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Buddhismus, dass es real ist; anders als die Karma-Lehre, dass es oft ungerecht ist - und anders als der Säkularismus, dass es einen Sinn hat. Leid ist sinnvoll, und richtig betrachtet, kann es uns in die Liebe Gottes hineintreiben und uns mehr innere Stabilität und Kraft geben, als wir uns vorstellen können." Mit seiner besonderen Art zu schreiben, die sowohl christliche und religiöse als auch säkulare Leser anspricht, hat Timothy Keller sich einer der schwersten Fragen überhaupt angenommen! - Einer Frage, der kein Mensch auf dieser Erde letztlich ausweichen kann.
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Seitenzahl: 623
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Timothy Keller
GOTT IM LEID BEGEGNEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Walking with God through Pain and Suffering
© 2013 by Timothy Keller
Published by Dutton, a member of Penguin Group (USA) Inc.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dr. Friedemann Lux
Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben, der Übersetzung
Hoffnung für alle ®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®
Verwendet mit freundlicher Genehmigung von ’fontis – Brunnen Basel.
Sonst:
ELB:Revidierte Elberfelder Bibel
© 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus
im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
LUT: Lutherbibel, revidierter Text 1984,
durchgesehene Auflage in neuer Rechtschreibung,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
NGÜ: Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen,
© 2011 Genfer Bibelgesellschaft.
EIN: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,
© 1980, Katholische Bibelanstalt Stuttgart.
© 2015 Brunnen Verlag
www.brunnen-verlag.de
Umschlaggestaltung: Jenny Alloway / Yellowtree
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7655-5465-0
eISBN 978-3-7655-7350-7
FÜR MEINE SCHWESTER SHARON JOHNSON,EINEN DER GEDULDIGSTEN UND FRÖHLICHSTEN MENSCHEN,DIE ICH KENNE,VON DER ICH SO VIEL ÜBER LASTENTRAGEN,SCHMERZARBEIT UND GOTTVERTRAUEN GELERNT HABE.
Meiner Ansicht nach besteht Lebensernst in Folgendem: Was immer der Mensch auf diesem Stern anfängt, es muss in der lebendigen Wahrheit und angesichts des Schreckens der Schöpfung, des Absurden, der Panik, die wie ein kommendes Erdbeben alles erzittern lässt, vollzogen werden. Anderenfalls ist es geheuchelt. (Ernest Becker, Dynamik des Todes)1
Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen. Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen! (Psalm 34,2-4, LUT)2
Leid ist allgegenwärtig; wir können ihm nicht ausweichen und das Ausmaß erdrückt uns oft. Wenn Sie eine Stunde lang in diesem Buch gelesen haben, sind in der gleichen Zeit über fünf Kinder in der Welt an den Folgen von Misshandlung und Gewalt gestorben.3 Wenn Sie einen ganzen Tag gelesen haben, sind über hundert Kinder einen gewaltsamen Tod gestorben. Und das ist nur eine von unzähligen Arten des Leidens. Jede Stunde sterben Tausende durch Verkehrsunfälle oder Krebs, und Hunderttausende erfahren, dass ihre Lieben plötzlich nicht mehr sind. Zusammen verschwindet so jeden Tag die Bevölkerung einer kleineren Stadt und lässt die trauernden Freunde und Lieben fassungslos zurück.
Wenn sehr viele Menschen auf einen Schlag umkommen – wie bei dem Wirbelsturm Bhola in Ostpakistan (dem späteren Bangladesch) 1970, dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 oder dem Erdbeben in Haiti 2010, mit jeweils über 300.000 Toten –, sind die Schlagzeilen und der Schock groß. Aber Zahlen können täuschen. Solche historischen Katastrophen ändern nicht viel an der allgemeinen „Leidensrate“. Täglich kommen auf der Erde Zehntausende tragisch und unerwartet ums Leben, und Hunderttausende Hinterbliebene taumeln unter der Wucht des Schocks und der Trauer. Die allermeisten von ihnen schaffen es nicht in die Schlagzeilen, weil in dieser Welt Elend und Schmerz die Norm sind.
