4,99 €
Marek und Craig genießen auf Grisper Castle ihre noch junge Beziehung. Doch als in einer Blutmondnacht eine Sternschnuppe vom Himmel fällt, wird etwas Magisches in Gang gesetzt, das schon bald ihre friedliche Welt aus den Fugen geraten lässt. Immer mehr rätselhafte Erscheinungen suchen das Schloss und die Umgebung heim. Als Marek eine verborgene Bibliothek mit Schriften voller Schwarzer Magie entdeckt, ist schnell klar, dass ein mächtiger Fluch sein Unwesen treibt und alles bedroht, was ihm lieb ist. Mit der Unterstützung seiner Freunde versucht Marek, den Ursprung des Fluchs zu finden und ihn zu brechen, bevor es zu spät ist. Während die dunklen Mächte immer bedrohlicher werden und selbst der magische Rat in Gefahr schwebt, müssen die Bewohner von Grisper Castle zusammenarbeiten, um die Schrecken abzuwenden. Werden ihre Freundschaft und Magie stark genug sein, um die Dunkelheit zu besiegen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Blutmondnacht
von
Wolf September
Impressum
Wolf September
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
www.wolfseptember.de
Instagram: wolf_september_info
Facebook: autorwolfseptember
Lektorat & Korrektorat
Matti Laaksonen - www.mattilaaksonen.de
Coverdesign: germancreative / Fiverr
Bildrechte: © Roman_Dubetskyi /© pellinni - de.depositphotos.com
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, Vervielfältigung oder anderweitige Veröffentlichung sind nicht gestattet und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Autoren (Ausnahme: kurze Zitate für Rezensionen). Sämtliche Handlungen und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten, wie die Namen der Protagonisten, mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Orte, Markennamen, Künstler und Lieder werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Örtliche Begebenheiten wurden teilweise oder ganz für den Storyverlauf angepasst. Alle Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Roman verwendet werden, sind Eigentum der jeweiligen Inhaber.
Vielen lieben Dank an meine Testleser:
Björn, Antonia, Sandra, Susan, Stefan und Rina,
die mich mit Tipps, Hinweisen und
sehr umfangreichem Feedback unterstützt haben.
Schön, dass es Euch gibt.
Die Nacht war warm, ein sanfter Wind ließ die Blätter der Bäume im Nebelwald leise rascheln. Das Zirpen der Grillen mischte sich in dieses stete Rauschen, durchbrochen nur durch die Rufe einiger weniger Eulen. Über Marek schien der volle Mond und tauchte das dichte Gewirr der Bäume in ein warmes, mystisches Licht.
Tief sog er die Luft in seine Lunge. Der würzige Duft des Waldes vermischte sich mit dem erdigen des Moores zu einer unverwechselbaren Note.
Er drehte sich auf die Seite und stützte sich auf seinem Ellbogen auf. Seine Mundwinkel kräuselten sich zu einem sanften Lächeln. Zärtlich strich er mit seinem Finger über Craigs Wangen, der neben ihm auf dem Dach des höchsten Turms von Grisper Castle lag und die Augen geschlossen hatte. Ein wohliges Raunen entfloh seiner Kehle. Marek beugte sich zu ihm und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf Craigs Gesicht aus.
„Ich könnte ewig hier oben bleiben“, flüsterte Marek ihm ins Ohr und legte sich zurück auf die kleine Holzplattform, die er auf das Dach gezaubert hatte. Das ganze Jahr über hatte er das Hexen geübt. Das Teleportieren und das Herbeizaubern von Gegenständen gelang ihm inzwischen, ohne dass er sich noch anstrengen musste, es ging wie von allein. Marcus hatte vollkommen recht gehabt, es war wie beim Autofahren – nach einer Weile musste man auch nicht mehr darüber nachdenken, ob man bremsen, blinken oder Gas geben musste – man tat es einfach.
Zusammen mit Bryne war er vor ein paar Wochen auf die Idee gekommen, auf dem höchsten Punkt des Schlossdaches eine kleine Liegefläche zu bauen. Während Marek die Materialien aufs Dach gehext hatte, hatte Bryne den handwerklichen Teil übernommen. Über eine Holzstiege am Dachfenster konnten sie nun alle den Ausguck auf dem Dach erreichen. Er selbst brauchte diesen Umweg inzwischen nicht mehr, konnte er sich und Craig schließlich nach oben teleportieren. Lediglich Kenneth blieb dieser Ausblick verwehrt. Weiter als bis zum Fenster kam der Geist nicht, das Schloss konnte er nicht verlassen. An dieser Tatsache hatten auch sein Gezeter und der Vorwurf der Diskriminierung nichts geändert.
