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Alexander Demandt

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Beschreibung

Grenzen begleiten die Menschheit von Anbeginn. Schon immer galt es, Stammes- und Eigentumsgrenzen zu markieren. Frühe Hochkulturen kannten sprachliche, kulturelle und ethnische Räume, die es zu schützen galt – das ist bis heute so. Alexander Demandt nimmt uns mit auf eine spannende Reise zu den Grenzen der Welt. Ob die Mythen vom Ursprung und Ende der Welt, die biblischen Zeitgrenzen, Schutzgrenzen wie der römische Limes oder die chinesische Mauer, ob sakrale Grenzen der Tempelbezirke, natürliche Grenzen, markiert durch Flüsse, Gebirge und Meere, koloniale Willkürgrenzen oder jahrhundertelang umstrittene Machtgrenzen wie die deutsch-französische – Demandts Reise führt uns von der Antike bis zur Gegenwart, von der Philosophie über die Geografie bis zur Geopolitik.

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Das Buch

Grenzen begleiten die Menschheit von ihrem Anbeginn. In frühesten Kulturen gab es Stammesgrenzen, die zugleich die Jagdgründe markierten. Frühe Hochkulturen kannten sprachliche, kulturelle und ethnische Räume, die es zu schützen galt. Wer eindrang, wurde als Feind bekämpft. Das hat sich bis heute kaum geändert. Alexander Demandt nimmt uns mit auf eine Reise zu den Grenzen der Welt – nicht nur zu denen von Raum und Zeit, sondern auch zu den Grenzen des Denkens und Wissens.

Der Autor

ALEXANDER DEMANDT, geboren 1937 in Marburg, war von 1974 bis 2005 Althistoriker und Kulturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Zu seinem umfangreichen Werk gehören Bücher über das Römische Reich und über Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Zuletzt erschienen bei Propyläen Zeit. Eine Kulturgeschichte, Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte und Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte.

Alexander Demandt

GRENZEN

Geschichte und Gegenwart

2020

Propyläen

Propyläen wurde 1919 durch die Verlegerfamilie Ullstein als Verlag für hochwertige Editionen gegründet. Der Verlagsname geht zurück auf den monumentalen Torbau zum heiligen Bezirk der Athener Akropolis aus dem 5. Jh. v. Chr. Heute steht der Propyläen-Verlag für anspruchsvolle und fundierte Bücher aus Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur.

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ISBN: 978-3-8437-2185-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020

Lektorat: Jan Martin Ogiermann

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagmotiv: © Bridgeman Images

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Frontispiz
Widmung
VORREDE
I. GRENZE ALS GRUNDKATEGORIE
A. Wort und Begriff
B. Raumgrenzen
C. Zeitgrenzen
D. Kosmische Grenzen
E. Sachliche Grenzen
Endnoten
II. DER ALTE ORIENT
A. Die Juden
B. Babylonien und Syrien
C. Die Perser
D. Karthago
E. China
Endnoten
III. DIE GRIECHEN
A. Grenzen in der Dichtung
B. Privat- und Stadtgrenzen
C. Sakrale Grenzen
D. Landesgrenzen
E. Erdteile
F. Alexander und die Grenzen der Welt
Endnoten
IV. ROM
A. Die Reichsgrenze
B. Die römischen Binnengrenzen
Endnoten
V. GERMANEN UND MITTELALTER
A. Frühe Germanen
B. Mitteleuropa
Endnoten
VI. DIE NEUZEIT
A. Gesamteuropa
B. Mitteleuropa
C. Osteuropa
D. Asien
E. Übersee
F. Meer und Luftraum
Endnoten
VII. KRIEGS- UND NACHKRIEGSZEIT
A. Die Kriegsmächte
B. Die Kriegsfolgen
C. Die Auflösung der Sowjetunion
D. Paneuropa
Endnoten
FAZIT
Endnoten
Nachtrag aus gegebenem Anlass
Bildteil
Karten
Literatur
Bildnachweis
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Im Gedenken an Jürgen Deininger

(1937 bis 2017)

VORREDE

* M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1968, 206, von 1904.

Max Weber hat der Geschichtswissenschaft einmal »ewige Jugendlichkeit« zugesprochen, weil der Lauf der Zeit dem Historiker immer neue Fragestellungen zuführt.* Denn während die Natur uns ein im wesentlichen gleichbleibendes Bild darbietet, ändert sich das, was uns die Geschichte zeigt, vor unseren Augen, seit jüngeren Jahren immer schneller, und so erscheint die Vergangenheit in wechselndem Licht.

Heute gilt das zumal für Nutzen und Nachteil von Grenzen, worüber man wohl noch nie so viel gesprochen, geschrieben und gestritten hat wie in den letzten Jahrzehnten. Der Grund liegt auf der Hand. Alte Grenzen öffnen sich, neue Grenzen schließen sich. Grenzen garantieren Frieden und motivieren Kriege. Grenzen schützen Gemeinschaften, aber erschweren den Verkehr. Es gibt Eingrenzungen und Ausgrenzungen, Abgrenzungen und Entgrenzungen auf allen Lebensgebieten: in der Gesellschaft und in der Wirtschaft, in der Religion und in der Kultur, vor allem aber in der Politik. Was der Begriff des Staates bedeutet, hängt davon ab, wie er seine Grenzen handhabt. In früheren Jahrhunderten ging es darum: Wo liegen sie? Heute fragen wir: Wie sehen sie aus?

Der Historiker setzt gegenwärtige Probleme mit vergangenen Phänomenen in Bezug. Er öffnet Perspektiven, sucht das Gewordene aus dem Werden zu verstehen und durch Vergleiche Urteilsmaßstäbe zu gewinnen. Wie kann man heute etwas, für sich gesehen, treffend einschätzen? Ob es früher schon genauso oder ganz anders war, ist gleichermaßen erkenntnisfördernd. Das läßt sich nicht zuletzt durch einen Blick auf Geschichte und Gegenwart der Grenzen zeigen.

Der Plan zu dem vorliegenden Buch geht zurück auf die wie immer anregenden Gespräche mit Christian Seeger vom Propyläen-Verlag in Berlin. Im Anschluß an meine Kulturgeschichte der Zeit von 2015 wünschte er ein ähnliches Werk über den Raum. Das aber hätte mich überfordert. Machbar schien ein Buch über Grenzen. Daß dabei auch der abgegrenzte, zumeist staatliche Raum wenigstens benannt werden mußte, gehört zur Sache. Staatsgrenzen sind untrennbar von Staatengeschichte. Eine Vorarbeit bot mein Sammelband ›Deutschlands Grenzen in der Geschichte‹. Er beruht auf einer Ringvorlesung am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin im Winter 1987/88, als eine große Grenzveränderung in der Luft lag. Als sie eingetreten war, erschien das Buch 1990 bei C. H. Beck in München.

Dem hier unternommenen thematischen Längsschnitt durch die Zeiten, den ich mutandis mutatis schon an anderen Themen versucht habe, gehen Überlegungen zur Grenze als Grundkategorie voraus. Denn alles ist irgendwo begrenzt, nicht zuletzt unser Leben. Wenn ich verschiedentlich eigene ältere Publikationen herangezogen habe, auch Selbsterlebtes aus meinen Tagebüchern und Briefen und bloß Erinnertes einfließen lasse, bitte ich dafür um Nachsicht. Ein Alterswerk enthält irgendwie die Biographie des Autors. Daß ihn Auswahl und Schwerpunkte des Dargestellten verraten, ist dem Leser nicht zu verheimlichen. Auch er wird bei der Lektüre auswählen und gewichten. Findet er nicht, was er sucht, so könnte er doch finden, was er nicht gesucht hat.

Verzichten mußte ich auf die Nennung sämtlicher Quellen und auf die Beigabe aller zum Verständnis erforderlichen Landkarten sowie auf die Erörterung der Um- und Abwege der Forschung, die sich meist aus unberechtigten Verallgemeinerungen von zutreffenden Einzelbeobachtungen ergaben. Zu jedem Kapitel gibt es Hunderte von Publikationen. Die Kenntnisse mehren sich auf dem Papier schneller als in den Köpfen. Mit wachsendem Wissen wächst die Ahnung vom Nichtgewußten. Mich tröstet Cornelius Nepos in seiner Atticus-Vita (11,3): Difficile est omnia persequi et non necessarium. Immerhin konnte und mußte ich beim Schreiben keines meiner Bücher so viel lesen und lernen wie bei diesem. Ich habe meinen Lohn darin und kann mit Marie von Ebner-Eschenbach sagen: Der Tag der Aussaat war der Tag der Ernte.

Danken muß ich für Hilfen verschiedenster Art: Peter Bernard in Lindheim, Manfred Clauss in Hennef, Julian Führer in Zürich, Josef Isensee in Bonn, Sven Kellerhoff in Berlin, Peter Lachmann in Marburg, Norbert Oellers in Bonn, Manfried Rauchensteiner in Wien und Heinrich Schlange-Schöningen in Saarbrücken. Alina und Tudor Soroceanu in Berlin haben Literatur beschafft, Gernot Eschrich in Breitbrunn hat den gesamten Text ein erstes Mal lektoriert. Der Lektor des Verlags Jan Martin Ogiermann hat mich vor manchem Irrtum bewahrt.

Auch Bruder Ecke und meine Söhne Acis und Philipp haben beigesteuert. Insbesondere aber danke ich einmal mehr Hiltrud Führer, nicht nur für ihre unermüdlich tätige und wachsam kritische Mitarbeit. Gewidmet sei das Buch dem Andenken an Jürgen Deininger, dem ich meine Berufung nach Berlin 1974 verdanke. Nirgend anderswo hätten sich mir solche Wirkungsmöglichkeiten geboten. Damit verabschiede ich mich erst einmal aus der res publica litteraria bis auf weiteres. Scripsi quod placuit, legat cui prodest!