Shakespeare verstand dies, als er schrieb:
An jedem neuen Morgen
heulen neue Witwen, weinen neue Waisen;
neue Sorgen schlagen dem Himmel ins Gesicht …4
Das Böse und das Leid sind dermaßen allgegenwärtig, dass die gerade genannten statistischen Zahlen uns kaum mit der Wimper zucken lassen. Aber wir sollten mit der Wimper zucken. Ernest Becker hat über die Gefahr der Verdrängung des Elends und der Willkür des Leidens geschrieben. Wenn wir etwas Schlimmes hören, setzt sofort ein tief verwurzelter Abwehrmechanismus ein. Wir denken, dass solche Dinge halt den anderen passieren oder den Armen oder denen, die nicht aufgepasst haben. Oder dass wir sie abstellen können, wenn wir an unseren Sozialsystemen arbeiten und die richtigen Leute ranlassen.
Becker war der Meinung, dass ein solches Denken einen Mangel an „Lebensernst“ verrät, der es versäumt, sich dem „Schrecken der Schöpfung“ und „der Panik, die wie ein kommendes Erdbeben alles erzittern lässt“ zu stellen.5 Diese Panik ist die Angst vor dem Tod, dem großen Unvorhersehbaren und Unerbittlichen.
Die gleiche Botschaft finden wir in einem Artikel im New York Times Magazine,der erschien, als im Raum Washington, D. C., der „Beltway Sniper“ sein Unwesen trieb, ein Heckenschütze, der seine Opfer offenbar total willkürlich auswählte. Ann Patchett schrieb:
Wir versuchen immer, Mord erklärbar zu machen, damit er uns nicht zu nahe kommt: Ich sehe nicht wie das typische Opfer aus, ich wohne nicht in dieser Stadt, ich hätte mich nie an diesem Ort aufgehaltenoder jene Person gekannt. Aber was, wenn es keine Beschreibung, keinen typischen Ort, keine typischen Personen gibt? Was machen wir dann, um uns zu beruhigen? … Tatsache ist: Das Hinauszögern unseres Todes ist eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. Ob es Ausgleichssport ist, unsere Cholesterinwerte oder eine Mammografie, unsere Sterblichkeit hält uns ständig auf Trab. Wie sieht das typische Opferprofil aus, und inwiefern bin ich hier aus dem Schneider? Aber ein Heckenschütze, der sein Opfer mit einem einzigen Schuss und mithilfe eines Zielfernrohrs tötet, das erinnert uns grausam an den Tod in Reinkultur, der, so sehr wir uns auch anstrengen, immer noch meistens willkürlich zuschlägt. Und der mit absoluter Sicherheit kommen wird.6
Patchett und Becker legen die Strategien bloß, mit denen wir die große Angst vor dem Tod zu verdrängen versuchen. Dieses Buch ist der Versuch einer Einführung in den von ihnen geforderten „Lebensernst“. Ich möchte meinen Lesern helfen, vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Realitäten das Leben gut, ja freudig zu leben. Der Verlust lieber Menschen, Krankheiten, die unser Leben einschränken und irgendwann tödlich enden, Menschen, die uns enttäuschen, finanzielle Verluste und moralische Niederlagen – all dies werden Sie früher oder später erleben, wenn Sie ein normales Lebensalter erreichen. Keiner ist dagegen gefeit.
Egal, wie gut wir vorbeugen, egal, wie gut wir unser Leben gestalten, egal, was wir alles anstellen, um reich, gesund, beruflich erfolgreich und in Freundschaft und Familie glücklich zu sein – irgendwann kommt etwas, das unser schönes Leben beschädigt, ja ruiniert. Mit noch so viel Geld, Macht und Planung können wir es nicht verhindern, dass Tod, Krankheit, zerbrochene Beziehungen, finanzielle Katastrophen und hundert andere Übel über uns hereinbrechen. Das menschliche Leben ist furchtbar zerbrechlich, ausgeliefert an Kräfte, die zu stark für uns sind. Das Leben ist tragisch.
