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Dieses Buch beschreibt lebendig die Funktionsweise der Demokratischen Schule Infinita und zeigt praktisch, wie Kinder in einer freien, selbstbestimmten Umgebung lernen und leben. Die pädagogischen Hintergründe und Grundlagen werden auf Basis aktueller Erkenntnisse aus Lerntheorien, Neurowissenschaften und der Selbstbestimmungstheorie beleuchtet. Die Demokratische Schule Infinita dient als Beispiel dafür, wie Schule aussehen könnte, wenn dieses Wissen konsequent in die Praxis umgesetzt wird, um sowohl das individuelle Wohl als auch die Zukunftsfähigkeit der Schüler*innen zu fördern. So eröffnet das Buch eine neue Perspektive auf ein Bildungssystem der Zukunft, dass auf das Glück der Schüler*innen ausgerichtet ist und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellt. Zielgruppe: Unverzichtbar für Eltern, Lehrer*innen, Schulgründer*innen und Bildungsexpert*innen, die innovative Ansätze zur Gestaltung eines zukunftsorientierten Bildungssystems suchen. Themen: - Demokratische Bildung - Selbstbestimmung und Freiheit im Lernen - Verantwortungsvolle Persönlichkeitsentwicklung - Praktische Beispiele und Perspektiven für neue Bildungskonzepte Vorteile: Leser erhalten wertvolle Einblicke und praxisnahe Ideen, um das Lernen und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern.
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Seitenzahl: 373
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Ich widme dieses Buch den Kindern der Infinita. Ihr macht mit so viel Begeisterung die Tage an der Infinita bunt, aufregend und fröhlich. Ich lerne jeden Tag erneut von Euch, was es heißt, das Leben im Moment zu leben.
Vorwort
Danksagung
1. Eine Demokratische Schule entsteht
Die Infinita: Das Abenteuer beginnt|
Die Infinita: Ein erster Besuch |
Die Infinita: Unser Schulkonzept
2. Eine Demokratische Schule: Wieso, weshalb, warum?
Wieso Menschen zum Lernen und zum Glücklichsein Freiheit brauchen |
Weshalb Schule und psychische Gesundheit zusammengehören |
Warum Schule auf neue Anforderungen reagieren muss
3. Demokratische Schulen –Woher wir kommen
Die erste Welle – Freiheit statt Gehorsam |
Die zweite Welle – Die Free-School-Bewegung Nordamerikas |
Die dritte Welle – Demokratische Schulen heute |
Demokratische Schulen in Deutschland – Ein lebendiges Netzwerk
4. Ein Tag an der Infinita:Abläufe und Strukturen
Morgenkreise – Ein kleines Willkommen |
Angebote und Stundenplan – Strukturiertes Lernen |
Offene Räume, Kreativität und Flow |
Freies strukturiertes Lernen |
Freies unstrukturiertes Lernen 71 |
Altersstruktur und Altersmischung |
Selbstverantwortung
5. Die Bedeutung des freien Spiels
Spielen ist unsere Natur |
Spielen für die Seele |
Spielend Lernen |
Das fröhlichste Lernen |
Spielt, so viel ihr könnt
6. Die Schuldemokratie: Das Herz der Schule
Die Schulversammlung |
Die Schulkomitees |
Die Vollversammlung
7. Konfliktlösungsmethoden:Von Streitschlichtung und dem Lösungskomitee
Konflikte als Chance147 |
Streitschlichtung |
Das Lösungskomitee
8. Mentorenschaft: Unterstützung auf dem Weg
Coaching |
Halbjahresgespräche |
Beratung in der Mentorenarbeit
9. Medien in der Schule
Demokratische Schulen und Medien |
Der Weg der Infinita |
Medien
10. Erwachsene im Schulgeschehen:Gemeinsam Verantwortung tragen
Struktur und Administration der Schule |
Lernbegleiter*in an Demokratischen Schulen |
Die wichtigsten Menschen
11. Vom Abschluss und Abschlüssen: Vorbereitung auf die Zeit danach
Staatliche Abschlüsse |
Demokratische Schulen und Abschlussprüfungen |
Jenseits der Abschlüsse |
Aufrecht in die Welt
12. Demokratische Schulen als Anfang, nicht als Ende
13. Meine Zeit an der Infinita: Schüler*innenperspektiven
Mein Leben an und nach der Infinita |
Offenheit und Neugierde |
Nicht immer angenehm – aber wertvoll |
Auf dem Weg nach draußen |
Demokratische Schule |
Ich würde es wieder tun!
14. Quellenverzeichnis
Vor fünfzehn Jahren machte ich mich mit einer kleinen Gruppe von begeisterten Menschen auf den Weg, eine Demokratische Schule im Norden Deutschlands zu gründen. Gemeinsam mit vielen Wegbegleiter*innen durfte ich die Demokratische Schule Infinita in ihrer Entstehung und ihrem Wachsen erleben und seit ihrer Gründung als Schulleiter dort arbeiten.
Schon während meines Lehramtsstudiums in Hamburg sah ich eine große Kluft zwischen aktuellen Lerntheorien und der Praxis in der Schule. Eher zufällig stieß ich irgendwann darauf, dass es in Deutschland freie Alternativschulen gibt. In meinem Studium fanden sie keine Erwähnung. Nachdem ich einige von ihnen kennengelernt hatte, war für mich klar, dass diese sowohl meinem Verständnis von Pädagogik als auch meinen Werten eines menschlichen Umgangs miteinander entsprachen.
Heute ist die Infinita zehn Jahre alt. Zehn Jahre, in denen wir das Privileg hatten, Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg zu selbstbewussten jungen Erwachsenen zu begleiten. Zehn Jahre, in denen ich an ihrer Freude, ihrer Aufregung, ihrer Neugier, ihrer überschäumenden Energie, ihrer Lebendigkeit und manchmal auch ihrem Unmut teilhaben durfte.
Es war eine aufregende Reise, ein wildes Abenteuer, viel Arbeit und zutiefst erfüllend. Es war ein Geschenk, gemeinsam etwas so Großes zu schaffen und dabei Teil einer so authentischen und lebensbejahenden Gemeinschaft von Menschen zu sein. Es ist diese Gemeinschaft, die gemeint ist, wenn im Folgenden von »wir« oder »uns« gesprochen wird: Das demokratische Team der Infinita, als Teil von etwas Größerem, zu dem unser Trägerverein, natürlich die Kinder und an vielen Stellen auch die Eltern zählen.
Diese Gemeinschaft hat in den letzten Jahren etwas geschaffen, das auf dieser Welt noch selten ist: Einen Ort, an dem junge Menschen ihre eigene Lern- und Lebensumgebung gestalten, an dem demokratische Strukturen entstehen und sich entwickeln können, einen Ort, an dem Menschen frei über ihr Leben und ihr Lernen bestimmen und schon früh eine große Verantwortung zugestanden bekommen. Auf vielerlei Weise ist die Infinita wie ein Traum, den viele von uns in ihrer Kindheit geträumt haben. Ein Traum, den der »vernünftige« erwachsene Geist abzutun geneigt ist, als etwas, das nicht »funktionieren« kann.
Die Infinita bietet die Möglichkeit zu untersuchen, ob und wie ein Aufwachsen in einer Gemeinschaft freier Individuen funktioniert. Sie zeigt, wie eine solche Gemeinschaft aufgebaut sein kann und welche Auswirkungen ein solches Aufwachsen für die Schüler*innen hat. Sie bietet die Möglichkeit, aktuelle psychologische und lerntheoretische Theorien in der Praxis zu überprüfen.