Lindheim, im Februar 2020

Alexander Demandt

I.  GRENZE ALS GRUNDKATEGORIE

A. Wort und Begriff
1. Wörter
2. Funktionen
3. Übergänge
B. Raumgrenzen
1. Raumerfassung
2. Geometrische Grenzformen
3. Biologische und geographische Naturgrenzen
4. Lebensräume von Tieren und Menschen
5. Hoheitsgrenzen
6. Markierung und Magie
7. Sprach- und Kulturgrenzen
8. Christliche Konfessionsgrenzen
9. Rahmen
C. Zeitgrenzen
1. Begriffliches
2. Der Tag und die Stunden
3. Jahre, Monate, Wochen
4. Ären
5. Periodisierung
6. Dezimalgrenzen
7. Termine
8. Lebensalter
9. Die Gegenwart
D. Kosmische Grenzen
1. Die Weltschöpfung in Babylon
2. Genesis und Gericht
3. Kosmologie und Weltperioden bei den Griechen
4. Der selbstbegrenzte Weltraum der Physik
5. Vom Urknall zum Wärmetod
E. Sachliche Grenzen
1. Philosophie
2. Politik
3. Recht
4. Wirtschaft
5. Wissenschaft
6. Superlative und Rekorde
Endnoten

I.  Grenze als Grundkategorie

Nullius rei finis est,

sed in orbem nexa sunt omnia.

Seneca

»Es muß bei jedem Wort das ursprünglich Gemeinte beachtet werden«, heißt es bei Epikur.1 Auch wenn der Sinn sich wandelt, bleibt die Grundbedeutung im Hintergrund für das Verständnis wirksam. Das gilt bei dem Wort »Grenze« nicht nur für seine verschiedenen räumlichen Bedeutungen, sondern ebenso für die Verwendung in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang, für die positiven und negativen Funktionen und die Formen grenzübergreifender Übergänge. Treffend meinte Seneca: Nichts hat ein wirkliches Ende, sondern alles ist irgendwie miteinander verknüpft im Kreislauf der Dinge.2

A. Wort und Begriff

1.  Wörter

Das Wort »Grenze« geht zurück auf polnisch granica oder graniza, zuerst belegt in einer Urkunde des Herzogs Kasimir I von Pommern, datiert 1174. Er bestätigt und beschreibt den Grundbesitz des Zisterzienserklosters Dargun bei Neubrandenburg und notiert genau die termini. Unter den Fixpunkten erscheint eine mit einem Kreuz gekennzeichnete Eiche, quod signum dicitur Slavice Knezegranica – »Fürstengrenzmarke«. Markante Eichen oder Buchen sind im Osten mehrfach als Grenzpunkte bezeugt. Das Wort graniza wird von einem Stamm abgeleitet, der »hervorragen, spitz sein« bedeutet und im deutschen Wort »Granne« steckt. Das Wort graniza begegnet uns danach mehrfach in Urkunden aus dem slawisch-deutschen Grenzbereich, eingedeutscht als graniz in der Kanzlei des Deutschen Ordens in Preußen ab 1258.3

In die Umgangssprache gelangte das Wort »Grenze« durch Luthers Bibelübersetzung, wo es oft auftaucht, so im Deuteronomium: »Verflucht sei, wer seines Nächsten Grenzen engert!«,4 und im 74. Psalm: »Du hast dem Land seine Grenzen gesetzt.« Herodes befahl den Kindermord in Bethlehem und »an ihren ganzen Grenzen«. In der revidierten Lutherübersetzung der Württembergischen Bibelanstalt Stuttgart von 1967 heißt es verständlicher: »und in der ganzen Gegend«.5 Im griechischen Text steht hier horia, Plural von horion; in der Vulgata des Hieronymus fines. Mit der Lutherbibel verbreitete sich das Wort »Grenze« zunächst im hochdeutschen Sprachgebiet der sächsischen Kanzleisprache, kam dann in den Gebieten in Umlauf, die sich der Reformation anschlossen, so in der Schweiz. In Bayern drang das Wort erst im späteren 16. Jahrhundert durch, findet sich indessen beim bayerischen Hofhistoriographen Aventinus († 1534), der freilich als scharfer Kritiker des Papsttums wegen Ketzereiverdacht zeitweilig einsitzen mußte.6

Das altdeutsche Wort für Grenze lautet »Mark«. Schon Wulfila im 4. Jahrhundert übersetzt in seiner gotischen Bibel das griechische horion mit marcha. Das Wort hat nichts zu tun mit »Mark« im Sinne von »Knochenmark«, wohl aber mit »Marke, markieren, merken« und mit lateinisch margo – »Rand« und daher »marginal«. So wie »Grenze« bedeutet »Mark« ursprünglich »Kennzeichen« und wurde für die Landabgrenzung verwendet. Aus Grenzpunkten wurden Grenzlinien und aus diesen Grenzflächen und zwar einerseits im Sinne von »begrenzter Fläche«, denken wir an die mittelalterliche Dorfmark, und andererseits im Sinne von »Gebiet an der Reichsgrenze«, wie die Mark Brandenburg,7 damals Grenzland und Landesgrenze zugleich. Die »Mark Silbers« ist ein gekennzeichnetes Gewicht, die »Reichsmark« ein gestempeltes Geldstück.

Im Griechischen steht meist horos für »Grenze« im geographischen Sinn, oft als Inschrift auf Grenzsteinen.8 Unser Wort »Horizont« stammt daher. Im übertragenen Sinn gibt es bei Platon die »Grenze des Bedarfs« im Gegensatz zum unbegrenzten Geldstreben und die »Grenzen des Warenangebots« auf dem Markt.9Horos heißt bei Platon zudem soviel wie »Begriffsdefinition«; unter den ihm zugeschriebenen Werken gibt es die ›Horoi‹, kurzgefaßte Definitionen, darunter auch die von horos selbst: es sei der Begriff für die »Unterschiede der sprachüblichen Arten«. Gleichbedeutend ist horismos. Aphorismen, aphorismoi, sind kurzgefaßte Lehrsätze, so die zur Medizin von Hippokrates aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., aus den Komödien des Publilius Syrus aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., aus der Neuzeit die der französischen Moralisten und die ›Aphorismen zur Lebensweisheit‹ von Arthur Schopenhauer (†1860), die von Marie von Ebner-Eschenbach (1879) und vom Autor huius (2006). In der Bedeutung »Grenze« findet sich auch das Wort to telos, sonst soviel wie »Ende, Ziel, Vollendung«. Teleologie ist die Lehre von der Entwicklung auf einen vorbestimmten Endzweck zu. Bei den griechischen Philosophen gibt es oft to peras im Sinne von »Begrenzung, Ende«, meist übertragen gebraucht, im Gegensatz zu apeiron, dem Unbegrenzten.

Vielfältige Bedeutungen hat auch lateinisch finis, Plural fines. Im Sinne von »Ende« ist finis ein zeitlicher oder ein räumlicher Grenzpunkt; mit dem Plural fines ist eine Grenzlinie gemeint oder dann die umgrenzte Fläche. Fines auxi, rühmt sich Augustus testamentarisch,10 denn er hat das »Reichsgebiet vergrößert«, indem er die Grenze bis zum Rhein und zur Donau vorgeschoben hat. Aus dem westlichen Reichsgebiet sind 27 Orte bekannt, die Fines oder Ad fines heißen. Sie liegen an Provinz-, Stammes- oder Reichsgrenzen und verweisen teilweise in ihrem heutigen Namen auf den römischen Ursprung, so der Vinxtbach am Niederrhein oder Pfyn am Hochrhein.

Wo die Grenze nicht als End- und Außengrenze gedacht ist, sondern als Grenzscheide, die nach beiden Seiten blickt, verwendet der Lateiner confinium; confinis ist der Grenznachbar. Im übertragenen Sinne ist confinium die Grenze zwischen Lebensaltern, Monaten oder zwischen Tag und Nacht, Wissenschaft und Irrtum. Da finire auch »bestimmen« heißt, ist infinitum das nach Maß und Art Unbestimmte; der Infinitiv ist die unbestimmte Verbform, zum Beispiel finire – »bestimmen«, während eine finite Verbalform wie finio – »ich bestimme« bestimmt ist durch »erste Person Singular, Präsens, Indikativ, Aktiv«.

Räumliche und zeitliche Bedeutung hat auch der Begriff terminus.11 Im Singular ist es der Grenzstein, im Plural sind termini die Grenzlinien. Die indogermanische Wurzel des Wortes ter, verwandt mit »durch«, heißt »überschreiten« und hebt auf die Passierbarkeit ab. Im Sinne von Ende, Ziel, Höchstmaß wird terminus zeitlich und sachlich gebraucht, so terminus vitae und terminus gloriae. Wir organisieren unsere Zeit mit Hilfe eines »Terminkalenders«. Das Wort terminus technicus ist eine moderne Prägung. Die Verheißung Juppiters an die Römer bei Vergil his ego nec metas rerum nec tempora pono12 (»diesen setze ich weder im Raum noch in der Zeit Grenzen«) verwendet meta im Sinne von Spitzsäule am Ziel, an der Grenze des Erdkreises, und tempora als befristete Zeit. Das folgende Versprechen eines imperium sine fine zielt auf die erhoffte – und bisher bestätigte – aeternitas Romae. Rein räumliche Bedeutung haben lateinisch limes – »Grenzweg, Grenzlinie« – und frons – »Stirn, Vorder- oder Außenseite«, auch im Sinne von »Front«.13

2.  Funktionen

Grenze ist eine Grundkategorie der Conditio humana, eine universale, unabdingbare Voraussetzung beim Wahrnehmen und Bezeichnen, beim Denken und Handeln. Grenzen liegen bereits der Annahme von Kategorien zugrunde, von denen es ja mehrere gibt, seit sie Aristoteles in die Philosophie eingeführt hat, der Sache nach aber bei Platon schon vorfand, nämlich Identität und Differenz, Beharrung und Wandel. Identität beruht auf Diversität und Kontinuität, auf Resistenz gegen beliebige Veränderung. Alles, was Form hat, gewinnt diese durch seine Grenzen; jeder Gegenstand, den wir erkennen, zeigt sich in seinen Konturen, seinem Profil. Begrenzung ermöglicht die Erkenntnis von Formen und Gestalten. Neugeborene sehen zunächst nur Helleres oder Dunkleres, verschwommene Farben, bevor sie Konturen wahrnehmen, Gegenstände sehen und dann auch benennen lernen.

