Grundbegriffe der Hörgeschädigtenpädagogik -  - E-Book

Grundbegriffe der Hörgeschädigtenpädagogik E-Book

0,0

Beschreibung

Die Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik (Hörgeschädigtenpädagogik) hat von allen sonderpädagogischen Fachrichtungen die längste Tradition, ist multidisziplinär ausgerichtet und verfügt über ein umfangreiches und hoch spezifisches Fachwissen. Das fachliche Spektrum reicht von zentralen pädagogischen Fragestellungen der Förderung und Rehabilitation bis hin zu spezifischen Inhalten der Audiologie, Linguistik u.v.a.m. Diese Themen werden in diesem Handbuch durch Definitionen und Erklärungen zentraler Schlüsselbegriffe/-texte strukturiert und systematisiert. Das Buch ermöglicht dem Nutzer eine rasche fachliche Orientierung und bietet eine kompakte Informationsquelle.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 951

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Herausgebenden

Prof. Dr. Annette Leonhardt war Inhaberin des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Prof. Dr. Thomas Kaul hatte den Lehrstuhl Pädagogik und Didaktik hörgeschädigter Menschen am Department Heilpädagogik und Rehabilitation der Universtät zu Köln inne.

Annette Leonhardt, Thomas Kaul (Hrsg.)

Grundbegriffe der Hörgeschädigtenpädagogik

Ein Handbuch

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037234-4

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-037235-1

epub:        ISBN 978-3-17-037236-8

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort

Teil I:   Beeinträchtigungen des Hörens

1   Arten der Hörschädigung

Schallleitungsschwerhörigkeit

Schallempfindungsschwerhörigkeit

Kombinierte Schwerhörigkeit

Gehörlosigkeit/Taubheit

Ertaubung

Einseitige Hörschädigung

Minimale Hörschädigung

Tinnitus

Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen

Lärmschwerhörigkeit

Altersschwerhörigkeit/Presbyakusis

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) aus pädagogischer Sicht

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) aus medizinischer Sicht

2   Ätiologie und Prävalenz

Ätiologie

Prävalenz

3   Hörschädigung und zusätzliche Beeinträchtigungen

Mehrfachbehinderung und Hörschädigung

Taubblindheit/Hörsehbehinderung

Syndrome

4   Auswirkungen

Schalllokalisation und Räumlichkeit

Schwindel, Gleichgewichtsentwicklung/-beeinträchtigung und Hörschädigung

Teil II:   Personenkreis

Menschen mit Hörschädigung

Menschen mit Schwerhörigkeit

Menschen mit Gehörlosigkeit/Taubheit

Menschen mit Ertaubung

Menschen mit späterworbener Schwerhörigkeit

Hörgeschädigte Menschen mit Cochlea Implantat (CI)

Menschen mit einseitiger und minimaler Hörschädigung

Kinder und Jugendliche mit Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)

Hörbehinderte Menschen mit weiteren Behinderungen

Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung

Teil III:   Förderorte und Organisationsformen für Kinder und Jugendliche mit Hörschädigung

Förderorte und Organisationformen

Pädagogisch Audiologische Beratungsstelle

Kindergarten

Förderzentrum, Förderschwerpunkt Hören

Inklusive Settings

Mobiler Dienst für die schulische Inklusion

Nebenschulische Betreuung

Netzwerk Berufliche Bildung

Berufsbildungswerke

Teil IV:    Pädagogik bei Gehörlosigkeit/Taubheit und Schwerhörigkeit

Grundlagen einer Pädagogik bei Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit

Pädagogik bei Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit

Didaktik

Pädagogische Audiologie

Prävention

Schulische Inklusion

UN-Behindertenrechtskonvention

Geschichte der Hörgeschädigtenbildung

Geschichte der Lehrerbildung

Monographien, Handbücher und Sammelbände des Faches

Zeitschriften des Faches

Teil V:   Kommunikation

Grundlagen und Grundbegriffe der Kommunikation

Kommunikation

Audiovisuelle Lautsprachperzeption

Barrierefreie Kommunikation

Lautspracherwerb

Gebärdenspracherwerb

Lautsprachbegleitende und Lautsprachunterstützende Gebärden

Deutsche Gebärdensprache (DGS)

Mehrsprachigkeit

Manualsysteme

Teil VI:   Handlungsfeld: Vorschulische und schulische Förderung

1   Frühe Förderung

Neugeborenen-Hörscreening

Kritische Perioden/sensible Perioden/kritische Phasen/sensible Phasen für das Erlernen der Lautsprache

