeit verspüren, als ob die immense Unternehmung der Schöpfung ihre Ressourcen aufgebraucht hätte. Also ziehen sie sich in den Himmel zurück.
Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane (1959)2
Wir beginnen unsere Reise, unser Ringen mit Gott, mit einer ganz besonderen Geschichte. Es ist eine, die in der für die biblischen Erzählungen typischen dramatischen Form eine bemerkenswert gewichtige Idee präsentiert – eine Idee, die uns helfen kann zu verstehen, warum wir diese zunehmend in Vergessenheit geratenen alten Geschichten erforschen, kennenlernen und verstehen sollten. Es ist die Geschichte des Propheten Elia, auch bekannt als Elias, und sie bietet eine der grundlegendsten Charakterisierungen oder Definitionen Gottes.
Der Prophet lebte zur Zeit von König Ahab und seiner Frau Isebel im 9. Jahrhundert v. Chr. Obwohl seine Geschichte nur kurz ist, ist Elia unter den Propheten aus zwei Gründen bemerkenswert: seine seltsame Art, die Erde zu verlassen, und sein sehr viel späteres Erscheinen an der Seite von Mose und Jesus von Nazareth auf dem Berg Tabor während der Verklärung, bei der Jesus seinen Nachfolgern seine göttliche Identität offenbarte (Matthäus 17,1–9; Markus 9,2–8 und Lukas 9,28–37). Der Begriff Verklärung wurde von den lateinischen Übersetzern des griechischen Originaltextes verwendet, die dieses Ereignis mit dem Wort metamorphoō bezeichneten, das die Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling beschreibt. Der Mensch wächst und entwickelt sich, wenn er reift – vorausgesetzt, er reift – auf eine fast ebenso radikale Weise wie das geflügelte Insekt. Wie der Apostel Paulus in 1. Korinther 13,11 feststellt: «Als Kind redete, dachte und urteilte ich wie ein Kind. Doch als Erwachsener habe ich das kindliche Wesen abgelegt.» Es ist also alles andere als unwichtig, dass das griechische Wort psyche (ψυχή) – die Wurzel, von der unser Wort Psychologie abgeleitet ist; der wesentliche Begriff für den menschlichen Geist oder die Seele – wörtlich Schmetterling bedeutet.
So tiefgreifend die Verbindung zwischen Seele und Schmetterling auch ist, sie ist nicht der einzige Grund für diesen Vergleich. Schmetterlinge sind auch zu erstaunlichen navigatorischen Leistungen fähig. Angesichts ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer vermutlich begrenzten Intelligenz ist das fast schon ein Wunder. In dieser Navigationsfähigkeit – und vielleicht auch in der Kürze ihrer Lebensspanne und den damit verbundenen Einschränkungen – ähneln sie den Menschen, die sich von ihrem afrikanischen Ursprungsort bis in jeden noch so fernen und unwirtlichen Winkel der Erde verbreitet haben. Die Insekten mit den hauchdünnen Flügeln sind zudem auch wunderschön, außergewöhnlich symmetrisch und bemerkenswert in ihrer Fähigkeit, diese Schönheit und Symmetrie selbst wahrzunehmen und ihre Partner entsprechend auszuwählen. Abweichungen von beiden Merkmalen können sie mit erstaunlicher Genauigkeit erkennen. Dies offenbart eine hohe Urteilsfähigkeit in Bezug auf das Ideal: Eine weitere Fähigkeit, die das perfekt gestaltete Insekt mit dem Menschen teilt. Warum ist das alles für unsere Auseinandersetzung mit dem Propheten Elia und das Verständnis seines Lebens wichtig? Weil seine Art zu sterben und sein späteres Erscheinen in der Gegenwart des verklärten Christus repräsentativ – oder symbolisch – für die Fähigkeit der Psyche zur qualitativen und revolutionären Verwandlung stehen.
In 2. Könige 2,2 erfahren wir, dass Elia noch zu Lebzeiten leibhaftig in den Himmel aufgenommen wird, ein Privileg, das im Alten Testament nur ihm und dem Propheten Henoch zuteilwird (5. Mose 5,24). Natürlich besagt die christliche Überlieferung, dass Jesus in ähnlicher Weise zum Himmel auffährt (Lukas 24,50–53; Apostelgeschichte 1,9–11). Ein Großteil der Christenheit akzeptiert auch die Lehre der Himmelfahrt Marias, der Aufnahme ihres Leibes und ihrer Seele in den Himmel, aber nicht noch weitere solcher Phänomene. Der Aufstieg in das göttliche Reich wird nur jemandem zuteil, der in der Tat sehr bemerkenswert ist. Vor Elias Himmelfahrt befindet er sich in Gesellschaft von Elisa, seinem Schüler und Nachfolger. Sie sind auf dem Weg von Gilgal nach Bethel, beides Orte von großer biblischer Bedeutung. Gilgal ist zum Beispiel der Ort, an dem die Israeliten Gott ein Denkmal setzten, um die sichere Überquerung des Jordans in das Gelobte Land zu feiern (Josua 4,19–24).
Bethel wiederum bedeutet «Haus Gottes». Es taucht zum ersten Mal in 1. Mose 28,10–22 als der Ort auf, an dem Jakob von einer bis in den Himmel reichenden Leiter träumt, auf der Engel – Vermittler zwischen Gott und den Menschen – hinauf- und hinabsteigen. In diesem Traum bestätigt Gott Jakob den Bund, den er mit Abraham und Isaak geschlossen hatte, und verspricht ihm zahlreiche Nachkommen, Land und Schutz. Jede Geschichte, in der die Helden von einem bedeutsamen Ort zu einem anderen, gleichwertigen oder noch bedeutenderen Ort ziehen, ist auch ein Bericht über die übergeordnete Idee der «bedeutsamen Reise» selbst – die Beschreibung eines Lebensweges, der auf die abenteuerlichste und sinnvollste Weise verwirklicht wird. Dazu passt, dass Elia sein letztes und größtes Abenteuer in oder in der Nähe von Bethel erlebt, dem Ort der Vision mit der Jakobsleiter. Elisa ist bei ihm:
Am anderen Ufer sagte Elia zu Elisa: «Ich möchte noch etwas für dich tun, bevor ich von dir genommen werde. Hast du einen Wunsch?» Da antwortete Elisa: «Ich möchte als dein Schüler und Nachfolger doppelt so viel von deinem Geist bekommen wie die anderen Propheten!» Elia wandte ein: «Das liegt nicht in meiner Macht. Aber wenn du siehst, wie ich von hier weggeholt werde, dann wirst du erhalten, worum du gebeten hast. Wenn nicht, dann geht auch dein Wunsch nicht in Erfüllung.» Während die beiden so in ihr Gespräch vertieft weitergingen, erschien plötzlich ein Wagen aus Feuer, gezogen von Pferden aus Feuer, und trennte die Männer voneinander. Und dann wurde Elia in einem Wirbelsturm zum Himmel hinaufgetragen. Elisa sah es und schrie: «Mein Vater, mein Vater! Du Beschützer und Führer Israels!» Doch schon war alles vorbei. Aufgewühlt packte Elisa sein Gewand und riss es entzwei. (2. Könige 2,9–12)
Hier wird Elia in das Reich Gottes entlassen, so wie der große Schönheitssucher und Navigator der Insektenwelt nach seiner Metamorphose in den Himmel aufsteigt. Dieser Aufstieg des Propheten in die göttliche Sphäre bereitet die Bühne für sein späteres Wiedererscheinen mit Jesus auf dem Berg Tabor:
Sechs Tage später nahm Jesus Petrus, Jakobus und dessen Bruder Johannes mit auf einen hohen Berg. Sie waren dort ganz allein. Da wurde Jesus vor ihren Augen verwandelt: Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider strahlten hell. Dann erschienen plötzlich Mose und Elia und redeten mit Jesus. Petrus rief: «Herr, wie gut, dass wir hier sind! Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elia.» Noch während er redete, hüllte sie eine leuchtende Wolke ein, und aus der Wolke hörten sie eine Stimme: «Dies ist mein geliebter Sohn, über den ich mich von Herzen freue. Auf ihn sollt ihr hören.» Bei diesen Worten erschraken die Jünger zutiefst und warfen sich zu Boden. (Matthäus 17,1–6)
Eine ähnlich ehrfurchtgebietende Verwandlung findet sich in den Berichten über Mose: «Als Mose mit den beiden Tafeln in der Hand vom Berg Sinai herabstieg, lag ein Glanz auf seinem Gesicht, weil er mit Gott gesprochen hatte; Mose selbst merkte nichts davon. Aaron und die anderen Israeliten aber sahen sein leuchtendes Gesicht und fürchteten sich, in seine Nähe zu kommen» (2. Mose 34,29–30). Dieses Leuchten kennzeichnet das Zusammentreffen des ultimativ Höchsten mit dem, was normalerweise nur menschlich ist – ein Hinweis auf den Abstieg des Göttlichen hinab in das Profane oder den Aufstieg des Profanen nach oben.