Überall da, wo Unterscheidung erforderlich ist (Wo beginnt das andere?), wo Trennung erfolgt (Wo liegt die Scheidelinie?), überall da, wo Steigerung möglich ist (Von wo aus, bis wohin?), wo Verneinung geschieht (Wie weit gilt ein Begriff?), da wird eine Grenze vorgefunden, vermutet oder gesetzt. Alles hat irgendwo, irgendwann, irgendwie einen Anfang und ein Ende. Quelle und Mündung begrenzen einen Fluß; Angriff und Friede begrenzen einen Krieg; Geburt und Tod begrenzen unser Leben, das uns begrenzte Möglichkeiten des Handelns und schier unbegrenzte Möglichkeiten des Denkens eröffnet.

Aristoteles »definiert« das Wort peras als »äußerste Erstreckung jeder Sache«,14 als Umfang eines Raumes oder einer Zeit, eines Sachbereichs und eines Begriffsinhalts, jeweils durch eine Benennung bestimmt. Diese gilt nur innerhalb gewisser Grenzen, die damit in die Inhaltsangabe eingehen. Jeder Begriff, den wir verwenden und »definieren«, gilt nur innerhalb seiner Begrenzung, räumlich, zeitlich und sachlich. »Definierte« Bedeutungsgrenzen für Wörter und Zeichen sind Grundbedingung sprachlicher und gedanklicher Erfassung der Welt, eine Voraussetzung für soziale Verständigung und menschliches Zusammenleben. Insbesondere die Wissenschaft erfordert möglichst eindeutig und genau abgegrenzte Einheiten im Reich der Phänomene, damit ihre Bezeichnung, Messung und Zählung möglich werden.

Grenzen trennen durch Feindschaft und verbinden durch Nachbarschaft. Elsässer und Badener sind durch eine Staatsgrenze getrennt, und dennoch stehen sie einander näher als Erstere den gleichfalls französischen Basken an der Biskaya und Letztere den ebenfalls deutschen Wenden im Spreewald. Durch eine Grenze getrennte Bereiche haben räumlich den Boden gemeinsam, auf dem die Linie verläuft, so Frankreich und Deutschland den Boden Europas. Spätantike und Frühmittelalter stoßen im ersten Jahrtausend aneinander, wo genau auch immer die Grenze liegen mag. Affen und Menschen, als Arten geschieden, sind als Primaten verbunden. Grenzen haben ein Janusgesicht. Sie blicken nach zwei Seiten, nach innen und außen, als Bewegung gedacht »bis hier« oder »von hier«, als Ende und Anfang.

Grenzen gliedern das Universum der Phänomene, sie konstituieren Identität durch Differenz, trennen Eigenart von Andersartigkeit, Innen von Außen, Diesseits von Jenseits. Sie prägen das Begrenzte, den jeweils endlichen Ausschnitt aus der unendlichen Menge der Phänomene. Diesen Gedanken führt Platon in seinem Dialog ›Philebos‹ aus. Sokrates erklärt dort seinem jungen Freund Protarchos, daß die Erkennbarkeit der Dinge auf einer Mischung von Begrenztheit (peras) und Unbegrenztheit (apeiron) beruhe. Was ist damit gemeint? Vielleicht läßt sich der Gedankengang folgendermaßen nachzeichnen: Die Dinge erscheinen uns als in sich geschlossen und gegen ihre Umgebung abgegrenzt, gehören somit zur »Sippe« (genna) der Begrenztheit. Was wir wahrnehmen, das sind aber nicht die Dinge selbst, sondern das ist die Summe ihrer Eigenschaften, die wir separat registrieren und sofort zu einem Ganzen zusammenfügen. Eigenschaften wie Größe, Helligkeit, Temperatur und so weiter sind steiger- oder verminderbar, unterliegen einem Mehr oder Weniger und gehören daher zur Sippe des Unbegrenzten. Diese doppelte Zugehörigkeit der Dinge, ihre Abgegrenztheit im Unbegrenzten macht sie erkennbar und zählbar. So erklärt Sokrates auch die Wahrnehmung der Jahreszeiten und der musikalischen Intervalle.15 Das erinnert an die Zahlenlehre des Pythagoras.16

Sinngrenzen, die den Inhalt einer räumlichen, zeitlichen oder sachlichen Einheit umfassen, sind von innen her gedacht. Sie liegen da, wo es nicht mehr weitergeht, wo real oder begrifflich etwas Neues beginnt; sie sind das Ende eines Weges oder der Rand eines Raumes, der Gipfel eines Berges oder das Ziel einer Bemühung. Erst nach der Festlegung dessen, was innen ist, stellt sich die Frage, was außerhalb, jenseits, dahinter ist oder sein könnte, so daß auch ein neuer Anfang gemeint sein kann. Jede Grenze ist eine Negation, und eine Negation enthält eine positive Aussage: die Gattung des Negierten. Sage ich: Bier mag ich nicht, so heißt das: Andere Getränke kommen durchaus in Betracht. Sage ich: Der Mond ist kein Stern, so heißt das: Er ist ein anderer Himmelskörper. Sage ich: Die Demokratie ist am Ende, so heißt das: Der Staat besteht weiter. Außerhalb der römischen Reichsgrenzen liegt ebenfalls eine, eben nicht römische Fläche, sei es Meer oder Wüste, ein befreundeter oder feindlicher Nachbarstaat, je nachdem. Jenseits einer Raumgrenze liegt innerkosmisch17 keine Zeiteinheit und umgekehrt. Nur das Schlaraffenland liegt gemäß Hans Sachs drei Meilen hinter Weihnachten.18

3.  Übergänge

Der Begriff »Übergang« beruht auf der Passierbarkeit von Grenzen und anderen Hindernissen und ist wie diese zunächst räumlich gemeint. Der Gedanke an das »Gehen« findet sich ebenso im Lateinischen transitus von ire – »gehen« und transgressio von gradior – »schreiten« sowie im Griechischen metabasis von bainō – »die Beine bewegen«. Eine Überquerung nach beiden Seiten ermöglicht der Schlagbaum oder die Schranke, kontrolliert geöffnet oder geschlossen, so bei einem Grenz- oder Bahnübergang. Naturgegebene Über- und Durchgänge bieten auf Gebirgen Paßstraßen durch eine Klause, denken wir an den Ort Klausen, italienisch Chiusi beim Kloster Säben in Südtirol, in Wüsten tun dies Pisten, durch Flüsse Furten. Wo sie bewacht wurden, um Feinde abzuwehren oder um Zölle einzunehmen, entstanden Städte wie Frankfurt am Main oder Frankfurt an der Oder. Viele Orte entstanden an Brücken, so Osnabrück und Zweibrücken, Brugg an der Aare und Bruck an der Salzach, aber auch Lindheim an der Nidder.

Das klassische Bild des Übergangs bietet die Brücke. Sie bringt einen Weg über ein Verkehrshindernis, gewöhnlich über einen Fluß. Die Brücke verbindet Getrenntes, sie führt durch die Luft wie der Tunnel durch die Erde. Die Technik bezwingt die Natur. Sie rächt sich, wenn der Boden wankt oder der Sturm wütet. Daher steht der heilige Nepomuk »mitten auf der Prager Bruck«. Ist der Fluß eine Hoheitsgrenze, so muß der Übergang gesperrt werden. So hat Horatius Cocles nach der Sage den Zugang zur Tiberbrücke gegen die Etrusker verteidigt, bis sie abgebrochen war, und sich dann selbst schwimmend nach Rom gerettet.19 Varro bringt damit die Worterklärung für pontifex zusammen.20 Priester als »Brückenbauer«, das läßt eher an Vermittlung zu den Göttern denken, so wie nach der Lehre Zarathustras die Seele des Toten die Cinvatbrücke ins Paradies überschreiten muß, aber die des Sünders in die Hölle abstürzt.21

Der Übergang, wird auch aus dem räumlichen auf den zeitlichen und sachlichen Zusammenhang übertragen. Das zeigt der Begriff der Schwelle. Sie erlaubt einen Grenzübertritt zunächst in einen überdachten Raum oder aus ihm heraus,22 dann zeitlich in einen anderen Zustand.23 Die Höhe der Schwelle, etwa der Schwierigkeitsgrad einer Prüfung, verbildlicht die Herausforderung, sie zu überschreiten. Die Schwellenangst betrifft zugleich das, was uns dabei oder danach erwartet. So kann »Übergang« eine menschliche Handlung oder einen begrifflichen Wechsel bezeichnen, einen passierbaren Ort auf einer Grenzlinie sowie eine schmalere oder breitere Grenzzone. Räumlich liegt zwischen Wüste und Savanne die Sahelzone südlich der Sahara, zwischen Land und Meer an der Nordsee das Watt, zeitlich zwischen Tag und Nacht in gemäßigten Breiten die Dämmerung. Eine Pause oder ein Intermezzo, ein Zwischenhalt oder ein Waffenstillstand unterbricht einen Vorgang.

