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Schimmel ist ein lustiges und quirliges Mädchen, voller Phantasie und Lebensfreude. Eigentlich heisst das sechzehnjährige Mädchen Inge, doch wegen ihrer weißblonden Haare wird sie Schimmel genannt. Sie verreist mit ihren jüngeren Geschwistern um den ältesten Bruder zu besuchen, der in einem Landerziehungsheim wohnt. Als Schimmel jedoch ein Geheimeins über ihre Familie erfährt, verändert sich ihr Leben komplett... Eine wunderschöne Geschichte, die in sanften Tönen über die Lieblichkeit des Lebens berichtet.Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-
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Seitenzahl: 309
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Lise Gast
Mädchenroman
Saga
Grosse Schwester Schimmel
© 1965 Lise Gast Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509463
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Eigentlich hätte Schimmel mit der Bahn fahren sollen, um die beiden kleinen Zwillingsschwestern aus dem Kinderheim abzuholen und nach Hause zu bringen; nun aber saß sie auf dem Rad und rollte die Landstraße entlang. Die Mutter war zuerst mit dem Plan nicht ganz einverstanden gewesen, obwohl Schimmel ihr die Billigkeit des Radfahrens immer wieder vorgehalten hatte, schließlich aber hatte sie die Fahrt genehmigt, um ihrer großen Tochter nicht die Freude zu verderben. So würden die Zwillinge also nicht eigentlich abgeholt, sondern in Harzburg nur mit den von Schimmel gepackten Koffern in die Bahn gesetzt werden; aber weil die Bahnfahrt ohne Umsteigen möglich war, würde man die beiden Zehnjährigen schon allein nach Holdershausen reisen lassen können, und Schimmel machte eine vergnügliche Sommerfahrt.
Schimmel – eigentlich hieß das sechzehnjährige Mädchen zwar Inge, jedoch ihre weißblonden Haare hatten ihr schon als kleinem Kind den Spitznamen eingebracht, der nun seit langem ihren schönen Rufnamen völlig verdrängt hatte, sie strampelte die Landstraße entlang, bis sie Hunger bekam. An einer Straßenkreuzung setzte sie sich an den Graben und betrachtete, ein Wurstbrot kauend, die Landkarte. Ja, sie würde doch zu Uli, dem älteren Bruder im Landerziehungsheim, fahren. Eigentlich war der Umweg nur ein Katzensprung; und sie mußte über sich selbst lachen, weil sie noch zögerte; denn im Grunde war ihr Entschluß ja längst gefaßt gewesen. Zu Hause schon!
Er war zwei Jahre im Internat, der Uli; noch ehe die Mutter und die übrigen Geschwister nach dem Krieg eine rechte Heimat gefunden hatten, war er dorthin gekommen. Jetzt lebten sie in Holdershausen, der Heimat ihres gefallenen Vaters, bei den Großeltern auf dem Gut. Großvater war so lieb und gütig, und „Neuchen“ ein wahres Prachtexemplar. Obwohl sie gar nicht großmütterlich war, nicht die Spur, dabei war sie ja auch nicht die richtige Großmutter, sondern die zweite, die „neue“ Frau von Großvater, viel jünger als er und so liebenswert in ihrer rheinländischen Lebhaftigkeit! Neuchen war es auch gewesen, die Schimmel zugeredet hatte, die Zwillinge aus dem Kinderheim zu holen, damit alle Kinder, außer Uli, wieder daheim beisammen wären. Ursprünglich hatte der „Familienrat“ beschlossen, die beiden Kleinen in ein Heim zu stecken, um nicht alle Kinder auf einmal auf die armen Großeltern loszulassen. So waren bisher nur Schimmel, Brita, die mit ihren zwölf Jahren schon zu den Großen zählte, und Johannes nach Holdershausen gekommen. Johannes, der kleine Punkt, hatte sich sofort bei Großvater einen ersten Platz im Herzen gesichert. Ach, er hatte viel entbehren müssen, in den fünf Jahren seines Lebens, infolge Krieg und Hunger, durch den Verlust des Vaters. – Was würde aus ihnen allen einmal werden?
Schimmel war wieder aufgestiegen und radelte, in Gedanken versunken, der kleinen ehemaligen Herzogsstadt zu, in der Uli wohnte. Plötzlich mußte sie über ihr eigenes sorgenvolles Herz lachen. Mutter hatte schon recht: Wer keine Sorgen hat, macht sich welche. Freilich kam das wohl auch daher, daß Mutter sich vielleicht zu wenig Sorgen machte. Mutter sagte bei allem: Das wird schon gehen! – und darüber ärgerte sich Schimmel oft. Aber das war dumm, wie sie sich jetzt wieder einmal klar machte, jetzt, da sie über die trockene Landstraße dahinrollte, ohne unmittelbare Sorgen, den Geschwistern entgegen, satt gegessen und in ihrem neuen Dirndelkleid, das so hübsch geworden war mit weißen bauschigen Ärmeln und einem roten Rock, der weithin wie ein Fanal des Sommers leuchtete. Es würde schon alles gut gehen. Schließlich war sie selbst auch noch da und sie würde die Zwillinge schon im Schach halten, damit sie Neuchen und den Großvater mit ihrer Lebhaftigkeit nicht verärgerten.