Daher ist es symbolisch gesehen absolut logisch, dass solche Wesensveränderungen oder Transmutationen der Psyche auf Berggipfeln stattfinden. Der Gipfel des heiligen Berges ist der mythische Ort, an dem sich Himmel und Erde berühren, wo das rein Materielle auf das Transzendente und Göttliche trifft. Außerdem kann man das ganze Leben als eine Reihe von Bergbesteigungen betrachten. Für Pessimisten gleicht das dem schrecklichen Schicksal von Sisyphos, der dazu verdammt ist, einen Stein einen Berg hochzurollen, nur um ihn dann wieder hinunterrollen zu sehen, ein sich endlos wiederholender Prozess. Ein optimistischerer Betrachter des Lebens könnte stattdessen die immer neuen Möglichkeiten zur persönlichen Veränderung sehen. Wenn wir einen neuen Berg erklommen und den Gipfel – das heißt unser Ziel – erreicht haben, haben wir etwas erfolgreich zu Ende gebracht, haben eine Vision erfüllt und sind mehr geworden, als wir davor waren. Wenn wir den Gipfel erreicht haben, zumindest den unseres aktuellen Aufstiegs, können wir auch alles vor uns Liegende sehen, einschließlich der nächsten Herausforderung, der nächsten Möglichkeit zu spielen, zu reifen und zu wachsen, der nächsten Aufforderung zu transformatorischen Opfern. Die ständige Aufwärtsbewegung, die durch eine Reihe von Bergbesteigungen dargestellt wird, jede mit ihrer Gipfelerfahrung, ist eine Variante der Aufstiegsbewegung, die durch die Jakobsleiter dargestellt wird, der spiralförmige Weg in den Himmel zum Reich Gottes, mit Gott selbst, der auf dem höchsten Punkt wartet, dem Scheitelpunkt des höchsten denkbaren Berges.
Die Geschichte von Elia geht weit über die bemerkenswerte Art und Weise seines Ablebens in Gottes Königreich und seine endgültige Verwandlung hinaus. Der große Prophet lebte in der Zeit der geteilten Königreiche Israel und Juda. Zu dieser Zeit stand das Volk Israel unter der Herrschaft von König Ahab, der es dazu brachte, andere Götter als Jahwe – die tradierte Gottheit Abrahams, Isaaks und des auserwählten Volkes – anzubeten. Diese Zielverfehlung war eine direkte Folge von Ahabs Heirat mit Isebel, einer reichen, privilegierten Prinzessin aus Phönizien, die ihre falschen Götter mitbrachte. Baal, der Gott ihrer Wahl, war eine phönizisch-kanaanäische Naturgottheit, verantwortlich für Fruchtbarkeit, Regen, Donner, Blitz und Tau. Ahabs neue Frau, die äußerst direkt war, tötete die meisten Propheten Jahwes in ihrem Bestreben, die Vorherrschaft Baals durchzusetzen. Es heißt, dass Isebels Mann völlig unter ihrem Einfluss stand. «Mit allem, was er tat, schürte er den Zorn des HERRN, des Gottes Israels, so sehr wie kein anderer israelitischer König vor ihm» (1. Könige 16,33). Elia warnte den König wegen seiner Schwäche und seines Götzendienstes und sagte ihm, dass eine jahrelange Dürre die Folge seiner fehlgeleiteten Herrschaft sein würde, so schlimm, dass sogar der Tau ausbleiben würde.
Da Baal der Gott war, der direkt für den lebensspendenden Regen zuständig war, untergrub die von Elia vorhergesagte Dürre eindeutig die Autorität des Gottes (Götzen?) und seiner Priester sowie das Vertrauen des Volkes in Ahab und Isebel. Das literarische Motiv des «ausgedörrten Königreichs», das in diesem Erzählfragment verwendet wird, ist ein bekanntes Symbol. Es zeigt sich zum Beispiel in dem Disney-Zeichentrick-Meisterwerk Der König der Löwen. Als Scar, der böse Bruder des rechtmäßigen Königs Mufasa, den wahren König absetzt, verbannt er dessen Sohn Simba an den Rand des Königreichs. Das hat zur Folge, dass der Regen ausbleibt und die Tiere verschwinden, die die Löwen jagen und von denen sie abhängig sind. Als Simba den Thron zurückerobert, kehrt der Regen zurück. Auch das Märchen Das Wasser des Lebens von den Gebrüdern Grimm greift dieses Thema in Form des Abenteuers eines jüngeren Bruders auf, der seinem sterbenden Vater das Wasser bringen soll, das ihn wiederbeleben wird. Etwas Ähnliches wird im 2. Buch Mose (Exodus) mit seinem Kontrast zwischen der steinernen Starrheit des unnachgiebigen Pharaos und der dynamischen Beherrschung des Wassers durch Mose angedeutet. Wenn das falsche Prinzip die Oberhand gewinnt – wenn ein falscher König auf dem Thron sitzt oder ein gottloses Ethos vorherrscht –, wird dem Volk schnell das Wasser des Lebens entzogen. Ein Königreich, das sich am falschen Pol orientiert, sozusagen die falschen Götter anbetet, leidet auf einer tieferen Ebene psychisch und spirituell.
Nachdem Elia die Dürre angekündigt und sich in die Wüste zurückgezogen hat, wo er zunächst von Raben gefüttert wird und aus einem Bach trinkt, versiegen die Vorräte des Propheten. Gott schickt Elia daraufhin zu einer Witwe in der Stadt Sarepta. Er findet sie an einem Brunnen und bittet sie um Wasser und Brot. «Da blieb die Frau stehen und sagte: ‹Ich habe keinen Krümel Brot mehr, sondern nur noch eine Handvoll Mehl im Topf und ein paar Tropfen Öl im Krug. Das schwöre ich bei dem HERRN, deinem Gott. Gerade habe ich einige Holzscheite gesammelt. Ich will nun nach Hause gehen und die letzte Mahlzeit für mich und meinen Sohn zubereiten. Danach werden wir wohl verhungern›» (1. Könige 17,12).