Intuitiv wissen wir dies alle, und die unter uns, die sich mit Leiden und Schmerz auseinandersetzen müssen, lernen nur zu bald, dass dies allein aus ihrer Kraft nicht möglich ist. Wollen wir nicht verzweifeln, brauchen wir alle Hilfe. In diesem Buch versuche ich zu zeigen, dass diese Hilfe nur von Gott kommen kann.
An unserem Hochzeitstag tauschten Kathy und ich vor unseren Freunden und Verwandten unser Ehegelübde aus. Dabei ergänzten wir die übliche Formel durch ein Bibelzitat, Psalm 34,2-4, das auf der Innenseite unserer Eheringe eingraviert ist:
Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen. Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen! (LUT)
Es war ein großer Augenblick, und die erhabenen Worte aus der Bibel machten ihn noch größer. Wir standen am Anfang eines lebenslangen gemeinsamen Dienstes für Christus und konnten es schier nicht erwarten, die Botschaft von unserem Gott freimütig in die Welt hinauszutragen. Was wir damals fast ganz übersahen, waren die Worte in der Mitte des Textes, die beschreiben, was einen erfolgreichen Dienst für Gott ausmacht: „dass es die Elenden hören und sich freuen.“ Einer der Gründe für dieses Übersehen war schlicht, wie Kathy das später formulierte, dass „damals keiner von uns auch nur das Elend eines eingewachsenen Fußnagels kannte.“ Wir waren jung, und der Übermut der Jugend kann sich Leid und Schmerz nicht vorstellen. Wir ahnten nicht, wie wichtig es für uns werden würde, anderen Menschen zu helfen, Leid zu verstehen und zu bewältigen. Und es selber zu bewältigen.
Als junger Pastor versuchte ich zu verstehen, warum so viele Menschen nichts von Gott wissen wollten. Schon bald merkte ich, dass der Hauptgrund das Leiden war. Wie konnte ein guter, gerechter, liebender Gott so viel Elend, Schmerz und Not zulassen? Der Leidende wird leicht zum Zweifler. Im Gespräch mit Leidenden war ich oft herausgefordert, auf bittere Zweifel an Gott und am christlichen Glauben Antworten zu finden. Vor einigen Jahren wurde eine Hollywood-Schauspielerin interviewt, deren Geliebter plötzlich tödlich verunglückt war. Sie hatte lange keinen Gedanken an Gott verschwendet, aber jetzt sagte sie: „Wie konnte ein liebender Gott das zulassen?“ Eben war Gott ihr noch egal gewesen, jetzt war sie wütend auf ihn.7 Es sind solche Fälle, die viele Denker zu dem gleichen Schluss gebracht haben wie den französischen Schriftsteller Stendhal: „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt.
Doch gleichzeitig lernte ich auch, dass genauso viele Menschen durch Leid und Not zu Gott finden.Sie machen die Erfahrung, dass Not sie zu ihm hintreibt und nicht von ihm weg; sie rüttelt sie wach aus dem unruhigen Schlaf des religiösen Eigendünkels, sodass sie anfangen, ernsthaft nach Gott zu suchen. Leiden „richtet in der Festung der gegen Gott rebellierenden Seele das Banner der Wahrheit auf.“8 Es ist vielleicht eine Übertreibung zu sagen, dass niemand Gott findet, solange er kein Leid erlebt, aber daran ist viel Wahres. Wenn Schmerz und Leid über uns kommen, erkennen wir, dass wir eben nicht unseres Glückes Schmied sind, ja mehr noch: dass wir es nie waren.
