grosse schwester, kleiner bruder - Lise Gast - E-Book

grosse schwester, kleiner bruder E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Das Leben ist für Renate nicht immer einfach. Sie lebt zusammen mit ihrem acht Jahre jüngeren Bruder Christian in einem Städtchen im Harz. Die beiden sind völlig auf sich alleine gestellt. Renate muss für den Lebensunterhalt beider aufkommen, weshalb sie vormittags als Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt arbeitet und nachmittags Gymnastikunterricht gibt. Trotzdem ist die Zweiundzwanzigjährige eine lebensfrohe Frau. Dass sie für Christian die Mutterrolle übernommen hat, war für sie ganz selbstverständlich und hatte nichts mit Aufopferung zu tun und nie hat sie sich die Frage gestellt, ob es anders sein sollte. Doch dann macht Renate eine Begegnung, die ihr Leben schlagartig verändert. Sie muss eine schwere Entscheidung treffen: Pflicht oder Liebe?-

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Lise Gast

grosse schwester, kleiner bruder

Erzählung

Saga

Grosse Schwester, kleiner Bruder

© 1967 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509470

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Der letzte gongschlag war verdröhnt, renate, die zuletzt selbst mitgesprungen war, um die ermattenden Schülerinnen anzufeuern – hopp und hopp und hopp! –, strich sich mit dem Unterarm über das Gesicht und lachte, während sie Schlegel und Tamburin sinken ließ. Die Uhr des Petrikirchturms, die man durch das Gartenfenster sehen konnte, zeigte zehn nach vier. Sie konnte also aufhören.

»Genug für heute, meine Damen«, sagte sie atemlos. Es wirkte auf ihre Schülerinnen immer ein wenig tröstlich, wenn sie nach der Springerei knapp bei Atem schien, ebenso, wenn sie sich über das Gesicht strich. Warum sollte man nicht solche unschuldige Tricks anwenden, die einen beliebt machten? Dabei war es ja kein Wunder, daß sie selbst mit ihren zweiundzwanzig Jahren mühelos das schaffte, was Vierzigjährige schnaufen ließ, die lediglich Gymnastiksrunden nahmen, um ein wenig Gewicht zu verlieren.

»Haben Sie Zeit, Fräulein Hollriede?« Richtig, das war wieder Frau Nestler. »Ich würde Sie gern noch zu einem Täßchen Kaffee einladen. Sie geben sich immer so viel Mühe mit uns!«

Renate lächelte. Jeden Donnerstag mußte sie ihre Absage in ein anderes Gewand kleiden, um nicht unhöflich zu erscheinen. Im Grunde hätte sie nach der Anstrengung der Stunde recht gern bei ›Kleine‹, der Konditorei der Stadt, den berühmt guten Kaffee getrunken und dazu reichlich Kuchen gegessen. Ihrer Figur hätte das wahrhaftig nicht geschadet. Aber es kam natürlich nicht in Frage. Erstens läßt man sich nicht von einer Schülerin einladen. Und zweitens Christians wegen. Er sollte Butterbrot und Milch vespern und sie schlemmen? Ausgeschlossen.

»Ich muß leider zu Fräulein Menzler, furchtbar schade«, sagte sie liebenswürdig, »sie erwartet mich. Es geht ihr im übrigen besser. Vielleicht gibt sie die nächste Stunde schon wieder selbst.«

»Ach!« Frau Nestler lächelte zurück. Dieses »Ach« war ein diplomatisches Meisterstück und stand genau auf der Kippe zwischen freudigem Begrüßen der Genesung der einen und Bedauern über den Verlust der andern Lehrerin. Renate sann darüber nach und nahm sich vor, von Frau Nestler zu lernen. Nicht, wie man sich selbst betrügt, indem man sich mit einer einzigen Wochenstunde Gymnastik moralisch freikauft für sechs Konditoreibesuche, sondern wie man gleichzeitig betrübt und erfreut sein kann mit einem Wort. Mit einem einzigen »Ach«.

Renate war aus dem Tanzsaal des Gasthauses, in dem sie noch immer behelfsmäßig turnten, in eine der Nischen getreten, die wohl für Paare, die sich etwas Ernsthaftes zu sagen hatten, an der Wand entlang eingebaut waren, und zerrte den Gymnastikkittel über den Kopf. Ihr Kleid hing an einer Südseemaske, die von der Wand herabgrinste, nachts wahrscheinlich bengalisch beleuchtet. Es war scheußlich, daß man hier nach der Stunde nicht brausen konnte, auch sie, obwohl sie nicht schwitzte. Die andern schwitzten um so mehr, schienen eine Ehische aber nicht einmal zu vermissen. Sie wollte gelegentlich mit der Gestrengen sprechen.

Ach ja. Ihr Besuch bei der Vorgesetzten und Gönnerin war keine Ausrede. Leider. Sie mußte zu ihr hin, und zwar sofort. Christian würde wieder einmal allein vespern müssen; wenn man zur Audienz befohlen war, kam man nicht unter anderthalb Stunden davon.