Elia beruhigt sie und erklärt, dass Gott keine Entbehrung in ihrem Haus zulassen wird: «Denn der HERR, der Gott Israels, verspricht dir: Das Mehl in deinem Topf soll nicht ausgehen und das Öl in deinem Krug nicht weniger werden, bis ich, der HERR, es wieder regnen lasse» (1. Könige 17,14).
Es mag seltsam erscheinen, dass ein Abgesandter Gottes es für nötig hält, sich um Nahrung an eine verarmte Witwe zu wenden. Aber die biblischen Berichte sind immer hintergründig und mehrdeutig. Die Geschichte von Elia unterstreicht erstens die Bedeutung der Geringsten (in diesem Fall der Witwe), zweitens die Notwendigkeit moralischer Orientierung selbst unter entbehrungsreichen Bedingungen (die Bereitschaft der Witwe, Gastfreundschaft zu gewähren – eine Verpflichtung, die in diesem Buch immer wieder auftauchen wird) und drittens die absolute Abhängigkeit eines erfüllten Seins von der richtigen moralischen Orientierung aller- unabhängig von ihrem Status. Der ungebührliche und manipulative Einfluss, den Isebel, die Frau des Königs, auf ihren schwachen und ungläubigen Mann ausübt, bedroht die Integrität des Staates selbst. Zum Teil steht sie für die oft gefährliche Anziehungskraft fremder Ideen und Bräuche, die unter dem Deckmantel des Kreativen, Raffinierten und Neuen in eine Gesellschaft eindringen und sie durchdringen können. Bevor der Einwand kommt: «Die Autoren der biblischen Geschichten waren unentschuldbar voreingenommen, ja sogar fremdenfeindlich», ist es angebracht, sich alttestamentliche Figuren wie Moses Schwiegervater Jethro, der im 2. Buch Mose eine wichtige Rolle spielt (siehe insbesondere 18,17–23), Rahab, eine mutige und glaubensstarke Prostituierte aus Jericho (Josua 2), und Naaman (2. Könige 5), dessen Demut und Glaube seine Heilung durch Elisa ermöglichte, vor Augen zu halten. Das sind alles Menschen, die trotz oder gerade wegen ihrer Fremdheit die Situation mit ungetrübtem Blick wahrnehmen, sich moralisch verhalten und deshalb eine korrigierende Rolle spielen, wenn die Israeliten sich selbst korrumpieren. Manchmal schmarotzt und vergiftet das Neue, manchmal stellt es wieder her und erneuert. Weisheit ist nicht zuletzt die Fähigkeit, in solchen Fällen zwischen Hilfe und Schädlichkeit zu unterscheiden.
Die arme, aber gütige Frau, die ihren Mann verloren hat, wird auf subtile Weise als das wünschenswerte Gegenteil der arroganten und gefährlichen Königin Isebel dargestellt. Warum? Die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte war Witwenschaft ein schlimmer Zustand, insbesondere, wenn die betroffenen Frauen kleine Kinder hatten. In der Bibel wird die Figur der Witwe daher oft als Sinnbild für Verletzlichkeit, Machtlosigkeit und ein Leben am Rande der Gesellschaft (und der Ökonomie) verwendet. Ihre schwierige Lage könnte man durchaus als eine allgegenwärtige Form kosmischer Ungerechtigkeit betrachten. Aus diesem Grund und zur moralischen Erbauung seines Volkes ruft der Geist Gottes die Israeliten dazu auf, diese Ungerechtigkeit auszugleichen – den Versuchungen der Selbstbezogenheit und der Gier zu widerstehen und den Besitzlosen zu helfen:
Wenn ihr in eurem Land die Getreideernte einbringt, dann sollt ihr eure Felder nicht ganz bis an den Rand abmähen und keine Nachlese halten. Auch in euren Weinbergen soll es keine Nachlese geben. Sammelt die Trauben am Boden nicht ein, sondern überlasst sie den Armen und Fremden! Ich bin der HERR, euer Gott. (3. Mose 19,9–10)
Dieses Prinzip wird im Buch Deuteronomium (5. Buch Mose) mit einem zusätzlichen Punkt erläutert: Jeder Einzelne ist irgendwann im Leben auf andere angewiesen; deshalb sind eine gesunde Psyche und eine gesunde Gesellschaft so angelegt, dass diese unvermeidliche Abhängigkeit auf die nötige Fürsorge und Anteilnahme trifft. Es macht keinen Sinn, eine Gesellschaft zu gründen, die sich nicht um die Menschen kümmert, die sie ausmachen, und zwar in jeder Phase ihrer Entwicklung, von den Schwachen bis zu den Fähigen, Produktiven und Großzügigen.
Auch bei eurer Traubenernte haltet keine Nachlese! Überlasst sie den Ausländern, Waisen und Witwen. Vergesst nicht, dass ihr einmal Sklaven in Ägypten wart. Darum haltet euch an diese Gebote! (5. Mose 24,21–22)
Die Witwe, die trotz ihrer Armut großzügig ist, verkörpert das Muster der Aufopferung für andere und der gegenseitigen Hilfe, das einen reifen, zuverlässigen Menschen und einen friedlichen und produktiven Staat gleichermaßen kennzeichnet. Sie steht in krassem Kontrast zur privilegierten Königin, deren Selbstüberhöhung die Gemeinschaft und symbolisch auch die Psyche bedroht.
Im weiteren Verlauf der Geschichte von Elia wird der Gedanke, dass die psychologische und soziale Wertehierarchie sich unter dem richtigen Herrscher – oder abstrakter ausgedrückt, dem richtigen Prinzip – organisieren muss, immer deutlicher. Der Prophet verlässt Sarepta und bereitet das vor, was man umgangssprachlich als «Showdown am Berg Karmel» bezeichnen könnte. Er überredet Obadja, das Oberhaupt von Ahabs Palast, alle Propheten Baals sowie das Volk Israel am Fuße des Berges zu versammeln. Zwei Opferaltäre werden vorbereitet: einer für Baal unter der Aufsicht seiner Propheten, der andere für Jahwe, unter der Obhut Elias. Beide Götter werden angerufen, um das Altarfeuer zu entzünden, das das Opfer verzehren soll. Baals Propheten beten stundenlang vergeblich. Elia tränkt seinen Altar dreimal mit Wasser (um seinen Punkt ganz deutlich zu machen) und bittet dann Jahwe um sein Eingreifen. Sofort fällt Feuer vom Himmel und verbrennt das Opfer und sogar den Altar selbst. Damit ist Jahwes Vormachtstellung besiegelt. Die Propheten Baals werden hingerichtet und sofort beginnt es zu regnen. Ohne wahre moralische Ordnung kann es keinen Wohlstand geben. Unter der Führung des richtigen Geistes kann Entbehrung zu einer fernen Erinnerung werden.