Im Laufe der Jahre habe ich auch erkannt, dass Leiden uns nicht nur zum Glauben an die Existenz Gottes führen kann, sondern auch jemanden, der bereits an ihn glaubt, in eine tiefere Erfahrung seiner Realität, Liebe und Gnade führen kann. Eine der Hauptstraßen, die von dem bloßen Bücherwissen über Gott zur persönlichen Begegnung mit ihm als einer lebendigen Realität führen, ist der Schmelzofen der Not. C. S. Lewis hat es klassisch so formuliert: „Gott flüstert durch unsere Freuden, er spricht durch unser Gewissen, aber er schreit in unserem Schmerz.“9 Es gibt viele biblische Lehren, die Christen mit ihren grauen Zellen begriffen haben, aber ins Herz eindringen tun diese Wahrheiten oft erst durch Enttäuschungen, Scheitern und Not. Wie ein Mann, der vor dem Verlust seiner Karriere und seiner Familie stand, mir einmal sagte: „Theoretisch hatte ich immer schon gewusst, dass ‚Jesus alles ist, was du brauchst‘. Aber wirklich wissen, dass Jesus alles ist, was du brauchst, tust du erst dann, wenn Jesus alles ist, was du hast.“
Und schließlich erkannte ich, als ich die Bibel besser kennenlernte, dass die Realität des Leidens einer ihrer roten Fäden ist. Das 1. Buch Mose beginnt mit der Erzählung, wie das Böse und der Tod in die Welt kamen. Im 2. bis 4. Buch Mose geht es um die vierzigjährige Wüstenwanderung Israels, eine Zeit intensiver Nöte und Prüfungen. Der Großteil der Weisheitsliteratur des Alten Testaments kreist um das Problem des Leidens. Das Buch der Psalmen enthält Gebete für jede erdenkliche Lebenssituation, und der Leser staunt, wie voll es ist von Schmerzensschreien und unverblümten Klagen an Gott über die offensichtliche Willkür und Ungerechtigkeit des Leidens. In Psalm 44 betrachtet der Beter die Verwüstung seines Landes und ruft aus: „Wach auf, Herr! Warum schläfst du? … Warum verbirgst du dich vor uns? Hast du unsere Not und unser Elend vergessen?“ (V. 24-25). Die Bücher Hiob und Prediger (Kohelet) versuchen, der Frage auf den Grund zu gehen, warum der Unschuldige leiden muss und unser Leben oft so sinnlos ist. Die Bücher Jeremia und Habakuk sind leidenschaftliche Klagen, dass in der menschlichen Geschichte das Böse zu herrschen scheint. Im Neuen Testament ist es das Hauptanliegen etwa des Hebräerbriefes und 1. Petrusbriefes, den Gläubigen in ihrem ständigen Kampf mit Not und Verfolgung beizustehen. Und die Zentralfigur der ganzen Bibel, Jesus Christus, ist der große Schmerzensmann. Wenn die Bibel ein Hauptthema hat, dann ist es das Leiden.
Meine Frau Kathy und ich haben im Leben unsere eigene Portion Leid erfahren. Im Jahre 2002 wurde bei mir Schilddrüsenkrebs festgestellt; ich musste mich einer Operation und weiteren Therapien unterziehen. Etwa um die gleiche Zeit wurde Kathys Morbus Crohn akut, was ihr zahlreiche Operationen einbrachte – einmal sieben in einem Jahr, sodass ich mich schließlich fragte, ob ich nicht wegen der Krankheit meiner Frau den Pastorenberuf an den Nagel hängen sollte. Es waren die bisher dunkelsten Stunden in unserem Leben, und wir wissen (aus der Bibel wie aus der eigenen Erfahrung), dass noch mehr dunkle Stunden kommen werden. Aber auch mehr Freude, als wir uns jetzt vorstellen können.