„Nichts da.“ Craig setzte sich auf und sah zu Marek. „Für später sind Gewitter gemeldet. Wir warten die Perseiden ab und gehen dann wieder runter.“ Sein Blick wanderte zum Mond, der einen zarten Orangeton angenommen hatte. „Er verfärbt sich schon.“ Mit einem wohligen Seufzer legte er sich wieder hin. „Wo ist eigentlich Marcus? Nachdem er seit Wochen von kaum etwas anderem gesprochen hat – sollte er da nicht auch hier oben sein?“
„Marcus, hier oben?“ Marek hob fragend eine Augenbraue und schmunzelte. „Er wollte nach Darkmoor. Seinen Berechnungen zufolge ist der Sternschnuppenregen von dort aus besser zu sehen.“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Ich denke aber, er ist hauptsächlich nicht hier oben, weil er Höhenangst hat.“
„Marcus?“, fragte Craig erstaunt.
„Er war erst ein Mal mit auf dem Dach und das war, als wir mit der Plattform fertig waren, da hat er sich am Fensterrahmen festgekrallt, hat nur gemeint ‚tolle Aussicht‘ und ist sofort wieder reingegangen. Aber er würde natürlich niemals zugeben, dass er Angst hat.“
„Natürlich nicht.“ Craig schüttelte lachend den Kopf und schaute wieder zum Mond hinauf. „Meinst du, es fliegen viele Sternschnuppen am Blutmond vorbei?“
„Wenn Marcus recht behält, dann ja. Er hat gemeint, durch die spezielle Lichtbrechung werden sie wie ein blauer Streifen quer über dem Mond zu erkennen sein.“
Craig beugte sich zu Marek und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Er fuhr mit seinem Finger über das Hexenmal, zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen. „Spürst du schon etwas? Ich meine, fühlt es sich heute anders an?“
Marek setzte sich auf, er öffnete einen weiteren Knopf und betrachtete das runde Mal auf seiner Brust. Es war kaum noch zu erkennen. In den letzten Wochen hatte er durch den Bau der Dachterrasse viel gezaubert, sodass seine Kräfte fast aufgebraucht waren. In normalen Vollmondnächten, wenn sich seine Kraft regenerierte, spürte er nichts davon – irgendwann war es eben wieder voll. Oftmals dachte er gar nicht mehr daran, dass es sich in diesen Nächten auflud. Genau wie das Zaubern war es zur Gewohnheit geworden. Heute jedoch spürte er ein leichtes Kribbeln unter der Haut wie von tausend Ameisen.
„Es kitzelt ein bisschen. Aber vielleicht bilde ich mir es auch nur ein.“
Von Marcus wusste er, dass in dieser Nacht die Magie besonders stark sein würde. Es geschah alle vierzig Jahre, dass der Turner-Komet auf einen Blutmond traf und einen Sternschnuppenregen auslöste. In diesen Nächten setzte die besondere Konstellation der Sterne magische Kräfte frei, die um ein Vielfaches stärker waren als für gewöhnlich.
Craig ließ seine Hand unter das offene Hemd auf Mareks Brust gleiten und legte sie auf das Mal. „Es ist wärmer als die umliegende Haut.“
Marek beugte sich zu Craig und küsste ihn. Danach blickte er ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich.“
Ein Lächeln schob sich auf Craigs Lippen. „Nein, ich liebe dich!“
Würgelaute ließen sie herumfahren.
„Bei dem Gesülze verpasst ihr noch den großen Moment“, spöttelte Kenneth, der auf dem Dachboden vor dem offenen Fenster schwebte.
„Neidisch?“ Marek grinste ihn herausfordernd an. „Aber du hast recht, es dürfte nicht mehr lange dauern. Der Mond ist schon fast rot.“
„Meine Güte, wenn es heute Abend nichts wird, dann eben das nächste Mal.“
„Das nächste Mal, wenn ein solcher Sternschnuppenregen auf einen Blutmond trifft, bin ich fünfundsiebzig. Frag Marcus – alle vierzig Jahre. Ich denke nicht, dass ich mich dann noch hier hoch traue.“
„38,69 Jahre“, verbesserte Kenneth.
„Klugscheißer.“
„Ich bin eben sehr genau in den Dingen, mein Freund“, verteidigte sich der Geist.
Marek schnaufte belustigt. „Seit wann?“
„Seit Ende der fünfziger Jahre, als ich geboren wurde. Und jetzt konzentrier dich lieber auf den Mond, sonst verpasst du dieses einmalige Erlebnis.“ Kenneth schüttelte verständnislos den Kopf. „Sterbliche“, murmelte er verächtlich.
Mareks Blick fiel auf Craig, der wie versteinert neben ihm saß und den Mond anstarrte. Innerlich schlug er sich gegen die Stirn. Wie hatte er nur so etwas sagen können? Er hatte Craigs wunden Punkt getroffen. Nein, durchbohrt. Seit sie sich kennengelernt hatten, war Craig besorgt, wenn er an Mareks Sterblichkeit dachte. Er sprach nicht mehr darüber, aber Marek sah es ihm an. Jedes Mal.
„Es geht gleich los“, lenkte er ab und legte seinen Arm um Craig. Er zog ihn an sich und küsste ihn auf die Wange.