Isebel ist darüber nicht erfreut und richtet ihren Zorn gegen Elia. Der unglückliche Prophet flieht deshalb tief in die Wüste. Er sucht Schutz in einer Höhle, wo Gott zu ihm spricht (1. Könige 19). Das Empfangen einer Offenbarung an einem einsamen Ort ist ebenfalls ein gängiges Erzählmotiv. Die Wahrnehmung von inneren Stimmen und fantasievollen Erfahrungen wird in der Abgeschiedenheit, Dunkelheit und Stille wahrscheinlicher, wo die äußeren Sinnesreize drastisch reduziert sind. Das erhöht die Häufigkeit von Offenbarungserfahrungen – im Guten wie im Schlechten. Auf einer tieferen Ebene könnte dies daran liegen, dass die neurologischen Systeme der rechten Hemisphäre, die (zumindest bei Rechtshändern) eher mit unbewusstem und implizitem Denken und Handeln verbunden sind, die Kontrolle über verbale und imaginäre Erfahrungen übernehmen können, wenn sie nicht durch die normaleren Bedingungen sozialer Interaktion und sensorischer Reize übertönt oder anderweitig unterdrückt werden.3
Elia ist aufs Äußerste frustriert und hoffnungslos, weil er glaubt, dass seine Versuche, treu zu bleiben, nichts als Unglück gebracht haben. Er sagt: «Ach, HERR, du allmächtiger Gott, mit welchem Eifer habe ich versucht, die Israeliten zu dir zurückzubringen! Denn sie haben den Bund mit dir gebrochen, deine Altäre niedergerissen und deine Propheten ermordet. Nur ich bin übrig geblieben, ich allein. Und nun trachten sie auch mir nach dem Leben!» (1. Könige 19,10). Gott spricht zu ihm: «Da antwortete ihm der HERR: ‹Komm aus deiner Höhle heraus und tritt vor mich hin! Denn ich will an dir vorübergehen.› Auf einmal zog ein heftiger Sturm auf, riss ganze Felsbrocken aus den Bergen heraus und zerschmetterte sie. Doch der HERR war nicht in dem Sturm. Als Nächstes bebte die Erde, aber auch im Erdbeben war der HERR nicht. Dann kam ein Feuer, doch der HERR war nicht darin. Danach hörte Elia ein leises Säuseln» (1. Könige 19,11–12). Es gibt viele berühmte Redewendungen und Ausdrücke in der Bibel und «ein leises Säuseln» oder «eine leise, sanfte Stimme» gehören dazu. In diesem Moment begreift Elia – und durch ihn die Menschheit –, dass Gott nicht im Wind ist, egal wie heftig er weht, und auch nicht im Erdbeben, egal wie stark es ist, sondern dass er etwas Innerliches ist. Er ist die Stimme des Gewissens selbst, der innere Wegweiser für das, was richtig und falsch ist, der autonome Geist, der in jeder Seele wohnt und uns vor uns selbst beschämt, uns auf unsere Fehler und Sünden aufmerksam macht und den Impuls zu Reue, Entschuldigung und Wiedergutmachung gibt.
Das ist eine Entdeckung von unvergleichlicher Wichtigkeit: die Möglichkeit, eine Beziehung zu Gott aufzubauen, indem man auf sein Gewissen achtet. Gott gewährt Mann und Frau einen freien Willen, obwohl er die Treue seiner Geschöpfe will und sie auch leiten möchte. Wie kann er es am besten schaffen, diese konkurrierenden Wünsche miteinander zu vereinbaren? Nicht durch Befehle, Gewalt oder Angst, sondern durch eine Stimme, ein Bild oder sogar ein Gefühl, das leise und sanft anregt oder beschämt und überführt (auch wenn es seine Intensität bei Bedarf steigern kann). Diese Identifizierung des Gewissens mit Gott wird zumindest in bestimmten Strömungen des christlichen Denkens deutlich. Der britische Theologe Kardinal Newman aus dem 19. Jahrhundert zum Beispiel betonte genau das in vielen seiner Schriften:
Das göttliche Gesetz ist also die Regel der ethischen Wahrheit, der Maßstab für Recht und Unrecht, eine souveräne, unumkehrbare, absolute Autorität vor den Menschen und Engeln. «Das ewige Gesetz», sagt der heilige Augustinus, «ist die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der die Einhaltung der natürlichen Ordnung der Dinge gebietet und deren Störung verbietet.» «Das Naturgesetz», sagt der heilige Thomas, «ist ein Abglanz des göttlichen Lichts in uns, eine Teilhabe am ewigen Gesetz in der vernunftbegabten Kreatur.» Dieses Gesetz, das in den Köpfen aller Menschen verankert ist, wird «Gewissen» genannt. Auch wenn es beim Übergang in das intellektuelle Medium eines jeden Menschen gebrochen wird, verliert es dadurch nicht seinen Charakter als göttliches Gesetz, sondern hat als solches immer noch das Vorrecht, Gehorsam zu gebieten.4
Dieses Argument kann durchaus als stärker und berechtigter angesehen werden als das heute viel häufiger verwendete Argument des intelligenten Designs – das Beharren darauf, dass die Komplexität der Natur zwangsläufig auf einen aktiven Schöpfer hinweist. In 1. und 2. Könige wird der Grundstein für eine eher psychologische und relationale Definition der höchsten Gottheit gelegt, die Gott von dem heidnischen Theater der natürlichen Welt loslöst (so ehrfurchtgebietend die Natur auch sein mag) und ihn – wunderbar und furchtbar zugleich – in uns alle hineinlegt. Es ist Elias Erkenntnis, die die Bühne für die Erzählung von Jona bereitet – die geheimnisvolle Geschichte des Propheten, der den Ruf der leisen Stimme erst ablehnt und ihm dann doch gehorcht und dessen Taten den Abschluss dieses Bandes bilden. Die grundlegende und revolutionäre Bedeutung von Elias Beitrag wird durch das Wunder seiner Entrückung in den Himmel verdeutlicht. Dieses Ereignis, das die Auferstehung Christi (und figurativ auch die Auferstehung Jonas) antizipiert, zeigt Elias unvergleichliche Bedeutung als Prophet. Die biblischen Texte und ihre Charakterisierung Gottes können nicht verstanden werden, wenn man Elias Wichtigkeit und die entscheidende Bedeutung seiner transformativen und revolutionären Erkenntnis nicht würdigt. Nach der Begegnung mit der Geschichte von Elia nehmen wir die Natur des Seins – unser eigenes und das des Göttlichen – anders, klarer, direkter und persönlicher wahr. Unsere Augen werden geöffnet und wir können auf eine neue Weise sehen.
Warum eine derartige Geschichte als Grundlage für den Akt der Wahrnehmung selbst? Oder für die Transformation des Wahrnehmungsaktes? Weil die Welt durch den Mechanismus der Geschichte gefiltert werden muss, um verständlich zu werden; weil die Welt schlicht zu kompliziert ist, um sich ohne Zielvorgabe und Rollenvorbilder (die die Geschichte selbst ausmachen) in ihr zurechtzufinden. Eine unendliche Fülle von Fakten steht uns ständig zur Verfügung: vielleicht ein Fakt pro Phänomen und mehr – nicht nur für jedes Phänomen, sondern für alle möglichen Kombinationen davon. Das sind einfach zu viele Fakten. Dasselbe Problem stellt sich bei den Folgen: Jede Handlung, jede mögliche Ursache führt zu einer exponentiellen Verzweigung von Wirkungen – viel zu viele, um sie zu bedenken, zu berücksichtigen und in Betracht zu ziehen. Das ist ein unlösbares Problem, das der Philosoph Daniel C. Dennett als «ein neues, tiefes erkenntnistheoretisches Problem» bezeichnet hat.5
Es gibt eine fast unendliche Anzahl von Möglichkeiten, eine endliche Anzahl von Objekten zu kategorisieren und damit wahrzunehmen. Wir können nicht alles, was immer und überall um uns herum geschieht, mit gleicher Hingabe wahrnehmen. Stattdessen priorisieren wir mit jedem Blick die Fakten. Dabei beachten wir nur sehr wenig und ignorieren vieles. Wir tun das, um unser Ziel zu erreichen. Wir tun es, um das zu bekommen, was wir brauchen und wollen – aber was ist das? Es könnte einfach die Torheit unserer momentanen Laune sein, wenn wir infantil geblieben sind und auf die sofortige Befriedigung unserer Wünsche aus sind. Es könnte unser Wunsch sein, Macht zu erlangen, die uns diese Befriedigung ermöglicht, trotz der Anwesenheit oder sogar des Widerspruchs der Menschen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, während wir voranschreiten. Vielleicht ist es aber auch der reife Aufbau von Beziehungen, die uns mit dem Leben verbinden und ihm einen wahren Sinn geben – Bindungen in Ehe, Familie, Freundschaft, Handel und Staat. Oder es ist die harmonische und produktive Integration von Gegenwart und Zukunft im autonomen Individuum, die wahre Reife und verantwortungsbewusstes Verhalten ausmacht, sowohl in der Zusammenarbeit als auch im Wettbewerb.