Dieses Buch soll einen Einblick in die Infinita geben. Es soll ganz konkret zeigen, wie eine Demokratische Schule funktioniert, aber auch abstrakte Konzepte durch Beispiele lebendig werden lassen. Es soll neue Perspektiven in der Diskussion über die Umgestaltung von Bildung eröffnen und Mut machen, Schule ganz neu zu denken.
Wer eintauchen und ein eigenes Gespür für Demokratische Schulen bekommen möchte, wer neugierig ist, die Hintergründe des Konzeptes »Demokratische Bildung« tiefer zu durchdringen und wem es ein Anliegen ist, die eigenen Vorstellungen von dem, was im Bildungsbereich richtig, wichtig und möglich ist, zu bereichern, sei hiermit herzlich auf eine Reise in die Welt Demokratischer Schulen eingeladen.
Es ist nicht meine Absicht, Demokratische Bildung1 als die einzig mögliche und perfekte Alternative darzustellen. Die Infinita zeigt eine grundsätzlich andere Möglichkeit von Schule auf und kann Inspirationen bieten. Sie ist nicht perfekt und es ist uns ein großes Anliegen, sie als einen Prozess zu betrachten – etwas, das sich ständig weiterentwickeln und den Bedürfnissen der Gemeinschaft anpassen wird. Dieses Buch ist eine Momentaufnahme und ein Blick auf unsere Erfahrung nach zehn Jahren.
Wir haben die Schule gegründet, weil wir es für notwendig hielten und weil wir der Meinung waren, dass Schule heutzutage nicht im besten Interesse der jungen Menschen organisiert ist und sich oft sogar schädlich auswirkt. Es geht in keiner Weise darum, den guten Willen von Schulrät*innen, Bildungsministerien oder Lehrer*innen in Frage zu stellen. Gleichzeitig halte ich es für hilfreich und notwendig aufzuzeigen, warum wir verschiedene Dinge anders machen und welche Schwierigkeiten durch alte Wege im Umgang mit Kindern und Jugendlichen entstehen. Nur so wird deutlich, warum es für uns so bedeutsam ist, einen anderen Weg zu wählen.
Ich möchte auch nicht die Arbeit von Lehrer*innen im Regelschulsystem herabsetzen und ich entschuldige mich, sollte dieser Eindruck entstehen. Ich empfinde den tiefsten Respekt vor allen Menschen, die ihr Bestes für die jungen Menschen in den staatlichen Schulen tun, für Veränderungen kämpfen und oft bis zur Erschöpfung arbeiten. Die Kritik gilt einzig und allein dem historisch gewachsenen System, über dessen Grenzen zu denken uns als Gesellschaft so schwerfällt. Es wäre unehrlich, über die Defizite zu schweigen. Nur durch die Benennung dieser lässt sich die Tragweite unserer pädagogischen Entscheidungen nachvollziehen. Schließlich sind es die Schwierigkeiten, die wir im Regelschulsystem gesehen haben, derentwegen wir uns auf den Weg gemacht haben, etwas anderes zu erschaffen.
Im Laufe des Buches werden unsere Strukturen dargestellt, oft durch Beispiele lebendig und verständlich gemacht. Zudem werden die Vorteile und Herausforderungen aufgezeigt. Schließlich soll es auch darum gehen, das Konzept und unser Handeln psychologisch und pädagogisch zu begründen und immer wieder mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft abzugleichen.
Bevor wir beginnen, noch ein paar Worte zu den Schreibweisen, für die ich mich entschieden habe. In meiner Zeit an der Infinita durfte ich viel von Schüler*innen lernen. Ein Gespräch mit Schüler*innen über zeitgemäße Arten des Genderns hat mich gelehrt, dass der * den alten Formen überlegen ist, da er Menschen mit einschließt, die sich nicht klar einem Geschlecht zuordnen. Ich könnte an dieser Stelle einfach erwähnen, dass immer alle Geschlechter gemeint sind, um die Lesbarkeit zu verbessern. Wir wissen jedoch, dass dies beim Lesen nur begrenzt wahrgenommen wird. Studien zeigen beispielsweise, dass weibliche Vorbilder viel seltener genannt werden, wenn nur angemerkt wird, dass alle Geschlechter mitgedacht werden sollen. Es würde ein völlig falsches Bild im Kopf entstehen lassen und wäre ein großer Verlust für die Leser*innen, wenn Frauen und Mädchen an der Infinita nicht mitgedacht würden. Sollte diese Entscheidung zu Beginn zum Stocken im Lesefluss führen, mag dies eine Erinnerung daran sein, dass im Austausch dafür ein akkurates Bild im Kopf entstehen darf. Auf Dauer sollte ein Gewöhnungseffekt einsetzen.
Ich hoffe, die folgenden Seiten werden eine spannende Reise sein in eine Welt von Freiheit, Abenteuer, neuen Ideen und alten Träumen.
1 Der Begriff »Demokratische Bildung« wurde von der Internationalen Konferenz für Demokratische Bildung (IDEC) geprägt und beschreibt eine Perspektive auf Bildung analog zu den Prinzipien Demokratischer Schulen. »Demokratische Schule« wiederum beschreibt ein pädagogisches Konzept, nicht einfach eine Schule, die auf irgendeine Art demokratisch ist (s.u.).
Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für die vielen Menschen auf der ganzen Welt, denen zu begegnen ich das Privileg hatte, mit denen ich diskutieren, philosophieren und feiern durfte, meine Ideen entwickeln, schärfen und sie immer wieder in Frage stellen konnte.
Zu Beginn möchte ich allen Leser*innen danken. Für das Interesse an einem Thema, das mir so sehr am Herzen liegt. Für die Offenheit, andere Wege in der Bildung zu erforschen und das selbst Erlebte in Frage zu stellen. Für die Bereitschaft, mit mir in die bunte Welt der Infinita einzutauchen.
Dann gilt mein Dank und meine Wertschätzung dem Gründungsteam der Infinita: Robert, Ben, Uta, Gesine, Boris, Uli und Sönke. Euer Durchhaltevermögen, die gegenseitige Wertschätzung und der Spaß bei unserer fünfjährigen Achterbahnfahrt haben die Schule möglich gemacht. Es war eine intensive Zeit, die ich nicht missen wollte, selbst wenn wir es nicht geschafft hätten.
Ich möchte meine Dankbarkeit ausdrücken für alle Menschen, die der Infinita ihre Zeit geschenkt haben und sie immer als Projekt und nicht nur als Arbeitsplatz gesehen haben:
An das aktuelle Team der Infinita mit großem Respekt und einem warmen Gefühl im Herzen. Natalie, Uli, Martin, Frances, Julie, Pia, Jan, Immo, Imke, Florentine, Neven, Anja und Tina – die Zusammenarbeit mit Euch ist so erfüllend, wertschätzend und spannend. Danke dafür, wie Ihr mit Herz und Verstand für die Kinder da seid, es ist ein Privileg und eine Freude, mit Euch zusammenarbeiten zu dürfen.
An die ehemaligen Mitarbeiter*innen, die die Schule ein Stück begleitet, mitgestaltet und mitgeplant haben. Insbesondere Jonathan, Christiane, Nikolai und Laura – Ihr habt der Schule Euren Stempel aufgedrückt und wart immer bereit, mit den neuen Aufgaben zu wachsen. Ich weiß, dass sie auch immer einen Platz in Eurem Herzen behalten wird.