Schimmel hatte ein starkes Tempo vorgelegt und fuhr am zeitigen Nachmittag in die kleine Stadt ein, fragte sich nach Ulis Schule durch und stieg an einer Straßenecke vor dem Heim der Jungen vom Rad, um sich ordentlich zu machen. Uli sollte durch seine Schwester nicht blamiert werden, sagte sie sich, als sie in den Spiegel sah. Ihr weißblondes Haar ringelte sich ein bißchen zu wild um das Gesicht. Sie versuchte, es glatt zu streichen. Ihre Backen waren jetzt nach der Fahrt rot wie Klatschmohn, leider rot und nicht braun. Schimmel gehörte zu der Sorte Menschen, deren Haut immer nur rot wird, während Uli sozusagen am ersten Sonnentag des Jahres braun wurde, haselnußbraun. Ach ja, beneidenswert war das, aber man konnte es nicht ändern, und schließlich: geradezu häßlich war sie nun auch wieder nicht. Mit sechzehn ist jeder Besen hübsch, sagte Neuchen immer. Übrigens war „Besen“ ein zu harter Ausdruck, alles was recht war.
Das Heim lag mit der Front an der Straße, aber an beiden Längsseiten zog sich ein Garten hin. Weiße Birkenstämme und Gebüsch und ein Rasen, von vielen Jungenfüßen zertreten und zerstampft. Schimmel gab sich einen Ruck und klingelte. Sie mußte sich immer überwinden, ehe sie das erstemal an einem ihr unbekannten Haus klingelte. Ein jüngerer Mann in kurzer Hose und einem Janker öffnete ihr. „Gerstenberg“, sagte er und drückte ihr die Hand so hart, daß sie die Zähne ein bißchen zusammenbeißen mußte. Dann lachte er. Schimmel nannte ihren Namen.
„Ach, das ist natürlich die Schwester von Uli Goetz! Nur herein, wir haben hier gar keine Mädel, da freuen wir uns immer, wenn eins kommt. Ich bin nämlich Ulis Klassenlehrer.“
Das war ein freundlicher Empfang. Gerstenberg rief „Uli!“ durchs Haus, daß es in dem hellen, kühlen Flur hallte, und brachte Schimmel in ein einfach eingerichtetes Besuchszimmer.
Schimmel setzte sich in einen schilfgeflochtenen Sessel und streckte ihre müden Beine lang. Nun merkte sie doch die vielen geradelten Kilometer.
Gleich darauf trat Uli ein; er mußte sich ein wenig bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen. Nein, wie unmöglich lang er war! Auch Gerstenberg, der keineswegs klein zu nennen war, wirkte neben ihm wie ein Zwerg.
„Du wächst ja immer noch“, sagte Schimmel statt einer Begrüßung ordentlich stolz. Der Bruder hatte Vaters klares, gescheites Gesicht und Mutters dichtes Haar. „Ich will Plisch und Plum heute abholen und nach Holdershausen befördern, und da habe ich einen Abstecher zu dir gemacht. Mit dem Rad, es ist doch so schön draußen!“
„Die lange Strecke mit dem Rad? Na, großartig, kleines Fräulein“, sagte Gerstenberg. „Sie wollen tatsächlich heute schon weiter? Das ist aber schade, wo doch morgen Sonntag ist und wir so viel unternehmen könnten.“
Er ließ dann die beiden Geschwister allein, die sich nun viel zu erzählen hatten. Seit ihrer frühesten Kindheit bestand ein sehr gutes Verhältnis zwischen ihnen, und Schimmel empfand die Trennung von dem Bruder oft als sehr hart. – Damit Schimmel daheim berichten konnte, wie Uli lebte, durfte sie flink einmal in seine Stube gucken: sechs Doppelbetten, zwölf Spinde, alles nüchtern und einfach; aber seine Mitschüler waren nette und frische Jungen, die alle sehr höflich grüßten, so daß sie etwas verlegen wurde.
Als Gerstenberg wiederkam, versuchte Schimmel zu erklären, warum sie weiter müsse. Sie wurde fast ein bißchen nervös, denn sie fürchtete, daß der junge Lehrer ihre eigenen Pläne über den Haufen werfen könnte. Aber sie mußte unbedingt heute noch den kleinen Harzort erreichen, wo die Zwillinge waren; es gab doch vielerlei zu packen und zu erledigen.
„Nur die Buchhandlungen hätte ich noch gern gesehen“, schloß sie ein wenig ärgerlich; „wir wohnen auf dem Lande und haben gar nichts Derartiges. Aber auch das darf nicht lange dauern!“
„Natürlich, Sie wollen in die Stadt. Weißt du, Uli, du läßt dich vom Direktor beurlauben und fährst natürlich mit. Und ich wollte sowieso nachher in die Stadt, da schließe ich mich euch an, wenn ihr damit einverstanden seid. Dann sind wir einmal ganz furchtbar leichtsinnig. Vielleicht nehmen wir auch eine Konditorei mit?“ Es war ihm nicht zu widerstehen. Schimmel mußte sich fügen. Als die beiden dann vom Direktor zurückkamen, hatte nicht nur Uli sich seinen Urlaub erfochten, sondern auch Gerstenberg. Mit dem strahlendsten Lächeln verkündete er: „Wissen Sie was? Wir haben uns beide bis morgen abend frei geben lassen. Das Wetter ist schön, wir alle sind so jung, da fahren wir mit in den Harz. – Aber erst genießen wir die Großstadt. Ja, das müssen wir, wo doch gerade der Erste gewesen ist!“
Schnell hatten die Männer ihre Sachen zusammengesucht, und dann radelten sie zu dritt der Stadt zu.
„Ich werde Buchhändlerin, jedenfalls ist das mein größter Wunsch“, erzählte Schimmel, als sie vor dem ersten Buchladen abstiegen; „deshalb will ich auch unbedingt das Abitur machen.“ Sie traten in den Laden, und Schimmel war für eine Viertelstunde für die anderen verloren. Was gibt es Schöneres, als in Büchern zu kramen, Titel zu lesen und Zeitschriften durchzusehen? Wahrscheinlich hätte sie den ganzen Nachmittag so verbracht, wenn die beiden Männer nicht erst sanft, dann dringlicher gemahnt hätten. Gerstenberg kaufte eine Harzkarte, Schimmel verließ den Laden hochbeglückt, sie hatte auch Verschiedenes bestellt. „Für Weihnachten“, sagte sie und verstand nicht, daß die beiden anderen laut lachten: Im Juni Weihnachtsbesorgungen! „Aber wir sind eine große Familie, da muß man zeitig anfangen“, sagte sie halb entschuldigend, halb verlegen; „jeder muß doch ein Buch haben, das ist bei uns so üblich.“
Während die Geschwister sich in einem Café stärkten, erledigte Gerstenberg geschwind seine Besorgungen. Und dann machten sie sich gemeinsam auf die Fahrt.