Sensible Phasen für Sprache

Früherkennung und Frühförderung

Modelle der Förderung

2   Aspekte der Entwicklung

Kommunikations- und Interaktionsentwicklung

Kognitive Entwicklung

Sozial-kognitive Entwicklung

Emotionale Entwicklung

Motorische Entwicklung

3   Diagnostik, Planen und Begutachten

Individuelle Förderpläne

Sonderpädagogisches Gutachten

Sprachdiagnostik

4   Hörgeschädigtenspezifische Bildungs- und Erziehungsaufgaben

Hör- und Sprachförderung

Visuelle Lautsprachperzeption (Absehen)

Lautsprachliche Förderung

Gebärdensprachliche Förderung

Bimodal-bilingualer Unterricht

Schriftsprache

Förderung im Bereich psychosozialer Entwicklung

Rhythmik/Rhythmisch-musikalische Erziehung

5   Besonderheiten des Unterrichts mit Schülerinnen und Schülern mit Hörschädigung

Organisatorische Maßnahmen im Unterricht

Unterrichtsprinzipien

Lehrersprache und lautsprachliche Kommunikation im Unterricht

6   Förderung in inklusiven Settings

Inklusiver Unterricht

Kooperation zwischen pädagogischen Fachkräften in inklusiven Bildungssettings

Identitätsarbeit im Kontext vorschulischer und schulischer Inklusion

Schulische Inklusion gebärdensprachlich kommunizierender gehörloser Schülerinnen und Schüler

Nachteilsausgleich

Teil VII:   Handlungsfeld: Rehabilitation und Förderung

Rehabilitation und Förderung

Rehabilitation

Pädagogische Rehabilitation

Medizinische Rehabilitation

Medizinische Versorgung von gehörlosen Menschen: Herausforderungen und Möglichkeiten Schwierigkeiten im Zugang – Kommunikationsbarrieren

Berufliche Rehabilitation – Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA)

Berufliche Bildung

Hörerziehung und Hörtraining

Audiotherapie

Hör- und Kommunikationstaktiken

Absehtraining

CI-Rehabilitation für Kinder

CI-Rehabilitation für Erwachsene

Unterstützungsmaßnahmen und Fördermöglichkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)

Angebote für Menschen mit Schwerhörigkeit im Alter

Lebens- und Versorgungssituation von gehörlosen Menschen im Alter

Teil VIII: Handlungsfeld: Beratung und Psychotherapie für Menschen mit Hörschädigung

Beratung und Psychotherapie

Beratung

Spezifische Beratungsangebote

Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen

Psychotherapie bei Erwachsenen

Teil IX:   Weitere Handlungsfelder

Weitere Handlungsfelder

Kooperation und Netzwerke

Neuropsychologische Entwicklungsdiagnostik bei hörgeschädigten Kindern

Coping und Bewältigung

Sexualisierte Gewalt

Kinder- und Jugendhilfe

Förderangebote für Kinder und Jugendliche mit Flucht- und Migrationshintergrund

Freizeit

Kinder- und Jugendfreizeiten

Schwerhörigenseelsorge

Gehörlosenseelsorge

Teil X:   Interdisziplinäre Aspekte

Interdisziplinäre Aspekte und angrenzende Fachgebiete

Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)

Behinderung

Disability Studies und Hörgeschädigtenpädagogik

Deaf Cultural Studies/Deaf Studies

Ethische Aspekte und Gehörlosigkeit

Rechtliche Rahmenbedingungen für Leistungen zur Teilhabe

Soziale Arbeit und Menschen mit Hörbehinderung

Soziologischer Zugang

Erziehungswissenschaft

Psychologie

Sprachwissenschaft

Gebärdensprachlinguistik

Gerontologie

Kinder- und Jugendheilkunde (Pädiatrie)

Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde

Phoniatrie und Pädaudiologie

Genetische Ursachen von Hörstörungen

Psychiatrie

Kinder- und Jugendpsychiatrie

Psychoakustik

Hörakustik

Pädakustik

Teil XI:   Spezielle Themen

Spezielle Themen

Interkulturalität

Selbsthilfe

Diskriminierung und sozialer Ausschluss

Psychosoziale Situation Schwerhöriger

Gehörlosenkultur

Children of Deaf Adults (CODA)

Hörgeschädigte Eltern und CI

Teil XII:   Technik

Hörhilfen

Nicht implantierbare Hörsysteme

Implantierbare Hörsystem

Übertragungsanlagen

Weitere technische Hilfen

Akustische Gestaltung von Klassen- und Fachklassenräumen

Teil XIII:   Dienste der Kommunikationssicherung

Dienste der Kommunikationssicherung

Gebärdensprachdolmetschen

Schriftdolmetschen

Technikbasierte Dienste und Applikationen

Untertitelung

Teil XIV:   Besonderheiten der Forschung

Besonderheiten der Forschung

Forschung in der Hörgeschädigtenpädagogik

Teil XV:   Internationale Aspekte

Internationale Sicht

International und interkulturell vergleichende Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik

Hörgeschädigtenpädagogik in Europa

Hörgeschädigtenpädagogik in außereuropäischen Industrienationen

Hörgeschädigtenpädagogik in Entwicklungsländern

Weltbericht des Hörens

Anhang

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

 

 

Die Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik (Hörgeschädigtenpädagogik) hat von allen sonder- und heilpädagogischen Fachrichtungen die längste Tradition, ist multidisziplinär ausgerichtet und verfügt über ein umfangreiches und hoch spezifisches Fachwissen. Das fachliche Spektrum reicht von zentralen pädagogischen Fragestellungen der Förderung und Rehabilitation bis hin zu spezifischen Inhalten der Audiologie, Linguistik, Medizin, Psychologie, Akustik u.v.a.m. Um die aktuellen Anforderungen umzusetzen, bedarf es einer multiprofessionellen Ausrichtung und Zusammenarbeit.

Im vorliegenden Buch werden wichtige Themen zu unterschiedlichen Teilbereichen der Hörgeschädigtenpädagogik durch Definitionen und Erklärungen in Form zentraler Schlüsselbegriffe und -texte strukturiert und systematisiert. Es soll auf diesem Weg versucht werden, leitende Begriffe und Inhalte des Faches und ihrer angrenzenden Disziplinen in ihrer Bedeutung für die Hörgeschädigtenpädagogik näher zu bestimmen.

Getragen wird das Handbuch von einer Offenheit, die unterschiedliche Positionen des Faches und ihrer Vertreterinnen und Vertreter zu Wort kommen zu lassen. Es geht um die Breite des Zugangs, um unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven und damit auch um die Darstellung sowie Erörterung der Vielfalt der wissenschaftlichen Ansätze und Überlegungen. Verbunden damit war das Anliegen, pädagogische Fragestellungen aufzugreifen und darauf Antworten zu finden und zugleich zur weiteren fachlichen Diskussion anzuregen.

Die inhaltliche Aufstellung wurde nach 15 Schwerpunkten, die sich teilweise in weitere eigenständige und in sich geschlossene Unterkapitel gliedern, geordnet. Das thematische Spektrum erstreckt sich von grundlegenden Fragestellungen zur Pädagogik, Didaktik und Inklusion bis hin zu Themen, die sich auf außerschulische und gesamtgesellschaftliche Lebensbereiche beziehen. Darüber hinaus wird auch ein Blick über die Grenzen hinweg auf die Entwicklungen in anderen Regionen der Welt geworfen.

Hierfür haben 88 Autorinnen und Autoren aus der Hörgeschädigtenpädagogik und den angrenzenden Disziplinen 159 Beiträge erstellt. Diese unterscheiden sich in ihrem Umfang sowie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung und Akzentuierung. Der Anregung des Verlages folgend, wurden die Beiträge vom Umfang her drei Kategorien zugeordnet. Die Umsetzung bei der Erarbeitung des Buches erfolgte durch einen Vorschlag der Herausgeber an die Autorinnen und Autoren.

Eine besondere Herausforderung brachte die Verwendung unterschiedlicher Terminologien mit sich, die in den jeweiligen Fachdisziplinen mit abweichenden Inhalten verwendet werden können. Deshalb wurde bei der Erarbeitung der Texte die Begrifflichkeit innerhalb dieser den jeweiligen Autorinnen und Autoren überlassen, um deren fachliche und inhaltliche Bezüge zu berücksichtigen. Die meisten Beiträge werden durch die Angabe weiterführender Literatur ergänzt, die anregen soll, inhaltlich fortführend und vertiefend sich mit dem Gebiet auseinanderzusetzen. So wird das Handbuch zu einem unverzichtbaren Kompendium, das sowohl praxisbezogene als auch theoriegeleitete Beiträge enthält und damit der Leserin oder dem Leser einen breiten Überblick zu zentralen Fragen der Pädagogik, Förderung und Rehabilitation von Menschen mit Hörschädigung sowie über die Komplexität des Faches eröffnet.

Dieses Nachschlagewerk richtet sich insbesondere an pädagogische Fachkräfte und an Studierende der Hörgeschädigtenpädagogik, aber auch an Fachleute anderer Disziplinen, die einen Einblick in diesen Themenbereich erhalten möchten.

Als Herausgeber bedanken wir uns bei allen Autorinnen und Autoren für die Mitwirkung und die umsichtige Erstellung der Texte und ihre Kooperation. Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag danken wir für seine umfassende Geduld und Unterstützung.

Für die schreibtechnische Bearbeitung des Manuskripts stand uns Frau Hannelore Raudszus zur Seite. Ihr gilt unser besonderer Dank für ihre Sorgfalt und ihr Engagement.