An unsere ehemaligen und aktuellen Aushilfen und Bundesfreiwilligendienstler*innen für ihre Zeit an der Schule, während der sie immer ein Teil der Gemeinschaft geworden sind, gelernt, getröstet und gestaltet haben.
Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für alle Demokratischen Schulen, die sich vor uns auf den Weg gemacht haben und von denen wir lernen durften und dürfen. Besonders wichtig waren für mich die Windsor House School in Vancouver, die Village Free School in Portland, die Kapriole in Freiburg, die Freie Schule Leipzig und die Netzwerkschule. Auch wenn einige davon nicht mehr existieren, so leben ihr Geist und viele Ideen, die ich von dort mitgenommen habe, in der Infinita weiter.
Ich möchte meinen Dank und Respekt allen ausdrücken, die die Ideen Demokratischer Bildung voranbringen:
Den vielen Schulgründungsinitiativen, die tapfer allen bürokratischen und finanziellen Hürden trotzen. Haltet durch – es ist es wert und Euer Beitrag zur Schullandschaft wird dringend gebraucht! Ich hoffe, dieses Buch kann Euch den Weg erleichtern.
Sabine und Sören vom Tologoverlag. Mit der Unerzogen und vielen tollen Büchern habt Ihr ein Vakuum gefüllt und vielen Menschen geholfen, neue Wege zu gehen. Möge jemand die Fackel von Euch übernehmen.
Dem BFAS (Bundesverband Freier Alternativschulen). Ohne Euch wäre die Gründung neuer Schulen um so vieles schwerer.
Allen ehrenamtlich in der EUDEC aktiven Menschen. Ohne unseren Dachverband wären wir alle Einzelkämpfer*innen und könnten uns nicht unterstützen, voneinander lernen und wachsen.
Den für uns verantwortlichen Menschen im Ministerium in Kiel, die die Eröffnung der Infinita möglich gemacht haben und bereit waren, mit uns im Gespräch zu sein und Wege zu finden, auch wenn das Konzept nicht unbedingt ihren Vorstellungen von Schule entsprach. Insbesondere möchte ich mich bei Herrn Struve bedanken. Sie haben uns als Schulrat in den ersten Jahren begleitet und immer ein offenes Ohr und bestärkende Worte für uns übrig gehabt. Danke für die Wertschätzung unserer Arbeit.
Den Eltern der Infinita gilt mein Respekt und ich möchte mich für Euer Vertrauen in uns bedanken, für Eure tatkräftige Unterstützung und für die konstruktive Zusammenarbeit. Ich möchte Euch auch dafür danken, dass Ihr Euren Kindern mutig einen Weg eröffnet, den noch wenige gehen. Es tut gut, Euch hinter uns zu wissen und gemeinsam mit Euch an der Seite Eurer Kinder zu stehen.
Dann möchte ich aus tiefstem Herzen den Menschen danken, die mich beim Schreiben dieses Buches unterstützt haben:
Den Menschen, die mit ihrer Spende das Buch erst möglich gemacht haben. Zu wissen, wie viele Menschen ich hinter mir habe, hat mir das Gefühl gegeben, dass das Buch ein Gemeinschaftsprojekt ist und mir die Bedeutung klarer gemacht. Es hat mich dazu angespornt, das Buch noch viel gewissenhafter zu schreiben. Danke für Eure Geduld.
Den Testleser*innen Robert, Eva, Martin, Uli, Stine und Uta. Eure Kommentare zu lesen und einzuarbeiten war wie ein Gespräch und eine große Bereicherung. Besonders danken möchte ich Robert: Deine ausführlichen und durchdachten Kommentare zeigten mir, wie viel Zeit Du in die Bearbeitung gesteckt hast. Es ist gut, Dich als Freund zu haben.
Meiner Lektorin Naemi und den Korrektorinnen Anne, Babo und Florentine. Ihr habt die Dinge gesehen, die ich nicht mehr sehen konnte und das Buch zu einem angenehmeren Leseerlebnis werden lassen.
Ein riesiges Dankeschön an meine Mitautor*innen Stine, Siri, Charlotta, Luzi, Phillip und Jonna. Durch Euch die Schüler*innenperspektive in das Buch bringen zu können, macht es so viel erlebbarer und authentischer. Beim Lesen Eurer Beiträge sind einige Tränen geflossen.
Danke an Carola Benzinger, die mit ihrer Mut-Mach-Werkstatt vielen Eltern dabei hilft, ihre Kinder auf Augenhöhe zu unterstützen. Danke auch für Deine Unterstützung unseres Teams und die Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation, die unsere Schule zu einem schöneren Ort macht.
Die Schule und dieses Buch wären nicht, was sie sind, ohne die Menschen auf der ganzen Welt, mit denen ich mich intensiv über Demokratische Bildung austauschen konnte und von denen ich viel gelernt habe. Allen voran Sarah, Meghan und Helen aus Vancouver sowie Michael Sappir aus Israel. Die Gespräche mit Euch waren große Inspirationen und haben die Flamme meiner Begeisterung genährt. Und sie brennt noch immer.
Viele Autor*innen haben mein Bild von Demokratischer Bildung geprägt und ich baue auf einem reichen Fundus auf. Besonders die Untersuchungen der Sudbury Valley von Mimsy Sadowsky und Dan Greenberg sind eine enorme Unterstützung, um unsere Arbeit wissenschaftlich zu untermauern. »Endlich Frei« habe ich an einem Stück verschlungen und es war eine Inspiration für dieses Buch. Chris Mercoglianos Bücher waren erfrischend und spannend, Robert Millers Werk »Free Schools – Free People« beleuchtete die Geschichte Demokratischer Bildung für mich und Gespräche mit und die Bücher von Matt Herrn halfen mir, meine politische Sozialisation mit dem neu entdeckten Interesse für Demokratische Bildung zusammenzubringen.
Neben der Auseinandersetzung mit Demokratischer Bildung hat meine eigene Reise nach innen mir erst gezeigt, wie unschätzbar bedeutsam die Entwicklung in der Jugend wirklich ist. Ich bin dankbar für alle Menschen, die mich auf dieser Reise begleitet haben, mit denen ich mich verwundbar zeigen konnte und erfahren, wie wertvoll tiefe authentische Beziehungen sind.
Besonderer Dank gilt hier meinen Freunden Boris, Ben und Nikolai. Danke für die vielen spannenden Gespräche, Euren Willen zu wachsen, Eure Neugier und die verrückten und berührenden gemeinsamen Erfahrungen.
Ich bin meiner Familie dankbar, mit der ich mich immer sicher gefühlt habe und die mich von klein auf unterstützt hat. Besonders möchte ich meinen Eltern Heidi und Erhard danken. Die Freiheit und das Vertrauen, die Ihr mir als Kind schon geschenkt habt, hat mich Vertrauen in mich selbst gelehrt und mir die Stärke gegeben, ein Projekt wie die Infinita anzufangen. Danke für Eure Unterstützung, mit dem Wissen, Euch im Rücken zu haben, konnte ich vertrauensvoll in die Welt gehen.
Danke an Markus Klepper, für das Wachrütteln und das Aufzeigen vieler spannender Entwicklungsmöglichkeiten, die dieses Leben bietet.
Auch in diesem Bereich gibt es viele Autorinnen, deren Werke mir geholfen haben, die menschliche Psyche tiefer zu durchdringen. Dazu zählen Erich Fromm, Eckhart Tolle, Ed Deci und Richard Ryan.