Tatsächlich verfärbte sich der Mond nun immer schneller. Das zarte Rot wurde immer dunkler, bis er blutrot leuchtete. Mareks Mal begann sanft zu pulsieren. Es verstärkte sich und wurde zu einem Pochen. Hitze wallte in seiner Brust auf. Ehe er es richtig begreifen konnte, schoss der Komet am Mond vorbei. Ein tiefblauer Streifen zog sich über die rote Scheibe am Himmel. Als er die Mitte des Mondes erreicht hatte, blitzte es auf. Es schien, als hätte sich etwas aus dem Kometen gelöst. Ein zweiter Streifen entstand und dieser jagte direkt auf sie zu. Wie aus dem Nichts rasten dazu unzählige Sternschnuppen über den Himmel.
Marek saß mit offenem Mund neben Craig und konnte sich nicht von der Stelle rühren.
„Kommt das hierher?“, fragte Craig ungläubig.
Einen Moment später leuchtete der Himmel über dem Moor für ein paar Sekunden bläulich flirrend, ehe es wieder dunkel um sie herum wurde.
„Was war das?“, fragte Marek und sah zu Craig.
„Sah aus wie eine verirrte Sternschnuppe oder so etwas.“
Marek schaute erneut zum Mond. Der Komet war verschwunden und der Erdtrabant wurde sichtlich heller, lediglich die Sternschnuppen flogen über den Himmel, wenn auch lange nicht mehr so zahlreich wie noch vor einigen Augenblicken. Marek glaubte, einen zarten bläulichen Schimmer über dem Moor zu erkennen.
„Es ist vorbei.“ In der Aufregung hatte er nicht mehr an sein Mal gedacht. Die Hitze und das Pochen waren verschwunden. Marek blickte an sich herab. Fast schwarz prangte es nun wieder auf seiner Brust. Erleichtert ließ er sich zurücksinken.
Craig starrte noch immer auf die Stelle am Horizont, wo das Leuchten am stärksten gewesen war.
Ehe sie sich versahen, tauchte das silberne Mondlicht die Umgebung wieder in eine mystische Atmosphäre und das Leuchten war gänzlich verschwunden.
„Und wegen diesem bisschen hat Marcus jetzt wochenlang alle genervt?“, kommentierte Kenneth vom Fenster aus. „Ich geh dann mal Staubteufel zählen, das ist interessanter.“
Marek blickte zu ihm und konnte gerade noch sehen, wie er sich auflöste.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Craig und lehnte sich über Marek.
„Ich hätte da so eine Idee …“ Ein freches Grinsen umspielte seine Lippen, als er begann, Craigs Hemd aufzuknöpfen.
„Und das Gewitter?“
„Das ist noch weit, weit weg.“
Ungewöhnlich fröhlich kam Marcus am nächsten Morgen in die Küche. Marek saß bereits mit Craig, der wie immer in seiner Zeitung blätterte, und Bryne am Frühstückstisch, während Luise Spiegeleier am Herd brutzelte. Der würzigsüße Duft von krossgebratenem Speck hing in der Luft und sorgte dafür, dass Marek das Wasser im Mund zusammenlief.
„So gut gelaunt?“, fragte Bryne und sah von seinem Tablet auf. „Hattest du gestern Abend Sex?“ Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen, verschwand aber augenblicklich, als er von Luise, die hinter ihm stand, einen Klaps auf den Hinterkopf bekam. „Sei nicht so neugierig und nimm die Füße vom Tisch!“, ermahnte sie ihn. „Und bitte so etwas nicht vor dem Kind!“, zischte sie.
Marcus blieb inmitten des Raums stehen und sah ihn konsterniert an.
Bryne stieß sich ab und landete mit einem lauten Poltern auf den vier Stuhlbeinen. „Jaja, ich verstehe schon. Privatsphäre.“
„Welches Kind?“, fragte Marek und schob die Augenbrauen zusammen.
Luise räusperte sich, schaute von ihm zu Marcus und wieder zurück zu den Eiern in der Pfanne.
„Luise, ich bin erwachsen und nur, weil Marcus mein Vater ist, habe ich nicht aufgehört, in der Realität zu leben. Wenn Marcus Sex haben möchte, dann bitte schön.“ Marek verzog das Gesicht. „Ich möchte mir das nur nicht vorstellen müssen.“
„Ich weiß, was du meinst, die Vorstellung, dass die eigenen Eltern Sex haben …“ Bryne schüttelte den ganzen Körper. „Du weißt ja, Wassermänner sind von Natur aus ziemlich gut bestückt und meine Mutter war eine zierliche Frau …“
„Können wir jetzt bitte wieder das Thema wechseln?“, unterbrach Luise sichtlich beschämt und stellte die Pfanne mit den Eiern geräuschvoll auf den Tisch.
„Das wäre wirklich zu freundlich“, stimmte ihr Marcus zu. „Aber ich kann euch beruhigen. Nach diesem wahrhaft denkwürdigen Naturereignis letzte Nacht haben Maxwell und ich uns noch eine Flasche Wein gegönnt und ich habe bei ihm in Darkmoor genächtigt.“ Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, das aber erstarb, als Bryne dreckig grinste. „In seinem Gästezimmer, wohlgemerkt – allein!“
„Du und der neue Bürgermeister?“, fragte Craig.