München und Köln im Sommer 2022

Annette Leonhardt und Thomas Kaul

Teil I:   Beeinträchtigungen des Hörens

1          Arten der Hörschädigung

 

 

Schallleitungsschwerhörigkeit

Definition

Eine Schallleitungsschwerhörigkeit liegt vor, wenn der Schall nur mit geringerer Intensität, also abgeschwächt und gedämpft, zum Innenohr vordringt. Die Schallübertragung (Schallaufnahme und -fortleitung) zwischen dem äußeren Ohr und dem Innenohr ist eingeschränkt. Das akustische Signal wird um 30 bis 70 dB abgeschwächt (Zorowka 2019, 40). Die Folge ist leiseres Hören.

Weitere Bezeichnungen

Mittelohrschwerhörigkeit, konduktive Schwerhörigkeit oder Transmissionsschwerhörigkeit

Ursachen kindlicher Schallleitungsschwerhörigkeiten

Bei Kindern spielen auch die vorübergehenden Schallleitungsschwerhörigkeiten eine Rolle, beispielsweise verursacht durch einen Paukenerguss oder durch Belüftungsstörungen im Rahmen von Infekten (Erkältungen). Umfassen diese einen zeitlichen Umfang von mehr als drei Monate (berechnet auf die Jahresbilanz), können diese zu Einschränkungen in der sprachlichen und kognitiven Entwicklung führen. Daher sind auch diese pädagogisch relevant. Des Weiteren können vorübergehende Schwerhörigkeiten das schulische Lernen beeinträchtigen.

Die Anamnese dazu erfolgt bei Kindern über die Eltern bzw. Bezugspersonen. Pädagogisch gesehen geht es hier vor allem um die Sprachentwicklung, mögliche Verhaltensauffälligkeiten oder -veränderungen oder auch um das auditive Verhalten (Reaktionen auf akustische Reize) des Kindes.

Schallleitungshörverlust bei Erwachsenen

Im Erwachsenenalter kommt es zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit durch Trommelfellverletzungen und – als häufigste Ursache – durch Otosklerose. Bei ihr wird durch Knochenumbauprozesse die Schallübertragung erschwert, da die Beweglichkeit der Gehörknöchelkette eingeschränkt ist (in seltenen Fällen kann auch das Innenohr betroffen sein, was zu einer zusätzlichen  Schallempfindungsschwerhörigkeit führt). Sie verläuft progredient und meist mit  Tinnitus einhergehend. Ein besonderes Phänomen ist, dass diese Personen in lauter Umgebung besser hören als bei niedriger Lärmbelastung. Frauen sind häufiger als Männer betroffen. Eine Behandlung erfolgt chirurgisch oder mit Hörgerät.

Diagnose

Die Diagnose wird mittels Reintonaudiogramm gestellt, indem für beide Ohren sowohl die Luft- als auch die Knochenleitung bestimmt wird. Dabei zeigt die Knochenleitung normale Werte. Bei der Luftleitung zeigt sich ein Hörverlust (Luftleitungs-Knochenleitungsdifferenz), der weitgehend linear verläuft, d. h. alle Frequenzen sind in etwa gleich betroffen. Sie kann leicht- bis mittelgradig vorkommen.

Pädagogisch relevant sind medizinisch-chirurgisch nicht oder nicht im Kindesalter behebbare Schallleitungsschwerhörigkeiten. Zu letzteren gehören beispielsweise Gehörgangsatresien, die erst im Jugendalter operativ angegangen werden.

Auswirkungen

Die Folge einer Schallleitungsschwerhörigkeit ist, dass vor allem leise und tiefe Töne schlecht gehört werden. Das wirkt sich auch auf das Erkennen der Sprachlaute aus. Der Höreindruck ist also quantitativ beeinträchtigt. Tiefere Stimmen werden schlechter wahrgenommen. Die Fähigkeit, grundlegende Elemente der Lautsprache zu erkennen, ist jedoch vorhanden.

Die Unbehaglichkeitsschwelle ist nicht erhöht. Ebenso tritt kein Recruitment (= Lautheitsausgleich) auf.

Die geringere Intensität der Höreindrücke führt dazu, dass unbetonte Redeanteile (Endsilben, Partikel usw.) unzureichend verstanden werden mit der Folge, dass sie so, wie sie gehört, auch beim eigenen Sprechen verwendet werden. Die Konstanz der Wahrnehmung akustischer Zeichen bleibt erhalten, da keine Klangveränderungen vorliegen. Durch Verringerung der Distanz zwischen Sprecher (Pädagogen) und Hörer (Kind oder Jugendlichem) oder durch elektroakustische Verstärkung (Hörsysteme) ist ein »technischer« Ausgleich möglich. Eine lineare Intensitätsverstärkung bewirkt, dass das gesamte Sprachfeld in den Bereich des Hörens rückt. Die Artikulation der Schüler mit Schallleitungsschwerhörigkeit ist kaum betroffen. Ihr Sprechen ist unauffällig (Leonhardt 2018, 2019).