Von ganzem Herzen möchte ich meiner Frau Julie danken. Du warst und bist in so vielen Bereichen eine Inspiration. Unsere gemeinsame Reise im Innen und Außen hat mich immer wieder zum Wachsen gebracht und ich bin Dir dankbar für Deinen Willen, mit mir zu wachsen.
Deine Unterstützung hat es mir ermöglicht, mit diesem Buch einen eigenen Weg zu gehen, als es so aussah, als könnte es nicht veröffentlicht werden.
Ich habe tiefsten Respekt vor dem, was Du in die Infinita bringst. Insbesondere unser Mentorenkonzept wäre nicht das, was es ist. Deine Perspektiven in zahllosen Diskussionen haben uns immer wieder dabei geholfen, die Kinder bestmöglich zu unterstützen.
Danke für Dich, ich liebe Dich.
»Für mich war es sehr besonders, in den ersten Infinita-Jahren dabei zu sein und gemeinsam mit anderen Kindern und Erwachsenen die Infinita und ihre Strukturen zu gestalten.«
ELLIE (19)
Am zwölften August 2013 stehen 23 Schüler*innen, die meisten zwischen sechs und acht Jahren alt, erwartungsvoll mit ihren Eltern und großen Schultüten vor einer Altenpflegeschule in dem kleinen Städtchen Bargteheide. Ein kleines Team von Pädagog*innen, ausgestattet mit einer großen Portion Begeisterung und Idealismus, hatte dort für ein halbes Jahr einen kleinen Raum mieten können. Fünf Jahre hatte der Gründungsprozess gedauert, die Suche nach passenden Räumlichkeiten allein drei. Weit über hundert potentielle Gebäudeoptionen wurden in dieser Zeit begutachtet und wieder verworfen. Es waren fünf Jahre mit wöchentlichen Treffen in verschiedenen Küchen und Wohnzimmern und zahlreichen Infoveranstaltungen. Es war eine Zeit voller Besuche anderer Demokratischer Schulen und Konferenzen zu Demokratischer Bildung, der Suche nach mehr als hundert Menschen, die für den Kredit bürgen würden, der die ersten zwei Schuljahre finanzieren sollte, und nicht zuletzt einem ausführlichen Briefwechsel mit dem Bildungsministerium sowie einigen Gesprächsterminen. In Kiel war man zunächst von der Idee einer Demokratischen Schule nicht sehr angetan, handelte es sich doch um ein bis dato in Schleswig-Holstein völlig unbekanntes Schulkonzept. »Das ist doch gar keine Schule, die Sie da gründen wollen«, war eine erste Reaktion. Doch die Verantwortlichen begutachteten unser Konzept, hatten Fragen, stellten Anforderungen und setzten sich zwei Jahre später in einem recht konstruktiven Gespräch mit uns zusammen. Sie waren anscheinend ausreichend überzeugt, dass wir das Ganze pädagogisch durchdacht hatten und dass wir wussten, wovon wir sprachen. Vielleicht waren sie auch von unserem Durchhaltevermögen beeindruckt.
Schließlich bekamen wir einen Schulrat zur Seite gestellt, der reformpädagogischen Ideen gegenüber offen war. Er war uns in den ersten zwei Jahren eine gute Stütze.
Es war ein turbulenter Weg von dieser Eröffnung bis zu der Demokratischen Schule, die die Infinita heute ist – mit den knapp einhundert Schüler*innen von sechs bis sechzehn Jahren und einem eigenen Gebäude in dem kleinen Ort Steinhorst zwischen Hamburg und Lübeck. Es lagen noch zwei Umzüge auf dem Weg, den die meisten Eltern der ersten Stunde teilweise sehr aufopferungsvoll mit uns durchmachten. Es war auch ein Abenteuer. Auch wenn eine nun größere und besser etablierte Schule mit mehr Räumlichkeiten den Schüler*innen inzwischen viele Vorteile bietet – Teil dieser Anfangsphase gewesen zu sein und die Infinita von Beginn an mitgestaltet zu haben, war für die beteiligten Schüler*innen und auch für das Team ein ganz besonderes Erlebnis mit ganz eigenen Lernmöglichkeiten.
Dieses Buch wurde zum Zeitpunkt des zehnjährigen Bestehens der Infinita geschrieben. Wir haben viel auf dem Weg gelernt und heute kommen uns Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet (und manchmal sogar aus dem Ausland) besuchen, um eine Demokratische Schule zu erleben. So können wir heute selbst Inspirationen und praktische Tipps an Gründungsinitiativen weitergeben, wie wir sie selbst in unserer Gründungsphase von anderen Schulen bekommen haben. Aber wir sind eine kleine Schule und die Besuchsmöglichkeiten sind begrenzt. Zudem ist es nur sehr eingeschränkt möglich, an einem einzigen Besuchstag die Infinita wirklich zu verstehen. Dieses Buch soll dabei helfen, mehr Menschen einen tieferen Einblick zu ermöglichen und unsere Erfahrungen allen Menschen zugänglich zu machen, die sich vielleicht fragen, ob man Bildung nicht ganz anders organisieren könnte und sollte, als wir es selbst erlebt haben.
Aber was ist überhaupt eine Demokratische Schule? Sehen wir uns erst einmal ganz allgemein an, wie die Infinita funktioniert und welche Ideen dahinterstecken.
Bei einem Besuch der Infinita kommt vielen die Villa Kunterbunt in den Sinn. Ohne Pferd und Affen, dafür aber mit viel mehr Kindern. Alle diese jungen Menschen gehen selbst gewählten Beschäftigungen nach. Entsprechend wirkt es bunt und turbulent. Betreten wir das Schulgelände, könnten wir in dieses bunte Treiben eintauchen:
Unter der riesigen Blutbuche im Garten laufen Kinder jeglichen Alters fröhlich hintereinander her und spielen miteinander. In einem kleinen Amphitheater im Garten unterhalten sich Jugendliche angeregt, während drei Mädchen auf einer Tischtennisplatte sitzen und lesen.
Begeben wir uns in die alte weiß-blaue Villa, wuseln die jüngeren Kinder aufgeregt an uns vorbei, ihre Begeisterung zu groß und die Zeit viel zu kostbar, um sie mit langsamem Gehen zu verschwenden.
In verschiedenen Räumen finden Kurse in klassischen Schulfächern statt, während andere Räume für Kurse wie »Zeit und Raum« oder den »Delphinkurs« genutzt werden. An einigen Orten sieht man Kinder und Erwachsene in angeregten Diskussionen und bei Abstimmungen, während andere Schüler*innen eine Bewerberin für eine Anstellung als Lehrerin nach ihren Leidenschaften befragen. In einem Raum arbeiten Jugendliche an Laptops und überall findet man Kinder ins Spiel vertieft. Im größten Raum, dem »Saal«, halten zwei Siebenjährige eine Präsentation über die Geschichte des Fahrrads. Drinnen und draußen werden kreative Projekte angefertigt und im ganzen Gebäude unterhalten sich große und kleine Menschen.2
Auf den ersten Blick mag die Schule chaotisch oder unstrukturiert erscheinen. Tatsächlich gibt es an der Infinita jedoch weit über hundert Regeln, welche das Zusammenleben organisieren.
All diese Regeln werden von den Schüler*innen und den Mitgliedern des pädagogischen Teams – bei uns Lernbegleiter*innen genannt – in regelmäßigen demokratischen Versammlungen gemeinsam beschlossen. Jede Person hat, ungeachtet ihres Alters, dasselbe Recht, sich an Diskussionen und Abstimmungen zu beteiligen. Die festgelegten Regeln gelten für alle Menschen in der Schule gleichermaßen und können auch von allen auf dieselbe Weise durchgesetzt werden.