„Natürlich. Wir kennen uns schließlich lange. Wie du weißt, sind wir seit Jahrzehnten befreundet, und endlich ist der richtige Mann im Amt.“ Marcus räusperte sich. „Nun ja, und außerdem hat sein Haus einen vortrefflichen Ausblick – von der Sternwarte auf seinem Dach ganz zu schweigen.“
„Den guten Ausblick hatten wir auch“, warf Marek ein.
„Einen vortrefflichen Ausblick, bei dem man keine Angst haben muss abzustürzen, wie ich noch hinzufügen möchte“, ergänzte Marcus.
„Hast du dieses Ding auch gesehen?“, fragte Marek und rieb sich das Kinn.
„Welches Ding?“ Marcus nahm sich eine Tasse, schenkte schwungvoll Kaffee ein und setzte sich.
„Na, dieses Ding, das auf die Erde gekracht zu sein scheint …“
„Ach das. Das war eine Sternschnuppe. Wahrscheinlich wurde der Komet von irgendwas getroffen.“ Er winkte ab. „So etwas passiert ständig.“
„Und das gespenstische Leuchten direkt über dem Moor?“, hakte Marek nach.
Marcus sah ihn fragend an. „Ein Leuchten habe ich nicht gesehen, aber einige sehr interessante Mondkrater. Einer erinnerte sogar an einen dicken Ast, an dem zwei Äpfel hängen.“
Bryne prustete auf. „Du meinst, also eher so – phallisch?“
„Nein, mein lieber Bryne. Ich meine eher einen Ast mit zwei Äpfeln.“
„Habt ihr mich gerufen?“ Kenneth erschien über dem Tisch. „Ich habe so etwas wie Gespenst gehört.“
Während Bryne genervt die Augen verdrehte, warf Kenneth Marek und Craig einen verächtlichen Blick zu. „Wenn ihr noch mal so einen Lärm mitten in der Nacht macht … Ich habe kein Auge zubekommen.“
Wärme stieg in Mareks Wangen auf.
„Du schläfst nicht, also ist es egal, ob du ein Auge zubekommst“, erwiderte Craig monoton hinter seiner Zeitung. „Und so laut waren wir nicht. Thema beendet.“
Kenneth beugte sich zu Craig vor. Er steckte seinen Kopf durch die Zeitung, sodass er ihn direkt ansehen konnte, und deutete mit seinem Zeigefinger in die Luft. „Würde ich schlafen, hätte ich kein Auge zubekommen. Nur weil ich etwas nicht tue, darf mir nicht das Recht darauf verwehrt werden!“
Bryne senkte sein Tablet. „Hast du wieder zugesehen, du kleiner Spanner?“
Kenneth zog seinen Kopf aus dem Papier und riss entsetzt die Augen auf. Seine beiden Hände schossen vor seine Brust. „Ich? Warum sollte ich so etwas tun?“
„Aus Gewohnheit, zum Beispiel.“ Ein amüsiertes Lächeln zupfte an Brynes Mundwinkeln.
„Ruhe jetzt“, mischte sich Marcus in die Diskussion ein. „Ich möchte jetzt in aller Ruhe meine Zeitung lesen, ohne euer Gezeter.“ Er nahm das Darkmoor-Journal, das ihm Craig hinhielt, und schlug es geräuschvoll auf.
Kenneth warf Bryne noch einen bösen Blick zu, bevor er verschwand. Für einen Augenblick herrschte Ruhe am Tisch. Alle hatten sich wieder in ihre Morgenlektüre vertieft, nur Luise stand am Herd und schnitt Gemüse klein. Marek genoss diese morgendlichen Zusammenkünfte. In diesen Momenten stellte sich bei ihm ein starkes familiäres Zugehörigkeitsgefühl ein. Und seit er wusste, dass sein Adoptivvater Sebastian noch lebte, wurde es auch durch nichts mehr getrübt.
Marcus knickte eine Seite seiner Zeitung um und sah auf den Kalender, der neben der Tür hing. „Am Freitag ist Laurentius“, sagte er und blickte voller Stolz zu Marek. „Und dank dir findet es dieses Jahr endlich auch am richtigen Tag statt.“
Craig legte seine Hand auf Mareks Schulter und strich ihm sanft über den Nacken. „Zum ersten Mal seit hunderten von Jahren. Ich habe gehört, dass das Feuer dieses Jahr besonders groß werden soll. Die Waldarbeiter holen schon seit Tagen Stämme aus dem Wald.“
„Ich war das nicht alleine“, verbesserte Marek beschämt. „Wir haben alle den Fluch beendet.“
„Fluch hin, Fluch her. Ich werde auf jeden Fall feiern gehen.“ Bryne legte seine Füße wieder auf die Tischplatte und kippelte mit dem Stuhl.
„Ich habe mir extra ein neues Kleid gekauft“, schob Luise dazwischen, ohne aufzusehen. „Und Marcus hat mir einen Tanz versprochen.“
„Habe ich?“
„Hast du! Oder soll ich dich an deine ständige Abwesenheit letztes Weihnachten erinnern, als ich für dich die Gäste bedienen musste?“ Sie hatte sich umgedreht und die Arme in die Hüften gestemmt. Ihr Tonfall war freundlich, aber bestimmt. „‚Laurentius mache ich es wieder gut‛, waren deine Worte.“
„Ist ja gut. Nicht wieder dieses Thema“, raunte Marcus. „Du bekommst deinen Tanz.“
„Wir fahren also alle gemeinsam am Freitag nach Darkmoor?“, fragte Craig aufgeregt und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen.
