Vergeben - warum eigentlich? - Timothy Keller - E-Book

Vergeben - warum eigentlich? E-Book

Timothy Keller

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Beschreibung

"... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ..." Wer will, dass Gott Schuld vergibt, muss auch selbst vergeben. So fordert es schon das Vaterunser. Vergebung ist nicht nur moralisches Gebot, sondern gehört grundlegend zum Menschsein. Schuld und Sünde können nur durch echte Vergebung wirklich bewältigt werden. Aber gerade angesichts von Missbrauchsskandalen, Gewalttaten, Kriegsverbrechen und Gräueln: Machen es sich Christen nicht zu einfach? Wird nicht oft billige Gnade gepredigt? Werden nicht die Täter vorschnell aus der Verantwortung entlassen und die Opfer zusätzlich belastet? Haben wir angesichts solcher Taten überhaupt das Recht, barmherzig zu sein und Gnade vor Recht ergehen zu lassen? Timothy Keller ist überzeugt: Keine Gnade wäre keine Option. Vergebung darf aber auch niemals billige Gnade sein und auch nicht nur ein bisschen Gnade (bei der das Opfer den Täter niemals wirklich freilässt). Vergebung muss "teure" Gnade sein, wie Dietrich Bonhoeffer sie beschreibt. Vergebung - warum eigentlich und was bedeutet das? Aber auch: Wie macht man das? Dieses Buch zeigt detailliert die Schritte, die man gehen muss, um wirklich zu vergeben, ohne die Gerechtigkeit oder die eigene Menschlichkeit zu opfern. Nur durch Vergebung kann es einen Neuanfang geben, werden Beziehungen geheilt und wirkliche Versöhnung möglich. "Pastor Keller liefert ein gründliches und eloquentes Plädoyer für Vergebung ... wer es liest, wird Kellers klare Prosa und seine Gabe, biblische Weisheit kurz und bündig zusammenzufassen, zu schätzen wissen. Das Ergebnis ist eine zum Nachdenken anregende Betrachtung darüber, wie man vergibt." (Publishers Weekly)

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Seitenzahl: 407

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Timothy Keller

Vergeben

Warum eigentlich?

Und wenn ja – wie?

Deutsch von Renate Hübsch

Titel der Originalausgabe: Forgive – Why should I and how can I

© 2022 by Timothy Keller

Veröffentlicht bei VIKING, einem Verlag der Verlagsgruppe Penguin Random House LLC

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Renate Hübsch

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung (NGÜ). © Neues Testament und Psalmen: Genfer Bibelgesellschaft Romanel-sur-Lausanne, Schweiz, 2011. © Texte Altes Testament: Genfer Bibelgesellschaft Romanel-sur-Lausanne, Schweiz, Brunnen Verlag GmbH Gießen, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Weitere verwendete Bibeltexte sind wie folgt gekennzeichnet:

EIN – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift.

© 2016 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

ELB – Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.

GNB – Gute Nachricht Bibel, © 2018 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Hfa – Hoffnung für alle®, © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica Inc.™.

LUT – Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

© der deutschen Ausgabe:

2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Uwe Bertelmann

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: Brunnen Verlag GmbH, Gießen

ISBN Buch 978-3-7655-3617-5

ISBN E-Book 978-3-7655-7868-7

www.brunnen-verlag.de

Für David A. Powlison und Donald A. Carson

Zwei Freunde und begnadete Bibellehrer, deren biblische Einsichten über Vergebung mir als Grundlage für dieses Buch dienten.

Inhalt

Das Gleichnis vom Diener, der keine Schuld erlassen wollte

Einführung: „Keine Zukunft ohne Vergebung“

Kapitel 1: Eine Geschichte der Vergebung

Kapitel 2: Die Verflüchtigung der Vergebung

Kapitel 3: Die Geschichte der Vergebung

Kapitel 4: Das Buch der Vergebung

Kapitel 5: Der Gott der Liebe und des Zorns

Kapitel 6: Gerechtigkeit und Liebe, Ehre und Missbrauch

Kapitel 7: Die Grundlagen der Vergebung

Kapitel 8: Die Notwendigkeit der Vergebung für uns

Kapitel 9: Gottes Vergebung annehmen

Kapitel 10: Anderen Vergebung gewähren

Kapitel 11: Von der Vergebung zur Versöhnung

Epilog

Danksagung

Anhang A: Grundsätze der Vergebung

Anhang B: Biblische Texte über Gottes Vergebung

Anhang C: Vergebung praktisch

Anhang D: Versöhnung praktisch

Anmerkungen

Das Gleichnis vom Diener, der keine Schuld erlassen wollte

Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er immer wieder gegen mich sündigt? Siebenmal?“ – „Nein“, gab Jesus ihm zur Antwort, „nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal!“

„Darum hört dieses Gleichnis: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der mit den Dienern, die seine Güter verwalteten, abrechnen wollte. Gleich zu Beginn brachte man einen vor ihn, der ihm zehntausend Talente schuldete. Und weil er nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und seinem ganzen Besitz zu verkaufen und mit dem Erlös die Schuld zu begleichen.

Der Mann warf sich vor ihm nieder und bat auf den Knien: ‚Hab Geduld mit mir! Ich will dir alles zurückzahlen.‘ Da hatte der Herr Mitleid mit seinem Diener; er ließ ihn frei, und auch die Schuld erließ er ihm.

Doch kaum war der Mann zur Tür hinaus, da traf er einen anderen Diener, der ihm hundert Denare schuldete. Er packte ihn an der Kehle, würgte ihn und sagte: ‚Bezahle, was du mir schuldig bist!‘

Da warf sich der Mann vor ihm nieder und flehte ihn an: ‚Hab Geduld mit mir! Ich will es dir zurückzahlen.‘ Er aber wollte nicht darauf eingehen, sondern ließ ihn auf der Stelle ins Gefängnis werfen, wo er so lange bleiben sollte, bis er ihm die Schuld zurückgezahlt hätte.

Als das die anderen Diener sahen, waren sie entsetzt. Sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles.

Da ließ sein Herr ihn kommen und sagte zu ihm: ‚Du böser Mensch! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich angefleht hast. Hättest du da mit jenem anderen Diener nicht auch Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?‘

Und voller Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er ihm alles zurückgezahlt hätte, was er ihm schuldig war. So wird auch mein Vater im Himmel jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von Herzen vergibt.“

(Matthäus 18,21-35)

Einführung„Keine Zukunft ohne Vergebung“

Für mich sind Vergebung und Mitgefühl immer miteinander verbunden: Wie können wir Menschen für ihr Fehlverhalten zur Rechenschaft ziehen und gleichzeitig mit ihrer Menschlichkeit in Kontakt bleiben, um an ihre Fähigkeit zur Veränderung zu glauben?

Bell Hooks im Gespräch mit Maya Angelou1

Umstrittene Vergebung

Der schwarze südafrikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, der unter der Apartheid aufgewachsen war und viele Jahre im Gefängnis verbracht hatte, wurde nicht müde zu betonen, dass es „ohne Vergebung keine Zukunft“ für Südafrika gebe. Er lehnte das Modell der Nürnberger Prozesse ab, das im Nachkriegsdeutschland bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen während der Herrschaft der Nationalsozialisten angewandt wurde. Dieser Ansatz hätte für alle Personen, die wegen Gewaltverbrechen unter dem Apartheid-Regime angeklagt waren, ein abgeschlossenes Gerichtsverfahren und eine entsprechende Verurteilung erfordert. Tutu entwarf stattdessen einen Plan, der Amnestie und Vergebung für alle Gewalttäter – Schwarze oder Weiße – vorsah, die sich melden und öffentlich die volle Wahrheit über ihre Taten während bestimmter genau benannter Jahre bekennen würden.