Das Schulkonzept der Infinita auf einen Blick:
Die Infinita ist eine offene Ganztagsschule mit knapp 100 Kindern von der ersten bis zur zehnten Klasse. Es gibt keine Aufteilung nach Alter. Kurse und Projekte stehen Schüler*innen jeden Alters offen.
Die Kernelemente des Konzeptes sind Selbstbestimmung und Demokratie:
Eine Schulversammlung, in der alle Schüler*innen und Mitarbeiter*innen gleichermaßen mitbestimmen dürfen, entscheidet über:
die Gestaltung der Schule,einen Teil des Budgets,die geltenden Regeln (für Erwachsene und Schüler*innen),die Erstellung von Kursen und Angeboten,die Planung von Ausflügen und Projekten.Die Schüler*innen bestimmen frei über ihre Zeit und lernen selbstverantwortlich nach eigenen Interessen. Die wichtigsten Grundpfeiler des Konzeptes, die dies ermöglichen, sind:
Der Stundenplan ist nicht verbindlich, sondern ein Angebot.Es gibt keine Tests, Noten oder andere Druckmittel. Lernen geschieht einzig und allein, um sich weiterzuentwickeln.Ein System konstruktiver Konfliktlösungen unterstützt die Kinder dabei, Verantwortung für ihre Handlungen in der Gemeinschaft zu übernehmen.Ein Mentorensystem hilft den Schüler*innen, mit der Freiheit und der Selbstverantwortung umzugehen.Die Schule ist eine Gemeinschaft, die ihr Zusammenleben in einem demokratischen Prozess gemeinsam regelt. So tragen die Schüler*innen schon früh eine Mitverantwortung für die Gestaltung ihrer Umgebung – eine Verantwortung, aber auch eine fantastische Freiheit.
Diese Freiheit erstreckt sich nicht nur auf die Mitbestimmung über die Regeln und die Gestaltung der Schule: In der Infinita leben die Schüler*innen selbstbestimmt. Die jungen Menschen entscheiden jeden Tag frei, wie sie ihre Zeit in der Schule verbringen möchten. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten und Ressourcen, sich in vielen Bereichen weiterzuentwickeln, und im Rahmen des demokratischen Systems können die jungen Menschen diese Möglichkeiten nach ihren Wünschen, Bedürfnissen und Leidenschaften mitgestalten.
Wie in anderen Schulen gibt es einen Stundenplan. Die Teilnahme an den Angeboten ist jedoch freiwillig und kann jederzeit neu entschieden werden. Das bedeutet auch, dass es keine Einteilung in Altersgruppen gibt. Die Kinder gehen in die Angebote, die sie interessieren, und umgeben sich mit den Menschen, die sie am liebsten um sich haben oder mit denen sie Interessen teilen, ungeachtet des Alters. Noten oder andere Formen unerwünschter Bewertung3 existieren an der Infinita nicht. Lernen geschieht einzig aus Interesse und dem Wunsch, sich weiterzuentwickeln, nicht aus Angst vor schlechter oder auf der Jagd nach guter Bewertung.
Die Freiheit der Kinder erwächst aus einem der Schule zugrunde liegenden Menschenbild. Wir betrachten Menschen jeden Alters als gleichwürdig4, mit demselben Recht auf Respekt und auf Bestimmung über das eigene Leben.
Beobachtet man Gespräche zwischen Schüler*innen und Erwachsenen an der Infinita, wird man dies gespiegelt sehen. Die Erwachsenen treten den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe gegenüber. Niemand von uns wird gesiezt oder mit Nachnamen angesprochen. Begegnungen geschehen authentisch von Mensch zu Mensch. Gleichzeitig sind die Erwachsenen Mentor*innen. Wir sind eine Quelle von Wissen, bieten Unterstützung in vielen Bereichen und sind für die Sicherheit der Schüler*innen verantwortlich.
Die ältesten Schüler*innen sind in der zehnten Jahrgangsstufe (auch wenn es keine Klassen im herkömmlichen Sinne gibt) und können danach in eine staatliche Oberstufe wechseln und ein Abitur machen, oder sie beginnen direkt nach der Infinita eine Ausbildung.5
All dies wird man beobachten können, wenn man die Infinita betritt. Eine Schule, die sich von den meisten Schulen der Welt grundlegend unterscheidet. Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Warum das Ganze?
2 Beobachtungen aus den Beschreibungen der Schule in diesem Buch haben so oder so ähnlich tatsächlich stattgefunden, wenn auch nicht unbedingt an einem Tag.
3 Es kommt durchaus vor, dass Kinder eine Bewertung möchten, um den eigenen Stand einschätzen zu können. In dem Fall bekommen sie das gewünschte Feedback.
4 Jesper Juul hat den Begriff der »Gleichwürdigkeit« entwickelt, welcher beschreibt, dass man Kinder zwar nicht völlig gleich behandeln kann, denn ihnen fehlen eine gewisse Erfahrung und manche Kompetenzen. Gleichzeitig rechtfertigt dies kein respektloses Verhalten, wie Anschreien oder Beschimpfen, das wir einem Erwachsenen gegenüber nicht an den Tag legen würden. Das Kind hat die gleiche Würde. (Vgl. Juul 2019.)
5 Wie genau der Übergang in eine Oberstufe aussieht und wie man zu einem staatlichen Abschluss kommt, wird im Kapitel »Vom Abschluss und Abschlüssen« genauer erklärt.
»Ich finde gut, dass wir selbst entscheiden können, was wir lernen wollen und in welche Kurse wir gehen.«
HENNI (9)
Die kurze Antwort auf die Frage des »Warum?« lautet schlicht: Weil wir es für richtig halten!
Wir glauben, dass Menschen, unabhängig von ihrem Alter, ein Recht haben, mit Respekt behandelt zu werden und über ihr eigenes Leben zu bestimmen, soweit es ihnen möglich ist. Wir glauben, dass die Kindheit und Jugend eine besondere Zeit im menschlichen Leben ist und dass sie noch mehr als andere Lebensphasen so glücklich und unbeschwert wie möglich sein sollte.
Wir sind davon überzeugt, dass die primäre Rolle von Schule darin besteht, Menschen für ein erfülltes und glückliches Leben auszubilden – mit Zufriedenheit und der Fähigkeit, ihr Leben zu gestalten.
Man sollte annehmen, dass alle Schulen dieses Ziel verfolgen. Die Mehrheit der Lehrer*innen ist gewiss aufrichtig bemüht, den jungen Menschen in ihrer Obhut den Weg zu einem glücklichen Leben zu bereiten. Wenn wir uns aber ansehen, mit welcher Zielsetzung das heutige Schulsystem erdacht wurde, werden wir »Glück des Individuums« nicht auf der Liste finden. Das preußische Schulsystem diente in erster Linie dazu, die staatliche Kontrolle über die Bevölkerung zu festigen und die Erziehung der Schüler*innen auf die Bedürfnisse des Staates auszurichten. Die zentralen Ziele des Schulsystems waren daher die Schaffung von »gehorsamen Untertanen« sowie die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, die für die Bedürfnisse der wachsenden preußischen Bürokratie und Industrie von Nutzen waren.6 Instrumente wie Noten und Stundentaktung waren wichtige Werkzeuge, um die Schüler*innen zu disziplinieren, zu kontrollieren und zu selektieren. Diese Elemente dienten dazu, eine bestimmte Gesellschaftsordnung und Staatsideologie zu fördern und zu verankern.