Wir wägen die Fakten, die uns begegnen, in Übereinstimmung mit unseren Werten ab. Wir stellen einige mögliche Wege, Dinge und Menschen höher als andere und verbannen alles, was wir als weniger wichtig erachten, in die Unterwelt der Hindernisse, Feinde und Gegner oder in den unsichtbaren Bereich der Irrelevanz. So ordnen, vereinfachen und reduzieren wir die Welt, bevor wir ihr überhaupt begegnen. Diese Priorisierung ist nicht nur ein passiver Prozess. Es ist vielmehr ein aktiver Verzicht, ein Opfer. Wir sind nicht die willfährigen Empfänger offenkundiger Wahrheiten. Jede Wahrnehmung ist ein Kraftaufwand, genauso wie sie eine Empfindung ist. Jede Wahrnehmung erfordert die Bewegung der Augen, die Untersuchung der Finger oder die Bereitschaft zum Hören. Alles, was wir erleben, ist unabdingbar von Motivation und Handlung abhängig und nicht einfach reflexiv sensorisch – eine Empfindung kommt nie einfach vor einer Handlung. Was auch immer unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht – was auch immer wir bewusst wahrnehmen, wie kurz es auch sei –, ist somit etwas, das für den Moment auf den höchsten Platz erhoben, gefeiert und verehrt wird, ob wir es wissen oder nicht. Wir müssen festlegen, was im Moment am wertvollsten ist, und alles andere ausblenden. Diese Objekte unserer momentanen, ja sogar punktuellen Aufmerksamkeit sind wiederum (je nach Grad unserer Integrität) mehr oder weniger kohärent in einer pyramidalen Wertestruktur organisiert. Diese Struktur hat entweder etwas an der Spitze – unser höchstes Ziel – oder sie ist ein Haus, das mit sich selbst uneins ist und nicht bestehen kann (Markus 3,24). Wir sehen die Welt durch eine Hierarchie der Werte. Das ist die Karte, mit der wir durch das unbekannte Gebiet navigieren, in dem wir uns sonst verirren würden. Wir nehmen also alles in Übereinstimmung mit unserem Ziel wahr. Das ist eine bemerkenswerte und viel zu wenig beachtete Erkenntnis, denn sie besagt nichts anderes, als dass sowohl unser Elend als auch unsere Freude von unseren Werten abhängen.
Wir erheben das, was wir am meisten schätzen, auf die oberste Stufe der Vorrangstellung oder Souveränität. Wir steuern auf das Ziel zu, das wir für zentral halten, auch wenn es nur kurzfristig ist. Wir lenken unser Bewusstsein auf das, was wir als unserer Aufmerksamkeit und unseres Handelns für würdig erachten. Wir beginnen unsere kontinuierliche Reise nach vorne, indem wir uns ein Gut vorstellen – ein Gut, das zumindest besser ist als unser Ausgangspunkt. Dies ist sowohl ein Akt des Glaubens als auch einer des Opferns: Glaube, weil das Gut woanders sein könnte; Opfer, weil wir bei der Verfolgung eines bestimmten Gutes beschließen, auf alle anderen zu verzichten. Alle unsere Wahrnehmungen sind Verbündete, «geistige Partner» unserer ersten und determinierenden Entscheidung. Unsere Zielrichtung skizziert eine moralische Landschaft um uns herum, wobei das Ziel, das wir anstreben, als das höchste vorstellbare Gut dient, zumindest so lange, wie wir ihm diese Relevanz für unser Bestreben zugestehen. Das Ziel gibt der Welt ihren Sinn, indem es sogar unsere Wahrnehmung der Welt ordnet und hierarchisch organisiert. Folglich sehen wir den Weg vor uns, der uns am ehesten zu unserem Ziel führt; wir sehen, was und wer uns aufhält, und verzweifeln; wir sehen, was und wer uns hilft, und hoffen.
Ein Großteil unserer Kommunikation besteht aus der Beschreibung von Zielen. Wir erzählen anderen Menschen, was wir vorhaben, und wir erwarten und wollen, dass sie uns das Gleiche erzählen. Wir sprechen untereinander – oft oberflächlich – darüber, was die Menschen, die wir kennen, vorhaben. Was wollen sie? Womit beschäftigen sie sich? Wie verhalten sie sich infolgedessen? Wenn wir tiefer über solche Dinge reden, sprechen wir eher von Charakter als von unmittelbaren Zielen, denn Charakter ist nichts anderes als die gewohnheitsmäßige Verkörperung von Zielen. Uns selbst oder andere zu kennen bedeutet, den Charakter zu verstehen. Wie können wir uns dieses Wissen aneignen und darstellen? Wir spielen, imitieren, performen – dramatisieren –, um die Aufmerksamkeits- und Handlungsmuster darzustellen und zu verinnerlichen, die uns und andere Menschen kennzeichnen. Abstrakter ausgedrückt: Wir erzählen eine Geschichte.
Wenn wir die Ziele einer Person oder eines Volkes beschreiben, ihren Weg, die Hindernisse und Chancen, die sich auf diesem Weg ergeben, die Freunde und Feinde, die ihre Bewegung begleiten – die moralische Landschaft, die entsteht –, dann erzählen wir eine Geschichte. Auf diese Weise ordnen wir die Welt nach Prioritäten, organisieren sie und nehmen sie wahr. Auf diese Weise beschreiben wir das Ziel. Wir sehen die Welt in Bezug auf das Ziel. Was ist eine Geschichte, die das Ziel und alle seine Konsequenzen beschreibt? Eine Beschreibung der Struktur, durch die wir die Welt sehen. Geschichten offenbaren uns in ihren verschiedenen Ausprägungen die Wertestrukturen, innerhalb derer sich die Welt für unsere Wahrnehmung manifestiert: Warum ist das wichtig? Was bedeutet es? Warum ist es wichtig – sogar lebenswichtig? Es ist eine schreckliche Herausforderung, die Welt in all ihrer unverständlichen Komplexität zu sehen und in ihr zu handeln. Deshalb schätzen wir Beschreibungen, wie wir die Welt wahrnehmen und uns verhalten sollen – vielleicht mehr als alles andere.