Diejenigen, die zu ihren Taten standen, wurden nicht strafrechtlich verfolgt, aber weil das Licht der Wahrheit darauf fiel und die Taten bekannt gemacht wurden, konnte die Gesellschaft in die Zukunft blicken. Für die Täter gab es natürliche Konsequenzen, moralische und soziale. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission schuf Gelegenheiten, persönliche Vergebung zu gewähren und Beziehungen wiederherzustellen. Bischof Tutu argumentierte, in Südafrika wäre die Alternative zur Vergebung der Kreislauf der Gewalt gewesen, wie er auf dem Balkan nach dem Zerfall Jugoslawiens zu beobachten war.2 Als Desmond Tutu in der letzten Woche des Jahres 2021 starb, schrieb ich folgenden Beitrag auf Twitter:

Viele vertreten die Ansicht, dass die „Vergebungskultur“ den Tätern hilft, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Desmond Tutu argumentierte: Ohne Vergebung behalten die Täter uns im Griff. Er vertrat die Position, dass es möglich sei, gleichzeitig Vergebung und Gerechtigkeit anzustreben. Er lehnte das Modell der Nürnberger Prozesse ab und setzte Wahrheit und Versöhnung dagegen.3

Wie erwartet waren die Reaktionen auf diesen Tweet gemischt. Viele Menschen, die Missbrauch erlebt hatten, warnten davor, dass die Forderung nach Vergebung gegen die Opfer verwendet würde, indem man sie aufforderte, nach vorn zu schauen, über das Erlittene hinwegzukommen und zu vergeben. Einige sahen darin eine Strategie von Institutionen und Missbrauchstätern, um sich der Verantwortung zu entziehen. Und doch konnten die meisten dieser Stimmen nicht leugnen, was Desmond Tutus Kommission erreicht hatte. Jemand antwortete auf den Tweet: „Menschen aufzufordern, zu vergeben und nach vorn zu schauen […], hilft Missbrauchstätern, sich der Verantwortung zu entziehen.“ Aber dann ergänzte er oder sie: „Ich weiß, dass Pfarrer Tutu eine erstaunliche Arbeit geleistet und wahre Gnade bewiesen und gelehrt hat.“

Andere meinten, dass Tutus Modell unsere derzeitige Cancel-Culture verändern könnte. Michael Dyson – Pastor, Collegeprofessor, Radiomoderator, Kolumnist der New York Times und Autor mehrerer Bestseller u. a. über Martin Luther King Jr. – räumte ein, dass sein Aufruf zur Vergebung heute „überholt, pathetisch oder geradezu irrelevant erscheinen mag […], selbst für die meisten Verfechter der sozialen Gerechtigkeit“, aber er forderte alle auf, ihm dennoch Aufmerksamkeit zu schenken.4

Das Verblassen des Verzeihens

Wie in einem Mikrokosmos lässt sich in den widersprüchlichen Reaktionen auf Tutus Werk nach seinem Tod die zwiespältige Haltung unserer eigenen Gesellschaft zur Vergebung beobachten. Im Juni 2020 tweetete Elizabeth Bruenig von der New York Times:

„Ein geistiges Klima, das ständige Sühne fordert, aber den bloßen Gedanken der Vergebung aktiv verachtet, hat etwas Untragbares an sich.“5

Schnell wurde sie mit empörten E-Mails überschwemmt und löschte bald, was sie geschrieben hatte, aus Betroffenheit darüber, welchen Aufruhr sie verursacht hatte. In einem Gespräch erklärte sie jedoch, dass wir eine Kultur haben, die von einem übersteigerten Gerechtigkeitssinn und dem Wunsch geprägt ist, Menschen für ihre Sünden büßen zu lassen. „Ich [sehe] in der amerikanischen Kultur, wie anstößig die Idee des Verzeihens für die Menschen ist. Sie scheinen es unmoralisch zu finden, und ich denke, das ist sehr beunruhigend.“6

Viele finden das Konzept der Vergebung zunehmend problematisch. Nach den Todesfällen der beiden Afroamerikaner Michael Brown in Ferguson, Missouri, und Eric Garner in New York City im Jahr 2014 entstand eine neue Bewegung für Gerechtigkeit zwischen den Ethnien, die ursprünglich von einem neuen Netzwerk namens Black Lives Matter ausgelöst wurde. Doch nach der Ermordung von George Floyd in Minneapolis im Mai 2020 nahmen die Forderungen nach einer Änderung des systemischen Rassismus in den westlichen Gesellschaften ein Ausmaß an, das den Rahmen einer einzelnen Organisation weit überstieg. Millionen Menschen gingen weltweit auf die Straße, um Veränderungen zu fordern. Diese neue Bewegung schlug andere Töne an als die Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren. „Dies ist nicht die Bürgerrechtsbewegung eurer Großeltern“7, sagte der Rapper Tef Poe. Diese Bewegung, so meinte er, würde viel zorniger sein.

Unser kulturelles Problem mit der Vergebung ist nicht nur auf ethnische Konflikte beschränkt. Auch die #MeToo-Bewegung hat große Probleme damit, wenn an Vergebung appelliert wird. Viele Frauen fragen: Ermutigt es die Täter nicht nur zu weiterem Missbrauch, wenn man verzeiht? Auch die Welt der sozialen Medien scheint ein Bereich zu sein, in dem Fehltritte und ungesetzliche Beiträge nie verziehen werden. Stattdessen können Screenshots von jedem unbedachten Wort, das irgendjemand jemals online geäußert hat, auf ewig in Umlauf sein.

Selbst nachdem sich die TV-Größe Whoopi Goldberg für beleidigende Äußerungen über den Holocaust entschuldigt hatte, wurde sie ausgeschlossen und bestraft. Der jüdische Schriftsteller Nathan Hersh fand diesen Mangel an Vergebung „beunruhigend“. Er fand Goldbergs Äußerungen ebenfalls antisemitisch und beleidigend, aber er verwies auf die jüdische und biblische Tradition, dem Menschen, der Reue zeigt, zu vergeben. Er äußerte die Befürchtung, dass das Bedürfnis der Kultur, selbst diejenigen ins Abseits zu stellen, die zur Veränderung bereit sind, nicht dazu dienen würde, Bigotterie abzubauen. Es könnte sie sogar noch verstärken.8

„Zur Hölle mit der Vergebungskultur“

Angehörige der neun in Charleston, South Carolina, getöteten Afroamerikaner sagten öffentlich zu dem Amokläufer Dylann Roof: „Ich vergebe Ihnen.“ In einem Kommentar in der Washington Post schrieb die bekannte Journalistin und Aktivistin für den Schutz von Kindern vor Gewalt, Stacey Patton, daraufhin: „Das schwarze Amerika sollte aufhören, weißen Rassisten zu vergeben.“9 Die Erwartung, dass Schwarze vergeben sollten, und die Bewunderung dafür, so schrieb sie, „dienen dem Schutz des Weißseins […]. Beides ermöglicht es den Weißen, die Schäden zu leugnen, die rassistische Gewalt verursacht […], ständiges Verzeihen setzt den Kreislauf von Angriffen und Missbrauch nur fort.“ Schnell zu verzeihen, so sagte sie, führe schließlich zur Unfähigkeit, die Täter für ihr Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen.

Im September 2018 kam Amber Guyger, eine Polizeibeamtin aus Dallas, von der Arbeit nach Hause und betrat eine benachbarte Wohnung, die sie fälschlicherweise für ihre eigene hielt. Als sie in der Wohnung einen Schwarzen sah, schoss sie auf ihn und tötete ihn. Es war Botham Jean, ihr unbewaffneter Nachbar, der in seiner eigenen Wohnung vor dem Fernseher saß. Kurz nachdem Guyger vor Gericht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war, verzieh der Bruder des Opfers, Brandt Jean, ihr öffentlich und umarmte sie. Die landesweiten Reaktionen auf diese bewegende Szene waren höchst unterschiedlich.

Das Institute for Law Enforcement Administration verlieh Brandt den Ethical Courage Award 2019.