Schimmel war froh, daß die beiden mitfuhren. Nun brauchte sie sich nicht vor den fremden Schwestern zu fürchten, bei denen die Kleinen vier Wochen verbracht hatten. Munter ging die Unterhaltung von Rad zu Rad. „Wo gehen Sie in die Schule“, fragte Gerstenberg.
„Augenblicklich gar nicht; aber ich hoffe, ich komme nach den großen Ferien wieder rein, wenn auch bei uns die Gelegenheit sehr ungünstig ist.“ Sie schilderte ihren Wohnort, das einsame, wunderschön gelegene Gut Holdershausen, fünf Kilometer von der Kreisstation entfernt, und diese wieder zehn Kilometer von der Kreisstadt, in der die höhere Schule war. Gerstenberg hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts weiter, und so fuhren sie manchen Kilometer dahin, sich nur ab und zu einmal ein fröhliches Wort zurufend. Die Sonne brannte jetzt, die Landschaft wurde hügeliger, und manchesmal mußten die drei von den Rädern absteigen und schieben. Aber schön war’s dann wieder, wenn man mit Freilauf bergab rollen konnte. Als sie sich für eine Weile im Gras lagerten, um ein bißchen zu verschnaufen – weit ging der Blick über das Land dahin, über Felder und Wiesen, über Dörfer, die mit ihren leuchtenden Farben so friedlich dalagen –, da nahm Gerstenberg das frühere Gespräch wieder auf: „In Harzburg ist ein ähnliches Heim wie unseres, für Mädel, sozusagen ein Schwesterunternehmen. Dort könnten Sie doch hin, wenn Sie gut in der Schule sind. Vielleicht bekommen Sie auch – wie so viele Schüler heutzutage – eine Ermäßigung, besonders da Uli ja auch auf die höhere Schule geht. Ein solches Internat ist ja nicht mehr so wie früher ausschließlich eine Angelegenheit für vermögende Leute. Ich kenne den Leiter dort und könnte gut mit ihm sprechen.“ – „O Herr Doktor“, sagte Schimmel mit weit aufgerissenen Augen, „das wäre ja großartig! Wird man da ohne Schwierigkeiten aufgenommen? Könnten wir nicht schon gleich einmal fragen?“ –
„Das können wir gern, ich werde nachher einmal hingehen‘, sagte er freundlich, „es wäre doch sehr schön für Sie. Das Heim liegt wunderbar, und Sie könnten sich öfter mit Uli treffen. Wir haben verschiedene Geschwisterpaare in den beiden Schulen. Aber kommen Sie denn so ohne weiteres von zu Hause fort? Eigentlich sind Sie dort doch wohl unentbehrlich.“ – „Aber wieso denn?“ fragte Schimmel und wurde dunkelrot.
„Nun, ich meine, Ihre Mutter hat in Ihnen doch wohl ein rechtes Hausmütterchen. Ob sie das entbehren kann?“
„Ich muß aber doch etwas werden“, sagte Schimmel erschrocken; „wir Mädel müssen doch alle einen Beruf haben.“ – „Ich kann das verstehen“, sagte er freundlich; „und wenn Ihnen daran liegt, spreche ich mit dem Direktor. Die Gelegenheit ist doch sehr günstig.“ –
Es war Abend, als sie in Harzburg ankamen. Sie fuhren gleich in das Kinderheim. Gerstenberg klingelte und sprach mit der öffnenden Schwester. Schimmel stand hinter ihm, während Uli an der Gartentür bei den Rädern geblieben war. Und dann hörte Schimmel, wie die Schwester rief: „Sagt Petra und Claudia Goetz, ihre Eltern seien da, sie abzuholen.“ Gerstenberg lachte; Schimmel war das doch etwas peinlich. Und dann überfiel sie plötzlich der schmerzliche Gedanke, daß die Kleinen niemals richtig wissen würden, was es heißt, Eltern zu haben. Einen warmen Unterschlupf, eine Mutter, die für sie sorgte, Geschwister, ja, die hatten sie, aber Eltern – nein, seit der Vater gefallen war, nicht mehr.
Da waren auch schon die Kleinen. „Sagt mal Guten Tag, ihr seht ja prächtig aus!“
Wirklich, sie hatten sich großartig herausgefuttert, die beiden Zehnjährigen. Petra oder Plisch, wie die ganze Familie sie nannte, strahlte vor Lebendigkeit und Frische, ihre Augen waren so dunkelveilchenblau wie bei keinem der anderen Geschwister, und ihre hellen Zöpfe ringelten sich an den Enden und im Nacken. Sie war sehr hübsch, vielleicht das hübscheste Kind der Familie. Das machte aber auch ihr Temperament. Sie war gleich mitten in einer wichtigen Erzählung, Schimmel hörte nur halb hin und betrachtete dabei Claudia, die zweite.
Auch sie sah gut aus, braun und rotbäckig, dunkler im Haar, aber noch blond wirkend. Sie hatte als einzige dunkle Augenbrauen und darunter hellgraue, ein klein wenig auseinanderstehende Augen. Ganz besondere Augen übrigens: sie konnte sie aufschlagen, so scheinheilig und fromm, daß jeder darauf hereinfiel. Dabei war Plum wahrhaftig kein Tugendbold, sondern in einer Art noch wilder als Plisch und von einer Zähigkeit, sich ihre Freiheit zu sichern, daß selbst die Strenge einer großen Schwester daran scheiterte.