Die Geschichten, die wir als Kinder spielen, die wir auf der Bühne oder auf der Leinwand sehen oder die wir in Romanen lesen, fesseln uns auch als Erwachsene, denn es gibt nichts, was wir dringender wissen müssen, als wie man die Wertehierarchie konstruiert, anpasst und verbessert, innerhalb derer sich die relevanten Fakten der Welt verwirklichen. So bauen wir die Welt, in der wir leben. So schaffen wir die Realität, die wir bewohnen. So navigieren wir vorwärts – und entscheiden, wo Vorwärts eigentlich liegt. Wir sehen, wie der Held nach oben strebt, in der Wahrheit lebt, sich für das Bessere opfert, edel gegen die Pfeile und Schleudern des grausamen Schicksals kämpft und dabei seine Integrität bewahrt. Wir sehen, wie die Dinge der Welt sich ihm als Werkzeuge und Hindernisse offenbaren, die für seine Reise wichtig sind. Wir sehen, wie die Freunde, die er auf seinem Weg trifft, die notwendigen Opfer bringen, um ihm zu helfen, und freuen uns darüber. Wir sehen, wie seine Feinde betrügen, stehlen, verraten, lügen und scheitern, und wir haben das Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde – oder wir sehen, wie sie Erfolg haben, und wir erleben die moralische Empörung der Betrogenen. Kurz gesagt: Wir sind fasziniert von denjenigen, die hehre Ziele verfolgen, und wir wünschen uns, wenn wir mutig sind, ebensolchen Geistes zu sein.
Wir zielen auf ihre Ziele ab – oder hoffen, dass wir sehen, was sie sehen, die Gefühle erleben, die sie fühlen, und die Lektionen lernen, die sie lernen, während wir uns in der geschützten Welt des Imaginären befinden. Das ist der Wert des Fiktionalen: Es ist der Ort, an dem wir mit Werten experimentieren und dabei in Sicherheit sind. Es ist der Ort, an dem das Spiel, das unsere Wahrnehmung prägt, am sichersten und effektivsten stattfinden kann.
Noch mal: Wir setzen das, was uns am wichtigsten ist – das Gut, dessen Entdeckung unser Ziel ist; das Ziel, das das Ziel des Augenblicks ist – an die Spitze, auf den Gipfel, an den Ort der Vorherrschaft oder Souveränität. Wir streben das Ziel an, das wir für zentral wichtig halten, auch wenn es nur momentan ist. Wir konzentrieren uns auf das, was wir als unserer Aufmerksamkeit und unserer Bemühungen würdig erachten. Wir postulieren ein Gut, das zumindest besser ist als unser Ausgangspunkt. Das ist ein Akt des Glaubens und des Opfers: Glaube, weil das Gute woanders liegen könnte, und Opfer, weil wir bei der Verfolgung dieses Gutes beschließen, alle anderen nicht zu verfolgen. Jede Wahrnehmung ist auf diesen anfänglichen und leitenden Glauben ausgerichtet, während die Entscheidung, die den Interpretationsrahmen festlegt, selbst eine Teilreise in das gelobte Land unseres Ziels ist, so sehr diese Wahrnehmung auch von dem Handeln abhängt, das das entscheidende Element jeder Reise ist. Unser Ziel umgibt uns mit einer moralischen Landschaft, in der das Ziel das höchste vorstellbare Gut ist, zumindest für die Zeit und den Ort, die durch dieses Ziel relevant werden. Das Ziel gibt der Welt ihren Sinn, indem es unsere Wahrnehmung von ihr priorisiert und organisiert. Das Ziel zeigt uns den Weg nach vorne; die Route, die uns am ehesten dort hinzuführen scheint, wo wir hinwollen. Wir sehen Charakter auch als Ziel. Charakter ist das verkörperte Ziel, die gewohnheitsmäßige Verfolgung des Ziels. Das ist der Sinn allen Handelns.
Das alles wirft einige sehr wichtige Fragen auf: Wenn wir die Welt durch eine Geschichte sehen und sehen müssen, wenn die Welt sich uns in Form einer Geschichte offenbart – was ist dann diese Geschichte? Wie können wir unsere Ziele, unsere tiefsten Versuchungen und unsere besten Bestrebungen richtig beschreiben? Was ist wichtig und was kann und sollte ignoriert werden? Worauf sollten wir unsere wertvolle Aufmerksamkeit richten? Auf welche Ziele sollten wir unser Handeln ausrichten? Welche unbequeme Wahrheit versucht unser Gewissen unaufhörlich zu enthüllen? Was ist die angemessene Wertehierarchie, durch die sich die Welt am produktivsten, großzügigsten und nachhaltigsten offenbart? Mit anderen Worten: Was ist die Geschichte, das wahre Narrativ unseres Lebens – was ist sie und was sollte sie sein? Sie ist ein Bericht über unsere höchsten Bestrebungen, unsere grundlegendsten Beziehungen und gleichzeitig über den wahren Boden unter unseren Füßen. Sie ist daher und muss auch die Beschreibung des Göttlichen selbst sein, so wie es die biblischen Berichte betonen. Und was genau heißt das?
Das Gewissen, so wichtig es auch ist – das Gewissen, das sich Elia offenbart –, ist nicht die einzige Erscheinungsform Gottes, nicht seine einzige Rolle in dem Drama unseres Lebens. Er tritt auch, wie wir sehen werden, in anderen Rollen auf – als Berufung, Inspiration, Abenteuer, Begeisterung, Neugier, ja sogar als Versuchung und vieles mehr. Wir wünschen uns zum Beispiel zutiefst, dem Helden zu begegnen und, wenn möglich, zu ihm zu werden (eine weitere Rolle) – und zwar nicht nur einem Helden, sondern dem Helden aller Helden. Wir wollen nicht nur die Gestalt eines Königs annehmen, der sein Reich beherrscht, sondern die des Königs aller Könige. Wir sind so geschaffen, dass wir das göttliche Prinzip der Souveränität selbst bewundern. Wir wollen diese Souveränität, damit wir die Perspektive des Geistes, der an der höchsten Stelle steht, einnehmen und die Welt mit seinen Augen sehen können. Wir wollen sie, damit wir selbst den Problemen, die uns in unserem eigenen Leben die Gelegenheit dazu bieten, mit dieser Heldenhaftigkeit und diesem verantwortlichen Königtum gegenübertreten können. Wir wollen das Wesen des Guten, das hinter allen erreichbaren Gütern steht, so weit wie möglich verstehen – das Gute, das das unwiderstehliche Leben in Fülle hervorbringt, das der wahre Garten unserer ewigen Sehnsucht ist. Wir wollen auch den Bösen erkennen, der hinter allen schändlichen Taten steht – das Wesen des Geistes, der alles Leid der Welt erzeugen will, nur um des Leides Willen. Wir wollen das Gute verstehen, damit wir gut sein können, und das Böse verstehen, damit wir nicht böse sein müssen. Auf diese Weise können wir das Heil und die Erlösung der Welt bewirken, im Kleinen wie im Großen. So können wir die Hölle eindämmen, die das Böse hervorbringt, und zwar nicht nur für uns selbst, sondern für alle, die wir lieben, für die Stabilität und den Fortbestand der Gesellschaften, in denen wir leben, und für die Liebe zur Welt selbst.