Pädagogische Erfordernisse

Im Unterrichtsalltag bedeutet eine Schallleitungsschwerhörigkeit jedoch auch bei technischer Versorgung (Hörgeräte) eine Beeinträchtigung. Die Schülerin oder der Schüler muss mehr Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen, um dem Unterricht zu folgen. Das trifft auch für die Spiel- und Lernsituation in der Kindertagesstätte zu.

Beim Besuch von Kindertagesstätten und der Schule ist eine hörgeschädigtenspezifische Begleitung zu gewährleisten. Liegt neben der Schallleitungsschwerhörigkeit eine weitere Behinderung vor, so ist mit nachteiligen Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung des Kindes zu rechnen. Dem muss ggf. durch interdisziplinäre Teams Rechnung getragen werden.

Technische Versorgung

Von einer Schallleitungsschwerhörigkeit betroffene Kinder und Jugendliche werden mit

•  konventionellen Hörsystemen

•  Knochenleitungshörgeräten

•  knochenverankerten Hörgeräten (Bone Anchored Hearing Aids, BAHA)

versorgt (Kompis 2016, 77).

Literatur

Kompis, M. (2016): Audiologie. 4. Aufl. Bern: Hogrefe.

Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16–30.

Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.

Zorowka, P. G. (2019): Kindliche Hörstörungen, Pädiatrische Audiologie und Audiometrie. In: Götte, K./Nicolai, Th. (Hrsg.): Pädiatrische HNO-Heilkunde. 2. Aufl. München: Elsevier Urban & Fischer, 40–51.

Weiterführende Literatur

 

Ptok, M. (1997): Das schwerhörige Kind. In: Deutsches Ärzteblatt, 94 (28–29), 14. Juli 1997, A-1932-A-1937.

Annette Leonhardt

Schallempfindungsschwerhörigkeit

Definition

Bei einer Schallempfindungsschwerhörigkeit liegt eine Funktionsstörung des Innenohres oder (selten) im Hörnerv vor mit einer beidseitigen permanenten Hörminderung von mehr als 30 bis 40 dB. Sie beruht auf pathologischen Veränderungen des Cortischen Organs oder retrocochleär der nervalen Hörbahn. Daher werden zwei Formen unterschieden: die sensorische (auch cochleäre) und die neurale (auch retrocochleäre) Schwerhörigkeit (Leonhardt 2019).

Kompis beschreibt die Schallempfindungsschwerhörigkeit als eine Störung, bei der »die Umwandlung der akustischen (= mechanischen) Signale in neurale (= elektrische) Signale in der Cochlea oder deren Weiterleitung im Hörnerv und entlang der Hörbahn gestört ist« (Kompis 2016, 77).

Im Allgemeinen werden die hohen Frequenzen besonders schlecht gehört, d. h. der Hochtonbereich ist umfänglicher betroffen. Häufig liegt ein Recruitment (= Lautheitsausgleich) vor (bei cochleärer Schwerhörigkeit). Oberhalb der Hörschwelle kommt es zu extremem Lautheitsempfinden mit vorzeitigem Erreichen der Unbehaglichkeitsschwelle. Bei retrocochleärer Schwerhörigkeit tritt dieses Phänomen nicht auf (a.a.O., 88).

Weitere Bezeichnungen

Innenohrschwerhörigkeit, sensorineurale Schwerhörigkeit

Ursachen kindlicher Schallempfindungsschwerhörigkeiten

Schallempfindungsschwerhörigkeiten können angeboren sein, sich im Kindesalter manifestieren oder im Jugend- und Erwachsenenalter eintreten.

Eine kindliche Schallempfindungsschwerhörigkeit kann pränatal (z. B. erblich bedingt, durch Fehlbildungen oder durch Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft), perinatal (z. B. Sauerstoffmangel während der Geburt, Frühgeburt, geringes Geburtsgewicht, Schädelverletzungen) oder postnatal (z. B. Meningitis, Encephalitis, ototoxische Medikamente, Infekte) entstehen. Im Erwachsenenalter kommen weitere Ursachen, wie chronische akustische Traumen (Arbeit unter extremen Lärmbedingungen), Morbus Meniere oder  Altersschwerhörigkeit) hinzu.

Diagnose

Die Diagnose wird mittels Reintonaudiogramm gestellt, indem für beide Ohren sowohl die Luft- als auch die Knochenleitung bestimmt wird. Ihr Merkmal ist die im gleichen Maße angehobene Luftleitungs- und Knochenleitungskurve (zwischen beiden liegt keine Differenz).

Bei angeborener und frühkindlich erworbener Schwerhörigkeit kommen auch objektive Messverfahren zum Einsatz ( Phoniatrie/Pädaudiologie). Von Geburt an vorliegende Schallempfindungsschwerhörigkeiten werden heute durch das  Neugeborenen-Hörscreening erkannt.