Aber andere vertraten die Ansicht, eine solche öffentliche Vergebung der Schwarzen gegenüber den Weißen führe nur dazu, dass die weiße Vorherrschaft gefestigt wird. Der schwarze Journalist und Menschenrechtsaktivist Kevin Powell schrieb einen Artikel mit der Überschrift „Der Irrsinn von Weißer Gerechtigkeit und Schwarzer Vergebung: Einen weiteren tragischen Verlust eines Menschenlebens zu einer Kitschpostkarte zu reduzieren, ist keine Gerechtigkeit“.10 Der Anwalt und Aktivist Preston Mitchum twitterte: „Schwarze Menschen werden schon immer gezwungen, den Kolonisatoren gegenüber Mitgefühl zu zeigen, und es wird ihnen ein schlechtes Gewissen eingeredet, wenn sie es nicht tun.“11

In derselben Zeitung schrieb die siebzigjährige Barbara Reynolds, die in den 1960er-Jahren an den Bürgerrechtsprotesten teilgenommen hatte, eine Gegendarstellung zu Stacey Pattons Artikel. Sie argumentierte, dass die von Martin Luther King Jr. und Nelson Mandela angeführten Bewegungen deswegen die moralische Oberhand gewonnen und die Mehrheit überzeugt hatten, weil sie von der „Ethik der Liebe, der Vergebung und der Versöhnung“ geprägt waren. Dass sie sich durchgesetzt hatten, sei zurückzuführen auf die „Kraft des spirituellen Ansatzes“.12

Reynolds schloss ihren Artikel mit der Feststellung, dass Liebe und Vergebung „in dieser Bewegung fehlen“. Vergebung, so argumentierte sie, entwaffne die Unterdrücker und gewinne viele ihrer Anhänger und schwäche so das System. „Wenn man zornig wird“, so zitiert sie den ehemaligen Bürgermeister von Atlanta und Bürgerrechtsaktivisten Andrew Young, „ist das ansteckend, und am Ende handelt man genauso schlecht wie die Täter.“ Der derzeitige zornige Ansatz könne zwar zu kurzfristigen Erfolgen führen, werde das Land aber letztlich nur spalten, statt es zu einen.

Und doch – haben Menschen, die wie Stacey Patton frustriert sind, weil sich nichts ändert, nicht auch recht? Ist es nicht so, dass eine permanent unterdrückte Gruppe von Menschen, die ihren Unterdrückern vergibt, lediglich das System stabilisiert?

Sabine Birdsong macht für den Missbrauch der Vergebung nicht nur eine schlechte Praxis verantwortlich, sondern das Christentum an sich. In einem Blogbeitrag mit dem aufsehenerregenden Titel „Zur Hölle mit der Vergebungskultur“ argumentierte sie, dass „wir weiterhin glauben, dass Vergebung einen Menschen überlegen macht und dass jeder, der etwas so Einfaches nicht zuwege bringt, die Schuld bei sich suchen sollte“. Die Autorin macht dafür „eine tief eingeprägte religiöse Nachwirkung aus dem Christentum“ verantwortlich, eine Denkweise, die „sich in Geboten wie Vergeben und Vergessen, die andere Wange hinhalten“ manifestiert. Wir verurteilen Menschen, die nicht vergeben wollen, und sagen, sie „vergiften sich selbst“, was „einer weiteren abrahamitischen kulturell geprägten Schuldzuweisung gleichkommt. Kurz gesagt, es ist Opferbeschuldigung.“ Dies diene nur dazu, Missbrauchstätern zu helfen, die „ungestraft handeln können [… weil] sie ungeachtet der Schwere ihrer Taten in der selbstgefälligen Gewissheit ruhen können, dass ihnen vergeben wird“. Die Betonung der Vergebung führe tendenziell auch dazu, die Täter als Menschen zu sehen, was es schwieriger mache, sie zur Verantwortung zu ziehen. „Die Menschen lieben eine gute Erlösungsgeschichte. Dieses [Vergebungs-]Narrativ ist nichts weiter als ein bloßes Mittel, um […] dem Täter auf Kosten der Opfer charakterliche Tiefe zu verleihen.“13

In einem Folgeartikel fordert die Autorin, dass wir „die überholten Vorstellungen von Vergebung neu schreiben“, die „das pseudo-spirituelle Märchen von Erlösung und Vergebung“ idealisieren und „über das inhärente Recht der Menschen, nicht missbraucht zu werden“, stellen.14

Dieses letzte Zitat stellt das Problem klar heraus, das wir heute empfinden: den offensichtlichen Widerspruch zwischen Vergebung und Gerechtigkeit, das Gefühl, dass wir das eine dem anderen vorziehen müssen.

Aber ist das wahr?

Das unauslöschliche Bedürfnis nach Vergebung

Das menschliche Bedürfnis nach Vergebung scheint unauslöschlich zu sein. Es verschwindet nicht, wenn man es anprangert oder versucht, es zu dekonstruieren. Damit meine ich sowohl ein tiefes Bedürfnis, Vergebung zu gewähren, als auch Vergebung zu empfangen.

In der Silvesternacht des Jahres 1843 stand in einer lutherischen Gemeinde in Möttlingen ein junger Mann vor der Tür des Pfarrers Johann Blumhardt. Er beichtete viele Sünden und Verfehlungen, gravierende wie weniger schwere. Der Mann erfuhr große Erleichterung und das sprach sich herum. Bis Ende Januar waren 35 Menschen gekommen, um ihre Gewissen bei dem Pfarrer zu erleichtern und Gott um Vergebung zu bitten. Bis Mitte Februar waren es bereits über 150.

Diese Erweckung, über die an verschiedenen Stellen berichtet wird, war wegen der konkreten Verhaltensänderungen, die sie bewirkte, bemerkenswert. „Gestohlene Güter wurden zurückgegeben, Feinde wurden versöhnt, Untreue wurde gebeichtet und zerbrochene Ehen wiederhergestellt. Verbrechen, darunter ein Fall von Kindermord, wurden aufgeklärt“, und Alkoholiker wurden trocken.15 Hier sehen wir ein Beispiel dafür, wie die Gewährung von Vergebung in dieser Stadt eine Bewegung für mehr Gerechtigkeit auslöste.

Ziemlich zu Anfang von Jesu öffentlichem Wirken brachte eine Gruppe von vier Freunden einen gelähmten Mann in das Haus, in dem er sprach, weil sie hofften, eine Heilung für ihn erwirken zu können. „Doch es herrschte ein solches Gedränge, dass sie nicht zu ihm durchkamen. Da deckten sie das Dach über der Stelle ab, wo Jesus sich befand, und machten eine Öffnung, durch die sie den Gelähmten auf seiner Matte hinunterließen“ (Markus 2,4). Zum Erstaunen aller heilte Jesus zunächst nicht die Lähmung des Mannes. Vielmehr lesen wir: „Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: ‚Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!‘“ (Vers 5).

Versetzen Sie sich einen Moment lang in die Situation des gelähmten Mannes. Vermutlich hätten Sie gedacht (und wenn Sie eine mutige Persönlichkeit sind, hätten Sie es vielleicht auch gesagt): „Äh, danke – aber ist es nicht offensichtlich, dass ich hier ein dringenderes Bedürfnis habe?“ Und wenn Sie das gesagt hätten, hätte Jesus geantwortet: „Nein, das stimmt nicht.“

Wahrscheinlich hatte der Mann das Gefühl: „Wenn ich nur wieder laufen könnte – dann wäre ich glücklich. Ich würde mich nie beklagen. Ich würde zufrieden sein.“ Aber Jesus sagt gewissermaßen: „Sieh dich um, und sieh dir all diese Menschen an – sie können alle laufen. Aber sind sie in ihrem Herzen zufrieden? Sind sie alle glücklich? Wenn ich dich nur heile, wirst du eine Zeit lang überglücklich sein, aber dann wirst du werden wie alle anderen auch.“ Nein. Was der Mann brauchte, war Vergebung. Vergebung geht den Dingen auf den Grund – der Entfremdung von Gott und von uns selbst, die wir empfinden, weil wir eben Dinge falsch machen.