Wenn Kathy und ich auf unser Leben zurückblicken, dann sehen wir: Ob Menschen Gott ablehnen oder ob sie an ihn glauben, ob sie innerlich wachsen oder verkümmern, ob Gott uns größer wird oder ferner rückt – der Schlüssel heißt immer: Leid. Und als wir die Bibel studierten, um diese tiefe Gesetzmäßigkeit besser zu verstehen, entdeckten wir, dass es das große Thema der Bibel ist, wie Gott unendliche Freude nicht trotz unseres Leides bringt, sondern durch unser Leid, so wie Jesus uns nicht trotz des Kreuzes erlöst hat, sondern durch das Kreuz. Es scheint eine ganz besondere, reiche, tiefe Freude zu geben, die man nur im Leiden und durch Leiden erfahren kann.
In diesem Buch finden Sie das, was wir in diesen Jahren des Dienstes an den „Elenden“ gelernt haben. Simone Weil schreibt, dass Gott im Leid fernzurücken scheint, und da hat sie recht. Doch in Psalm 34 hält David dagegen, dass Gott zwar fern zu sein scheint, aber nicht fern ist. Im Rückblick auf eine Zeit, wo er in großer Lebensgefahr war und alles verloren zu sein schien, schreibt er: „Der Herr ist denen nahe, die verzweifelt sind, und rettet jeden, der alle Hoffnung verloren hat“ (Psalm 34,19).
Ich schreibe dieses Buch, weil wir die Wahrheit dieses Psalmverses in unserem eigenen Leben erfahren haben.
Dies ist also ein Buch für Leidende? Ja, aber wir müssen hier differenzieren. Wir alle sind entweder gerade Leidende oder werden es einmal sein. Aber nicht jeder von uns steckt zurzeit mitten in einer tiefen Leidenskrise. Menschen, die nicht selber leiden, aber das Leiden anderer beobachten, stellen sich viele „theoretische“ (philosophische, soziale, psychologische, ethische) Fragen über das Leiden, während jemand, der selber gerade vom Leiden durchgeschüttelt wird, es gerade nicht von der theoretischen Warte aus betrachten kann. Es ist nicht einfach, in ein und demselben Buch sowohl die Fragen des Nichtleidenden als auch die Kämpfe des Leidenden anzusprechen. Der akut Leidende mag vielleicht philosophische Fragen benutzen („Gott, warum lässt du das zu?“), aber eigentlich geht es ihm nur darum, den nächsten Tag zu überstehen: Wie schaffe ich es, an diesem Elend nicht zugrunde zu gehen? Wie komme ich da durch, ohne Schaden an meiner Seele zu nehmen? Es ist grausam, einem akut Leidenden kluge Vorträge zu halten. Doch andererseits führt erfahrenes Leid fast zwangsläufig zu „großen Fragen“ über Gott und das Wesen der Dinge, die man nicht beiseiteschieben kann.
Bei meiner Lektüre von Büchern über das Böse und das Leid merkte ich bald, dass die meisten Autoren das Thema mehr oder weniger aus nur einer Perspektive betrachteten. Viele Bücher waren aus philosophischer Perspektive geschrieben; sie behandelten das „Problem des Bösen“ und die Frage, ob dieses die Existenz Gottes wahrscheinlicher und den christlichen Glauben plausibler macht oder nicht. Andere gingen das Thema von der theologischen Warte an, mit einer systematischen Darstellung dessen, was die Bibel über Leid und Schmerz zu sagen hat. Viele Autoren wählten die Gattung des Andachtsbuches, mit Meditationen, die Leidenden in ihrer akuten Situation helfen sollten. Dazu kam eine kleinere Zahl von Artikeln und Büchern, die historisch-anthropologisch vorgingen und untersuchten, wie verschiedene Kulturen ihren Gliedern helfen, mit Nöten und Prüfungen umzugehen. Je mehr ich las, desto klarer wurde mir, dass all diese unterschiedlichen Perspektiven sich gegenseitig beleuchteten und dass jede Darstellung, die sich auf nur eine Perspektive beschränkte, viel zu viele Fragen unbeantwortet ließ.