Das Heim war des Lobes voll über das Betragen der Zwillinge Gottlob!
Schimmel durfte über Nacht im Heim bleiben, während die beiden Männer in der Jugendherberge nächtigen wollten. Am anderen Morgen sollten die Kleinen dann in den Zug gesetzt werden und nach Holdershausen fahren, allein! Sie funkelten vor Wonne, als sie das hörten. Als die Männer gegangen waren, ließ sich Schimmel gern durch das Heim führen; sie bewunderte alles, die Turngeräte, den Eßraum, die Schlafsäle. Bis in die Nacht hinein stand Plischs Mundwerk nicht still, und auch Plum hatte viel zu erzählen. Schimmel ertappte sich immer wieder dabei, daß ihre Gedanken andere Wege liefen: Wenn es nun tatsächlich gelingen würde, in die Schule zu kommen, von der Gerstenberg gesprochen hatte?
„Du hörst ja gar nicht zu“, beschwerte sich Plum, und Plisch wollte genau wissen, durch welche Städte sie führen und wie man gehen müßte, wenn Brita vielleicht nicht auf dem Bahnhof wäre.
„Ich finde mich schon nach Holdershausen“, versicherte sie und war in Gedanken bereits auf der Reise. „Wir geben das Gepäck auf und laufen.“ – „Brita ist bestimmt an der Bahn“, sagte Schimmel und hörte nun wieder den Kleinen zu. „Sie holt euch mit dem Handwagen ab. Johannes kommt auch mit, er ist dort schon ganz zu Hause.“
Sie kam spät zum Schlafen; denn obwohl der Reisetag seit langem feststand, mußte noch vieles gepackt werden, Schimmel spürte die vielen Kilometer doch in ihren Beinen, und so kam sie lange nicht zur Ruhe. Das Wiedersehen mit Uli und den Zwillingen hatte manches wachgerufen, was sich im Lauf der Jahre und im Alltagsleben schon ein wenig verwischt hatte.
Uli und sie, die beiden Ältesten, hatten glücklicherweise noch eine lebendige Erinnerung an das Leben im Elternhaus vor dem Kriege in der rheinischen Großstadt, an die Wohnung nicht weit vom Strom und an die vielen grünen Uferanlagen. Der Vater hatte sein Architektenatelier in der Wohnung gehabt, und sehr selten, natürlich nur, wenn man artig war, durfte man mit ihm in den großen hellen Raum gehen, in dem so viele geheimnisvolle Papiere und Zeichnungen umherlagen. – Und dann kam der Krieg, der alles zerstörte. Das Haus verbrannte, ein Jahr später fiel der Vater.
Erst lange nach Beendigung des Krieges hatte die Mutter sich entschlossen, zu ihrem Schwiegervater auf das westfälische Gut zu ziehen. Man gibt nicht leicht eine Selbständigkeit auf, hatte sie einmal zu Schimmel gesagt, besonders nicht, wenn man fünf Kinder mitbringt. Nun war es doch gut gegangen, so gut, daß man es eben wagen konnte, die Zwillinge aus dem Kinderheim in das alte Gutshaus nach Holdershausen zu holen. – Schließlich schlief Schimmel ein; aber ihre letzten Gedanken waren doch beim Internat. Sollte sie wirklich noch einmal die Möglichkeit haben, ihre Schulbildung abzuschließen? Es wäre unwahrscheinlich schön!
*
Am nächsten Morgen stand Schimmel mit klopfendem Herzen neben Doktor Gerstenberg vor dem großen Internatshaus, das an einem Hang lag und dessen Garten in die wunderschönen Harzwälder überging. „Und wenn es hier nichts wird, will ich auch nicht meutern“, gelobte Schimmel sich. Sie gingen einige Stufen hinauf, und durch einen Windfang gelangte man in eine hohe getäfelte Halle. Dem Eingang gegenüber stand ein Flügel. Ein Mädel, wohl ebenso alt wie Schimmel, saß davor und spielte. Schimmel erkannte das Stück sofort, ein Impromptu von Schubert. Fast traten ihr Tränen in die Augen: wie oft hatte Vater es gespielt. Ob man hier auch Musikstunden haben konnte?
Sie wurden vor den Direktor geführt. Es war ein großer, breiter, älterer Herr mit Augen, die einem hätten Angst machen können – weil man merkte, daß sie durch und durch sahen –, wenn sie nicht so gütig geblickt hätten. Schimmel machte einen für eine Sechzehnjährige viel zu tiefen Knicks. Und dann hörte sie Doktor Gerstenberg sprechen! Wie gut, daß er hier war. Wieder wie schon oft in ihrem Leben fühlte sie, daß sie überall jemand fand, der ihr half, ganz von sich aus half.
Der Direktor hörte den jungen Kollegen freundlich und geduldig an. Sicherlich, es wäre schon möglich, das Mädel nach den großen Ferien aufzunehmen, probeweise zunächst, für vier Wochen. Sie müßten natürlich einen schriftlichen Antrag einreichen. Ob sie ihn schon mit hätten? Und einige Angaben der Mutter über die Lage der Familie seien auch notwendig.
„Meine Mutter weiß noch gar nichts davon“, stammelte Schimmel, als er schwieg. Sie sah ängstlich einen Augenblick auf, da bemerkte sie, daß es um den Mund des Gewaltigen zuckte, belustigt und wohlwollend. Er nahm es nicht krumm, im Gegenteil.