„Sieht so aus.“ Marcus faltete die Zeitung wieder auf.
„Alle, bis auf den Geist. Wie immer“, brummte es verächtlich aus Richtung der Wand neben dem Kamin.
„Und wenn Laurentius vorbei ist“, begann Marek, ohne auf Kenneths Einwurf einzugehen, „üben wir dann endlich wieder das Zaubern? Mein Mal ist voll. Ich habe genug von der reinen Theorie über Flüche und Banne.“ Er klatschte in die Hände. „Es wird endlich Zeit für die Praxis.“
„Wir werden sehen“, meinte Marcus hinter seiner Zeitung. „Ich muss erst mit Sebastian darüber reden.“
„Sebastian? Warum das? Du bist mein Lehrer“, maulte Marek.
Marcus nahm die Zeitung erneut hinunter. „Ungeduld ist ein schnelles Pferd, aber ein schlechter Reiter, mein Junge. Außerdem ist er dein Adoptivvater. Er hat dich aufgezogen und nicht zu vergessen: Er ist Mitglied des magischen Rates.“
„Und du bist mein leiblicher Vater.“
„Richtig und deine Väter entscheiden, wann und wie es weitergeht. Gemeinsam. Und jetzt …“ Marcus’ Kopf verschwand wieder hinter der Zeitung. „Jetzt freuen wir uns erst einmal auf Freitag.“
Marek kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es heute keinen Sinn mehr machte, mit ihm zu diskutieren. Marcus hatte recht, denn egal wie sehr er sich wünschte, endlich etwas Neues in der Zauberei zu lernen, auf Laurentius freute er sich mehr. Immerhin waren Craig und er am letzten Laurentiusfest zusammengekommen. Es war also nicht nur das Fest des Jahres in der Gegend, es war auch ihr Jahrestag.
Eine leichte Brise strich über Craigs Haut. Die Sonnenstrahlen brachen golden durch das dichte Geäst der Bäume. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das Zwitschern der Vögel, das aus dem Nebelwald in den Vorhof des Schlosses wehte, und das Plätschern des Springbrunnens im Hof vermischten sich und wurden in seinen Ohren immer lauter. Ein friedvolles Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Es war einer dieser kostbaren Augenblicke, in denen er sich nicht um Marek sorgte. Auch wenn er es niemals zugeben würde, erwischte er sich viel zu oft, dass er über ihre Zukunft grübelte. Über die Vergänglichkeit.
Marek war nun einmal ein Mensch und damit sterblich – im Gegensatz zu ihm. Und wenn er es genau nahm, gab es nur eine Lösung für dieses Problem. Marek musste sterben, um zu leben. Nur wenn Craig ihn zum Vampir machen würde, könnten sie auf ewig zusammen sein. Ein hoher Preis. Vielleicht ein zu hoher. Doch jetzt, hier im Schatten des Schlosses, an diesem wunderschönen Augusttag, war er frohen Mutes. Jetzt gerade wusste er, dass es einfach nur schön war, mit ihm zusammen zu sein, und dass sie eine Lösung finden würden. Dieser Tag war die Blaupause für so viele Tage, die noch kommen würden.
Er hörte das Eingangstor scheppernd ins Schloss fallen und Schritte, die sich knirschend über den Kies näherten. c, schoss es ihm in den Kopf. Es konnte nur er sein. Sein kraftvoller und gleichzeitig schlendernder Gang war unverkennbar.
„Was machst du hier? Ich dachte, du hättest heute ein Meeting in London?“, fragte der Wassermann und zog sich einen der Holzstühle neben die Bank, auf der Craig saß. Mit einem leisen Seufzer ließ er sich auf den Stuhl sinken.
„War schneller zu Ende als gedacht.“ Craig brummte zufrieden. „Ist heute nicht ein herrlicher Tag?“, fügte er mit geschlossenen Augen hinzu.
„Wo ist Marek? Ich war gerade in der Bibliothek …“
„Mit Marcus in Darkmoor.“
Bryne ließ langsam mit flatternden Lippen Luft aus seiner Lunge entweichen. „Man ist es gar nicht mehr gewohnt, dass es so ruhig ist.“
„Was meinst du?“
„Na ja, seit Weihnachten ist nichts mehr vorgefallen, keine Flüche, Geister oder andere magische Notfälle. Das Leben fließt wie ein langer ruhiger Fluss. Und Hotelgäste waren in der letzten Zeit auch kaum hier.“ Er schnaubte.