Und so gliederte ich dieses Buch schließlich in drei Teile, die das Thema aus einer jeweils anderen Perspektive angehen. Was die drei Teile zusammenbindet, ist das zentrale Bild des Leidens als „Schmelzofen“. Das Bild kommt aus der Bibel und ist vielschichtig. Feuer ist zunächst einmal ein bekanntes Bild für Qual und Schmerzen. Die Bibel nennt Nöte und Prüfungen „durchs Feuer gehen“ (Jesaja 43,2, ELB) oder „das Feuer der Verfolgung“ (1. Petrus 4,12, ELB). Aber sie spricht auch vom „Feuer des Schmelzofens“ (1. Petrus 1,6–7, NGÜ). Statt von einem Schmelzofen könnten wir auch von einem Schmiedefeuer sprechen. Es ist extrem heiß und gefährlich, aber richtig benutzt, zerstört es den Gegenstand, den wir in es hineinlegen, nicht, sondern formt ihn, läutert und verfeinert ihn, ja macht ihn schöner. Dies ist eine bemerkenswerte Sicht vom Leiden: Im Glauben getragen, kann es uns am Ende nur besser und stärker machen, uns mehr Größe und Freude geben. Leid kann den Spieß des Bösen gleichsam umdrehen; es kann seine teuflischen Pläne vereiteln und aus Finsternis und Tod Licht und Leben kommen lassen.
Im ersten Teil dieses Buches werden wir uns den „Schmelzofen“ von außen anschauen. Wir werden das Phänomen des menschlichen Leidens untersuchen und wie verschiedene Kulturen, Religionen und Epochen der Geschichte versucht haben, den Menschen im Umgang mit dem Leid zu helfen. Wir werden uns auch das klassische philosophische „Problem des Bösen“ anschauen und wie man versuchen kann, es zu lösen. Dieser erste Teil wird zwangsläufig mehr referierend und „theoretisch“ sein. Er ist unerlässlich, wenn wir das ganze Bild sehen wollen, aber ein Leser, der gerade mitten in einer akuten Leidenssituation steckt, wird ihn möglicherweise zu „abstrakt“ finden.
Im zweiten Teil des Buches verlassen wir die mehr theoretischen Fragen und wenden uns dem zu, was die Bibel über das Leiden zu sagen hat. Wir beginnen damit eine Reise vom Philosophischen zum Persönlichen. Man könnte die Bibel fast mit einem Vater vergleichen, der seinem Kleinkind das Laufen beibringt, geduldig Schritt für Schritt. Die Bibel ruft uns auf, unverdrossen durch unsere Nöte hindurchzugehen. Dazu aber müssen wir ihre wunderbar ausgewogene und umfassende Leidenslehre verstehen, die sowohl zutiefst realistisch als auch erstaunlich hoffnungsvoll ist. Dies bewahrt uns vor den falschen Strategien des Weglaufens (also Vermeidung des Schmelzofens), des „Augen zu und durch“ (Verdrängung) und des passiven Alles-über-sich-ergehen-Lassens (Verzweifeln).
Im dritten Teil dieses Buches wird es am praktischsten. Die Bibel sieht das Bestehen im „Schmelzofen des Leidens“ nicht als eine Sache der richtigen Technik. Leid kann uns nur deshalb läutern und nicht kaputt machen, weil Gott mit uns durch das Feuer geht. Aber wie geht man in solchen Zeiten mit Gott? Wie richten wir uns auf ihn aus, sodass das Leiden uns läutert und nicht zerstört? Jedes Kapitel in diesem Teil kreist um eine Grundstrategie, wie man im Schmelzofen des Schmerzes Gottes Hand sucht. Die Kapitel sollten nicht als „Schritte“ gelesen werden, die in einer bestimmten Reihenfolge zu gehen sind, sondern vielmehr als verschiedene Aspekte oder Facetten eines einzigen Schrittes, der darin besteht, dem Gott nahe zu kommen, der gesagt hat: „Wenn du durchs Wasser gehst … wenn du durchs Feuer gehst … ich bin bei dir“ (vgl. Jes 43,2, ELB).