„Na, dann sprechen Sie mal schleunigst mit Muttern, das tut man eigentlich vorher“, sagte er gutmütig; „aber sagen Sie immerhin, der alte Direktor freut sich, daß es noch so mutige Frauenzimmer gibt. Meine Fürsprache haben Sie, und wenn Sie in der Schule so wacker sind wie im Leben, dann wird’s nicht fehlen.“ –
„Wir haben es geschafft!“ Doktor Gerstenberg lachte, als sie, Schimmel leicht taumelig vor Aufregung, gleich darauf den steilen Gartenweg hinunterliefen. „Wenn wir diese Fürsprache haben, kann es nicht mehr schief gehen!“
„Sie sind ein Optimist“, sagte Schimmel und fuhr sich übers Gesicht. „Von ‚geschafft‘ kann noch gar keine Rede sein! Wenn ich jetzt versage?“ –
„Sie und versagen“? rief der junge Lehrer entrüstet. „Das wäre ja noch schöner. Er sagt doch selbst: Wenn Sie in der Schule so wacker sind wie im Leben, geht alles großartig.“
„Sie überschätzen mich“, seufzte Schimmel, „alle überschätzen mich. Ohne Sie hätte ich mich gar nicht hergetraut.“
„Jetzt aber wird ein Eis gegessen, so wahr ich Karl Gerstenberg heiße.“ Gemeinsam berichteten sie dann Uli über den Hergang der Unterredung.
Während Uli und sein Lehrer sich ein wenig in der Stadt umhertrieben, fuhr Schimmel zu dem Kinderheim zurück, um die Zwillinge in Fahrt zu setzen.
Gemeinsam verbrachten sie dann die Mittagszeit, eingehend erörterte Schimmel noch einmal die ganze Lage mit ihrem Bruder, sie war glücklich, sich mit ihm, dem Vertrauten ihrer Kindheit, mal wieder aussprechen zu dürfen: die neue Heimat in Holdershausen, die Mutter, die sich ihrer Wesensart entsprechend mit ganzer Kraft der landwirtschaftlichen Arbeit zugewendet hatte, um dem langsam alternden Großvater zur Seite zu stehen, ihre eigene Stellung unter den Geschwistern, denen sie sich mehr als bisher widmen mußte, und schließlich ihre Berufshoffnungen. Sie hatten Gesprächsstoff genug und empfanden Gerstenbergs Anwesenheit dabei keineswegs als störend, im Gegenteil, er konnte manchen einleuchtenden Rat beisteuern. Mit Verwunderung bemerkte Schimmel dabei erneut das zwanglos kameradschaftliche Verhalten zwischen Uli und seinem Lehrer. Ob sie es auch einmal so schön haben würde? –
Und doch war ihr nicht ganz wohl zumute, als sie dann am Nachmittag wieder allein auf der Landstraße dahinradelte. Sie hatte sich von den beiden Männern getrennt, die wieder in ihr Heim zurückkehrten, während sie jetzt ohne Umweg unmittelbar auf Holdershausen zufuhr. Sie hatte kaum ein Auge für die sommerlich im Sonntagsfrieden daliegende Landschaft, die immer wieder an ihr vorbeihuschenden Autos und Räder vermochten sie nicht zu stören. Denn unaufhörlich ging es ihr im Kopf herum, was sie sich nun durch den Besuch bei dem Direktor eigentlich eingebrockt hatte, zumal da sie ja – abgesehen von allem anderem – große Lücken in ihren Schulkenntnissen hatte. Es war natürlich günstig, vier Wochen zum Probeunterricht kommen zu dürfen, viel besser, als eine Aufnahmeprüfung zu machen. Es sah wirklich so aus, als sollte es etwas werden.
Man soll sich nichts im Leben erschleichen wollen, hatte der Vater immer gesagt. Vater hatte sicherlich recht gehabt. Aber heute, wo die Verhältnisse so schwierig waren, wo es um die Zukunft ging, um die Ausbildung, um den Beruf? – Aber sie wollte ja auch arbeiten, wollte so fleißig sein wie nur irgendeine, sie wollte alles tun was nur irgend verlangt werden würde. – Als sie spät am Abend heimkehrte, waren schon alle zur Ruhe gegangen. lediglich die Mutter erwartete sie, der sie nun noch eingehend berichten mußte, von Uli, von Gerstenberg, von den Zwillingen. Es kam ihr wie ein Unrecht vor: aber von der Besprechung mit dem Direktor schwieg sie. –
Schimmel hörte den Wecker und tippte ihm wütend auf den Knopf, um die Glocke abzustellen. Sie war schrecklich müde. Gestern hatte sie noch so lange an der Fertigstellung der Girlanden und Sträuße gesessen, bis nach eins; Neuchen hatte schließlich energisch „Hüttenruhe“ geboten. Jetzt mußte sie aber schleunigst aufstehen. Eine reine Freude war das Aufstehen nicht immer; aber heute war ja ein großer Feiertag!
Ein ganz großer sogar: Großvaters siebzigster Geburtstag, dazu Sonntag und Sonnenwende. Auf, auf, es war höchste Zeit! Denn an diesem Tag ging die Sonne so zeitig auf wie sonst nie im Jahr, und Großvater war immer mit der Sonne wach. Sie aber wollten ihm zuvorkommen, sonst fiel der ganze Plan ins Wasser.
Schimmel huschte ins Bad und wurde nun völlig munter. Es war doch wieder ein herrliches Gefühl unter der Dusche zu stehen. Rasch die Haare durchgebürstet und hinüber zu den Kleinen! Na, das würde ein Theater geben, ehe man die wach bekam! Sie mußten hinterher wieder ins Bett, sonst würden sie überall nur Unheil anrichten. Schimmel ahnte dumpf, daß dieses „Ins-Bett-müssen“ wesentlich schwieriger sein würde als das an sich schon mühsame „Ausdem-Bett“. Denn wenn die Mädel erst einmal wach waren, waren sie meist allzu wach.