Was Jesus hier sagt, ist im Grunde: „Ich will euch zeigen, dass das tiefste Bedürfnis, das ihr als Menschen habt, das Bedürfnis nach mir ist. Nur ich kann euch vollkommene Liebe, neue Identität, unendlichen Trost, Hoffnung und Herrlichkeit schenken. Und das Tor zu alldem ist es, zu erfahren, was Vergebung ist.“

Es ist an der Zeit, diese Tür zu öffnen und hindurchzugehen.

Kapitel1Eine Geschichte der Vergebung

WILL MUNNY: Es ist eine höllische Sache, einen Menschen zu töten, nicht wahr? Man nimmt ihm alles, was er hat, und alles, was er je haben wird.

THE SCHOFIELD KID: Na ja, ich schätze, sie haben es … verdient.

WILL MUNNY: Wir haben es alle verdient, Kid.

(Im Film „Erbarmungslos“, 1992)

Eine Geschichte vom Scheitern der Vergebung

Tom war professioneller Investor. In den letzten Jahren hatte er mit seinem Aktienportfolio gute Ergebnisse erzielt. Voller Zuversicht wandte er sich an seinen wohlhabenden Freund Joseph und bat ihn um einen enormen Kredit, um damit große Anteile an verschiedenen heißen Aktien zu kaufen. Er versprach Joseph eine hohe Rendite, und angesichts der bisherigen Ergebnisse schien dies auch durchaus möglich. Allerdings verheimlichte er Joseph eine Reihe von Fakten über die Unternehmen, in die er investierte.

Als eines der Unternehmen in eine Krise geriet und sich der Markt gegen Toms Aktien entwickelte, verlor Joseph Millionen. Als er sah, was passiert war, schrieb er:

„Wie konntest du mir das antun, Tom? Ich habe deinem Wort vertraut, und du hast mir das Risiko verschwiegen, dem du mich ausgesetzt hast. Du hast mich betrogen. Ich verlange, dass du mir mein Geld zurückzahlst, und ich werde vor Gericht gehen und dafür sorgen, dass das geschieht.“

Tom suchte Joseph auf. Er ging in Josephs Büro, setzte sich und brach in Tränen aus. „Wenn du mich auf diesen Betrag verklagst, werde ich buchstäblich nichts mehr haben! Bitte verzeih mir!“

Und Joseph vergab ihm. Es war ein erstaunlicher Akt der Barmherzigkeit. Joseph hatte wegen Toms Fehlspekulation ein Vermögen verloren, aber er vergab ihm.

Toms Freunde waren fassungslos, als er ihnen von Josephs Großmut und Großzügigkeit erzählte. Aber ebenso fassungslos waren sie, als sie sahen, was Tom als Nächstes tat. Ein Mann in ihrem Freundeskreis, Harry, hatte gerade eine schmerzhafte Scheidung hinter sich. Seine Frau hatte das Haus und das Sorgerecht für die Kinder bekommen, und Harry lebte in einem kleinen gemieteten Zimmer mit sehr geringem Einkommen.

„Hey“, sagte Tom einige Tage nach seinem Treffen mit Joseph zu Harry, „ich habe dir letztes Jahr fünftausend Dollar geliehen, und ich brauche sie jetzt zurück.“

„Du hättest mich nicht zu einem schlechteren Zeitpunkt fragen können“, sagte Harry. „Das ist fast alles, was ich an Ersparnissen habe. Wenn ich dir das Geld geben würde, stünde ich auf der Straße. Bitte gib mir mehr Zeit – oder, wenn du dazu bereit wärst, erlass mir die Schulden einfach ganz. Das könnte ich gerade ziemlich gut brauchen.“

„Wofür hältst du mich?“, lachte Tom. „Wenn du es mir nicht gibst, werde ich Wege finden, dir das Leben ziemlich ungemütlich zu machen! Bezahl jetzt, sonst wirst du mich kennenlernen.“

Einer von Toms entsetzten Freunden wandte sich an Joseph und erzählte ihm die ganze Geschichte. Joseph rief Tom an und sagte: „Hättest du deinem Freund nicht seine Schulden erlassen sollen, so wie ich dir deine erlassen habe? Morgen reiche ich meine Klage gegen dich wegen des Verlusts meines Geldes erneut ein. Sollen sich doch die Gerichte mit dir befassen.“

Das Gleichnis vom Diener, der keine Schuld erlassen wollte

Sicher haben Sie schon erkannt, dass ich hier ein Gleichnis von Jesus selbst nacherzählt habe (es ist auch am Anfang dieses Buchs abgedruckt). Es ist vielleicht die ausführlichste Behandlung des Themas Vergebung im Neuen Testament. Aber Jesus wählt nicht die Form einer Abhandlung oder eines Essays. Vielmehr handelt es sich um eine fesselnde, tragische Geschichte. Dieser realistische Bericht über das Leben in dieser Welt zeigt, wie ein Akt der Vergebung trotz seines heilenden, lebensverändernden Potenzials in einer Weise missbraucht werden kann, die alle Beteiligten ins Verderben stürzt.

Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er immer wieder gegen mich sündigt? Siebenmal?“ – „Nein“, gab Jesus ihm zur Antwort, „nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal!“ (Matthäus 18,21-22).

Jesus hat dem Thema Vergebung in seiner Verkündigung einen hohen Stellenwert eingeräumt. Der einzige Zusatz zum Vaterunser selbst ist Matthäus 6,14-15. Hier sagt Jesus mit Nachdruck, dass Gott uns die Vergebung verweigern wird, wenn wir anderen die Vergebung verweigern.

Die Jünger sind perplex angesichts der Feststellung Jesu, dass die Vergebung durch Gott und die Vergebung gegenüber anderen voneinander abhängig sind. Die Frage von Petrus zeigt seine Besorgnis, dass das Gebot Jesu von einem skrupellosen Täter dazu benutzt werden könnte, sich an anderen zu versündigen, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Deshalb schlägt Petrus eine Grenze vor. „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder oder meiner Schwester vergeben, wenn sie immer wieder gegen mich sündigen? Siebenmal?“ Petrus’ Vorschlag ist ihm selbst wohl großzügig erschienen – nach dem jüdischen Talmud (b. Yoma 86b-87a) müssen wir ein und derselben Person nur dreimal vergeben.1

Jesus weigert sich, eine Grenze für die Vergebung gelten zu lassen. Seine schockierende Feststellung lautet, dass wir „nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“ vergeben müssen. Der von ihm verwendete Begriff wird manchmal so übersetzt, dass er siebzig mal sieben oder 490 Mal bedeutet. Aber wenn man sich auf die genaue Zahl fixiert, verfehlt man völlig, was Jesus meint. Die Zahl sieben steht für Vollständigkeit. „Und das bedeutet, dass diese Aussage Jesu […] die Sprache der Übertreibung, nicht der Berechnung verwendet. Wer sich Gedanken darüber macht, ob die Zahl 77 oder 490 lauten soll, hat das Wesentliche nicht begriffen. […] Es gibt keine Grenze, keinen Platz dafür, darüber Buch zu führen, wie viel Vergebung bereits verbraucht wurde. Die Frage von Petrus ging völlig an der Sache vorbei: Wenn man noch zählt […], dann vergibt man nicht.“2

Um diese verblüffende Behauptung zu untermauern, erzählt Jesus das Gleichnis vom Diener, der keine Schuld erlassen wollte (Matthäus 18,21-35, vgl. S. 7).