Auf Gedeih und Verderb geht es um die Geschichte. Und auf Gedeih und Verderb ist das Narrativ, auf das sich unsere westliche Psyche und Kultur heute stützt – so zerbrechlich sie auch geworden sind –, im Wesentlichen die Geschichte, die in der Bibliothek des biblischen Korpus erzählt wird, der Sammlung von Dramen, die die Grundlage unserer Kultur bildet und durch die wir die Welt betrachten. Dies ist das Narrativ, auf dem die westliche Zivilisation beruht. Die Bibel ist eine Sammlung von Beschreibungen nicht nur von Gott, dessen Nachahmung, Anbetung oder gar Verkörperung als das höchste aller möglichen Ziele angesehen wird, sondern auch von Mann und Frau, deren Wesen in Beziehung zu diesem Gott stehen, und von der Gesellschaft in Bezug auf das Individuum und das Göttliche. Sie ist auch die Offenbarung des Opfers, das dieses Ziel möglich macht, und eine dramatische Auseinandersetzung mit dem transzendenten Ziel, das alle Dinge auf bestmögliche Weise unter sich vereint. Die biblische Geschichte in ihrer Gesamtheit ist der Rahmen, durch den sich die Welt der Tatsachen offenbart, soweit es das Abendland selbst betrifft: Sie ist die Beschreibung der Wertehierarchie, innerhalb derer sogar die Wissenschaft selbst (das heißt, die Wissenschaft, die letztlich das Gute verfolgt) möglich wird. Die Bibel ist die Bibliothek der Geschichten, auf der die produktivsten, freiesten, stabilsten und friedlichsten Gesellschaften beruhen, die die Welt je gesehen hat – das Fundament des Westens, schlicht und einfach.
Die Landschaft der Fiktion ist die Welt des Guten und des Bösen – die Welt des Guten und der Werte, deren Gipfel immer weiter in das gelobte Land hineinragt, und die ewige Grube des abgrundtiefen und unendlichen Leids, die den niedersten aller möglichen Plätze einnimmt. Die biblischen Geschichten beleuchten den ewigen Weg hinauf auf den heiligen Berg zur himmlischen Stadt, während sie gleichzeitig vor den apokalyptischen Gefahren warnen, die im Abweichenden, Marginalen, Monströsen, Sündigen, Unheiligen, Schlangenhaften und Dämonischen lauern. In diesem Weltverständnis ist Gott der Geist, der nach oben führt. Der Mensch ist das Wesen, das in jeder Entscheidung mit diesem Geist ringt, denn eine Entscheidung ist eine Frage der Prioritätensetzung; mit jedem Blick, denn jeder Blick ist ein Opfer anderer Möglichkeiten für ein gewünschtes Ziel, und mit jeder Handlung, denn er bewegt sich auf ein Ziel zu und von allen anderen weg. In jedem Moment des Bewusstseins sind wir dazu bestimmt, mit Gott zu ringen.
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und öde, und Finsternis lag auf der Urflut, und der Geist Gottes bewegte sich über dem Wasser. (1. Mose 1,1–2)
Wie wird Gott zu Beginn der Genesis, des 1. Buchs Mose, dargestellt? Als lebendiger Geist – kreativ, beweglich und aktiv –, jemand, der handelt und ist. Gott ist, kurz gesagt, ein Charakter, dessen Persönlichkeit sich im Laufe der biblischen Geschichte offenbart.
Die Genesis beginnt mit einer Konfrontation. Gott «bewegte sich über dem Wasser». Was bedeutet «bewegen»? Es besagt offensichtlich, dass Gott mobil ist. Weniger offensichtlich ist, dass wir «bewegend» sagen, wenn wir von etwas Tiefgreifendem innerlich betroffen sind. Gott ist das, was uns begegnet, wenn neue Möglichkeiten auftauchen und Gestalt annehmen. Gott ist das, was uns begegnet, wenn wir in der Tiefe bewegt werden. Und wofür steht das «Wasser» – vor allem das Wasser, das Gott noch nicht geschaffen hat? Das ist das althebräische tehom oder tohu va bohu: Chaos; Potenzial; das, was angelegt ist, aber noch nicht offenbart wurde – so wie Wasser die Voraussetzung für Leben ist, aber auch das Unbekannte in seinen Tiefen birgt. Gott ist also der Geist, der sich dem Chaos annähert, der sich der Leere, der Tiefe stellt, der freiwillig gestaltet, was noch nicht verwirklicht wurde, und der in Richtung des sich ständig wandelnden Horizonts der Zukunft navigiert. Gott ist der Geist, der die Gegensätze (Licht/Dunkelheit; Erde/Wasser) hervorbringt, aber auch die Möglichkeiten, die sich aus dem Raum zwischen ihnen ergeben:
Und Gott befahl: «Im Wasser soll sich ein Gewölbe bilden, das die Wassermassen voneinander trennt!» So geschah es: Er machte ein Gewölbe und trennte damit das Wasser darüber von dem Wasser, das die Erde bedeckte. Das Gewölbe nannte er «Himmel». Es wurde Abend und wieder Morgen: Der zweite Tag war vergangen. Dann sprach Gott: «Die Wassermassen auf der Erde sollen zusammenfließen, damit das Land zum Vorschein kommt!» So geschah es. Gott nannte das trockene Land «Erde» und das Wasser «Meer». Was er sah, gefiel ihm, denn es war gut. (1. Mose 1,6–10)
Da befahl Gott: «Am Himmel sollen Lichter entstehen, die den Tag und die Nacht voneinander trennen und nach denen man die Jahreszeiten und auch die Tage und Jahre bestimmen kann! Sie sollen die Erde erhellen.» Und so geschah es.(1. Mose 1,14–15)
Wie können wir diese erste Begegnung mit Gott aus menschlicher Sicht verstehen? Wer ist er und wem oder was steht er hier gegenüber? Stellen Sie sich einen Moment lang vor, was Sie sehen, wenn Sie morgens aufwachen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf die Gegenstände, die Sie umgeben – auf die banale Realität Ihrer Schlafzimmermöbel. Stattdessen grübeln Sie über die Herausforderungen und Chancen des Tages nach. Vielleicht fühlen Sie sich gestresst, weil es einfach zu viele Dinge gibt, mit denen Sie sich beschäftigen müssen. Vielleicht (hoffentlich) sind Sie auch in einer besseren Situation und freuen sich stattdessen auf die Chancen, die sich Ihnen bieten. Ihr Bewusstsein – Ihr Wesen – «bewegt sich über» dem Potenzial, das Ihnen der neue Morgen bietet, wie bei den Vorbedingungen und dem Prozess der Schöpfung selbst, wie er in den ersten Versen der Bibel beschrieben wird – eine Schöpfung, die mit jedem Blick und jedem Wort, das Sie sagen, weitergeht. Durch das Bewusstsein verarbeiten wir den Bereich des möglichen Seins – des Werdens. Das ist der Bereich, der uns sowohl Hoffnung gibt, wenn wir positive Dinge erwarten, als auch Angst auslöst, wenn wir die schreckliche Ungewissheit des Lebens vor Augen haben.6
Hier ist eine andere Art, unsere Konfrontation mit dem Möglichen zu betrachten: Stellen Sie sich ein beliebiges Objekt vor. Nun stellen Sie sich weiter vor, dass dieses Objekt von einem Raum umgeben ist, der aus dem besteht, was aus dem Objekt werden könnte, wenn die Zeit fortschreitet und sich der Kontext ändert. Unter normalen Bedingungen lässt sich der wahrscheinlichste zukünftige Zustand jedes bekannten Objekts – einer Flasche, eines Kugelschreibers, der Sonne – anhand seines aktuellen Zustands vorhersagen. Durch eine bösartige Wendung des Schicksals oder eine radikale Verschiebung der Zielrichtung können diese Beschränkungen jedoch aufgehoben und die unentdeckten Möglichkeiten des Objekts sichtbar gemacht werden. Eine Flasche kann in einer lauten Bar zu einem tödlichen Schlagwerkzeug werden oder, wenn sie im Zorn zerschmettert wird, zu einem Messer mit der Schärfe einer Rasierklinge. Ein Kugelschreiber kann zum Hilfsmittel des Lebens selbst werden, wenn er in die Luftröhre eines Erstickenden eingeführt wird. Die Sonne kann nicht nur der stabile und vorhersehbare Lebens- und Lichtspender sein, der unsere Tage und Nächte bestimmt, sondern auch die Quelle eines Sonnensturms, der das Stromnetz zum Zusammenbruch bringt, von dem wir so abhängig sind.