Brita zeigte sich am nachgiebigsten. Sie rutschte gutwillig aus dem kurzen Kinderbett und knotete sich die aufgegangenen Zöpfe im Nacken zusammen. Plisch knurrte wütend, als ihr Schimmel das Deckbett wegzog, und Plum fing sogar an zu weinen. Aber Plums Blockflöte war nicht zu entbehren; Schimmel bemühte sich, die Schwester durch gute Worte zu ermuntern, obwohl sie selbst etwas ungeduldig war.
Endlich standen sie alle zusammen im Flur, die Kleinen in den Nachthemden, Mutter im Bademantel, nur Schimmel angezogen. Du großer Schreck, jetzt hatte sie doch wirklich die Rosen vergessen!
Sie stürzte davon. Zum Glück war die Haustür schon offen. Der Rasen vor dem Haus war weiß betaut, und eine herrliche Luft schlug ihr entgegen. Ach, man konnte ja an einem so schönen Morgen nicht schlechter Laune bleiben!
Sie lief über das Rondell zu den Rosen, pflückte nur drei, die noch halbgeschlossen waren. Ihr war, als sehe sie zum erstenmal, wie überirdisch schön solche Knospen sind. Die Blätter wie zart gefaltet, mit silbernen Perlen an den Spitzen.
Ganz vorsichtig und beinahe feierlich kam sie zurück, die Rosen in der Hand, und es war, als würden die andern von ihr angesteckt. Sie zankten sich nicht mehr halblaut und stießen sich nicht gegenseitig um den angeblich besten Platz, sondern stellten sich lautlos vor Großvaters Tür auf, und dann gab Mutter den Ton an.
Großvaters Lieblingschoral: „Bis hierher hat mich Gott gebracht.“ Eigentlich müssen Choräle wohl tief und stark gesungen werden, aber das ging mit den Kinderstimmen nicht. Sie hatten ihn dreistimmig eingeübt, Mutter sang dritte Stimme, Schimmel zweite, und am schönsten klang der Gesang von Brita und Plisch, die zart und silbern die erste Stimme sangen, gehalten von Plums Flöte. Es klang so, wie die Luft draußen war und die Rosen, die Schimmel in der Hand hielt, neu und jung und zukunftsgläubig und dankbar. Schimmel fühlte, wie ihre Stimme zu schwanken begann. Es ging ja nicht nur Großvater an, dieses Lied: „Bis hierher hat mich Gott gebracht mit seiner großen Güte!“
Sie sangen drei Strophen. Dann, als sie schwiegen, ging die Tür auf und Großvater trat heraus. Er stand einen Augenblick im Licht der hinter ihm durchs Fenster fallenden Sonne; man sah nur seinen Umriß, golden überstrahlt. Schimmel ging ihm einen Schritt entgegen, und dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte und was in der Familie eigentlich nicht üblich gewesen war: sie küßte ihm die Hand. Und auf die alte, ein wenig runzlige und doch noch starke Männerhand fiel ein warmer Tropfen.
Großvater beugte sich zu Schimmel hinunter und küßte sie auf die Wange.
„Danke“, sagte er leise, „danke. Ihr meine Lieben, Lieben ...“ er schwieg. Dann warf Plisch sich ihm an den Hals, und die andern folgten. Großvater hob Johannes zu sich auf, den kleinen, dummen und nichtsahnenden Jungen, der den Namen des ältesten Sohnes trug, der auch Großvaters Name war, Johannes Goetz.
„Das habt ihr wunderbar gemacht, wirklich wunderbar“, sagte Neuchen und mußte sich geräuschvoll die Nase putzen; „ihr seid eine großartige Bande. Nein so was, niemand hätte im Leben daran gedacht, ich jedenfalls nicht. Jetzt aber wollen wir frühstücken, ganz unter uns, nur wir, ehe der Strom der Gäste hereinbricht.“
Schimmel und Brita liefen und sprangen. Es war noch früh am Morgen, und ehe die Mamsell und die Mädchen auftauchten, war das Feuer schnell in Gang gebracht, in einer Viertelstunde duftete es bereits bitter und stark nach Kaffee, und Neuchen erschien mit einer Riesenplatte Kuchen.
„Ich wollte ihn ja erst am Nachmittag anschneiden; aber nun muß ich es doch jetzt schon tun. Kommt, kommt. So schön haben wir es den ganzen Tag nicht wieder!“
Sie hatte wirklich recht! Jetzt war das Eßzimmer durchflutet von einer hellen, silbernen Sonne, und vor Großvaters Platz stand ein schönes Glas, in dem die drei Rosen funkelten.
„Schimmel, mein Kind“, sagte der Großvater leise, als sie alle schon fröhlich gegessen und getrunken hatten, „drei Rosen hast du mir gebracht. Drei Kinder habe ich gehabt. Maria lebt noch. Euer Vater ist gefallen, er lebt in Uli fort, mit dem Namen, und, so Gott will, auch im Geist. Johannes, mein ältester ist in Rußland vermißt, niemand weiß von seinem Schicksal. Vielleicht lebt er noch –“ Großvater schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er ruhig und in seiner milden, gütigen Art fort: „Ob er lebt oder nicht, ihr habt euern jüngsten Sohn nach ihm genannt. Aber nicht nur in den Söhnen und in den Namen lebt das Blut der alten Familie, auch in den Enkelinnen, Schimmel und Brita, Petra und Claudia.“
Sie schwiegen alle.