Eine endlose Kette von Übergängen bilden die Umschläge des Wetters, die Mutationen und Metamorphosen in der Evolution, die Macht- und Systemwechsel in der Politik. Der römische interrex, der »Zwischenkönig« übte die Übergangsregierung bei einer Vakanz des Konsulats aus. Das vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee erarbeitete Grundgesetz der Bundesrepublik war als »Übergangsordnung« bis zur Wiedervereinigung gedacht. Die Übergangszeit währte von 1949 bis 1990, dann wurde aus der Vorläufigkeit eine Dauerlösung. Ein Provisorium ist ein Wechsel auf die Zukunft. Erst einmal abwarten! Ein kritischer Übergang in der Zeit heißt Krise, abgeleitet von griechisch krinō – »entscheiden«.24

Ein methodisches Problem des Übergangs erwächst daraus, daß eine scharfe Grenze eine Linie erfordert, die der Länge nach durch ausdehnungslose Punkte begrenzt sein kann, aber keine Breite besitzt, also ohne eigene Flächenausdehnung im Raum verläuft, während eine unscharfe Grenze einen Zwischenraum ausfüllt, in dem ein Übergang stattfindet. Die aristotelische Formel ouk estin metabasis eis allo genos (»es gibt keinen Übergang in eine andere Gattung«) betont, daß Begriffsgrenzen ohne Zwischenformen hart aneinanderstoßen, nur ein Entweder-Oder zulassen, während reale Erscheinungen zumeist gleitende Übergänge aufweisen.25

Ein Übergang ist nicht nur die Passage einer Grenze, sondern er hat als Prozeß auch selber Grenzen, einen Anfang und ein Ende. Das gilt wie räumlich so zeitlich, aber auch sachlich im Zuge einer Veränderung auf der Skala der Annäherung an einen anderen Zustand oder Sachbereich durch wachsende Ähnlichkeit bis hin zur Zugehörigkeit, so beim Übergang des Polytheismus zum Monotheismus, von der Novelle zum Roman, von der Kunst zum Kitsch früher und zum Klamauk heute. Wer hier unterscheiden will, muß eine Grenze ziehen. Gleitend ist der Übergang von der Demokratie zur Diktatur. Caesar war zunächst dictator für sechs Monate, dann für zehn Jahre, zuletzt auf Lebenszeit, jeweils durch Volksbeschluß. Der Übergang von der Republik zum Prinzipat vollzog sich in Stufen. Klar ist, wann der Übergang vollzogen ist, nämlich dann, wenn die Macht von der Institution (dem Senat) auf eine Person (den Prinzeps) übergegangen ist. Ein Namenswechsel ist nicht erforderlich. Das Imperium Romanum hieß bis in byzantinische Zeit amtlich res publica Romana.

Der Übergang vollendet sich mit der Überquerung einer Grenzlinie, die zwei Flächen trennt, ohne selbst Fläche zu beanspruchen, zu einem Zeitpunkt, der zwei Zeiträume scheidet, selbst aber keinen Zeitraum einnimmt, momentan erfolgt. Platon substantivierte den Wechsel durch den Begriff der Plötzlichkeit, die keinen Raum und keine Zeit füllt, to exaiphnēs, atopos en chronō oudeni.26 Das erfordert die Logik. Besäße ein Grenzpunkt oder eine Grenzlinie eine noch so kleine Fläche, hätte auch diese wiederum lineare Außengrenzen und so weiter ad infinitum in immer kleinere Bereiche, bis die Breite der Grenze verschwindet, so daß wir dem Grenzpunkt und der Grenzlinie Fläche von vornherein absprechen dürfen.

Unklar ist in der Praxis oft, wo, wann und wie ein Übergang beginnt, denn es handelt sich ja um einen Prozeß. Wollen wir seinen Anfang festlegen, stellt sich die Frage: Wie weit gehen wir zurück? Wo fängt der Übergang an, wo liegt der Übergang zum Übergang? Räumlich ist das die Schutzzone vor der Staatsgrenze, etwa der Zollgrenzbezirk mit Sondervollmachten der Zollpolizei. Einer Militärgrenze wie dem Eisernen Vorhang war westlich ein schmaler Schutzstreifen, östlich eine Sperrzone vorgelagert, die nur mit Sonderausweis betreten werden durfte. Das Zonenrandgebiet im Westen genoß besondere Wirtschaftshilfe.

Zeitlich geht es um den Vorlauf des Übergangs, der ja oft ein Untergang ist. Wann und wo begann der Niedergang Roms? Wo lag der Punkt ohne Umkehr? Auch ein plötzlicher Übergang hatte einen Vorlauf, nicht nur der über den Rubico, sondern jeder Kriegsausbruch, jede Revolution, jede Bekehrung. Historische Prozesse, die auf einen Übergang zusteuern, zeigen Trichterstruktur, indem sich die möglichen Auswege verengen, die Entwicklung sich beschleunigt, der Druck sich steigert. Die Wahrscheinlichkeit eines Endes wächst mit der zeitlichen Annäherung, und es wird immer schwieriger, zuletzt unmöglich, den Gang der Dinge aufzuhalten oder umzulenken.27

Den Begriff des Übergangs verspottet Goethe einmal in ›Dichtung und Wahrheit‹ (III 12). In Wetzlar begeisterte die jungen Männer das Ritterwesen mit seinen Sitten und Riten. So gab es damals einen philosophisch-mystischen »Orden« mit Rangstufen. »Der erste Grad hieß Übergang, der zweite des Übergangs Übergang, der dritte des Übergangs Übergang zum Übergang und der vierte des Übergangs Übergang zu des Übergangs Übergang.« Damit hatte die Steigerung ihre praktische Grenze erreicht, die theoretische wurde offenbar nicht ins Auge gefaßt.

Grenzübergänge haben Ereignisqualität und werden durch besondere Zeremonien hervorgehoben. Die Ethnologen sprechen nach Arnold van Gennep (1909) von rites de passage. Der Jahreswechsel ist bei vielen Völkern ein hohes Fest, das höchste im kaiserzeitlichen Rom, im heutigen Persien, in China. Vielgestaltig sind die Übergänge in ein anderes Lebensalter: der Eintritt in die Mündigkeit durch das Anlegen der Männertoga bei den Römern, der Ritterschlag mit der Waffenleite im Mittelalter, die Taufe mit der Namensgebung bei den Christen, die Konfirmation als »Entlassung ins Leben«, das Tragen des Kopftuchs mit Eintritt der Geschlechtsreife bei muslimischen Mädchen. Das sieht der Koran so nicht vor und geht nach altpersischer Legende auf Alexander den Großen zurück, der verhindern wollte, daß seine Krieger sich verlieben.28

Ein Spaß ist die Äquatortaufe für den Schiffsjungen, der zum ersten Mal den Äquator überquert. Eine Beschreibung der Zeremonie liefert der Korvettenkapitän Felix Graf von Luckner im Zusammenhang mit seinen Abenteuern zur See im Ersten Weltkrieg. Am Abend zuvor taucht Neptun mit Gefolge aus dem Meer auf und fragt nach dem Namen des Schiffes. Es hieß »Niobe«. Dann fordert er vom Kapitän die Liste mit den passierwilligen Täuflingen und verschwindet wieder in der Tiefe. Am nächsten Tag erscheint der Meergott wieder, phantastisch kostümiert und begleitet von seiner »Frau«, vom Pastor, dem Barbier, dem Einseifer mit der großen Quaste und dem Teerpott. »Neger« bilden den Geleitschutz. Begrüßung, Aufstellung, ein riesiges Taufbecken, darüber ein Sitzbrett. Jedem Täufling verliest der Pastor die Epistel und das Gelübde. Nach dem »Ja« wird der Täufling geschwärzt, »rasiert« und ins Becken gestürzt, wo er sechsmal untertauchen muß. Nun erhält er die Taufurkunde für die vollzogene Reinigung, und der nächste Täufling steht bereit. Früher habe, so Luckner, die Taufe im »Kielholen« bestanden, einer grausamen Strafaktion, bei der mancher ein Opfer der Haie geworden sei, so daß man diese Prozedur abgeschafft habe.29

B. Raumgrenzen

Du hast dem Land seine Grenzen gesetzt.

Psalm 74,17

1.  Raumerfassung

Grenzen ermöglichen Raumerfassung und Raumbestimmung. Eine Grenze läßt sich nicht ohne Bezug auf die Räume erläutern, die sie teilt, ein Raum nicht ohne Bezug auf die Grenzen beschreiben, die ihn von seinem Umland trennen. Trennung und Teilung sind ein Machtakt, und das kommt im Ursinn der Worte »Gebiet« (von »gebieten«) und »Bereich« (von »Reich«) zum Ausdruck. Diese Aspekte werden deutlich in der Geschichte des Begriffs.

Die erste Grenze war eine Folge des Sündenfalls. Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, verschloß Gott den Garten in Eden. So wurden die Menschen zunächst mit dem Verbotscharakter der Grenze vertraut.30 Noch heute fallen uns unter den Funktionen der Grenze zunächst die negativen ein. Grenzen stören den Verkehr. Sie scheiden Menschen, die zueinander kommen wollen, sie erschweren oder unterbinden den Austausch von Gütern und Gedanken. Dem Schmuggler sind sie willkommene Einnahmequellen, aber der Biedermann, der die Grenze überschreitet – heute zumal in die USA oder nach Israel –, wird demütigenden Ritualen der Hoheitsträger unterworfen. Er wird verdächtigt, politisch oder ökonomisch gegen die Gesetze zu verstoßen, Bomben zu legen oder Kinder zu entführen. Er muß durch Paß- und Zollkontrolle seine Unschuld beweisen, an der im Landesinnern niemand zweifelt. Politiker reden von »Grenzverletzung«, als ob der Staatskörper der Leidende wäre und nicht der aus- oder eingesperrte Bürger. Niemand möchte eingeschlossen, niemand ausgeschlossen sein, Freiheit ist zuallererst Bewegungsfreiheit.

Grenzen bestimmen die Weite eines Raumes. Ist ein Raum zu eng begrenzt, sagen wir, es fehle »Platz« für den vorgesehenen Inhalt. Das Wort geht zurück auf lateinisch platea. Maria und Josef fanden zu Bethlehem keinen »Raum« in der Herberge, griechisch topos, lateinisch locus.31 Als Jesus in Kapernaum predigte, fanden die Zuhörer nicht »Raum« im Hause, griechisch chora, lateinisch spatium.32 Die Wörter topos und locus bezeichnen eigentlich einen Ort, also einen Punkt, erst danach einen eng begrenzten Raum. Umbauter Freiraum ist ein »Hof«, ein Bauernhof oder ein Gutshof, ein Gerichtshof oder Königshof. Dies war in Rom die überdachte Palastaula, ein Binnenraum. Innenraum hat Außengrenzen so wie der Abstand zwischen zwei Zaunlatten. Außenraum hat eine Innengrenze so wie das Suburbium Roms oder das Umland jenseits der Stadtgrenze Berlins. Grenzen machen Räume sichtbar und benennbar. Der Weltraum ist Innenraum zwischen den Himmelskörpern und Außenraum um sie herum.