Da das preußische Schulsystem der direkte Vorläufer des heutigen deutschen Schulsystems ist und maßgeblich dessen Struktur und Lehrmethoden geprägt hat, entdeckt man in Schulen noch immer viele Relikte aus der Zeit Preußens, die niemals das Wohlbefinden einzelner Menschen zum Ziel hatten. So ist historisch ein Rahmen gewachsen, innerhalb dessen viele Lehrer*innen ihr Bestes tun und vergeblich bis zur Erschöpfung um das Wohlergehen ihrer Schüler*innen kämpfen. Wir sehen Reformbemühungen, die in den Grundlagen des Systems verhaftet bleiben und darum Pflaster auf Wunden kleben, die gar nicht erst zugefügt werden sollten. Junge Menschen von ihrem sechsten Lebensjahr an täglich zu zwingen, in Räumen zu sitzen, Unterordnung und Gehorsam als selbstverständlich anzunehmen, sie zu nötigen, sich mit Inhalten zu beschäftigen, an denen sie in den meisten Fällen kein Interesse haben, um sie dann in Konkurrenz zueinander zu setzen und ihre Leistungen in diesen aufgezwungenen Lerninhalten ohne ihr Einverständnis zu bewerten – all dies widerspricht dem, was wir heute darüber wissen, wie Lernen funktioniert.
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Konstruktivismus als die vorherrschende Lerntheorie durchgesetzt. Er geht davon aus, dass Lernen ein aktiver, konstruktiver Prozess ist, bei dem Wissen und Verständnis auf der Grundlage der individuellen Erfahrungen und Vorstellungen aufgebaut werden. Die Lernenden können also nicht, wie früher angenommen, durch Lehrer*innen Wissen präsentiert bekommen und dieses dann einfach verinnerlichen. Stattdessen sehen wir Menschen heute als aktive Gestalter*innen ihres eigenen Lernprozesses statt als bloße Empfänger*innen von Input.
Der Konstruktivismus hat sich in verschiedenen Disziplinen wie Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften entwickelt. In der Forschung wurden menschliches Verhalten beobachtet und Theorien aufgestellt, welche dann in den letzten hundert Jahren in vielen Studien immer wieder bestätigt wurden. Das sollte eigentlich Grund genug sein, althergebrachte Methoden und Strukturen aus dieser Perspektive zu betrachten und zu verändern. In den letzten Jahrzehnten hat gleichzeitig unser neurologisches Wissen eine rasante Entwicklung erfahren. Wir haben also begonnen, unser Wissen über das Lernen nicht nur aus Beobachtungen abzuleiten, sondern auch zu erforschen, wie menschliche Gehirne funktionieren und zu fragen, wie Lernen eigentlich biologisch funktioniert. Interessanterweise kommen Hirnforscher*innen zu sehr ähnlichen Ergebnissen wie die Konstruktivisten:7 Die Ergebnisse der Neurowissenschaft zeigen uns, dass Menschen aktiv an ihrem Lernprozess beteiligt sein müssen, dass es wichtig ist, die eigene Lernumgebung mitzugestalten, eigene Fragen zu stellen und eigene Probleme zu lösen.
Die Bedeutsamkeit von und das Interesse an Lerninhalten ist für effektives Lernen unabdingbar. Nur wenn uns Dinge wirklich interessieren und bestenfalls fesseln, ist Lernen effektiv und das Wissen wird dauerhaft gespeichert.
Daraus folgt notwendigerweise, dass Lernen etwas sehr Individuelles ist und dass die Rolle von Lehrer*innen darum eher sein müsste, bei einem persönlichen Lernprozess zu begleiten, statt festgelegtes Wissen zu vermitteln.8
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Hirnforschung ist, dass Emotionen beim Lernen eine wichtige Rolle spielen. So steht Stress nicht nur einem effektiven Abspeichern von Informationen im Weg, sondern das Lernen geschieht einfacher und effektiver, wenn es uns gut geht. Die Emotionen können sogar gemeinsam mit der Information gespeichert und bei ihrem Abrufen wieder hervorgerufen werden. Man spricht hierbei von »statedependent memory«.
Das Ziel beim Lernen sollte sein, dass das Wissen im Hippocampus (Gehirnregion für Gedächtnis und Emotionen) gespeichert wird, denn dort gespeichertes Wissen steht langfristig und nachhaltig zur Verfügung. Etwas, das unter Stress oder Angst gelernt wird, wird dagegen im Mandelkern, der Amygdala, gespeichert. Es ist eine sinnvolle Einrichtung – etwas, das mit negativen Emotionen verbunden ist, könnte eine Gefahr darstellen. Das Speichern im Mandelkern führt dazu, dass die Erinnerung diese Emotionen mitliefert und den Menschen dadurch in einen Kampf-oder-Flucht-Modus versetzt, in dem Hormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol ausgeschüttet werden, sodass er*sie sich akuten Gefahren stellen kann. Die Fähigkeit zum kreativen Umgang mit den abgerufenen Informationen gehört zu den nicht überlebenswichtigen Funktionen, die in diesem Modus stark eingeschränkt werden.9
Der Hirnforscher Manfred Spitzer beschreibt dies wie folgt:
Die Auswirkungen betreffen … nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Kommt der Löwe von links, läuft man nach rechts. Wer in dieser Situation lange fackelt und kreative Problemlösungsstrategien entwirft, lebt nicht lange. Angst produziert daher einen kognitiven Stil, der das rasche Ausführen einfacher gelernter Routinen erleichtert und das lockere Assoziieren erschwert. Dies war vor 100.000 Jahren sinnvoll, führt heute jedoch zu Problemen, wenn mit Angst und Druck gelernt wird. Nicht dass dann nichts hängen bliebe. Das Problem ist vielmehr, dass beim Abruf eben die Angst mit abgerufen wird. Daraus folgt: Landet gelerntes Material im Mandelkern, ist eines genau nicht möglich: der kreative Umgang mit diesem Material. Wenn wir aber wollen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in der Schule für das Leben lernen, dann muss eines stimmen: die emotionale Atmosphäre beim Lernen.10
Zusätzlich wissen wir durch die Erkenntnisse der Motivationsforschung, dass Menschen sehr effektiv Ziele verfolgen können, die von innen kommen, die sie sich also selbst gesteckt haben. Zentral für die Motivation sind Autonomie, Selbstbestimmung und Zufriedenheit, während Belohnungen und Strafen eher abträglich sind.11
Das Werk »Intrinsic Motivation and Self-Determination in Human Behavior« der renommierten Psychologen Edward L. Deci und Richard M. Ryan gilt als eines der bedeutendsten Werke der Motivationspsychologie. Deci und Ryan erklären dort die in zahllosen Versuchen nachgewiesene Bedeutung der Art der Motivation fürs Lernen. Sie unterscheiden zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation. Intrinsische Motivation bezeichnet eine Motivation, die von innen heraus entsteht: »Ich möchte etwas können, darum lerne ich es.« Extrinsische Motivation dagegen kommt von außen (Noten, Tests und Belohnungen). Die Forschung zeigt, dass Zwang und Druck oder Belohnungen zwar dazu führen können, dass man sich mit etwas auseinandersetzt und auch lernt. Das Ganze funktioniert jedoch nur kurzfristig. Die externen Anreize müssten ständig erhöht werden, um die Motivation langfristig aufrechtzuerhalten. Zudem zeigen extrinsisch motivierte Menschen eine geringere Kreativität und Problemlösungsfähigkeit, da sie sich auf die Belohnung oder drohende Strafe konzentrieren. Schüler*innen lernen für gute Noten oder um schlechte zu vermeiden, nicht um sich zu verbessern, mehr Verständnis oder Wissen zu erlangen. Dies führt zwangsläufig zu einem geringeren Interesse und Engagement. Lernende tauchen dadurch weniger tief in ein Thema ein und behalten das Gelernte meist nicht besonders lang (oft bis zur nächsten Klassenarbeit).