„Daß ihr da seid und da bleibt, nie werde ich dankbar genug sein können“, schloß Großvater still und legte seine Hand auf die seiner Schwiegertochter. –
Es wurde ein unruhiger Festtag. Alle halfen nach Kräften, auch Schimmel und Brita taten, was sie konnten; aber es gab doch eine Anzahl schwieriger Situationen. Denn es kam viel Besuch. Die ganze Umgebung wallfahrtete nach Holdershausen, und die Kleinen liefen unbeaufsichtigt dazwischen umher. Johannes war eine Zeitlang verschwunden; Brita fand ihn schließlich in der Speisekammer, wo er Kuchen und Wurst in sich hineinstopfte. Sie schalt und führte ihn ab, während Neuchen nur lachte. Mochte der Bengel nur essen! Am Nachmittag kam Uli; er war mit dem Rad gefahren und wollte am Abend wieder fort, aber dagewesen wollte er eben doch sein. Er brachte einen Aufsatz mit, für den er einen ersten Preis erhalten hatte. Der Aufsatz war sogar gedruckt und honoriert worden.
Mitten in die Aufregung hinein, die diese Neuigkeit verursachte, platzte neuer Besuch, sehr zu Schimmels Ärger, denn sie fürchtete, daß Ulis Verdienst dadurch geschmälert werden könnte. Uli selbst jedoch war es viel lieber so, wie man deutlich merkte; er war kein Mensch, der mit seinen Erfolgen „angab“. Daß er Großvater gerade an diesem Tage eine Freude hatte machen können, freute ihn, damit aber auch genug.
So ging der Nachmittag hin. Man tanzte viel, denn es kam viel neuer Besuch; auch Neuchen tanzte manchen Walzer und Rheinländer.
Schimmel dachte mit Kummer daran, daß Uli bald wieder aufbrechen müßte. Viele Kilometer lagen vor ihm, und er sollte am anderen Morgen wieder in der Schule sitzen.
„Mache dir keine Gedanken, die Nacht ist lang“, sagte er, „und dann ist’s auch kühler. Einen so schönen Tag muß man genießen. Hast du übrigens mit Mutter gesprochen? Was sagt sie denn zu unserm Plan mit der Harzburger Schule?“
Sie tanzten gerade den Walzer „Die schöne blaue Donau“, linksherum und rechtsherum, Schimmel sah im Drehen zu ihm auf.
„Ich habe noch nichts davon gesagt, so feige bin ich. Ich konnte nicht. Es kam dauernd was anderes, und Mutter ist ja den ganzen Tag draußen. Abends hat sie dann noch so viel mit Großvater zu besprechen. Ich hoffte, du würdest einspringen und mir das abnehmen.“
„Heute schwerlich“, sagte Uli – sie tanzten immer noch –. „Du, Schimmel, in den Ferien habe ich was vor, ich will mit ein paar anderen und Gerstenberg eine Radtour machen. Es kostet Mutter nichts, ich habe doch Geld verdient. Es geht nicht einmal alles dabei drauf. Natürlich nicht die ganzen Ferien.“
„Das wird sicher sehr schön für dich“, sagte Schimmel leise, ohne aufzublicken; sie war enttäuscht, denn sie hatte sich so sehr auf die Ferien mit Uli gefreut; aber das wollte sie nicht merken lassen. „Fahrt ihr gleich von dort aus los?“
„Nein, ich komme erst her, einige Tage. Wir treffen uns dann wieder auf halbem Wege, es liegt ja an der Strecke. Wir wollen an den Main. Oder was meinst du? Sollen die andern mich hier abholen? Es sind nette Jungen, alle miteinander.“
„Aus deiner Klasse? Alle? Sicher, das wäre schön“, sagte Schimmel.
„Gerstenberg fragte mich nämlich“, fuhr Uli fort, „als ich hierherfuhr, ob er mich mit den andern hier abholen sollte. Ich konnte es ihm ja nicht versprechen, ich wußte ja nicht, ob das geht. Aber Großvater hat sicher nichts dagegen, wenn die Jungen kommen, was meinst du?“
„Aber bestimmt nicht!“ – Sie tanzten immer noch rundum, als einziges Paar, so daß Schimmels Kleid wehte.
„Du, da kann doch Gerstenberg mit Mutter reden, von ihm stammt ja auch der Gedanke, daß du auf die Schule in Harzburg kommen sollst. Oder? – Na also, ich hatte es so in Erinnerung. Das wäre doch sehr günstig, wenn du Mutter sowieso noch nichts gesagt hast.“
„Es wäre sogar fabelhaft günstig“, sagte Schimmel leise, „Uli, jetzt muß ich aber zu Neuchen in die Küche und helfen.“
Als Schimmel endlich erhitzt und erschöpft in die Küche kam, merkte sie, daß Neuchen doch ärgerlich war. Die beiden Küchenmädel zeigten sich dem Ansturm nicht gewachsen, und sie hatten doch mit Schimmel gerechnet. Mutter war in ein landwirtschaftliches Gespräch mit einem Besuch verwickelt, sie konnte nicht herauskommen. Schimmel war sehr bestürzt, nichts war ihr schrecklicher, als Neuchen heute zu enttäuschen, und so versuchte sie denn, ihr Versäumnis durch doppelten Eifer wieder wett zu machen. Wo steckte übrigens Brita, und wo mochten um Himmels willen die drei Kleinen sein? Sicher waren sie auf Abwegen, und man müßte sich eigentlich nach ihnen umsehen.
Aber es gelang Schimmel nicht einmal, nur einen Augenblick zu entkommen, um Uli auf die Spur der Zwillinge zu setzen. Es ging jetzt hintereinander weiter. Abendbrot mußte gerichtet, der Tisch frisch gedeckt und das Eßzimmer in Ordnung gebracht werden, Neuchen flitzte und war überall und nirgends, und Schimmel konnte nicht fort.