Das Vergehen. Ein König hatte einen Diener, der ihm zehntausend Talente schuldete. Alle Ausleger weisen darauf hin, dass diese Summe bewusst unrealistisch angesetzt ist. Ein gewöhnlicher Arbeiter konnte damit rechnen, in einem Jahr vielleicht ein einziges Talent zu verdienen. Umgerechnet auf heute, wo ein Arbeiter vielleicht 40.000 Euro im Jahr verdient, macht das eine Schuld von 400 Milliarden Euro – mehr als das heutige Bruttosozialprodukt von 80 Prozent aller Länder der Welt. Auch wenn wir davon ausgehen, dass es sich um eine Fiktion handelt, müssen wir dennoch verstehen, was Jesus damit sagen wollte. Warum hat er eine unvorstellbar hohe Zahl gewählt? Im Rahmen der Geschichte kann es sich nicht um einen geschäftlichen oder persönlichen Kredit gehandelt haben. Kein König im wirklichen Leben hätte einem Diener zehntausend Talente geben können oder wollen.

Manche meinen, Jesus wolle, dass sich die Zuhörer einen Diener vorstellen, der ein reicher Statthalter oder Satrap im Reich ist und der durch epische Misswirtschaft und Pflichtverletzungen die gesamte Wirtschaft und das Reich selbst in Gefahr gebracht hat. Andererseits könnte es sein, dass das Matthäusevangelium bewusst sagen will, dass es hier um etwas geht, was das Gefüge der weltlichen Realitäten sprengt. Das Talent war die größte Währungseinheit im Reich, und Zehntausend war die höchste Zahl, für die es in der griechischen Sprache ein eigenes Wort gab.3 Vielleicht spricht Jesus einfach anschaulich von einer grenzenlosen, nicht zu bemessenden Schuld.

Der König stellt den Diener zur Rede und verlangt von ihm, dass er seine Schulden begleicht, aber das ist etwas Menschenunmögliches. Der in den Kulturen des Altertums übliche Weg, um mit einem Bankrott umzugehen, war, den Schuldner zum Sklaven zu machen, und so fordert der König seinen Verkauf, obwohl er dadurch natürlich seine Verluste nicht wieder wettmachen kann.

Die Bitte. Der Diener bittet den König: „Hab Geduld mit mir, ich will es dir zurückzahlen.“ Dass er auf die Knie fällt, zeigt tiefe Emotionen, echten Kummer über das begangene Unrecht. Das Angebot, „alles zurückzuzahlen“, ist nicht nur ein Ausdruck des Bedauerns, sondern ein Angebot zur Wiedergutmachung. Doch selbst die aufrichtigsten Bemühungen des Dieners könnten das Geld, das König und Reich verloren haben, nicht ersetzen.

Der Freispruch. Daraufhin „ließ der König ihn frei“ und „auch die Schuld erließ er ihm“. Er spricht ihn frei von jeder Haftung und Verpflichtung. Die Bitte des Dieners um „Geduld“ – makrothumeo, ein griechisches Wort, das wörtlich „langsam kochend oder schmelzend“ bedeutet – deutet auf den Preis der Vergebung hin. Eine ältere Übersetzung für makrothumeo war „langmütig“. Langmut ist die Fähigkeit, Leid mutig zu ertragen, anstatt ihm zu erliegen. Jemandem seine Schulden zu erlassen, bedeutet, die Schulden selbst zu übernehmen. Wenn ein Freund sich Ihr Auto leiht, es rücksichtslos zu Schrott fährt und nicht in der Lage ist, Sie finanziell zu entschädigen, können Sie sagen: „Ich vergebe dir“, aber der Preis für das Unrecht löst sich nicht in Luft auf. Entweder Sie treiben das Geld auf, um ein neues Auto zu kaufen, oder Sie verzichten auf ein Auto. In jedem Fall bedeutet Vergebung, dass die Kosten für das Unrecht vom Verursacher auf Sie übergehen und Sie sie tragen müssen.

Vergebung ist also eine Weise, freiwillig Leid auf sich zu nehmen. Wenn man vergibt, anstatt Vergeltung zu üben, trifft man die Entscheidung, die Kosten zu tragen.

Das neue Vergehen. In der nächsten Szene sehen wir, wie der Diener, dem die Schuld erlassen wurde, einen zweiten Diener trifft. Dieser zweite Mann schuldet dem ersten den modernen Gegenwert von ein paar Euro. Aber der Diener, dem vergeben wurde, packt ihn und beginnt ihn zu würgen! Der zweite Diener äußert dem ersten Diener gegenüber die gleiche Bitte wie der erste Diener dem König gegenüber. Aber als der Schuldner das Geld nicht sofort aufbringen kann, wirft der Diener, dem selbst so große Schuld erlassen wurde, ihn ins Gefängnis.

Der Urteilsspruch. Als der König dies hört, ruft er den ersten Diener zu sich und sagt: „Wie kann jemand, der die überreiche Barmherzigkeit erfahren hat, die ich dir gegenüber bewiesen habe, sich anderen gegenüber so grausam und kleinlich verhalten?“ Und damit wirft er den ersten Diener ins Gefängnis. Jesus beendet seine Beispielerzählung mit einem Satz, bei dem uns das Herz zu Eis gefrieren kann: „So wird auch mein Vater im Himmel jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von Herzen vergibt.“

Die Bedeutung ist nicht schwer zu erfassen. Der König ist Gott. Wir alle sind der Diener. Die zehntausend Talente sind die unendliche Schuld, die wir Gott schulden. Gott hat uns erschaffen und erhält unser Leben in jeder einzelnen Sekunde – wir schulden ihm also unendliche Liebe, Vertrauen und Gehorsam. Aber wir geben ihm das nicht. Es gibt keinen Menschen auf der Erde, der nicht in irgendeiner Weise die Barmherzigkeit Gottes erfährt (vgl. Psalm 145). Dennoch bleibt die Art und Weise, wie wir andere Menschen behandeln, unendlich weit hinter der großzügigen Barmherzigkeit zurück, mit der Gott uns begegnet.

Wir haben nun ein Grundverständnis dieses Gleichnisses gewonnen. Im Folgenden möchte ich entfalten, was wir daraus über Gottes Vergebung für uns und unsere Vergebung für andere lernen.

Die Schwierigkeit der Vergebung

Wie wir gesehen haben, wird Vergebung in unserer Gesellschaft als schwierig und problematisch empfunden. Das Gleichnis ist in dieser Hinsicht mehr als realistisch.

Es fällt uns schwer, Vergebung anzunehmen. Die enorme Schuld, die der Diener hat, zeigt uns, dass unsere Schuld gegenüber Gott zu groß ist, als dass wir sie jemals begleichen könnten. Gottes Vergebung kann in keiner Weise verdient werden – sie muss absolut frei geschenkt werden. Das erbärmliche Angebot des Dieners, dem König das Geld zurückzuzahlen, ist ebenso unrealistisch wie jeder Versuch, uns den Weg in den Himmel durch das Gute, das wir tun, zu verdienen. Zu Gott zu sagen: „Wenn du mir vergibst, werde ich jede Woche in die Kirche gehen und mich bemühen, ein besserer Mensch zu sein“, ist genauso sinnlos, wie zu sagen: „Ich zahle die vierhundert Milliarden Euro zurück, indem ich jeden Monat fünf Euro überweise.“ Es ist auch sinnlos, wie der unbarmherzige Diener zu denken: „Wenn ich mich selbst kleinmache und erniedrige und krieche, werde ich der Vergebung würdig sein.“ Keine noch so heftige Selbstbezichtigung kann den Schaden, den wir angerichtet haben, ungeschehen machen. Unsere einzige Hoffnung ist die erstaunliche, frei geschenkte Gnade und Vergebung von Gott selbst.

Vergebung ist nicht nur für uns schwierig. Wir müssen hier sehr sorgfältig und mit allem Respekt sprechen, aber das Gleichnis weist auf etwas hin, was wir auch im Rest der Bibel sehen werden, nämlich dass es selbst für Gott Hindernisse für die Vergebung gibt. Die Geschichte deutet an, dass Vergebung Gott außerordentlich teuer zu stehen kommt. Das Gleichnis spricht dies nicht direkt an, aber Jesus wählt bewusst eine unvorstellbar große Schuld, von der er weiß, dass selbst ein großer König sie nicht vergeben könnte, ohne sein Reich zu destabilisieren. Wie teuer die Vergebung, die wir von Gott erbitten, Gott selbst zu stehen kommt, bleibt außerhalb des Rahmens dieses Gleichnisses.4 Es wird jedoch angedeutet – und das ist wichtig.