Intrinsische Motivation ist darum für das Lernen von zentraler Bedeutung. Menschen, die sich aus eigenem Wunsch mit etwas auseinandersetzen, zeigen Engagement und Neugierde. Sie folgen ihrem inneren Antrieb, Wissen zu erwerben und Probleme zu lösen, was zu Freude am Lernen, einer besseren Leistung und einem tieferen Verständnis führt. Kurz: Was Menschen aus eigenem Antrieb lernen wollen, geht leichter und wirkt nachhaltiger.
Noten und Tests helfen also dabei, Menschen zu zwingen, sich mit von außen festgelegten Inhalten zu beschäftigen, einem effektiven Lernen stehen sie aber im Weg, statt es zu fördern.
Die aus Preußen übernommenen Methoden stehen nicht nur im Widerspruch zu dem, was wir über Lernen wissen. Noch dramatischer widersprechen sie unseren psychologischen Erkenntnissen darüber, wie sich gesunde Individuen entwickeln, was für psychische Gesundheit und ein gesundes Selbstvertrauen nötig ist und was letztlich glücklich macht.
Deci und Ryan haben sich nicht nur mit Motivation beschäftigt. Die Motivationsforschung ist nur ein Teil der von ihnen entwickelten Selbstbestimmungstheorie. Seit nun mehr als zwanzig Jahren wurde diese Theorie in verschiedenen Kontexten immer wieder überprüft und bewiesen.12 Sie ist Bestandteil der meisten psychologischen Grundlagenwerke und Teil eines jeden Psychologiestudiums. Zentrale Begrifflichkeiten dieser Theorie sind auch Teil der Lehrer*innenausbildung. Die Konsequenzen, die sich aus der Selbstbestimmungstheorie ergeben, stehen jedoch in so eklatantem Widerspruch zur schulischen Praxis, dass sie weitgehend ignoriert werden, denn die Umsetzung wäre nur mit einer radikalen Veränderung des Schulsystems möglich.
Grundlage der Selbstbestimmungstheorie ist die Annahme, dass es neben unseren körperlichen Grundbedürfnissen drei zentrale psychologische Grundbedürfnisse gibt: Kompetenz, soziale Eingebundenheit und Autonomie.
Kompetenz beschreibt dabei, dass Menschen sich fähig fühlen und das Gefühl haben möchten, dass sie etwas beizutragen haben. Hier gibt es eine enge Verbindung zur Selbstwirksamkeitserwartungstheorie von Albert Bandura, die für die Pädagogik mindestens genauso bedeutsam ist und die darum an späterer Stelle näher erläutert wird.
Soziale Eingebundenheit bedeutet, dass wir als Menschen das Bedürfnis haben, uns zugehörig zu fühlen. Es beschreibt also das Verlangen danach, sich mit anderen zu verbinden, in Beziehung zu stehen und sich von anderen akzeptiert zu fühlen.
Autonomie schließlich beschreibt schlicht, dass wir im Fahrersitz unseres Lebens sitzen und Kontrolle über das Leben haben möchten. Autonomie unterscheidet sich also von Unabhängigkeit, denn man kann durchaus autonom um Hilfe bitten. Wichtig ist, dass die Entscheidungen über das eigene Leben in der eigenen Hand bleiben und man das Gefühl behält, von inneren Antrieben geleitet zu werden.
Ist eines dieser Grundbedürfnisse nicht erfüllt, werden Menschen unglücklich und krank. Zudem sinken Motivation und Lernfähigkeit. So schlicht und einfach es klingt, so bedeutend sind die Erkenntnisse der Selbstbestimmungstheorie. Wenn Schulen nicht so aufgebaut sind, dass junge Menschen sich wirksam, kompetent, eingebunden und autonom fühlen, bedeutet dies nicht nur, dass die Hauptintention von Schule – das Lernen – dort schlecht geschehen kann, sondern auch, dass die jungen Menschen unglücklich werden. Nur wenn wir unser Leben selbstbestimmt leben können, wenn wir an unsere Fähigkeiten glauben und erfüllende Freundschaften haben, fühlen wir uns glücklich und zufrieden.
Es wäre an sich schon viel wert, dass sich junge Menschen wohlfühlen und dann viel besser lernen können. Wir wissen aber heute auch, dass es einen starken Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und psychischer wie auch körperlicher Gesundheit gibt. Stress ist die Ursache für viele psychische und körperliche Probleme; negative Denkmuster beeinträchtigen die Heilung, während positive Überzeugungen helfen, Krankheiten vorzubeugen und Heilung zu fördern. Wir wissen auch, dass gute soziale Beziehungen entscheidend für den Umgang mit Stress sind. Wer gute Freundschaften hat, lebt länger. Will man also, dass Menschen geistig und körperlich gesund sind, ist es wichtig, ihnen zu helfen, glücklich zu sein, in sich selbst zu vertrauen und in der Lage zu sein, tiefe, verbindende Beziehungen mit ihren Mitmenschen aufzubauen und zu pflegen.13
Setzte man sich also heute mit einem weißen Blatt hin, um ein Schulsystem zu entwickeln, welches das Glück des Individuums zum Ziel hat – ginge man ganz wissenschaftlich vor und berücksichtigte, was wir über die Psychologie des Menschen, über Lernen und Pädagogik wissen – das Ergebnis enthielte keines der Elemente Noten, Zwang, Fremdbestimmung und Konkurrenz.
Hier soll kein böser Wille unterstellt werden. Bildungsministerien, Schulrät*innen, Direktor*innen und Lehrer*innen mögen teilweise einen zu starken Fokus auf wirtschaftlichen Erfolg und Konkurrenzfähigkeit legen, aber sicher will niemand jungen Menschen etwas Schlechtes antun. Gerade deswegen ist es so überraschend, dass wir kein Schulsystem vorfinden, welches in die Praxis umsetzt, was wir in den letzten Jahrzehnten über das Lernen und die menschliche Entwicklung herausgefunden haben.
Das Schulsystem hat sich aus obrigkeitsstaatlicher Zeit entwickelt und so tradiert, dass es den meisten Menschen schwerfällt, die zugrunde liegenden Prinzipien in Frage zu stellen und Schule ganz neu zu denken. Schließlich sind wir selbst so groß geworden und haben es als normal erlebt.
In diesem Dilemma können freie Alternativschulen wie die Infinita eine wichtige Rolle spielen. Wir können Schule ganz neu denken, wir haben die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren, immer wieder zu überarbeiten, weiterzuentwickeln und wissenschaftliche Erkenntnisse in der pädagogischen Praxis zu überprüfen. Auf diese Weise können wir die Diskussion zur Veränderung des Schulsystems inspirieren. Wir können Ideen einbringen und Ergebnisse vorzeigen.