Renates Bewegungen waren langsamer geworden. Endlich stand sie, den Gürtel ihres Kleides noch in der Hand, und starrte die Maske an. Du grinsender Teufel, Schadenfreude ist die reinste Freude, nicht wahr? Du brauchst keine Besuche zu machen.

Die Frauen waren schon gegangen, als sie wieder in den Saal hinaustrat. Sie stieß noch ein drittes Fenster auf. Zwei hatte sie schon während der Stunde geöffnet. Ein leichter Dunst lag über dem Saal. Dunst nach verschüttetem Bier, kaltem Rauch, geöltem Fußboden und überanstrengten, nicht mehr ganz jungen Körpern. Sie mußten andere Räume bekommen, auch wenn es jetzt auf den Sommer zuging und man wieder im Freien würde arbeiten können.

Renate gab sich einen Stoß und zog ihr Jäckchen an. Als sie durch die Straßen radelte, fühlte sie mit einem gewissen Genuß, was für ein Gesicht sie machte. Ein verdrießliches, müdes, unlustiges. Sie war unlustig. Und es tat so gut, einmal so aussehen zu dürfen, wie man sich fühlte. Sonst mußte man immer das Berufsgesicht machen, verbindlich und mit jenem Lächeln, das einen selbst anwiderte.

Vormittags war dies leichter durchzuhalten. Zahnarztpatienten tun einem stets leid, und Dr. Karsten war ein angenehmer Chef. Er war gleichmäßig freundlich zu Mann, Frau oder Kind, auch zu ihr, seiner Sprechstundenhilfe. Sie arbeitete gern bei ihm, obwohl, nein, weil er völlig neutral zu ihr stand. Aber ein wenig menschlich interessierter könnte er manchmal sein!

Hier zuwenig, dort zuviel. Was Dr. Karsten, ihr Vormittagschef, vermissen ließ, hatte Fräulein Menzler zuviel. Renate seufzte. Sie begriff nicht, wie eine Frau, die soviel konnte, die eine so ausgeglichene, schöne Tänzerinnenfigur besaß, so uneins mit sich selbst sein konnte. So gar nicht ausgeglichen, so gar nicht straff. Immer gab sie sich nach, nie konnte man fest mit ihren Anweisungen rechnen. Dabei war sie, Renate, sicher, daß Fräulein Menzler sie gern hatte, an ihr hing.

Das war beinahe das schlimmste. Obgleich sie natürlich sonst diese Vertretungsstunden nie bekommen hätte. Sie konnte noch zuwenig dafür. Aber Fräulein Menzler verteilte ihre Gunst wahllos und nahm sie ebenso wahllos wieder zurück, wenn es ihr nicht paßte. Schrecklich, einen solchen Menschen als Vorgesetzten haben zu müssen! Nein, da war Dr. Karsten Gold dagegen.

Renate war angekommen. Sie lehnte das Rad im Vorgarten an das Mäuerchen, das seitlich der Treppe den Aufgang flankierte, und stieg hinauf, bemerkenswert langsam. Dabei ordnete sie mit einiger Mühe ihre Gesichtsmuskeln. Es war nötig. Auf dem ersten Treppenabsatz versuchte sie Ärger und Mißmut zu verwischen, auf dem zweiten probierte sie ein Lächeln. Es war noch etwas krampfhaft. Vor der Tür mit dem Schild »Anita Menzler – neuzeitliche Gymnastik« atmete sie tief und systematisch und dachte an etwas Schönes, ganz schnell; an was nun gleich? An Christian, wie er neulich gestrahlt hatte, als sie ihm das Vergrößerungsglas mitbrachte. Und als sie auf ihr Läuten drinnen den Schritt der Gestrengen hörte, war es ihr wirklich gelungen, strahlend auszusehen.

Ach, vergebliche Liebesmüh! Das Strahlen erlosch, als die Tür aufging. Renate erkannte sofort, was es geschlagen hatte. In Fräulein Menzlers Augen war dieses gefährliche, eiskalte Glitzern, das sie mehr als alles andere fürchtete. »So, kommen Sie doch noch?« war die halblaute Begrüßung.

Renate setzte zu einer Antwort an. Sie hob dabei das Handgelenk – übrigens eine nutzlose Geste. Die Uhr lag zu Hause, wann würde sie sie zur Reparatur bringen können? Ach, da gab es so unendlich viel Wichtigeres!

»Ich habe bis zehn nach vier unterrichtet.«

»So. Wahrscheinlich wieder unpünktlich angefangen. Fräulein Hollriede, ich habe schon häufig bereut, daß ich Sie, gerade Sie ...«

Renate wußte alles, was jetzt kam, auswendig. Wie oft hatte sie gestanden, den Kopf gesenkt, das Gesicht möglichst verborgen, und sich immer wieder beschworen: Schweig! Laß sie reden. Es geht vorbei. Sie droht nur. Du bekommst die Stunden weiter. Ruhe, Ruhe ... Sie konnte es nicht zählen, wie oft. Heute aber war ein Faden gerissen. Fräulein Menzlers Stimme tat ihr körperlich weh, so sehr, daß sie am liebsten die Hände vor die Ohren geschlagen hätte: ich kann, ich kann es nicht mehr hören!