Craig öffnete die Augen und sah zu Bryne. „Und das ist schlecht? Also, dass es keine magischen Vorfälle gab?“
Bryne wiegte kaum merklich den Kopf. „Es ist ungewöhnlich. Schön und beruhigend und … schrecklich eintönig. Keine Action, weißt du. Seit Marek hier ist, gab es immer Action. Ich mag ihn.“ Er stand auf, ging auf die Wiese und zupfte eins der vielen Gänseblümchen ab. „Irgendwie sehen die anders aus als sonst.“ Mit der Blume in der Hand kam er zurück, ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und zwirbelte den Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Marcus hat irgendetwas mit dem Dünger gemacht …“ Craig setzte sich auf. „Dir ist also so langweilig, wenn dir schon so was auffällt?“
Bryne schnippte die Blume zurück in die Wiese, wo sie sich wieder aufrichtete, als wäre nichts gewesen. „Irgendwie ja.“ Er stand erneut auf.
Schmunzelnd richtete sich auch Craig auf und verdrehte die Augen. „Was ist jetzt wieder?“
„Ich gehe ein bisschen schwimmen – im See. Kommst du mit?“
„Geht nicht. Wir bekommen neue Gäste. Sie sollten jeden Augenblick eintreffen und dann will ich mich langsam fertigmachen fürs Laurentiusfest.“
„Fertigmachen? Ausziehen, duschen, vielleicht ein bisschen Selbstbefriedigung und wieder anziehen. Dauert fünf ohne und mit …“, er formte eine Faust und bewegte sie in der Luft auf und ab, „… vielleicht zehn Minuten.“
Bevor Craig etwas erwidern konnte, fuhr ein Taxi vor das Schlosstor und hielt.
„Die Gäste kommen. Dann bis später …“ Bryne tippte sich an eine imaginäre Hutkrempe und schlenderte über den Hof durch das Steintor in Richtung See davon.
Noch bevor Randolf, der Taxifahrer von Darkmoor, aussteigen konnte, öffnete sich die Tür hinter dem Fahrersitz. Ein drahtiger Mann, Mitte vierzig schätzte Craig, sprang heraus und lief eilig um das Auto herum, um die Tür auf der anderen Seite zu öffnen. Er hielt seine Hand ins Innere des Wagens und half einer Frau, die deutlich älter war als er, beim Verlassen des Fahrzeugs. Inzwischen war auch Randolf ausgestiegen. Er winkte Craig zu und ging zum Kofferraum, um das Gepäck auszuladen. Mit beiden Händen zog er die Gepäckstücke heraus und stellte die Koffer hinter dem Taxi ab, wo er von seinem männlichen Fahrgast bezahlt wurde. Gut bezahlt, wie Craig an seinem zufriedenen Gesichtsausdruck erkennen konnte.
Craig ging auf die beiden Gäste zu, während das Taxi davonfuhr.
„Hallo, herzlich willkommen auf Grisper Castle“, begrüßte er die frisch eingetroffenen Gäste, als er sie erreicht hatte. Ein zarter Lavendelduft stieg ihm in die Nase, der vom Parfüm der Frau zu stammen schien.
Währenddessen versuchte der Mann, die vier Koffer zu greifen. Er wollte sie wohl alle auf einmal nehmen, was ihm aufgrund ihrer Größe allerdings nicht gelang.
„Jarred Walker.“ Hastig hielt er Craig eine Hand hin, die er kräftig schüttelte, als Craig einschlug.
Craigs Blick glitt zu der Frau, die fast ein wenig eingeschüchtert dreinblickte.
„Olivia Crumpsett. Schön haben Sie es hier.“ Sie schaute über den Hof zum Schloss und wieder zurück zu ihm.
„Vielen Dank. Es freut mich, dass es Ihnen gefällt.“ Craig musterte die beiden. Ein außergewöhnliches Paar. Er, der sportliche Typ, mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen, das Grübchen in seine Wangen zauberte, und treu blickenden blauen Augen. Ein kerniger Naturbursche mit verwuscheltem, rotbraunem Haar. Die Frau dagegen wirkte sehr zurückhaltend, beinahe schüchtern. Auf elegante Weise zerbrechlich und verletzlich. In ihrem Blick lag etwas Mütterliches, Fürsorgliches, das durch den sanften und melodischen Klang ihrer Stimme verstärkt wurde. Im Gegensatz zu seiner geschäftigen Hektik wirkte sie ruhig und besonnen.
Jarred mühte sich weiter mit den Koffern ab, doch als die Frau einen davon nehmen wollte, wehrte er ab.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen,“ rief Craig, der es nicht mehr mitansehen konnte, und nahm zwei der Koffer, was Jarred mit einem dankbaren Lächeln quittierte. Gemeinsam folgten ihm Olivia und Jarred den Weg entlang zum Eingangstor und durchquerten den Hof.
Am Empfangstresen angekommen, schlug er das Reservierungsbuch auf. Er fand die beiden Namen auch gleich, doch sie hatten unabhängig voneinander gebucht. „Zwei Zimmer“, murmelte er, während sein Blick zu Jarred glitt.
Jarred sah ihn verdutzt an, dann lachte er und schüttelte den Kopf. „Ach so. Wir waren zufällig im selben Zug und haben uns beim Warten auf das Taxi kennengelernt.“ Er deutete zwischen Olivia und sich hin und her.