Wichtig ist dabei, genau zu überlegen, was beobachtet und gemessen werden soll. Natürlich ist es nicht uninteressant anzusehen, wie wir nach den Maßstäben des staatlichen Schulsystems abschneiden. Wie sind die Noten in den Abschlussprüfungen? Welche Inhalte wurden erlernt? Das sind wichtige und brennende Fragen. Inwieweit gelingt es Kindern, die selbstbestimmt in der Wahl ihrer Lerninhalte sind, sich auch die klassischen Lehrplaninhalte anzueignen? Diese Frage soll nicht übergangen werden und wird vor allem im vorletzten Kapitel, welches sich um Abschlüsse dreht, ausführlich erörtert.
Gleichzeitig geht es um viel mehr. Die Infinita wurde nicht primär gegründet, um gute Abschlüsse auf einem anderen Weg zu erreichen. Der Erfolg unserer Schule kann nur an dem gemessen werden, was ihre eigentlichen Ziele sind. Darum ist es wichtiger zu betrachten, wie groß die Zufriedenheit, der innere Frieden, die Selbstwirksamkeitserwartung und das Selbstvertrauen von Abgänger*innen sind und wie glücklich sie nach ihrem Aufwachsen an der Infinita sind.
Über das Thema Selbstwirksamkeitserwartung lohnt es sich, ein paar Worte zu verlieren. Die von Albert Bandura in den 1970er Jahren entwickelte Theorie ist heute aus der Psychologie nicht mehr wegzudenken. Einfach gesagt beschreibt der Begriff Selbstwirksamkeitserwartung das Vertrauen in sich selbst, eigene Ziele zu erreichen.14 Je höher die Selbstwirksamkeitserwartung, je mehr ich mich also als kompetente*r Architekt*in des eigenen Lebens verstehe, desto größer ist mein Durchhaltevermögen. Ich traue mich, Projekte zu initiieren, ich kann mit Rückschlägen umgehen und ich werde dadurch Erlebnisse schaffen, die wiederum meine Selbstwirksamkeit steigern. Ich werde auch Schicksalsschlägen und Krankheiten aktiv begegnen und nach Auswegen suchen. Vielleicht ändere ich meine Ernährung, suche nach Heilmethoden oder gehe zu Selbsthilfegruppen. So steigert eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung in letzter Instanz sogar meine Lebenserwartung.
Eine niedrige Selbstwirksamkeitserwartung bedeutet dagegen, dass ich mich äußeren Umständen und Personen ausgeliefert fühle. Dann erlebe ich mich als Opfer der Umstände und ergebe mich schnell dem Schicksal.
Hier zeigt sich bereits, dass eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung ein Schlüssel für das Verfolgen und für das Erreichen eigener Träume ist. Wir wissen heute, dass eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung vor Angststörungen und Depressionen schützt. Sie ist darum ein extrem bedeutsamer Faktor für ein glückliches Leben und wir werden uns in den folgenden Kapiteln immer wieder ansehen, inwieweit eine Demokratische Schule für die Entwicklung der Selbstwirksamkeitserwartung hilfreich sein kann.
Das Ziel der Infinita ist letztlich, der Ort zu sein, an dem ein Aufwachsen von glücklichen Menschen gelingen kann. Zugleich hoffen wir, in unserem bescheidenen Rahmen eine gewisse Leuchtturmfunktion zu erfüllen.
Aber warum glauben wir, dass unser Schulkonzept für Menschen eine gute Umgebung zum Aufwachsen bieten kann?
Wir sehen uns heute zwei großen und teilweise tragischen Herausforderungen gegenüber:
Psychische Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen sind alarmierend hoch. Mindestens 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland weisen psychische Auffälligkeiten auf.15 Ein großer Teil davon leidet unter Depressionen oder ist »verhaltensauffällig«. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass enormer Leistungsdruck schon ab dem Grundschulalter eine der wichtigsten Ursachen hierfür ist.16 Ist es da nicht ein naheliegender Gedanke, diesen Leistungsdruck von den Schultern der Kinder und Jugendlichen zu nehmen?
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die junge Menschen belasten können, wie beispielsweise die Trennung der Eltern, der Tod eines Elternteiles oder Mobbing. Uns ist es wichtig, für die Bearbeitung dieser Themen Zeit und Raum zu schaffen, Begleitung anzubieten und Gesprächsangebote zu machen.
Darüber hinaus spielen ein Aufwachsen mit der Möglichkeit, viel Verantwortung zu übernehmen, sowie der Erfahrung, ernst genommen zu werden, bei der Entwicklung starker Persönlichkeiten mit einem gesunden Selbstbewusstsein eine wichtige Rolle. Hinzu kommt die Entwicklung von Selbstwirksamkeitserwartung durch die ständige Erfahrung, das eigene Lebensumfeld aktiv mitzugestalten.
Dies alles schafft die Basis für einen produktiven Umgang mit großen Herausforderungen, die ansonsten zu Überforderung, Rückzug und Depression führen können. Die Infinita kann die Schüler*innen nicht vor allen schlimmen Erfahrungen schützen. Die Schulerfahrung kann aber den Rücken für den Umgang mit ihnen stärken – ob diese Erfahrungen nun während der Schulzeit oder im späteren Leben gemacht werden.
Wir alle sehen uns irgendwann im Leben großen emotionalen Herausforderungen gegenüber. Die innere Stärke, solche Phasen erleben zu können und im besten Fall daran zu wachsen, anstatt daran zu zerbrechen, ist eine unabdingbare Voraussetzung für ein glückliches Leben.
Ein kleines Detail mit großer Bedeutung für das Leben von Menschen ist der Umgang mit Fehlern und Scheitern. Durch ständige Bewertung werden junge Menschen darauf trainiert, Fehler als etwas anzusehen, das es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Scheitern bedeutet dann Versagen und potenziell einen Schlag gegen das Selbstbild. Sie werden also versuchen, immer die Dinge zu tun, die sie schon können und bei denen sie recht sicher sind, keine Fehler zu machen, um eine schlechte Bewertung zu vermeiden.
Wenn Menschen diese Denkweise verinnerlicht haben und an etwas scheitern, werden sie künftig dazu neigen, dies zur Seite zu wischen, schnell zu vergessen und möglichst nicht wieder zu versuchen – denn es stellt das eigene Selbstbild in Frage.
Beschäftigen sich Menschen dagegen aus eigener Motivation mit Dingen, weil sie sie können oder wissen möchten, sind sie viel eher in der Lage, Fehler als normalen Teil des Prozesses zu betrachten. Sie werden eher geneigt sein, eigene Fehler anzusehen und daraus zu lernen. Sie werden auch eher Dinge erproben, in denen sie (noch) nicht so gut sind, anstatt davon auszugehen, dass sie sie nicht können und folglich nie lernen werden. Wie viele von uns glauben, dass sie nicht gut in Kunst, Sport, Mathematik, Naturwissenschaften oder Musik sind, weil sie dort schlechte Noten bekommen haben? Kann ich nicht – mag ich nicht – mach ich nicht! Wir haben die Bewertung verinnerlicht, sie wahr gemacht und zementiert, um unser Selbstbild zu schützen.
Besonders absurd ist, dass im Schulsystem sogar kreative Tätigkeiten wie Singen und Zeichnen bewertet werden, wodurch wiederum die Angst, Fehler zu machen, hervorgerufen wird. Das Vermeiden von Risiken und das Zurückgreifen auf das, was man schon sicher weiß/kann, ist der sichere Weg zu besseren Noten … und zum Aberziehen von Kreativität.