Falls Sie gerade mittendrin sind im Leiden, werden Sie vielleicht den zweiten und dritten Teil vor dem ersten lesen wollen. Sie finden dort eine solche Vielfalt von Möglichkeiten, mit Leid umzugehen, dass sie manchmal fast einander zu widersprechen scheinen. Diese Fülle ist eine der großen Stärken der Bibel als Buch für Leidende; die Bibel weiß darum, dass es viele Arten von Leid gibt, viele Ursachen und viele richtige Reaktionen. Um diese Vielfalt konkreter werden zu lassen, lasse ich viele Kapitel mit der Beispielgeschichte eines konkreten Menschen enden, der mit Gott durch ein Leid hindurchgegangen ist. Es sind Geschichten, die ebenso realistisch wie hilfreich sind. Die Bibel verspricht uns nirgends, dass es in diesem irdischen Leben ein „Happy End“ geben wird oder alle unsere Fragen beantwortet werden. Aber diese Beispiele zeigen, wie Menschen des Glaubens mit Gottes Hilfe durch verschiedene Schmelzöfen der Not hindurchgegangen sind, und wollen uns Mut machen, selbst in den dunkelsten Stunden Gottes Gegenwart zu erkennen. Vor allem in den dunkelsten Stunden.
In der vielleicht plastischsten biblischen Schilderung des Glutofens des Leidens, im 3. Kapitel des Buches Daniel, werden drei gläubige Männer buchstäblich in einen Ofen geworfen, um verbrannt zu werden. Doch da erscheint neben ihnen eine mysteriöse Gestalt. Die erstaunten Zuschauer sehen in dem Feuer nicht drei, sondern vier Männer, und der vierte sieht aus „wie ein Sohn der Götter“. Und so gehen die drei unversehrt durch die Flammen hindurch. Christen, die ihr Neues Testament kennen, wissen, dass dieser vierte Mann niemand anderes war als der Sohn Gottes, der Jahrhunderte später am Kreuz seinen eigenen, unendlich heißeren Glutofen des Leidens erleben würde. In Jesus Christus gewinnt der Gedanke, dass Gott mit uns durch das Feuer geht, eine ganz neue Dimension, denn in Jesus ist er in dem Feuer nicht nur an unserer Seite, sondern er erleidet mit uns den Schmerz der Flammen. Er ist wirklich der Immanuel, der „Gott mit uns“ in unserem Leid, der uns liebt und versteht.
Gott ist in unseren Schmelzofen hineingetreten, damit wir mitten im Feuer auf ihn sehen und wissen können, dass das Feuer uns nicht verbrennen, sondern schöner und größer machen wird. „Ich lass’ dich nicht fallen, ich bleibe dein Teil/ und wende dein Unglück in Segen und Heil.“10
„Was soll das noch?“, fragte mein Vater, als er im Sterben lag.
Manchmal zerstört Leiden so vieles, was dem Leben Sinn gibt, dass man schier nicht mehr kann. In den letzten Wochen seines Lebens musste mein Vater mit einer ganzen Palette schmerzhafter, tödlicher Krankheiten auf einmal kämpfen. Er hatte kongestive Herzinsuffizienz und gleich drei Krebsarten; dazu kamen noch eine Gallenkolik, ein Emphysem und akuten Ischias. Einmal sagte er zu einem Freund: „Was soll das noch?“ Er war zu krank, um die Dinge zu tun, die seinem Leben Sinn gaben. Wozu sich noch weiterquälen? Auf der Beerdigung meines Vaters erzählte jener Freund uns, wie er meinen Vater behutsam an einige Grundwahrheiten der Bibel erinnert hatte. Solange Gott ihn noch nicht abberufen hatte, gab es noch etwas, das er für seine Mitmenschen tun konnte. Jesus trug ein noch größeres Leiden geduldig für uns; da können wir geringere Leiden geduldig für ihn tragen. Und vor uns liegt der Himmel, wo alles gut sein wird. Diese wenigen, zutiefst mitfühlend gesprochenen Worte ließen in meinem Vater christliche Glaubenswahrheiten, die ihm seit vielen Jahren vertraut waren, wieder lebendig werden und gaben ihm neue Kraft für die letzte Wegstrecke seines irdischen Lebens.