„Verstehe.“ Craig drehte das Buch zu den beiden und zeigte auf ihre Einträge. „Dann bekomme ich hier und hier ein Autogramm.“
Während die beiden unterschrieben, nahm Craig die Schlüssel vom Haken und schob sie ihnen zu. „Darf ich fragen, was Sie in unsere beschauliche Gegend führt?“
„Das Wandern. Hier gibt es doch dieses große Moor, dazu den Nebelwald. Eine Kombination, genau wie sie mir gefällt“, schoss es aus Jarred heraus und ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Seine Begeisterung sprang auf Craig über, während Olivia Jarred schüchtern ansah und nur sanft lächelte.
„Wandern Sie auch, Mrs Crumpsett?“, erkundigte sich Craig.
„Nein, um Himmels willen“, antwortete sie mit zarter Stimme. „Ich suche dann doch eher die Ruhe und Abgeschiedenheit.“ Es klang liebevoll und tröstlich, in ihrem Blick lag Güte, aber auch noch etwas anderes. Etwas Wissendes. Diese Frau hatte nicht immer glückliche Tage in ihrem Leben gehabt, da war sich Craig sicher.
„Nun, ich hoffe, Sie beide genießen Ihren Aufenthalt. Wenn Sie etwas brauchen, scheuen Sie sich nicht, mich oder meine Angestellten anzusprechen.“ Craig klappte das Buch zu. „Übrigens findet heute in Darkmoor das alljährliche Laurentiusfest statt, falls Sie für den Abend noch etwas Unterhaltung suchen. Ich helfe Ihnen mit dem Gepäck“, sagte er zu Olivia und griff nach ihren Koffern.
„Das Laurentiusfest?“, fragte Olivia interessiert.
„Hier in der Gegend finden jedes Jahr in der Nacht zum elften August Feiern in den Ortschaften statt, bei denen große Feuer zu Ehren des heiligen Laurentius entzündet werden.“
„Danke für den Tipp.“ Auch Jarred nahm seine Koffer und lächelte Craig zu.
Nachdem er die beiden in ihre Zimmer gebracht hatte, ging er ins Kaminzimmer, um ein paar E-Mails zu schreiben. Danach würde er bei Luise auf einen Kaffee vorbeischauen und dort auf Marek warten.
„Wer war das?“ Kenneths Stimme erklang vom Kamin her, als sich Craig an seinen Schreibtisch gesetzt hatte.
„Wen meinst du?“ Er lehnte sich zurück und suchte die Stelle im Raum, an der er den Geist vermutete.
„Diese Frau mit dem traurigen Blick.“ Kenneth erschien über dem Schreibtisch.
„Du meinst Mrs Crumpsett? Sie ist aus London. Findest du, dass sie einen traurigen Blick hat?“
Kenneth nickte. „Irgendwie kommt sie mir auch bekannt vor.“
„Woher? Ich kenne sie nicht. Sie war noch nie auf Grisper Castle.“ Craig sah Kenneth verwundert an. Er war ungewöhnlich ernst und wirkte nachdenklich. „Vielleicht kennst du sie von früher, aus London?“
Kenneth rieb sich das Kinn. „Nein, ich denke nicht.“
„Vielleicht täuscht du dich aber auch einfach. Manchmal erinnert einen nur ein bestimmter Aspekt eines Menschen an jemand anderen und man glaubt, ihn zu kennen. Wenn du mich jetzt entschuldigst. Ich muss noch ein bisschen arbeiten, damit ich rechtzeitig fertig werde.“
„Schon gut, lasst mich nur alle alleine und geht auf dieses verfluchte Fest.“
Noch bevor Craig etwas erwidern konnte, war Kenneth verschwunden. Da er die Gefühlsschwankungen seines Schlossgespenstes nur zu gut kannte, schüttelte er amüsiert den Kopf und wandte sich seiner Arbeit zu.
***
Schnell wurde es Abend. Marek und Craig hatten sich für die Party leger, aber schick angezogen. Auch Marcus trug Jeans, jedoch mit Hemd und Jackett. Marek musste schmunzeln, als er auf ihn zukam. Das letzte Mal hatte er ihn in einem solchen Outfit vor genau einem Jahr gesehen. So wie es aussah, trug er diese Kleidung nur zum Laurentiusfest. Während andere Menschen ihr Leben in Jeans verbrachten und sich zu besonderen Anlässen herausputzten, war es bei Marcus genau anders herum. Zudem wirkte er in diesen lässigen Klamotten auf eine gewisse Art verkleidet – Marcus war eben nur Marcus, wenn er einen Anzug trug.
Bryne hingegen hatte sich für eine schwarze Lederhose und ein weißes Hemd entschieden, dessen Stoff so dünn war, dass man darunter jede Wölbung seiner Muskeln erkennen konnte. Lediglich an den Seiten war es verstärkt, sodass seine Kiemen kaschiert wurden.
„Na dann wollen wir mal“, rief Bryne und klatschte vergnügt in die Hände.
„Viel Spaß“, tönte es verächtlich von der Treppe.
Marek drehte sich um, konnte aber nur noch sehen, wie Kenneth unsichtbar wurde. Das Hupen vor der Tür lenkte seine Konzentration jedoch schnell um.