Auswirkungen

Eine Schallempfindungsschwerhörigkeit bewirkt ein verändertes, verzerrtes Hören. Der Höreindruck erfährt eine quantitative und qualitative Veränderung. Die Folge einer Schallempfindungsschwerhörigkeit ist, dass viele leise Geräusche und Sprachanteile nicht gehört werden und Gehörtes zusätzlich verzerrt wahrgenommen wird. Das Sprachverständnis ist eingeschränkt, insbesondere dann, wenn Störlärm und Nebengeräusche hinzukommen.

Das Gehörte ist im Vergleich zum nicht beeinträchtigten Gehör stark verändert. Ohne technische Hörhilfen kann es – in Abhängigkeit vom Ausmaß – zum Nichtverstehen von Sprache kommen; bei Verwendung von Hörhilfen bleibt es ein verändertes, unvollständiges und verzerrtes Hören. Insbesondere hohe Töne werden nicht oder nur deformiert wahrgenommen (betroffen sind vor allem Frikative, z. B. Zischlaute). Wörter und Sätze werden (je nach Ausmaß der Schallempfindungsschwerhörigkeit nur eingeschränkt oder gar nicht verstanden. Die Auswirkungen können sich in einem eingeschränkten Wortschatz, Auffälligkeiten in der Grammatik, einer veränderten Sprechweise (Artikulation) sowie einer beeinträchtigten Sinnentnahme aus Gehörtem und Gelesenem (Texte) zeigen (Leonhardt 2019). Eine kindliche Schallempfindungsschwerhörigkeit kann weitreichende Folgen für das Erlernen kommunikativer Fertigkeiten haben.

Sie kann vom Umfang her leicht-, mittel- oder hochgradig sowie an Taubheit (Gehörlosigkeit) grenzend sein.

Pädagogische Erfordernisse

Entscheidend für die Entwicklung eines Kindes mit Schallempfindungsschwerhörigkeit ist die  Früherkennung und Frühförderung, die unmittelbar nach der Diagnose beginnen muss. Gleichzeitig soll eine erste Versorgung mit Hörhilfen erfolgen, die gerade in der Anfangszeit immer wieder angepasst (»nachreguliert«) werden müssen (Meier 2012), um eine optimale Anpassung und ausreichend Höreindrücke zu ermöglichen. Eine frühzeitige Hör-Sprech-Sprachförderung trägt dazu bei, Defizite in der Kommunikationsentwicklung des Kindes zu vermeiden oder so gering wie möglich zu halten.

In vorschulischen und schulischen Lernsituationen ist aus pädagogischer Sicht vor allem das Sprachverstehen zu sichern. Dies wird verbessert, wenn Stör- und Nebengeräusche vermieden oder so gering wie möglich gehalten werden.

Technische Versorgung/Hörhilfen

Je nach Ausmaß der Schallempfindungsschwerhörigkeit werden bei Kindern normalerweise HdO(Hinter dem Ohr)-Geräte ( Nicht implantierbare Hörsysteme) angepasst. Bei Vorliegen einer hochgradigen, an Taubheit grenzenden Schallempfindungsschwerhörigkeit erfolgt eine Versorgung mit Cochlea Implantaten ( Implantierbare Hörsysteme). In der Kindertagesstätte und im Unterricht der Schule sollten ergänzend Übertragungsanlagen genutzt werden.

Bei Erwachsenen kommen auch IdO(In dem Ohr)-Geräte ( Nicht implantierbare Hörsysteme) und in jüngster Zeit implantierbare Hörgeräte zum Einsatz; sie werden als teil- und vollimplantierbare Systeme angeboten (Schößer/Brill 2017).

Literatur

Kompis, M. (2016): Audiologie. 4. Aufl. Bern: Hogrefe.

Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.

Meier, S. (2012): Frühe Hörgeräteversorgung. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Frühes Hören. München: Reinhardt, 113-125.

Schößer, H./Brill, St. (2017): Technische Hörhilfen als Möglichkeit der Rehabilitation von Menschen mit Hörschädigung. In: Leonhardt, A./Ludwig, K. (Hrsg.): 200 Jahre Gehörlosen- und Schwerhörigen(aus)bildung in Bayern – Vom Jahreskurs zum interdisziplinären Studium an der Universität. Heidelberg: Median, 153-164.

Weiterführende Literatur

 

Ptok, M. (1997): Das schwerhörige Kind. In: Deutsches Ärzteblatt, 94(28-29), 14. Juli 1997, A-1932-A-1937.