Wir werden uns diese christlichen Glaubenswahrheiten später noch genauer ansehen. Hier nur so viel: Nichts ist wichtiger, als dass wir lernen, trotz Leid, Not und Schmerz ein sinnvolles Leben zu führen.
Zu den Schlüsselleistungen jeder Kultur gehört die Art, wie sieihren Gliedern hilft, mit den großen Angriffen des Bösen und des Leides umzugehen. Der Philosoph und Soziologe Max Scheler schrieb: „Ein Kernstück in den Lehren und Wegweisungen, welche die großen Religiösen und Philosophen den Menschen gaben, war überall und zu allen Zeiten eine Lehre vom Sinn des Schmerzes und des Leides im Ganzen der Welt, darauf gebaut aber eine Anweisung und Einladung, ihm richtig zu begegnen, das Leid richtig zu erleiden ‚oder es aufzuheben‘.“11 Soziologen und Anthropologen haben die verschiedenen Arten, wie Kulturen ihre Glieder auf Schmerz, Leid und Verlust vorbereiten, analysiert und verglichen, und ein Ergebnis dieses Vergleichs lautet oft, dass unsere heutige westliche Kultur hier im historischen Vergleich mit das schwächste Bild abgibt.
Alle Menschen sind getrieben von einer „innere(n) Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können.“12 Dies gilt auch für das Leid. Der Anthropologe Richard Shweder schreibt: „Die Menschen wollen offenbar durch ihr Elend erbaut werden.“13 Und der Soziologe Peter Berger sieht eine alte Funktion jeder Kultur in einer „Erklärung menschlicher Ereignisse, die der Erfahrung von Leid und Bösem einen Sinn verleiht.“14 Berger sagt hier, wohlgemerkt, nicht, dass das Leid als etwas in sich Gutes oder Sinnvolles dargestellt wird (dies ist verschiedentlich versucht worden, doch Kritiker haben diese Versuche zu Recht als eine Art philosophischen Masochismus bezeichnet), sondern es geht darum, zu zeigen, dass das Erfahren von Leid nicht vergeudete Zeit sein muss, sondern eine schmerzliche, aber sinnvolle Art sein kann, das Leben gut zu leben.
Dieser tiefe „innere Drang“ bedeutet, dass jede Kultur ihren Gliedern bei der Bewältigung von Leid helfen muss, will sie nicht unglaubwürdig werden. Wo das Leid überhaupt nicht erklärt und mithin als vollkommen sinnlos und gleichzeitig unausweichlich betrachtet wird, kann es bei seinen Opfern zu einem tiefen, bohrenden Hass kommen, den Friedrich Nietzsche, Max Weber und andere als Ressentiment bezeichnet haben15 und der die Gesellschaft ernsthaft destabilisieren kann. Und so muss, in der Sprache der Soziologen, jede Gesellschaft ihren Gliedern einen „Diskurs“ anbieten, der es ihnen ermöglicht, dem Leid einen Sinn abzugewinnen. Mit diesem Diskurs, zu dem eine Erklärung der Ursachen des Schmerzes sowie Anweisungen zum rechten Umgang mit ihm gehören, rüstet die Gesellschaft ihre Glieder für den Kampf des Lebens in dieser Welt zu.
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