Sie tat es nicht. Es wäre auch unverantwortlich gewesen, das Ende ihres Nachmittagsberufs. Renate brachte es über sich, diese Bewegung zu unterdrücken. Eins aber gelang ihr nicht: die Tränen zurückzuhalten. Sie, die sehr selten weinte, fühlte, wie heute und hier keine Beherrschung half. So stand sie, die Hände geballt an den herabhängenden Armen, die Augen geschlossen, aus denen die Tränen liefen. Gesagt hatte sie nichts außer ihrem ersten Satz. So, Unheil, nun nimm deinen Lauf, dachte sie, verzweifelt und ergeben in einem.

Und da kam die Rettung. Sie kam, wie so oft, von einer Seite, von der man sie nicht erwartet hatte. Fräulein Menzler, die selbst bei jedem geringfügigen Anlaß weinte, unbeherrscht, ja, sicher oft absichtlich, um Mitleid zu erregen – Fräulein Menzler stutzte vor diesem stummen Weinen und brach ab. Sie schwieg, vielleicht eine Minute lang. Renate wagte nicht aufzusehen. Was kam nun?

Nein, es kam nichts Schlimmeres. Es kam ein plötzliches, überschwengliches, übersüßes Bedauern, aber doch ein Bedauern, das leichter zu ertragen war als die schrillen Drohungen vorhin. »Kindchen, nein, aber Kindchen!«

Renate kannte auch das. Sie ließ sich in das Zimmer hineinschieben, auf den Diwan setzen, das Jäckchen von den Armen ziehen. Sie ließ sich trösten und streicheln – letzteres war auch schwer zu ertragen. Obwohl sie merkte, daß es Fräulein Menzler in diesem Augenblick gut mit ihr meinte. Regen und Sonnenschein. Renate ließ, betäubt und kraftlos, den Redestrom über sich hinlaufen. Fräulein Menzler ging umher und redete und redete, während sie die elektrische Kaffeemaschine in Gang setzte und Gebäck und Kuchen herbeibrachte.

Renate putzte sich die Nase und wischte sich die Wangen ab. Sie spürte auf einmal, wie müde sie war. Kein Wunder, sie mußte morgens zeitig aufstehen, um Christian zu versorgen, für ihn vorzukochen, seine Sachen einigermaßen in Ordnung zu halten und ihre zwei kleinen Zimmer zu richten. Dann Sprechstunde bei Dr. Karsten, dann fix heim, damit Christian beim Essen Gesellschaft hatte. Sehr oft gelang das nicht, er hatte manchmal bis zwei Uhr Schule. Aber mitunter wollte sie ihn ja auch wach sehen, nicht nur morgens als verstrubbelten Kopf halb unter der Bettdecke, oder abends, müde von seinem langen Tag, auch meist schon wieder im Bett. Als sie ihm die schöne Lederhose gekauft hatte, Anfang dieses Frühjahrs, hatte sie ihn wochenlang nicht darin bewundern können; es hatte einfach nie geklappt.

Sie lebten aneinander vorbei, damals war ihr das erst richtig zum Bewußtsein gekommen.

Die meisten Menschen lebten heutzutage aneinander vorbei. Aber es war herzlich schade, daß es so war, daß man hier saß und sich von seiner Chefin zur Abwechslung einmal mit Kaffee und Kuchen verwöhnen ließ, während doch eine gemeinsame, einfachere Vesperviertelstunde mit Christian viel schöner gewesen wäre. Plötzlich – vielleicht war das auf den ausgezeichneten Kaffee zurückzuführen, der mutig machte –, plötzlich merkte Renate, daß sie davon sprach. Hatte Fräulein Menzler gefragt? Vielleicht ja, in ihrer uninteressierten, konventionellen Art: »Was macht eigentlich Ihr Brüderchen?« oder so ähnlich. Renate hörte sich erzählen. Sie erzählte genau das, was sie gerade gedacht hatte: daß es so schade sei, aneinander vorbeizuleben, da man doch niemanden als einander habe – sogar das sagte sie. Ich muß nicht recht bei Sinnen sein. Diesen Satz nimmt sie mir bestimmt todübel! ging es dumpf durch sie hin, denn Fräulein Menzler betonte immer mit zuckriger Freundlichkeit: »Nicht wahr, Renatchen, Sie gehören zu mir.«

Aber, Wunder über Wunder, Fräulein Menzler wurde nicht spitz, auch nicht scharf. Sie sah die Jüngere mit einem warmen Blick ihrer hellblauen, ein wenig vorstehenden Augen an und sagte: »Nein, das tut mir aber leid! Da sitzt er allein daheim, der Junge? Das geht nicht. Wir rufen ihn an. Er soll sofort herkommen.« »Wie lieb von Ihnen«, sagte Renate mechanisch, »aber wir haben kein Telefon. Natürlich nicht, wie sollten wir!«

»Nein, selbstverständlich!« Fräulein Menzler schlug sich vor die Stirn. »Aber vielleicht ist eins in Ihrer Nähe, das man benutzen könnte?«