 

Annette Leonhardt

Kombinierte Schwerhörigkeit

Definition

Bei einer kombinierten Schwerhörigkeit besteht neben einer Schallleitungsstörung gleichzeitig eine Funktionsstörung im Innenohr. Es liegen also sowohl eine Störung im Außen- oder im Mittel- als auch Innenohr vor.

Weitere Bezeichnungen

Kombinierte Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeit, kombinierte Mittelohr-Innenohrschwerhörigkeit, (selten) auch gemischte Schwerhörigkeit

Ursachen

Es treffen die gleichen Ursachen wie bei einer  Schallempfindungsschwerhörigkeit zu. Hinzu kommen den schallleitenden Teil betreffende Ursachen ( Schallleitungsschwerhörigkeit).

Diagnose

Die Diagnose wird mittels Reintonaudiogramm gestellt, indem für beide Ohren sowohl die Luft- als auch die Knochenleitung bestimmt wird. Dabei zeigen sowohl die Knochenleitung als auch die Luftleitung angehobene Werte; aber zwischen beiden liegt eine Differenz. Die Luftleitung ist deutlich stärker erhöht.

Bei angeborener und frühkindlich erworbener Schwerhörigkeit kommen auch objektive Messverfahren zum Einsatz. Von Geburt an vorliegende kombinierte Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeiten werden heute durch das  Neugeborenen-Hörscreening erkannt.

Auswirkungen

Die  Schallempfindungsschwerhörigkeit ist die dominierende Störung. Daher sind die Auswirkungen einer kombinierten Schwerhörigkeit mit dieser vergleichbar.

Sie kann vom Umfang leicht-, mittel- oder hochgradig sowie an Taubheit (Gehörlosigkeit) grenzend sein.

Pädagogische Erfordernisse

siehe  Schallempfindungsschwerhörigkeit

Technische Versorgung/Hörhilfen

Da sich eine kombinierte Schwerhörigkeit aus einer Schallleitungsschwerhörigkeit und einer Innenohrschwerhörigkeit zusammensetzt, kann die Schallleitungsschwerhörigkeit mitunter operativ behoben werden. Die (verbleibendende) Innenohrschwerhörigkeit (= Schallempfindungsschwerhörigkeit) wird dann mit Hörsystemen versorgt.

siehe  Schallempfindungsschwerhörigkeit

Weiterführende Literatur

Kompis, M. (2016): Audiologie. 4. Aufl. Bern: Hogrefe.

Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.

 

Annette Leonhardt

Gehörlosigkeit/Taubheit

Definition

Gehörlosigkeit ist keine gesonderte Hörschädigung, sondern beruht auf einer hochgradigen bzw. extremen Innenohrschwerhörigkeit. Man spricht in dem Zusammenhang von praktischer Taubheit oder Gehörlosigkeit. Sie tritt prälingual (angeboren oder vor Abschluss des 2. Lebensjahres) bei beidseitigem hochgradigem bis totalem Hörverlust auf. Auch bei Eintreten einer perilingualen beidseitigen Taubheit (etwa bis zum 3./4. Lebensjahr) wird von Gehörlosigkeit gesprochen (Leonhardt 2019; Arnold/Ganzer 2011); später eintretend dann von  Ertaubung.

Eine absolute Taubheit, bei der keinerlei Hörreste vorhanden sind, ist sehr selten und tritt eigentlich nur dann auf, wenn der Hörnerv oder das primäre Hörzentrum zerstört ist. Ungefähr 98 % der Menschen, die als »gehörlos« bezeichnet werden, verfügen über Hörreste (Pöhle 1994, 12). Diese sind jedoch zu gering, um mit Hörsystemen (= Hörgeräten) einen imitativ-auditiven Lautspracherwerb zu vollziehen.

Neben der hier vorgestellten audiologischen Definition existiert ein eher soziologischer Begriff von Gehörlosigkeit/Taubheit. Dieser stellt nicht das Hörvermögen in den Vordergrund, sondern die Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft ( Gebärdensprachkultur).

Weitere Bezeichnungen

Taubheit, Surditas

Ursachen von Gehörlosigkeit

Eine Gehörlosigkeit kann pränatal (erblich bedingt, durch Fehlbildungen oder durch Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft), perinatal (z. B. Sauerstoffmangel während der Geburt, Frühgeburt, geringes Geburtsgewicht, Schädelverletzungen) oder postnatal entstehen (hier spielen vor allem die sehr frühe Erkrankung an Meningitis und Encephalitis eine Rolle). Da eine postnatale, aber perilinguale Entstehung einer Gehörlosigkeit mit einer Krankheit einhergeht, wird diese meist sofort erkannt; ansonsten greifen hier die Früherkennungsuntersuchungen (sog. U-Untersuchungen).

Die möglichen Ursachen decken sich mit denen einer  Schallempfindungsschwerhörigkeit und der  kombinierten Schwerhörigkeit, da, wie erwähnt, es sich bei der Gehörlosigkeit nicht um eine eigenständige (gesonderte) Hörschädigung handelt.