Auch Vergebung zu gewähren, fällt uns schwer. Der vielleicht schockierendste Teil der Geschichte ist die Herzlosigkeit des Dieners, dem vergeben wurde, gegenüber anderen. Wie kommt es, dass er sich von der Barmherzigkeit des Königs nicht erweichen und verwandeln lässt? Als Zuhörer der Geschichte können wir die Ungereimtheit klar erkennen. Doch wir, die wir jede Sekunde unseres Lebens nur von der Barmherzigkeit Gottes leben, versäumen es jeden Tag, freundlich, barmherzig, großzügig, gütig und vergebungsbereit zu sein. Diese Geschichte ist also ein Pfeil, der direkt auf unser eigenes Herz gerichtet ist.

Die Definition der Vergebung

Natürlich gibt es für uns nichts Wichtigeres, als zu fragen: Was ist eigentlich Vergebung? Wie wir sehen werden, sind falsche Auffassungen von Reue und Vergebung fatal, sowohl geistlich als auch gesellschaftlich. Aber dieses Gleichnis hilft uns, die Kerndefinition von Vergebung zu verstehen. In der Person des Königs tut Gott vier Dinge – er bringt den Mann vor sich, hat dann aber Mitleid mit ihm, vergibt ihm die Schuld und lässt ihn frei.5

Der Mann wird zunächst „vor [den König] gebracht“ (Vers 24). Dann wird die eigentliche Schuld benannt. Vergebung beginnt damit, dass man die Wahrheit sagt, dass man seine Schuld offenlegt, anstatt sie mit Ausreden oder Halbwahrheiten zu vertuschen.

Aber dann hat der König Mitleid mit ihm (Vers 27). Mitleid mit einem Menschen zu haben, der einem Unrecht zugefügt hat, bedeutet, dass man bewusst die innere Arbeit auf sich nimmt, Verständnis aufzubringen für die Situation des Täters, für seine Verletzlichkeit. Und das tun wir nicht von Natur aus. Unser Herz will sich nur darauf konzentrieren, wie schlimm der Täter ist und wie sehr er es verdient, zu leiden. Aber der König, der Gott repräsentiert, sieht den Täter nicht nur als Verursacher des Bösen, sondern als einen Menschen mit seinen eigenen Ängsten und Sorgen.

Der Schuldenerlass (Vers 27) bringt uns zum Kern der Vergebung. Wenn der König die Schuld vergibt, bedeutet das, dass er den Verlust auf sich nimmt. Wenn ich von jemandem ein Darlehen aufnehme und dann sage, dass ich es nicht zurückzahlen kann, und der Gläubiger mir die Schuld erlässt, bedeutet das, dass er den Verlust tragen muss. „Aber wie funktioniert das“, fragen Sie, „wenn es nicht um Geld geht?“ Vergebung bedeutet, dass man sich dem Wunsch verweigert, den anderen leiden zu lassen. Und diese Weigerung ist schwer. Sie ist schwierig und kostspielig, denn dadurch nehmen Sie selbst die Schuld auf sich. Viele Menschen denken, wenn sie zornig und unversöhnlich bleiben, geben sie den Tätern das, was sie verdienen; sie zahlen ihnen das Unrecht heim. Aber in Wirklichkeit ermöglichen sie es den Tätern, sie fortwährend weiter zu verletzen. Wenn wir stattdessen auf diese Weise Stück für Stück Vergebung gewähren, werden wir schließlich anfangen, Vergebung zu empfinden.

Schließlich heißt es, dass der König ihn freilässt (Vers 27). Das bedeutet, dass die Beziehung zwischen dem Mann und dem König wiederhergestellt ist. Der Mann ist nicht länger ein Schuldner, der das Vertrauen des Königs missbraucht hat, sondern wieder ein Bürger und Diener. Dieser Teil der Geschichte wird bei Menschen, denen die Gerechtigkeit ein wichtiges Anliegen ist, Fragen aufwerfen, aber zwei Dinge sollten wir dabei im Blick behalten. Wie wir sehen werden, müssen Vergebung und das Bemühen um Gerechtigkeit Hand in Hand gehen. Wenn jemand einem anderen nicht vergibt, wird sein Streben nach Gerechtigkeit wahrscheinlich in den Terror der Rache abgleiten.

Aber so weit ins Detail geht dieses Gleichnis nicht. Stattdessen zeigt es, dass jeder, der – wie der König – wirklich vergibt, bereit ist zur Versöhnung, zu einer Wiederherstellung der Beziehung. Ob es dazu kommt, hängt allerdings von der Reaktion dessen ab, dem die Vergebung gewährt wird. Weil der Diener auf die Vergebung des Königs nicht mit echter Reue und einer Veränderung seines Lebens antwortet, zerbricht die Beziehung zum König erneut.

Vergeben bedeutet also erstens, die Übertretung wahrheitsgemäß als Unrecht und als strafwürdig zu benennen, statt sie lediglich zu entschuldigen. Zweitens bedeutet es, sich mit dem Täter als Mitsünder zu identifizieren, statt zu denken, wie anders er oder sie ist als man selbst. Es bedeutet, das Wohl des anderen zu wollen. Drittens bedeutet Vergeben, den Täter aus jeder Verpflichtung zu entlassen, indem man die Schuld selbst trägt, statt sich zu rächen und es ihm heimzuzahlen. Und schließlich bedeutet es, eine Versöhnung anzustreben, statt die Beziehung endgültig abzubrechen. Wenn nur einer dieser vier Schritte fehlt, ist die Vergebung nicht vollständig.

Die Dimensionen des Vergebens

Die vielleicht grundlegendste Lektion des Gleichnisses ist die, dass die menschliche Vergebung auf der Erfahrung der göttlichen Vergebung beruhen muss. Eine oberflächliche Lektüre von Vers 35 („So wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, wenn ihr nicht vergebt […]“) hat manche zu dem Schluss geführt, Jesus sage hier, dass Gottes Vergebung für uns davon abhängt, dass wir anderen vergeben – dass wir sie uns also verdienen, indem wir selbst vergeben.6 Aber der Erzählgang der Geschichte passt überhaupt nicht zu dieser Interpretation. Der König gewährt zuerst Vergebung und sagt dann ausdrücklich, dass die Vergebung des Dieners für seinen Mitdiener auf der Vergebung des Königs für ihn beruhen und durch diese motiviert sein sollte. Der Schlusssatz von Jesus bedeutet, dass die göttliche Barmherzigkeit unser Herz so verändern sollte, dass wir in der Lage sind, zu vergeben, wie Gott uns vergeben hat. Wenn wir anderen keine Vergebung gewähren, zeigt das, dass wir nicht wirklich bereut und Gottes Vergebung angenommen haben.

Der Hauptgedanke liegt hier in den Worten des Königs in Vers 33: „Hättest du da mit jenem anderen Diener nicht auch Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?“ Menschliche Vergebung hängt von der göttlichen Vergebung ab.

Mit anderen Worten: Es gibt drei grundlegende Dimensionen der christlichen Vergebung. Erstens gibt es die vertikale Dimension – Gottes Vergebung uns gegenüber. Zweitens gibt es die innere – die Vergebung, die wir jedem gewähren, der uns Unrecht zugefügt hat. Drittens gibt es die horizontale – unsere Bereitschaft zur Versöhnung. Die horizontale Dimension basiert auf der inneren, und die innere basiert auf der vertikalen.