Die Raumerfassung mit ihren Abgrenzungen auf dem Lande ist Sache der Feldmesser. Ihre Kunst, die Geodäsie im Sinne der Landvermessung, erwähnt schon Aristoteles.33 Eine eigentliche Technik entwickelten aber erst die römischen Agrimensoren34 und dann wieder die Landvermesser im 19. Jahrhundert. In der Landaufnahme geht es um Ortsbestimmung und Grenzlinien. An die Stelle der Arbeit mit Seilen und Stangen trat die mit Nivelliergeräten; seit 1989 gibt es die Satellitengeodäsie, unter anderem zur Erstellung von Katasterplänen.

Unterirdische Raumvermessung ist die Aufgabe von Markscheidern. Sie erarbeiten Stollenpläne von Bergwerken, nicht zuletzt um zu verhindern, daß die Landesgrenze untergraben wird. Bereits 1271 zahlte Salzburg an Berchtesgaden eine Jahresabgabe für grenzunterschreitenden Salzabbau, der 1627 in Wien – naheliegend – als Gewohnheitsrecht bestätigt wurde.35 Römische Markscheider haben die Gänge der Callistus-Katakombe an der Via Appia vermessen, angelegt in vier Etagen.

Großflächige Raumerfassung erfolgt mit Erd- und Landkarten, die im Mittelalter erst bisweilen und dann regelmäßig seit dem 16. Jahrhundert Grenzen verzeichnen. Damals kam auch die Kartographie wieder in Gang, für die schon Claudius Ptolemaeus um 150 n. Chr. Vorzügliches geleistet hatte.36

2.  Geometrische Grenzformen

Räumliche Grenzen erscheinen in drei Grundformen: als Punkte, Linien oder Flächen. Punkte markieren Grenzen auf einer Linie, bilden Abschnitte und Unterteilungen. Auf einer Straße sind Zollstationen und Schranken Grenzpunkte, Meilensteine bezeichnen Strecken. Eine Meile, lateinisch mille passuum, sind »tausend Schritt«. Der menschliche Körper lieferte die ältesten Längenmaße. Hatte der Sophist Protagoras aus Abdera einst erklärt, der Mensch sei das Maß aller Dinge,37 so gilt das buchstäblich für die frühesten Maßeinheiten, den Fuß und die Elle, den Klafter und den Schritt. Apart, wenn auf dem Meer mit See-»Meilen« gerechnet wird.

Wo Punkte ein Territorium begrenzen sollen, ist die kürzeste Linie zwischen ihnen gemeint, so bei Grenzsteinen. An Territorialgrenzen denken wir bei dem Wort »Grenze« zunächst. Lineare Grenzen können selbst wiederum punktuelle Grenzen haben, so der Limes. Er beginnt bei Rheinbrohl am Rhein und endet bei Eining an der Donau.38 Die Linie einer Staatsgrenze teilt nicht nur flächig den Boden, sondern auch räumlich den Luftraum darüber und das Erdreich darunter durch eine gedachte Scheidewand. Die Grenze eines Körpers bildet seine Oberfläche, seine ihn umschließende Haut. Sie trennt die Räume nach innen und außen und ist wie alle Grenzen veränderbar, so durch das Volumen, etwa das eines aufblasbaren Luftballons.

Unser Planet bietet Beispiele für alle drei Grenzarten. Sie beruhen zum einen auf Beobachtung und Berechnung, sind insoweit natürlich und allgemeingültig, zum andern auf Übereinkunft und Sprachregelung und sind insofern kulturbedingt variabel. Naturgegebene Grenzpunkte sind die Pole für die Meridiane im Norden und Süden. Es sind Endpunkte der Erdachse, festgelegt durch die Rotation. Die Hemisphären begrenzt der Äquator. Er ist überall feststellbar durch den Effekt der Corioliskraft, die eine Feder in einer Wasserschüssel auf der Nordhemisphäre rechtsherum, auf der Südhalbkugel linksherum kreisen läßt. Auch die Mitte kann somit eine Grenze sein, nämlich zwischen den Hälften. Wie die Pole sind die Polar- und Wendekreise naturgegeben. Längen- und Breitengrade hingegen sind künstlich. Sie wurden – in Stadien gemessen – zuerst von Eratosthenes aus Kyrene verwendet, der im 3. Jahrhundert v. Chr. als Bibliothekar in Alexandria lebte. Hier gelang ihm als orbis terrarum mensor,39als Vermesser des Erdkreises, auch durch Vergleich der Schattenwinkel die Berechnung des Erdumfangs.40

Die Zählung der Längengrade begann Ptolemaeus bei den »glücklichen« Kanarischen Inseln. Das war in der Neuzeit lange umstritten, so auch der 1675 von britischen Astronomen definierte heutige Nullmeridian. Gegen Paris behauptete sich, seit 1884 international, Greenwich, der Kriegshafen von London, aufgrund der weiter verbreiteten britischen Seekarten. Wäre die Vermessung von den Chinesen ausgegangen, so läge die Datumsgrenze heute nicht im Pazifik, sondern ginge mitten durch London. Die Erdoberfläche begrenzt den Planeten, der »Erde« heißt, obschon ihn zu mehr als zwei Dritteln Wasser bedeckt. Aus der Sicht der Delphine müßte sie auf Griechisch statt Gäa besser Pontos, Pelagos oder Thalassa heißen. Aber der Meeresboden ist schließlich auch Erde. Von oben gesehen ist der Grund eine Grenze.

Im Unterschied zu den genannten objektiven Raumgrenzen, die von jedermann erkannt und gebilligt sein können, gibt es subjektive, die allein dem Betrachter als solche erscheinen. Wolken begrenzen den Blick in den Himmel, der »Horizont« begrenzt den Blick in die Weite. Das Wort geht zurück auf horos – »Grenze«. Es ist die kreisrunde Grenze zwischen Himmel und Erde, die Linie, bis zu der mein Auge reicht. Ändere ich meinen Standpunkt, so ändert sich mein Horizont.

3.  Biologische und geographische Naturgrenzen

Der Begriff der »natürlichen Grenze« bezeichnet zweierlei. Gemeint sind entweder vorgegebene Grenzen in der Naturlandschaft oder naturbegünstigte Grenzen in der Menschenwelt. Naturgegeben sind Ufer und Küsten als Grenzlinien zwischen Land und Wasser sowie Kaps als Grenzpunkte, so Land’s End in Cornwall und Finisterre in Nordwestspanien und in der Bretagne.

Gebirge bilden Wetterscheiden. Natürlich begrenzte Lebensräume mit unterschiedlichen Anpassungserfordernissen waren eine Ursache für die Artenvielfalt. Als durch die Kontinentalverschiebung vor 100 Millionen Jahren der Atlantik entstand, entwickelte sich die Tier- und Pflanzenwelt trotz gemeinsamer Abstammung beiderseits der Küsten auseinander. Die Alpen hemmten die Verbreitung der Gehölze nach Norden.41 Auf Inseln überlebten Arten, die andernorts durch stärkere Konkurrenten ausgerottet wurden, so in Neuseeland die Kiwis und in Australien, dem »Land der lebenden Fossilien«, die Känguruhs. Das Kaninchen stammt aus Nordafrika, gelangte über die Straße von Gibraltar und verbreitete sich in Spanien, punisch: Kaninchenland.42 Von dort gelangte es im Mittelalter nach Frankreich und wanderte nach Osten, wobei die großen Ströme Rhein, Elbe und Oder die Verbreitung stets etwa um je ein Jahrhundert verzögerten. Kaninchen schwimmen nicht.

Altbekannt ist die Elbe als Lebensraumgrenze zwischen den Rabenkrähen westlich und Nebelkrähen östlich des Stroms.43 Seit Alfred Brehms Zeiten hat sich das insofern geändert, als die Rabenkrähe inzwischen die Elbgrenze überwunden hat und auch die Heiligenseer Felder in Berlin bevölkert, während die Nebelkrähe die Grenze wahrt, sich dafür bis Japan ausgebreitet hat. Naturgrenzen sind nur bei Flüssen eine klare Linie, sonst sind es Grenzgürtel, Übergangszonen. Unscharf sind die Baumgrenze im Gebirge, die Treibeisgrenze auf den Meeren, die Grenzen der Wüsten, Wälder und Steppen. Wo hier Linien statt Schraffuren auf den Karten erscheinen, ist ein Interpretationsspielraum festgeschrieben.

Scharf abgrenzbar sind die Wasserscheiden, wenn auch meist unsichtbar im Gelände. Bei Immendingen versickert Wasser der Donau im Sommer und tritt 30 Kilometer südlich in der Aachquelle wieder zutage, deren Wasser dem Bodensee und damit dem Rhein zufließt.44 Die Donau unterläuft hier die Wasserscheide, so wie auch politische Grenzsperren zuweilen in Fluchttunneln unterquert werden.45 Als Grenze zwischen zwei Grafschaften erscheint eine Wasserscheide in Süddeutschland um 890.46 Gelegentlich entsteht Unklarheit, weil Wasserscheiden sich verändern können. 1991 wurde in den Ötztaler Alpen auf dem Tisenjoch der »Mann im Eis«, genannt »Ötzi«, gefunden, der dort um 3400 v. Chr. umgekommen und vom Gletscher konserviert worden war. Die Fundstelle liegt nahe der Wasserscheide, wo Österreich an Italien grenzt, so daß beide Staaten Anspruch auf die Leiche erhoben. Strittig war, ob die Wasserscheide unter dem Eis, so Österreich, oder auf ihm, so Italien, gemeint war. Letzteres wurde bestätigt, so daß die Fundstelle erst beim Abschmelzen des Gletschers auf der Seite Österreichs zu liegen kommt, die Grenze mithin wandert.47

Flüsse und Gebirge sind nur insofern natürliche Grenzen, als sie das Land diesseits und jenseits rein geographisch trennen, so wenn die Römer von der Regio Transpadana nördlich des Po oder von der Gallia Cisalpina südlich der Alpen sprachen. Flüsse als politische Grenzen sind sehr verbreitet und bequem handhabbar, aber keine naturgegebene Rechtfertigung für Gebietsansprüche, denn sie trennen öfter Staaten als Völker. Dabei ist die Grenzfunktion von Flüssen zuvörderst Trennung. Wenn Hegel meinte, Flüsse und Meere seien keine natürlichen Grenzen, weil sie Menschen nicht trennten, sondern verbänden,48 so dachte er wohl an Händler und Piraten.