Über dem siebzigsten Geburtstag schien ein guter Stern zu stehen. Als sie den Tisch fertig gedeckt hatten, waren sogar die beiden kleinen Schwestern plötzlich zur Stelle, sauber gewaschen und glatt gekämmt, ja, sie hatten sogar Johannes bei sich. Auch er war übermäßig abgeschrubbt, sein Gesicht glühte, und der Scheitel war mit Wasser angepappt, so daß der kleine Kerl ganz fremd aussah, weil man seine weiße, sonst von den Haaren verdeckte und unverbrannte Stirn sah.
Sie setzten sich alle drei artig und gesittet an den Tisch – Petra hatte manchmal pädagogische Anwandlungen. Großvater brach selbst eine Lanze für die Zwillinge, wie er sie so sitzen sah, als es später hieß, sie sollten ins Bett. Und dabei wollten sie zum Johannisfeuer gehen, und es wäre doch traurig gewesen, die Kleinen davon auszuschließen! Ach, wie ihre Augen strahlten, als Großvater der Mutter zuredete, sie mitzunehmen. Es sei doch nur einmal im Jahr Sonnenwende und dazu noch siebzigster Geburtstag! So durften sie wirklich mitgehen.
Im ehemaligen Klosterpark war der Holzstoß errichtet, und Großvater selbst setzte ihn in Brand, indem er die Fackel hineinstieß. Wunderbar, wie die Funken in einem goldenen Strudel zwischen den hohen Laubbäumen hindurch in den dunkeln Himmel stoben. Schimmel stand neben Uli, der den Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Als der Holzstoß schon stark heruntergebrannt war, sprangen sie darüber, zusammen mit den anderen Jungen und Mädels aus dem Dorf, die sich nach und nach eingefunden hatten, und das war für die Kleinen das Signal! Petra wollte auch sofort springen.
„Komm, wir nehmen dich mit“, sagte einer der Jungen, sie faßten sie an beiden Händen und nahmen Anlauf. Hopp, waren sie drüben. Petras weißes Kleid wehte.
„Ich auch! Ich auch!“ rief Claudia, und nun wurde auch sie mitgenommen, nachdem die großen Jungen Brita darübergeschwungen hatten. Bei den großen und gewandten Kerlen brauchte man keine Angst zu haben, daß den kleinen Mädeln etwas zustoßen könnte.
„Und jetzt wir noch einmal“, sagte Uli nach einer Weile des Zuschauens; Schimmel nickte. Sie liefen ein paar Schritte, dann schlug ihnen die Glut ins Gesicht. – „Hopp“! rief Uli halblaut, und dann waren sie darüber weg.
„Schön“, sagte jemand, als sie um den Kreis der Zuschauenden herum auf ihren Platz zugingen, atemlos und noch erregt von dem Sprung. Es war Großvaters Stimme, die diese Worte gesprochen hatte, es klang verträumt und glücklich.
Schimmel zählte die Tage bis zu den großen Ferien. Wenn sie es einmal laut tat und unversehens sagte: „Nun sind es nur noch sechzehn“, oder etwas Ähnliches, dann lachten die andern sie aus.
„Du hast es nötig“, sagte Plisch frech, „du als einzige ohne Schulsorgen!“ Schimmel schwieg. Woher sollten auch die andern wissen, was sie bedrückte; denn außer Johannes war sie ja tatsächlich die einzige, die nicht in die Schule ging. Daß man sich nach der Schule sehnen, daß man sich nichts heißer wünschen kann als wieder in die „Fron“ hineinzukommen, das konnte sich solch ein Kind nicht vorstellen. Daß aber auch Mutter davon überhaupt nichts zu merken schien, das verdachte sie ihr zuweilen.
Mutter war sehr angespannt, das war kein Zweifel, sie war den ganzen Tag mit Großvater in der Wirtschaft draußen, von früh bis spät, sie war schon kaffeebraun verbrannt, und dünn war sie geworden, trotz der so guten Kost. Schimmel achtete darauf, daß sie früh wenigstens ein Stück Brot einsteckte, wenn sie mit Großvater hinausging; aber meistens brachte sie es wieder mit. Im Grunde hatte sie nur noch die Wirtschaft, das Gut, die Arbeit im Sinn, die die ihre werden würden. Großvater hatte beschlossen, ihr das Gut später zu übergeben, und das war eine große Aufgabe für eine Frau, die zwar auf dem Lande groß geworden, aber doch auf diesem Gebiet nicht besonders ausgebildet war.
Mutter nahm es ernst. Sie war früh die erste, die wach war, sie kümmerte sich um den Stall und die Futterausgabe, sie war bei der Arbeitsverteilung dabei und saß abends noch über den Büchern, bis selbst Großvater mahnte, Schluß zu machen. Er meinte, man könne nicht alles auf einmal tun, und vieles lerne man unmerklich, einfach durch die Wiederholung jedes Jahr, gerade in diesem Beruf!
Aber es war ein Wille in ihr, zu lernen und aufzunehmen, der an Fanatismus grenzte. Schimmel bewunderte das, weil sie selber zu solchem Fanatismus neigte. Es hatte manchmal den Anschein, als wenn die Mutter, die mit Vater zusammen ein so glückliches Familienleben geführt hatte, sich bewußt von der Vergangenheit losmachen wollte. Wenn sie sich nur etwas mehr Zeit nähme, sich um die Kinder zu kümmern! Aber das überließ sie ganz ihrem Schimmel, obwohl die Mutter doch natürlich nicht ersetzt werden konnte. Die Kleinen gehorchten der großen Schwester nicht immer so, wie es wohl nötig wäre, in der Schule waren sie auch nicht besonders gut, bis auf Petra, der das Lernen leicht fiel. Aber Claudia war unverantwortlich faul, und auch Brita ließ gern fünf Grade sein, bis auf die Handarbeit, ihr Lieblingsfach, in dem sie die Beste der Klasse, ja, der ganzen Schule war.