Gemeinsam bestiegen sie das Taxi in Richtung Darkmoor. Es fühlte sich ein wenig seltsam an, heute, an diesem Tag und zu diesem Fest zu fahren. Marek erinnerte sich noch zu gut an das Jahr zuvor. Da hatte er Craig am Morgen des Festes seine Liebe gestanden und dieser war geflüchtet. Um nicht mit ihm reden zu müssen, hatte er sich in eine Maus verwandelt. Als er dann mit Bryne und Marcus nach Darkmoor gefahren war, hatte er insgeheim schon mit Grisper Castle abgeschlossen. Bis zu dem Zeitpunkt, als Craig auf dem Fest aufgetaucht war und ihn geküsst hatte.
Ein Lächeln breitete sich auf Mareks Lippen aus. Was seither alles passiert war! Seine Freunde waren zu seiner Familie geworden, das Schloss zu seinem Zuhause, Marcus hatte sich als sein leiblicher Vater herausgestellt und Sebastian lebte noch.
Einen Freund von Sebastian, einen Psychiater aus Wien, hatte er einmal sagen hören: ‚Bevor es oben im Haus warm wird, müssen unten im Keller erst einmal die Kohlen geschaufelt werden‛. Damals hatte er nichts mit diesem Satz anfangen können, doch heute wusste Marek, was er damit gemeint hatte. Auch er musste zuerst in die tiefsten Tiefen absteigen, um jetzt dieses unbegreifliche Glück erleben zu dürfen. Ein Glück, von dem er erst wusste, was es bedeutete, nachdem er gelernt hatte, den Schmerz des Verlustes zu ertragen.
„Woran denkst du?“, raunte ihm Craig ins Ohr.
„An nichts weiter. Ich freue mich auf das Feuer.“ Marek gab ihm einen zärtlichen Kuss.
Mit einem Zwinkern legte Craig seine Hand auf Mareks und schwieg lächelnd. Er hielt seine Hand, bis das Taxi auf einem Parkplatz etwas außerhalb des eigentlichen Stadtzentrums von Darkmoor hielt und die vier ausstiegen.
In einiger Entfernung sahen sie die Absperrung, durch die man auf das Fest kam. Wie jedes Jahr begann das Laurentiusfest bereits am Nachmittag mit einem Markt, der sich durch die Straßen und Gassen der Stadt schlängelte. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit schlossen die Händler ihre Stände und machten sich auf den Weg zum Rathausplatz, wo pünktlich um 22 Uhr das Feuer entzündet wurde.
Marek und die anderen umrundeten die Absperrung und schon tauchten sie in das geschäftige Markttreiben ein. Die Straßen waren gesäumt von den bunten Ständen der Händler. Dazwischen wuselten die Kunden in fröhlicher Unruhe durcheinander. Marek durchfuhr ein Hauch von Nostalgie, während er die Szenerie auf sich wirken ließ. Es war genau wie damals in Wien, als er mit Sebastian über den Wiener Naschmarkt geschlendert war.
An den Buden roch er die verschiedenen Düfte. Als sie am Stand des Bäckers vorbeigingen, duftete es verführerisch nach frisch gebackenem Brot. An einem anderen Stand mischten sich die Gerüche verschiedener Gewürze miteinander. Es roch nach Blumen, gebrannten Mandeln und Zuckerwatte.
Ein Mann mit einer antiken Jahrmarktorgel stand an einer der Ecken und spielte verschiedene Melodien. Um ihn herum tummelten sich Kinder, deren Eltern den Orgelklängen zuhörten. Auch Marek blieb stehen und lauschte dem melodischen Summen. Wie zarte Schleier umhüllten ihn die Klänge des Instruments und riefen in ihm einen bunten Wirbelwind aus Kindheitserinnerungen und längst vergessenen Träumen hervor. Sein Blick fiel auf ein altes Pferdekarussell, das direkt daneben aufgebaut war und sich scheinbar im Takt der Orgel bewegte.
Craig winkte einer Verkäuferin, die hinter einem Gemüsestand wartete, und ging darauf zu. Marek folgte ihm.
„Hallo Barbara, wie laufen die Geschäfte?“, erkundigte er sich lächelnd bei ihr.
Marek musterte sie. Eine Frau Mitte fünfzig. Feine Gesichtszüge, braune freundliche Augen und ergrautes Haar, das wohl einmal schwarz gewesen sein musste.
„Ich kann nicht klagen. Es hat sich rentiert und wie du siehst, sind wir fast ausverkauft.“ Sie deutete mit ihrer Hand auf die Holzkörbe, in denen nur noch vereinzelt Gemüse lag.
Ein junger Mann bediente am anderen Ende des Stands einen Kunden.
„Wo ist Anton?“, fragte Craig, der den Mann betrachtete.
Sie folgte seinem Blick. „Du kennst meinen Bruder. Er ist gestern verschwunden und noch nicht wieder aufgetaucht. Wer weiß, in welchem Bett er gerade liegt. Zum Glück arbeitet Jack seit einigen Wochen bei uns.“ Sie lachte vergnügt auf und winkte ab.