Wo Flüsse oder Gebirge als Zuständigkeitsgrenzen verwendet werden, ist eine Präzisierung erforderlich. Wo genau liegt der Kamm? Verläuft die Flußgrenze auf dem inneren oder dem äußeren Ufer oder in der Mitte des Bettes? Die Mitte des Hochrheins nennt die erwähnte Urkunde von 890. Staatsgrenze zwischen den Anrainern des Bodensees ist je das eigene Ufer. Als die Schweiz im Zweiten Weltkrieg sich gegen Zuwanderung unter Wasser schützen mußte, erhielten die Zöllner Taucherausrüstung. Das Bodensee-Museum Bottighofen zeigt es. Der See ist Kondominium so wie seit 1816 die Grenzflüsse zwischen Deutschland und Luxemburg Mosel, Sauer und Our, weswegen auch die Moselbrücke zwischen Oberbillig und Wasserbillig Gemeingut ist.49

In der Geschichte gab es mehrfach Friedensschlüsse oder -verhandlungen auf Schiffen, Brücken oder Inseln inmitten von Flüssen, die als Niemandsland betrachtet wurden. Zu den römischen Beispielen50 kommen solche aus fränkischer Zeit51 und dem Spätmittelalter. So 1419, als der Dauphin Karl (VII) auf der Brücke von Montereau am Zusammenfluß von Seine und Yonne seinen Verhandlungspartner Johann Ohnefurcht, den Herzog von Burgund, verräterisch mit dem Beil erschlug, und 1475, als für das Treffen zwischen Ludwig XI von Frankreich und Eduard IV von England bei Amiens eigens eine Holzbrücke über die Somme gebaut wurde. Eine höchst lebendige Schilderung dieses Vorgangs verdanken wir den 1524 erschienenen ›Mémoires‹ von Philippe de Commynes, der als engster Berater des französischen Königs beteiligt war. Der Mord von 1419, so Philippe, war durch einen technischen Fehler möglich. Der trennende Fluß wurde durch einen Holzsteg überbrückt, der in seiner Mitte durch eine Schranke geteilt war. Diese aber enthielt eine Tür, die sich öffnen ließ, was den Herzog das Leben kostete. Daraus klug geworden, habe man 1475 auf der Brücke über die Somme ein sehr starkes Gitter errichtet, »wie man es bei Löwenkäfigen macht«, durch das verhandelt wurde. Eine neunjährige Waffenruhe wurde vereinbart, und die Herrscher umarmten sich durch die Gitterstäbe hindurch.52 Ein jüngeres Beispiel bietet das Vorgespräch des kurzlebigen Tilsiter Friedens zwischen Napoleon und Alexander I. Es fand am 25. Juni 1807 in einem Pavillon auf zwei Flößen inmitten der Memel statt. Tolstoi hat die Szene 1869 beschrieben, Adolphe Roehn hat sie gemalt.53

Vielerorts trennen Gebirgszüge Länder und Völker, denken wir an die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien mit dem Pyrenäenfrieden von 1659 auf der Fasaneninsel im Grenzfluß Bidasoa, an die Alpen im Norden Italiens, an den Kaukasus im Süden Rußlands, an den Ural im Osten Europas und an die Anden im Westen von Argentinien. Die Übergänge an solchen Grenzen sind gewöhnlich Engpässe und oft Brennpunkte der Kriegsgeschichte. Im Jahre 333 v. Chr. stürmte Alexander auf dem Weg nach Issos die von den Persern besetzte Kilikische Pforte auf dem Tauruskamm, eine aus den Felsen gehauene Fahrstraße bei Eregli, die 1838 Helmuth von Moltke passierte und beschrieb.54 218 v. Chr. erkämpfte Hannibal den Alpenübergang beim Kleinen Sankt Bernhard gegen den Widerstand der keltischen Tauriner.55 Im Jahre 778 fiel Roland, der Paladin Karls des Großen, beim Pyrenäenpaß Roncesvalles.56 Das legendär ausgestaltete Rolandslied aus der Zeit um 1100 ist das älteste französische Heldenepos.

Im Jahre 1877 eroberten Russen und Bulgaren den Schipka-Paß auf dem Balkan und verteidigten ihn in einer mörderischen Schlacht gegen Suleiman Pascha. Das Leichenfeld zeigt das Bild in der Moskauer Tretjakov-Galerie von Wassili Wereschtschagin ›Ruhe herrscht am Schipka-Paß‹. Der Balkan wurde die erste Südgrenze Bulgariens gegen das Osmanische Reich. Der Fuß- und Radwanderern wohlbekannte Rennsteig oder Rennweg, ursprünglich Rainweg, auf dem Kamm des Thüringer Waldes von der Saale zur Werra bildet die Grenze zu Franken, noch immer an den Grenzsteinen erkennbar.

Engpässe entstehen auch dort, wo das Gebirge so nahe an das Meer heranrückt, daß nur ein schmaler Durchgang bleibt. Mehrere solcher Küstenpässe wurden historisch bedeutsam. Der bekannteste liegt in Mittelgriechenland, wo der Oeta, auf dem Herakles sich verbrannt haben soll, so nahe an den Malischen Meerbusen herantrat, daß an der schmalsten Stelle nur für einen Wagen Raum war. Es sind die Thermopylen, die »warmen Pforten«, benannt nach den heißen Quellen dort. Hier hatten die Phoker gegen die nördlicheren Thessalier eine Mauer gebaut. Sie wurde 1939 archäologisch nachgewiesen. Als Xerxes mit dem riesigen Perserheer im August 480 v. Chr. auf der Küstenstraße gen Athen zog, sperrte sie der Spartanerkönig Leonidas mit seinen 300 Spartiaten und Männern aus Thespiai und Theben. Von hinten durch Umgehung des Passes bedroht, verteidigte Leonidas die Sperre, bis er mit seinen Mannen den Tod fand. Wahrscheinlich von Simonides stammt das berühmte, von Cicero latinisierte, von Schiller 1795 verdeutschte Grabepigramm: »Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / uns hier legen gesehn, wie das Gesetz es befahl«.57 Es ging darum, die Perser so lange aufzuhalten, bis die geschlagene, auf der Flucht befindliche griechische Flotte den Golf von Euböa durchquert hatte, den die Perser an der Meerenge von Chalkis hätten sperren können. Im Krieg der Römer gegen Antiochos III 191 v. Chr. entstand an dem Küstenpaß wieder eine Mauer, die Justinian um 540 verstärkte.58 Ein Zollhaus an den inzwischen breiteren Thermopylen erinnert daran, daß vor 1881 hier die Nordgrenze des Königreichs Griechenland gegen das noch osmanische Thessalien verlief. Heute steht dort ein heroisches Denkmal der in den USA erneuerten Phalanx of the 300 knights, namentlich genannt, unter ihrem founder and commander Harris J. Booras.

Einen weiteren Küstenpaß gab es im südwestlichen Kleinasien an der pamphylischen Steilküste bei Klimax. Er war nicht immer durchlässig. Als Alexander der Große im Jahre 333 auf dem Weg nach Gordion war, trieb der Wind das Wasser so weit zurück, daß die Passage möglich war. Das galt als wunderbarer Gunstbeweis des Gottes Poseidon, als ehrende »Proskynese« des Meeres vor dem Makedonen.59 Legendär ist Alexanders Besuch in Derbent – persisch das »zugebundene Tor« –, wo der Kaukasus so nahe an die kaspische Küste herantritt, daß die Sassaniden-Herrscher die Enge mit einem Eisentor verschließen konnten. Nach christlicher Legende baute Alexander die Sperre gegen die biblischen Völker Gog und Magog.60 Ein anderer historischer Küstenpaß befindet sich am Lykos im Libanon, berühmt durch seine Inschriften.61

Eine Küstenpassage, die im Zweiten Weltkrieg eine Rolle gespielt hat, gibt es in Italien auf der Straße von Rom nach Neapel, der Via Appia. Sie liegt zwischen Terracina und Fondi, wo die Monti Lepini an den Golf von Gaëta herantreten. Nachdem die Alliierten im September 1943 in Kalabrien gelandet waren und sich nach Norden hochkämpften, mußte die deutsche Front schrittweise zurückgenommen werden. Auf der Höhe von Monte Cassino entstand die Gustav-Linie, deren westlichen Endpunkt jener Küstenpaß bildete. Er konnte von Fridolin von Senger und Etterlin über Monate gehalten werden, bis die marokkanischen Truppen der Franzosen ihn auf den Höhen umgingen und die Deutschen Ende Mai 1944 zum Rückzug zwangen.

Als Gregorovius diese Stellung mit den Thermopylen verglich, konnte er nicht ahnen, daß später auch hier eine Umgehung den Kampf entschied. Der Ort liegt an der alten Grenze zwischen Latium und Kampanien, dann zwischen dem Kirchenstaat und dem Königreich Neapel.62 1859 passierte sie Gregorovius östlich im Liris-Tal. Er erwähnt die Grenzsteine. In Isola wurde er vom Zoll schikaniert, der fünf historische Bücher und einen Horaz im Gepäck zu Konterbande erklärte, die höheren Orts vorgelegt werden müsse.63 Es war die Zeit, als Garibaldi für die Einigung Italiens kämpfte, die weder dem Herrn beider Sizilien noch dem Heiligen Vater behagte. Die Fahndung nach »Druckerzeugnissen« beim Grenzübergang zeigt den Gegensatz religiöser und politischer Weltanschauung seit der Reformation und der Französischen Revolution.