Wir müssen unsere Vergebung für andere bewusst auf Gottes Vergebung für uns gründen. Die Vergebung des Königs hätte den Diener zu einem vergebenden Menschen machen müssen. Warum geschah das nicht? Die Antwort, das fehlende Bindeglied – und darauf werden wir in diesem Buch noch viel genauer eingehen – ist das Fehlen echter Reue aufseiten des Dieners. Die abschließenden Worte Jesu – dass die Vergebung von Herzen kommen muss – sind entscheidend. Dass der Diener innerlich bewegt erscheint und Zeichen der Trauer an den Tag legt, erweist sich eher als Selbstmitleid denn als echte Reue. Und da er keine Reue zeigt, gibt es keine Verbindung zwischen der vertikalen und der horizontalen Dimension.

(Unser) Versagen bei der Vergebung

Was wir nicht übersehen sollten, ist, dass das Gleichnis uns konfrontieren will. Dieses Gleichnis Jesu über die Vergebung ist keine Wohlfühlgeschichte über Menschen, die Gottes Vergebung empfangen und diese Liebe dann bereitwillig an andere weitergeben. Vielmehr ist es eine Geschichte über einen Menschen, der um Vergebung bittet, sie erhält und selbst dadurch in keiner Weise verändert wird. Einige Zeit nachdem König David Batseba, die Frau des Urija, zu seiner Frau gemacht hatte, kam der Prophet Nathan und erzählte David eine Geschichte über einen reichen Mann, der viele Schafe besitzt, aber als er einen Braten für ein Fest braucht, stiehlt er das einzige Lamm, das einem armen Mann gehört. David wurde zornig und erklärte, der Mann in der Geschichte solle auf jeden Fall sterben.

„Du bist der Mann“, sagte Nathan (2. Samuel 12,7), und David war zutiefst erschüttert.

Genauso sollten wir das Gleichnis vom unbarmherzigen Diener hören. Der Beginn des Kapitels 18 bei Matthäus handelt davon, wie die radikal veränderten Beziehungen aussehen, die Christen haben sollten. Sie sollten von Demut und Dienst am Nächsten statt von Stolz geprägt sein (Matthäus 18,1-5), von Geduld und Verständnis für die Fehler der Menschen (Matthäus 18,6-10) und von der Bereitschaft, sich zu versöhnen und zerbrochene Beziehungen zu heilen (Matthäus 18,11-17).

Doch dann stößt Jesus uns mit dieser Geschichte auf die bittere Realität. Die meisten Menschen, die von sich sagen, sie hätten Gott um Vergebung gebeten, sind dadurch nicht verändert worden – und der Ort, an dem wir das sehen, sind unsere Beziehungen. Jesus nennt ein Kennzeichen seiner wahren Nachfolger: sichtbare, ungewöhnliche, offensichtliche Liebe (Johannes 13,34-35). Er sagt, dass die einzigartige liebende Gemeinschaft, die Christen bilden, einer der wichtigsten Wege ist, wie die Welt erkennen wird, dass Jesus der ist, der er zu sein behauptet (Johannes 17,20-23). Johannes betont dies wiederholt in seinem ersten Brief: Es ist die außergewöhnliche Liebe, die beweist, dass man Gott persönlich kennt und nicht nur ein formales Lippenbekenntnis ablegt (1. Johannes 2,5.10; 3,11.14.16-18; 4,7-11.16-21).

Dieses Gleichnis illustriert eindrucksvoll, wie Vergebung scheitert, denn das ist die übliche menschliche Geschichte. Die Bewegung von der göttlichen Vergebung zur menschlichen Vergebung wird ständig durch die menschliche Sünde vereitelt. Sogar in dem anderen berühmten Gleichnis Jesu über Vergebung – dem Gleichnis vom verlorenen Sohn – sehen wir, wie das Handeln des Vaters Anstoß und Streit verursacht, anstatt Liebe und Großzügigkeit hervorzurufen.

Sind die christlichen Kirchen bekannt für ihre Liebe und Großherzigkeit gegenüber Skeptikern und Ungläubigen? Ganz und gar nicht. Sind Sie bekennender Christ? Wenn ja, sind Sie bei Ihren Freunden und Nachbarn dafür bekannt, dass Sie ungewöhnlich liebevoll, großzügig, gütig und vergebungsbereit sind? Wenn nicht, dann hören Sie dieses Gleichnis, und hören Sie Jesus sagen: „Du bist der Mann.“ Wenn wir sein Heil wirklich begriffen und angenommen haben, sollte es uns verändern – ganz im Gegensatz zu dem Diener im Gleichnis, den es nicht verändert hat. Gottes Barmherzigkeit muss und wird uns barmherzig machen – wenn das nicht der Fall ist, dann haben wir Gottes Barmherzigkeit in Wahrheit nie verstanden oder angenommen.

Wenn Sie an das Evangelium glauben – dass Sie aus reiner Gnade und durch die frei geschenkte Vergebung Gottes gerettet sind – und wenn Sie immer noch einen Groll gegen irgendjemanden hegen, zeigt das zumindest, dass Sie die tatsächliche Wirkung des Evangeliums in Ihrem Leben blockieren. Oder Sie machen sich etwas vor und glauben vielleicht gar nicht an das Evangelium. Wie auch immer: Jemandem nicht zu vergeben, bedeutet geistlich gesehen, sich selbst in eine Art Gefängnis zu stecken. Der letzte Akt des Gleichnisses, bei dem der unbarmherzige Diener ins Gefängnis geworfen wird, scheint hart, aber er ist durchaus realistisch. Die Selbstbezogenheit, die entsteht, wenn man im Zorn auf jemanden verharrt, wenn man ihm etwas vorhält, wenn man ihn weiterhin so betrachtet, als wäre er einem etwas schuldig und müsse Wiedergutmachung leisten, ist ein Gefängnis.

Als ich junger Pastor in einer Kleinstadt in Virginia war, begegnete ich innerhalb einiger Tage zwei Menschen, die in ihren eigenen Gefängnissen des Nicht-vergeben-Könnens gefangen waren. Es war im Juni und wir veranstalteten eine „Ferienbibelschule“. Wir gingen in der Nachbarschaft von Tür zu Tür, um die Bewohner einzuladen, ihre Kinder für die Woche zu uns zu schicken. Ein junger Vater an der Tür war zunächst höflich und sagte: „Nein, danke.“ Als ich ihm jedoch anbot, seine Söhne abzuholen, antwortete er hitzig: „Mein Vater hat uns gezwungen, in die Kirche zu gehen. Er hat uns die Religion aufgezwungen. Ich werde niemals zulassen, dass meine Söhne die Tür einer Kirche verdunkeln!“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass er dann etwas darüber murmelte, wie wenig es ihm passte, dass es eine Kirche so nah bei seinem Haus gab. Mehr gab es nicht zu sagen. Aber es war klar: Weil er noch immer so zornig auf seinen Vater war, wurde nicht nur er selbst noch von seinem Vater gelenkt und kontrolliert, sondern auch die Erziehung seiner Kinder.

Nicht lange danach hatte ich ein langes Gespräch mit einer Jugendlichen, die zu meiner Gemeinde gehörte. Auch sie hatte einen herrischen und schwierigen Vater und er hatte sie vor ihren Freunden in Verlegenheit gebracht. Sie sagte mir, dass sie sich weigerte, ihm das jemals zu verzeihen. Meine Erwiderung lautete in etwa so: „Ja, er hat dir Unrecht angetan. Aber wenn du ihm nicht vergibst, so wie Jesus dir vergeben hat, gibst du ihm Macht über dich. Du wirst nicht deshalb Dinge tun, weil sie das Beste wären, was du tun kannst, sondern weil du in deinem Herzen weißt, dass sie deinem Vater nicht gefallen werden. Du wirst andere Dinge nicht tun, weil du weißt, dass dein Vater sie gut finden würde. Ich habe gesehen, wie das bei anderen Jugendlichen passiert ist. Ich will nicht, dass dir das auch passiert.“ Zu meiner Überraschung leuchtete ihr das vollkommen ein. „So habe ich das noch nie gesehen“, sagte sie.