Dies ist die Bandbreite des Möglichen, mit der das Bewusstsein konfrontiert wird und die es verarbeitet, wenn es die Welt wahrnimmt und beschließt, auf sie einzuwirken. Unsere Bewegung vorwärts in der Zeit ist daher kein mechanischer Marsch durch einen Bereich stabiler Aktualität. Das Bewusstsein setzt sich mit dem auseinander, was sich noch verwirklichen könnte, und zwar genau so, wie sich der Geist Gottes mit der leeren und formlosen Tiefe auseinandersetzt; so, wie das Göttliche mit der massa confusa ringt, die das Chaos und die Möglichkeit ist und die Matrix, aus der alle Formen hervorgehen.
Gott ist auch derjenige, der nicht nur Ordnung schafft, sondern, wie im ersten Buch der Bibel immer wieder betont wird, eine Ordnung, die gut ist. Am ersten Tag stellt er die Trennung zwischen Licht und Dunkelheit her (1. Mose 1, 3–4). Am zweiten Tag erschafft er die Himmelskuppel und trennt das untere Wasser, die Erde, vom oberen Wasser, der Quelle des Regens (1. Mose 1, 6–8). Am dritten Tag wird die terra firma, die wir bewohnen, zusammengefügt und von den Ozeanen getrennt, so entstehen Pflanzen auf der Erde (1. Mose 1,9–13). Den vierten Tag beschreibt die Genesis folgendermaßen:
Gott schuf zwei große Lichter, die Sonne für den Tag und den Mond für die Nacht, dazu alle Sterne. Er setzte diese Lichter an den Himmel, um die Erde zu erhellen, Tag und Nacht zu bestimmen und Licht und Finsternis zu unterscheiden. Und Gott sah, dass es gut war. (1. Mose 1,16–18)
Am fünften Tag erscheinen die Fische und Vögel (1. Mose 1, 20–23). Die ganze Schöpfung strebt trotz ihrer makellosen Qualität oder «Gutheit» immer noch nach oben, entwickelt sich weiter, wie der sechste und letzte Tag der Erschaffung der Welt zeigt. Die Tiere treten in Erscheinung (1. Mose 1,24–25), und schließlich Mann und Frau:
Dann sagte Gott: «Jetzt wollen wir den Menschen machen, unser Ebenbild, das uns ähnlich ist. Er soll über die ganze Erde verfügen: über die Tiere im Meer, am Himmel und auf der Erde.» So schuf Gott den Menschen als sein Abbild, ja, als Gottes Ebenbild; und er schuf sie als Mann und Frau. Er segnete sie und sprach: «Vermehrt euch, bevölkert die Erde und nehmt sie in Besitz! Ihr sollt Macht haben über alle Tiere: über die Fische, die Vögel und alle anderen Tiere auf der Erde!» (1. Mose 1,26–28)
In diesem Finale der Schöpfung scheint Gott über alles hinausgegangen zu sein, was er zuvor geschaffen hat. Er fällt das folgende Urteil: «Schließlich betrachtete Gott alles, was er geschaffen hatte, und es war sehr gut! Es wurde Abend und wieder Morgen: Der sechste Tag war vergangen» (1. Mose 1,31). Was bedeutet das? Es bedeutet in erster Linie, dass Gott dem Chaos und den Möglichkeiten nicht nur gegenübersteht und sie gestaltet, sondern dass er dies in wohlwollender Absicht und mit einem guten Ergebnis tut. Gott wird als ein Vorgang oder Geist dargestellt, der von dem Ziel geleitet wird, dass alle Dinge existieren und gedeihen sollen; kurzum: als der Geist, der von der Liebe geleitet wird. Diese Abfolge der Schöpfung bedeutet zum Zweiten nicht nur, dass sich das Leben in immer größerer Fülle entfalten soll und wird, sondern auch, dass dies in einer ständigen Aufwärtsspirale geschieht – vom Guten zum sehr Guten –, die als Definition des Himmels selbst dienen könnte. Das ist die Jakobsleiter, der Prozess, der in Ewigkeit alles so macht, wie es sein sollte, aber irgendwie auch immer besser wird und neue Wege zu höheren Formen des Wahren, Schönen und Guten findet.
Die Schöpfung gipfelt in der Erschaffung von Mann und Frau, und speziell ihre Erschaffung wird als «sehr gut» bezeichnet. Die ersten beiden Menschen, und Männer und Frauen im Allgemeinen, sind somit Avatare Gottes selbst: Gott ist der schöpferische Geist, der aus dem Chaos und den Möglichkeiten eine Ordnung ins Leben ruft, und Mann und Frau sind ein Mikrokosmos dieses Geistes, dem Wesen nach ähnlich oder sogar identisch, der die Aufgabe hat, den schöpferischen Prozess immer wieder zu wiederholen. Ein optimistischeres Grundverständnis des Menschen kann man sich kaum vorstellen. Auch die Bedeutung von Gottes Beharrlichkeit könnte nicht größer sein. Diese Beschreibung des schöpferischen Prozesses – ein Porträt des handelnden Wortes, das auf das Gute ausgerichtet ist – ist auch eine Deklaration der ersten Prinzipien: genau der Prinzipien, denen sich Mann und Frau sofort unterstellen und die sie aufrechterhalten sollen. Der biblische Bericht schreibt jedem von uns einen Wert zu, der uns an die Spitze der Schöpfung stellt; einen Wert, der in einem guten Kosmos «sehr gut» ist; einen Wert, der jede irdische Bewertung übersteigt (da wir das Bild des Göttlichen selbst widerspiegeln). Das ist, soviel muss uns klar sein, die grundsätzlichste Definition. Der Pflock im Boden, um den sich alles andere drehen muss, ist die göttliche Ebenbildlichkeit des Menschen, und er ist unverrückbar, unantastbar, unverletzlich: heilig. Dies ist nichts anderes als die Beschreibung der moralischen Ordnung, die dem Kosmos selbst innewohnt, die das Wesen Gottes, des Mannes und der Frau widerspiegelt und die Grundlage für die Idee der intrinsischen Menschenrechte und der persönlichen Verantwortung bildet.
Glauben wir diese Geschichte? Glauben wir, was sie sagt und impliziert? Erstens: Was bedeutet es zu glauben? Wir handeln individuell und kollektiv so, als ob sie wahr wäre, zumindest, wenn wir uns so verhalten, wie wir sollten – zumindest, wenn wir im besten Interesse unserer selbst und aller anderen handeln. Wir behandeln die Menschen, die wir lieben (und sogar die Menschen, die wir hassen), als wären sie unendlich wertvolle loci schöpferischen Bewusstseins, die in der Lage sind, ihren Weg vorwärts zu finden und die Welt zu erschaffen, die von ihrem Finden abhängt. Es ist die Tatsache dieser höchsten Identität und dieses höchsten Seins, die das machtbesessene Streben jeder Organisation, jeder Gesellschaft oder jedes Staates, die es wagen, die individuelle Souveränität zu bedrohen, für immer verhindert. Sowohl die Weisen als auch die Unweisen täten gut daran, dem Herrn dafür zu danken.