Ein Beispiel aus Fernost bietet der Wolkenpaß zwischen Nord- und Südvietnam, wo die vietnamesischen Kordilleren (bis 1528 Meter) ans Südchinesische Meer stoßen. Es ist die Wetterscheide zwischen der subtropischen und der tropischen Zone und die Grenze zwischen dem chinesischen (im Norden) und dem indischen Kultureinfluß (im Süden). Die 1805 angelegte, 22 Kilometer lange Mandarin-Straße durch den Dschungel von Hué nach Da Nang wurde 1888 von den Franzosen einspurig ausgebaut, später verbreitert und heute untertunnelt. Befestigungen seit der frühen Neuzeit, dann der Japaner und Franzosen, der Vietcong und Franzosen zeugen von der militärischen Vergangenheit deses »Nadelöhrs«64

Gegebene Anhaltspunkte für Grenzen von historischer Bedeutung wie Flüsse und Berge sind Landengen, so der Isthmos von Korinth, der zwischen Adria und Ägäis die Peloponnes abtrennt. Er wurde schon in mykenischer Zeit durch eine Mauer befestigt, eine zweite entstand 480 v. Chr. beim Einfall der Perser,65 sie wurde um 540 unter Justinian gegen die Goten erneuert.66 Eine vierte Mauer baute Kaiser Manuel 1415 gegen die Türken, das Hexamilion, es hielt nur bis 1423. Den naheliegenden Plan, die Landenge in eine Meerenge zu verwandeln, um die zeitraubende und gefährliche Umschiffung der Peloponnes zu vermeiden, faßten nacheinander der Makedonenkönig Demetrios Poliorketes, Julius Caesar und Kaiser Caligula. Nero begann die Arbeit mit Tausenden von Gefangenen aus dem Jüdischen Krieg. Sein Tod am 9. Juni 68 beendete das gigantische Unternehmen.67 Es blieb bei der Schiffsschleife über die Höhe des Isthmos, dem Diholkos. Der Kanalbau gelang erst 1893.

Nicht aus technischen, sondern aus religiösen Gründen unterblieb der Grenzgraben, der die ägäische Halbinsel Knidos schützen sollte. Als die Stadt sich um 540 v. Chr. damit gegen die Perser schützen wollte, fragte sie in Delphi an und erhielt die Antwort: Wenn Zeus das hätte haben wollen, hätte er es selbst gemacht.68 Erfolgreich war der Durchstich der Athoshalbinsel durch Xerxes, nachdem 492 v. Chr. die persische Flotte bei der Umsegelung des Vorgebirges gekentert war. Es sperrte den küstennahen Seeweg nach Griechenland. Der Athos-Kanal war später eine Einnahmequelle der an ihm gelegenen Stadt Akanthos. Spuren sind im Gelände erhalten.69

Auf der Landenge an der Ostgrenze Ägyptens, die den Zugang von Syrien beherrscht, stand seit pharaonischer Zeit die Festung – das bedeutet der Name – Pelusion. Noch im Ersten Weltkrieg gab es hier eine englische Verteidigungsstellung gegen die türkisch-deutschen Angriffe 1915 und 1916. Da die Landenge die Verbindung vom Mittelmeer ins Rote Meer sperrt, hat bereits nach der Eroberung Ägyptens durch den Perserkönig Kambyses 525 v. Chr. dessen Nachfolger Darius Abhilfe geschaffen, indem er den Golf von Suez durch einen Ost-West-Kanal mit dem östlichsten, dem pelusischen Nilarm hat verbinden lassen, wie er selbst auf seinen Inschriften verkündet.70 Der Kanalbau des Pharao Necho um 600 v. Chr. war unvollendet geblieben. Ptolemaios II erweiterte ihn, unter Kleopatra und Trajan war er noch befahrbar. Durch Kalif Omar wurde der Kanal erneuert, 767 aber war er versandet. Nach Plänen von Napoleon und Metternich nahm eine europäische Kommission die Arbeit auf, der Franzose Ferdinand Lesseps erhielt 1856 vom ägyptischen Vizekönig Said Pascha die Konzession für den Betrieb eines Kanals.

Im Jahre 1869 hatte die Kanalbaugesellschaft die Arbeit vollendet, 1875 übernahm London 44 Prozent der Aktien und besetzte die Kanalzone. Als der ägyptische Präsident Nasser den Kanal 1956 verstaatlichte, intervenierten Franzosen, Briten und Israelis militärisch trotz UN-Protests, von Moskau lanciert, und Völkerrechts. Hier kommt nun eine Meerenge ins Spiel, die Meerenge von Tiran am Ausgang des Golfs von Akaba. Die sperrte Nasser damals für israelische Schiffe von Eilat ins Rote Meer, woraufhin die Israelis den Sinaifeldzug in Gang setzten. Dann standen sich 1967 bis 1975 israelische und ägyptische Soldaten direkt am Kanal gegenüber und blockierten nicht nur die 1888 festgelegte freie Durchfahrt, sondern auch die Ausfahrt der noch im Kanal verbliebenen Schiffe. UN-Resolutionen und Völkerrechtsbestimmungen sind in Grenzfragen – um mit Mao zu sprechen – Papiertiger.

Die Landenge von Perekop zwischen der Ukraine und der Krim wird im Osten durch das »Faule Meer«, ein Sumpfgebiet, gesperrt, im Westen gab es seit alters einen Grenzgraben – daher der griechische Stadtname Taphros. Auf der Tabula Peutingeriana (IX 1) lesen wir: fossa facta per servos Scutarum – »Graben gemacht durch die Sklaven der Skythen«.71 Er wurde im 15. Jahrhundert vom Khan der Krimtataren auf der Südseite durch eine Mauer verstärkt, die von den Russen bis zur Annexion der zuvor türkischen Krim 1783 mehrfach genommen wurde. 1944 deportierte Stalin die Krimtataren und ersetzte sie durch Russen. Die Krimrussen gehörten seit 1954 zur Ukraine, bis sie sich 2014 durch »unzulässigen« Volksentscheid an Rußland anschlossen. Gilt die UNO-Charta (Art. 1 und 55) nur selktiv?

Um die Krim gegen die Ukraine abzuschließen, zog Rußland 2018 in alter Tradition einen 60 Kilometer langen Zaun über den Hals der Halbinsel. Eine zweite Geländegrenze schützte die Landzunge, die sich von Theodosia ostwärts nach Pantikapaion-Kertsch erstreckt. Hier baute um 40 v. Chr. der bosporanische König Asandros gegen die Krimskythen eine Nord-Süd-Mauer vom Asowschen zum Schwarzen Meer, verstärkt durch zehn Türme im Abstand eines Stadions zu 180 Metern.72 Die viel umstrittene Landenge von Panama trennt nicht nur Nord- und Südamerika, sondern auch Atlantik und Pazifik. Den 1914 nach langen Verhandlungen fertiggestellten Kanal sicherten sich die USA als Enklave im Staat Panama bis 1999.

Naturgrenzen sind außer Landengen auch Meerengen. Auch sie waren stets von politischer und militärischer Bedeutung. Die Straße von Gibraltar wird gerahmt von den »Säulen des Herkules«.73 Bis zur Niederlage gegen die Römer im Zweiten Punischen Krieg 202 v. Chr. kontrollierte die Seemacht Karthago die Enge. 711 n. Chr. errichtete der maurische Feldherr Tarik nach seinem Sieg über die Westgoten auf dem nach ihm benannten Felsen Djebel al-Tarik – Gibraltar – eine Festung zur Sicherung des Übergangs auf die Iberische Halbinsel. Unter Karl V wurde heraldisch daraus das Tor zur Neuen Welt.74 1704 besetzten die Briten den Berg und überstanden 15 Belagerungen. Er war wichtig für ihren Weg nach Malta, Zypern, Suez und durch die Straße von Aden, seit 1839 britisch, nach Indien. Seit 1969 ist Gibraltar britische Kronkolonie, gegen das Festland abgegrenzt durch Gitterwerk mit Stacheldraht und eine 500 Meter breite tote Zone. 1970 sperrte Spanien den Übergang bis 1985. Mit dem Brexit wird er wieder geschlossen, so wie in Nordirland.

Eine doppelte Naturgrenze bilden wiederum der Bosporus und die Dardanellen, der antike Hellespont. Sie trennen zwei Kontinente und zwei Meere. Der Perserkönig Darius überquerte letzteren auf dem Zug gegen die Donauskythen 512 v. Chr. mittels einer Schiffsbrücke, errichtet von dem Baumeister Mandrokles aus Samos,75 ähnlich der Nachfolger Xerxes, der auf seinem Feldzug gegen Athen 480 v. Chr. bei Abydos eine Schiffsbrücke über den Hellespont anlegen ließ.76 In umgekehrter Richtung passierte hier 334 v. Chr. Alexander auf dem Marsch nach Persien den Meeresarm, allerdings auf Schiffen, 160 Trieren. Die Türken gewannen schon 1358 unter Emir Orchan die Halbinsel Gallipoli auf der europäischen Seite der Dardanellen; den Übergang über den Bosporus sicherte Mehmed II 1452 durch die diesseitige Uferfestung Rumeli Hissar. Seit der Eroberung Konstantinopels 1453 sind die Meerengen türkisch.

Schon im 18. Jahrhundert bekundeten die Russen ihr Interesse an den Meerengen und an Konstantinopel.77 Im Frieden von Kütschük-Kainardschi 1774 erzwangen sie die Durchfahrtsrechte für Handelsschiffe, doch stellten sich dann Briten und Franzosen auf die Seite der Türken, militärisch im Krimkrieg 1854. Fortan blieb die externe Kontrolle der Meerenge erhalten, erst 1936 erreichte Kemal Atatürk in Montreux die volle Gebietshoheit; die Briten gaben nach, denn sie setzten auf ihn im bevorstehenden Krieg gegen Deutschland.78 Den Westmächten diente die Türkei als Bollwerk gegen die Expansion Rußlands, wie 1854 so wieder seit 1952 mit dem türkischen Beitritt zur nicht nur »Nordatlantischen« Verteidigungsorganisation.

4.  Lebensräume von Tieren und Menschen

Im Unterschied zu den in der Natur vorgegebenen Grenzen dienen einvernehmlich gesetzte oder gewaltsam geschaffene Grenzen bei Tieren und Menschen dem Wohn- und Lebensraum von Familien und Völkern. Das haben sie gemeinsam mit Lebewesen, die an ein Biotop gebunden sind. Selbst ortsfeste Pflanzen behaupten ihren Standort, wo sie wurzeln, und benötigen einen Platz an der Sonne, der im Verdrängungswettbewerb der Botanik erkämpft werden muß. Ist der Wald wirklich ein Bild des Friedens?