Anders als der unbarmherzige Diener – und viele andere – konnte sie dem Gefängnis des Nicht-Vergebens entkommen.

Flügel für Vergebung entwickeln

Die scharfe und berechtigte Verurteilung des unbarmherzigen Dieners kann uns davon ablenken, dass das Gleichnis darauf abzielt, unser Leben zu verändern. Wir vergeben nicht, indem wir uns mehr darum bemühen oder an soziale Vorteile oder Eigeninteressen appellieren. Wir sollen dem lebendigen Gott durch Reue und Glauben begegnen. Wir sollen nicht nur eine abstrakte Vergebung empfangen, sondern Christus selbst und eine neue Identität als angenommenes, gerechtfertigtes, adoptiertes und bedingungslos geliebtes Kind Gottes. Dann sollen wir mit diesem Gott durch sein Wort, durch Gebet und Gottesdienst in Verbindung bleiben, damit diese objektiven Realitäten für unser Herz immer mehr zur subjektiven Wirklichkeit werden und so unsere instinktive Reaktion auf das Leben prägen.

In einem geistlichen Lied aus dem achtzehnten Jahrhundert beschreibt der Dichter William Cowper diesen Wandel sehr anschaulich. Cowper hatte versucht, sich an die Gebote zu halten und ein moralischer Mensch zu sein – aus rein pragmatischen Gründen: Er wollte sich Gottes Segen hier und nach dem Tod den Himmel sichern. Doch er stellte fest, dass diese Gründe, die im Wesentlichen negativ waren, weil er sich vor Strafe fürchtete, nicht ausreichten, um seinen Charakter wirklich zu verändern. Sein Glaube beruhte auf seiner eigenen Fähigkeit, den moralischen Standards gerecht zu werden, und der Druck, der auf ihm lastete, wurde unerträglich. Dann erklärte ihm jemand, dass das Heil durch Gnade und Vergebung erlangt wird. Cowper setzte seinen Glauben ganz auf Christus, und das veränderte seine innere Motivation durch und durch.

Wie lange hielt mich das Gesetz

gebunden und beschwert.

Doch alles Streben, recht zu sein,

war nicht der Mühe wert.

Einst folgt ich dem Gebot, besorgt,

vor Gott gerecht zu sein.

Doch jetzt, da mich der Sohn erwählt,

folg ich Ihm froh und frei.

Denn das Gesetz hat Er erfüllt.

Er ist’s, der mich freispricht.

Und aus dem Sklaven wird ein Kind

und Freude aus der Pflicht.7

C. S. Lewis hat das, was Cowper hier beschreibt, in eine klassische Metapher gefasst:

Bloße [moralische] Verbesserung ist noch lange keine Erlösung […]. Es ist nicht so, als wollte man ein Pferd dazu bringen, immer besser zu springen, sondern als würde man es in ein geflügeltes Wesen verwandeln. Sobald es Flügel hat, wird es natürlich Hindernisse nehmen, die es vorher verweigert hätte, und also wird es ein natürliches Pferd auf seinem eigenen Gebiet schlagen. Aber es mag eine Zwischenzeit geben, in der es das nicht kann. In dem Stadium mögen die Stümpfe auf seinen Schultern – denen niemand ansehen kann, dass einmal Flügel daraus werden – das Pferd sogar recht hässlich aussehen lassen.8

Das Gleichnis vom unbarmherzigen Diener sagt uns: Wenn wir wirklich Jesus folgen, wenn wir die Gnade des Evangeliums erfasst und erfahren haben, dann werden diese „Flügel“ wachsen. Die Botschaft von Jesus am Ende des Gleichnisses ist in etwa: „Wenn du deinen Groll festhältst, wenn du dich an jemandem rächst, dann magst du zwar beteuern, dass du glaubst, dass du ein Sünder bist, der aus Gnade gerettet wurde, aber du glaubst das nicht wirklich. Du leugnest es sowohl in deinem Herzen als auch in deinem Leben, egal, was du sagst.“9

Ein Mann, dem diese Flügel gewachsen sind, ist Hashim Garrett. Hashim war fünfzehn Jahre alt, lebte bei seiner Mutter und trieb sich mit einer Gang auf den Straßen von Brooklyn herum, als er sechsmal angeschossen wurde und von der Hüfte abwärts gelähmt blieb. Für den größten Teil des nächsten Jahres lag er in einem Krankenhaus in New York City und fantasierte von Rache. Später schrieb er: „Die Rache fraß mich auf. Alles, woran ich denken konnte, war: ‚Wartet nur, bis es mir besser geht; wartet nur, bis ich diesen Kerl zu fassen kriege.‘“

Aber als er unmittelbar nach der Schießerei auf dem Bürgersteig lag, hatte er instinktiv zu Gott um Hilfe gerufen, und zu seiner Überraschung hatte er eine seltsame Gelassenheit verspürt. Jetzt, während seiner Rehabilitation, kam ihm ein neuer Gedanke: Wenn er sich an diesem Jungen rächen würde – warum sollte Gott ihm dann nicht auch all seine Sünden vergelten? „Sechs Monate bevor dies geschah“, schrieb er, „hatte ich auf einen Jungen geschossen, ohne jeden Grund, außer dass ein Freund es mir befohlen hatte und ich beweisen wollte, wie hart ich war. Sechs Monate später wurde ich selbst von jemandem angeschossen, weil sein Freund es ihm befohlen hatte.“ Dieser Gedanke war elektrisierend – er konnte sich dem Täter nicht mehr überlegen fühlen. Sie waren beide gleichermaßen Sünder, die Strafe verdienten – und Vergebung brauchten.

Am Ende […] beschloss ich, zu vergeben. Ich spürte, dass Gott mein Leben mit einer bestimmten Absicht gerettet hatte und dass ich dieser Absicht besser entsprechen sollte […]. Und ich wusste, dass ich nie wieder da rausgehen und jemanden verletzen könnte. Ich war fertig mit dieser Denkweise und dem Leben, das damit verbunden ist. Ich begriff, dass ich loslassen und aufhören muss zu hassen.10

Der König, der ein Diener war

Dieses Gleichnis von Jesus skizziert die Schwierigkeit, die Definition und die Dimensionen der Vergebung. Der einzige wichtige Aspekt der christlichen Vergebung, der zwar angedeutet, aber nicht ausdrücklich dargestellt wird, ist die „Dynamik“ der Vergebung – die Grundlage von allem. Was ist es, das Gott befähigt, uns so radikal zu vergeben, obwohl er heilig und gerecht ist? Was ist es, das uns befähigt, anderen so radikal zu vergeben, indem es uns die inneren Ressourcen übernatürlicher Demut, Zuversicht, Liebe und Freude erschließt? Es ist der Sühnetod Christi am Kreuz.

Was ist so widersprüchlich an der Haltung des unbarmherzigen Dieners gegenüber seinem Mitmenschen? Es ist Folgendes: Ein Mann, der ein Diener ist und nur von der Barmherzigkeit des Königs lebt, verhält sich so, als wäre er der König und Richter. „Ins Gefängnis mit dir!“, sagt er zu jemandem, der ein Diener ist wie er. Wie unpassend und unangebracht. Aber Jesus möchte, dass wir uns selbst im Spiegel dieser Geschichte sehen. Wenn wir, die wir nur von Gottes Barmherzigkeit leben, über andere urteilen, versetzen wir uns dann nicht selbst an Gottes Stelle? Wenn wir das tun, richten wir uns gegenseitig, zahlen es einander heim, erleiden selbst Vergeltung und geben sie dann wieder zurück. Wir sind alle Diener, die sich wie Könige aufführen.

Was wird unsere Herzen verändern? Das Einzige, was einen Diener davon abbringen kann, sich wie ein König zu verhalten, ist ein Blick auf die erstaunliche Liebe des Königs, der ein Diener wurde.