In der Tierwelt sprechen wir von Revieren. Das Wort ist verwandt mit Riviera, von lateinisch ripa, »Ufer«, und bezeichnet ursprünglich die Uferzone. Es ging ein in die Jägersprache, wir denken an das Jagdrevier und den Revierförster. Eigene Jagdgebiete beanspruchen Tiere zahlreicher Arten, meist zur Brutzeit nahe dem Brutort. Ihn verteidigen sie gegen Artgenossen und Nahrungskonkurrenten. Bei den Vögeln gilt das nicht nur für Greife wie den Uhu, sondern auch für Sänger wie den Buchfinken, der durch sein Geschmetter verkündet, wo er keinen anderen Artgenossen zu sehen wünscht und ihn verjagt, ja – ut vidi – bis zum Tode bekämpft.

Recht menschenähnlich ist das Territorialverhalten von Schimpansen, wie es die Britin Jane Goodall beschreibt. Sie hat jahrelang mit diesen Affen am Gombe-Strom in Tansania zusammengelebt und beobachtet, wie die Gruppenidentität gepflegt wird, fremde Schimpansen mißhandelt und die Reviergrenzen durch »Patrouillengänge« kontrolliert werden. Sie spricht von Überfällen in Nachbargebiete, ja von regelrechten Stammeskriegen. Das setzt Grenzen voraus. Nashörner sollen ihr Revier durch Duftmarken abgrenzen, die sie durch Schwanzwirbeln verteilen.

Der menschliche Lebensraum wächst für den Einzelnen mit dem Erwachsenwerden, für die Gesellschaft mit der Geschichte. Die erste Grenze, die wir im Leben überqueren, ist die Schwelle des Zimmers oder des Hauses, in dem wir zur Welt gekommen sind. Die Hausschwelle ist die Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen dem abgeschirmten Privatbereich und dem einsehbaren Freiraum. Hier endet die Hausgewalt des Eigentümers, die Schwelle ist eine Rechtsgrenze. Die verschiedensten Befugnisse, Gebräuche und Vorstellungen sind mit ihr verbunden. Die ›Lex Salica‹ (§ 100), das altfränkische Recht aus dem 7. Jahrhundert, beschreibt ein Ritual noch aus vorchristlicher Zeit, wobei ein zahlungsunfähiger Totschläger auf der Schwelle stehend mit dem Blick nach innen Erde mit der Linken über seine Schulter auf seine Verwandten wirft, die für ihn einstehen sollen.

Wie das Wort »Schwelle« besagt, handelt es sich um einen erhöhten Tritt. Je höher die Schwelle, desto schwerer ist sie zu überschreiten, etwa für den Angestellten in die Selbständigkeit, für den Fremden bei der Einbürgerung, für das Schwellenland beim Übergang in die Reihe der Industrienationen. Die Schwelle wird auch als Zeitgrenze verwendet. Schon Homer spricht mehrfach vom Greisenalter als der »Schwelle« (oudos) zum Tode.79 Wir finden auf der »Schwelle zur Neuzeit« die Namen Gutenberg, Kolumbus und Luther, die »Schwelle zur Industrialisierung« liegt in England. Die Schwelle der Gegenwart wandert mit der Zeit aus der Vergangenheit in die Zukunft.80

Ein reiches Brauchtum ist mit der Schwelle verbunden. So schon bei den Griechen. Odysseus, zur Insel des Aiolos zurückgekehrt, setzt sich bittflehend auf die Schwelle des Palastes und erwartet das Urteil des Windgottes, so wie die weinende Penelope sich nicht auf einen Stuhl, sondern auf die Schwelle setzt.81 Die Römer kannten einen Gott der Schwelle (limen) namens Limentinus;82 im uralten Kultlied des Priesterkollegiums der Salier beschwören sie den Kriegsgott Mars, auf die Schwelle zu springen und stehen zu bleiben.83 Bei den Römern bezeugt und weltweit verbreitet ist die Sitte, daß die Braut vom Bräutigam über die Schwelle seines Hauses getragen wird, das fortan kein fremdes mehr ist, sondern ihr eigenes. Unter der Haus- oder Stallschwelle wurden die absonderlichsten Opfer vergraben,84 um Übel abzuwehren oder hinausgetragenen Toten die Rückkehr zu verwehren. Riten und Vorstellungen dieser Art sind Legion.85 Jedenfalls ist die Schwelle ein Ort der Geister, die gebannt werden müssen. Denn:

Unter jedes Hauses Schwelle

spukt ein Kobold aus der Hölle,

der will dir beim Überschreiten

einen Schabernack bereiten.

Tritt auf ihn und mach dir klar,

was wohl seine Arglist war!

Denn durch Überlegung wird

selbst ein Teufel nasgeführt.

Nach der Schwelle ist die nächste Grenze, die wir überqueren, die des Grundstücks oder des Gartens. Das Wort »Garten« ist verwandt mit »Gürtel« und slawisch grad in Städtenamen wie Belgrad – »Weiße Stadt« – und Nowgorod – »Neustadt«. Gärten werden umgrenzt von einer Hecke oder einem Zaun. Schmückende Hecken bestehen aus Buchsbaum oder Hainbuche, Schutz bieten weißblühende Schwarz- oder Schlehdornhecken.

Das Wort »Zaun« kehrt wieder in der ummauerten town in England, im keltischen Ringwall des »Dünsbergs« und im Namen des mons Taunus. Zahlreiche lateinische Stadtnamen in ehemals keltischem Gebiet enden auf -dunum, so Campodunum – Kempten, Lugdunum – Lyon und Camelodunum – Colchester. Mittelhochdeutsch vride – »Umzäunung« nach althochdeutsch friten – »hegen« verweist auf die Schutzfunktion der Einfriedung, die an den Schutzbedarf des Friedens gemahnt. Träumt Freiheit von offenen Grenzen, erfordert Frieden Sicherheit durch Abgrenzung. Bei Homer sind auch die Zähne ein Zaun, der den Mund verschließt und die Zunge zähmt. Worte entfliehen dem Gehege der Zähne, ebenso die Seele der Sterbenden, während der Wein den herkos odontōn in der Gegenrichtung passiert.86

Gehen wir über vom privaten Bereich in den sozialen Lebensraum, so zeigt sich dessen zunehmende Vergrenzung. Die steinzeitliche Lebensform der Jäger und Sammler, der Wildbeuter, war zunächst der Nomadismus und hat sich in einigen wenigen Steppen und Halbwüsten sowie in den nördlichen Polargebieten erhalten. Doch ist das Ende dieses Daseins abzusehen. Auch Wanderhirten leben seit der Steinzeit innerhalb von Naturgrenzen, sie gingen und gehen ihrer Nahrung nach in einem Gebiet, das die Bedürfnisse ihrer Schafe und Kamele, Pferde und Rentiere bestimmen. Nomaden leben in Zelten oder Wohnwagen, sie sind immer unterwegs, oft in saisonaler Transhumanz auf traditionellen Wanderwegen von einem Weideplatz zum andern. Konflikte zwischen und mit Nomaden gibt es durchaus, sie haben aber nicht den Charakter von Grenzkriegen um Land.

5.  Hoheitsgrenzen

Beim Thema »Grenzen« denken wir zuallererst an Staatsgrenzen. Sie beruhen auf der Seßhaftigkeit von Ackerbauern, die seit der Jungsteinzeit den zivilisatorischen Fortschritt getragen haben. Sie beanspruchen den bewohnten und bearbeiteten Boden als Eigentum und ziehen Grenzen zwischen Mein und Dein, zwischen Uns und Ihnen. Aus Lebens- und Sprachgemeinschaften werden Völker. Besitzen sie eine innere Ordnung, die sie zu gemeinsamem Handeln befähigt, so erfüllen sie nach der 1900 formulierten Dreielementenlehre von Georg Jellinek die Kriterien eines Staates: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Hinzu kommen in der Praxis die Fähigkeit zur militärischen Selbstbehauptung87 und in der Theorie die Anerkennung durch das »Völkerrecht«. Jellineks drei Elemente beruhen auf jeweils eigenen Abgrenzungen.

Zum Staatsvolk: Die Abgrenzung betrifft hier die Zugehörigkeit, die Unterscheidung zwischen Volksgenossen und Fremden. Denn Völker gab es immer in der Mehrzahl. Für Tacitus kennzeichnen ein Volk wie die Sweben oder die Germanen insgesamt gleiche Sprache und gleiche Sitten,88 und das galt ebenso für die Kelten und die Griechen. Ein anderes Zugehörigkeitskriterium ist der Glaube an die gemeinsame Abstammung, ausgeprägt bei den Juden, die sich auf Abraham zurückführen, von dem freilich auch die Araber abstammen wollen. Dieser genealogische Volksbegriff liegt dem Wort gens zugrunde. Das Wort populus hingegen bezeichnet wie deutsch »Volk« ursprünglich – wie noch in »Fußvolk« – den Kriegerverband, ebenso wie griechisch laos und persisch kara. Hier ist die Fähigkeit zur gemeinsamen Handlung entscheidend. Ethnogenese vollzieht sich in Lebens- und Aktionsgemeinschaften auf angestammtem oder besetztem Boden.

Zum Staatsgebiet: Das Wort »Staat« hat etwas mit Stabilität zu tun, daher wird man wandernde oder zerstreut lebende Völker noch nicht als Staaten bezeichnen. Das durch Grenzlinien bestimmte dauerhafte Wohngebiet ist erforderlich. Staatsgebiete wachsen und schrumpfen. Sie sind häufig das Ergebnis von Wanderungen, Eroberungen und Kriegen, selten das Resultat gütlicher Einigung. Ein Staatsgebiet setzt logisch ein Staatsvolk voraus, historisch kann dieses aber auch auf einem Staatsgebiet erst entstehen, so bei den Römern, den Schweizern, den Indern und den US-Amerikanern. Die Rechtsgemeinschaft kann ein Staatsvolk schaffen.