Diagnose

Bei der Diagnose von Gehörlosigkeit spielt heute das  Neugeborenen-Hörscreening (NSH) eine maßgebliche Rolle. Die Kinder, die beim NHS auffällig werden, müssen dann einer genauen Diagnose (mittels objektiver Hörprüfverfahren) zugeführt werden. Unmittelbar danach beginnen die Frühförderung (zunächst in Form von Elternberatung) und eine erste Hörgeräteversorgung, die ggf. die Zeit bis zur CI-Versorgung »überbrückt«, um Höreindrücke zu ermöglichen. Eine nachgeburtliche, aber prälinguale Gehörlosigkeit wird ebenfalls mittels objektiver Hörprüfverfahren diagnostiziert.

Auswirkungen

Bei Vorliegen eines so hochgradigen Hörverlustes, dass man von Gehörlosigkeit spricht, zeigt das Kind keine Reaktionen auf akustische Reize. Hörprothetisch unversorgte Gehörlosigkeit führt dazu, dass die  sensible Phase des Hörenlernens nicht genutzt werden kann, da das Erlernen des Hörens die Voraussetzung für das Erlernen der Lautsprache auf imitativ-auditivem Weg ist.

Zur Auffassung gesprochener Sprache bedienen sie sich (wie auch die Schwerhörigen) des Absehens. Untereinander kommunizieren sie in der Gebärdensprache. Diese nutzen sie auch in sozialen Situationen mit Hörenden unter Einbezug eines Gebärdensprachdolmetschers.

Pädagogische Erfordernisse

Entscheidend für die Entwicklung eines gehörlosen Kindes ist die Frühförderung, die unmittelbar nach der Diagnose beginnen muss. Die  Früherkennung und Frühförderung muss an den Bedarfen der Familie orientiert sein, berücksichtigen, ob die Eltern hörend oder gehörlos bzw. hörgeschädigt sind und deren Wünsche und Vorstellungen respektieren.

Bei frühzeitiger von den Eltern gewünschter CI-Versorgung ist – bei gleichzeitiger entsprechender hörgeschädigtenpädagogischer Unterstützung – heute ein Lautspracherwerb auf imitativ-auditivem Weg möglich. Der Hör- und Spracherwerbsprozess kann bei optimaler Förderung und guter Unterstützung durch das Elternhaus der Norm angenähert verlaufen. Sie bleiben aber hörgeschädigt und bedürfen der besonderen Unterstützung und Hilfe.

Neben der mit Hilfe von Cochlea Implantaten durchgeführten lautsprachlichen Förderung gibt es gebärdensprachliche Angebote der Förderung. Die Gebärdensprache ermöglicht den nicht mit CI versorgten Kindern die Kommunikation. Eine Kommunikation mit Gebärdensprache wird aber auch von mit CI versorgten Kindern verwandt, insbesondere dann, wenn sie Kinder hörgeschädigter Eltern sind. Gebärdensprachlich kommunizierende Eltern verwenden in der Kommunikation mit ihren Kindern die Gebärdensprache und dienen ihren Kindern als Sprach- und Kommunikationsvorbild.

Technische Versorgung

Bei Hörschäden von beschriebenem Ausmaß reichen gängige Hörsysteme nicht aus. Die Verwendung von Cochlea Implantaten hat sich bei angeborener oder perilingual erworbener Gehörlosigkeit etabliert (sofern die Eltern das für ihr Kind wünschen). Als Zeitpunkt der Versorgung hat sich gegenwärtig ein Implantationsalter »um das 1. Lebensjahr« durchgesetzt (möglich ist eine CI-Versorgung ab etwa 6. Lebensmonat).

In vorschulischen und schulischen Lernsituationen kann die zusätzliche Verwendung von Übertragungsanlagen hilfreich sein.

Literatur

Arnold, W./Ganzer, U. (2011): Checkliste. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. 5. Aufl. Stuttgart/New York: Thieme.

Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.

Pöhle, K.-H. (1994): Grundlagen der Pädagogik Hörbehinderter. Potsdamer Studientexte – Sonderpädagogik.

Weiterführende Literatur

 

Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16-30.

 

Annette Leonhardt

Ertaubung

Definition

Eine Ertaubung liegt vor, wenn es bei einem Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen postlingual, also nach Abschluss des natürlichen Spracherwerbs (als untere Grenze wird hier ca. das 3./4. Lebensjahr gesehen) zu einer totalen oder praktischen Taubheit kommt. Nach Eintreten der Taubheit können die Betroffenen Lautsprache und andere Schallereignisse nicht mehr auditiv wahrnehmen. Im Unterschied zur  Gehörlosigkeit (die angeboren oder prä- oder perilingual eingetreten ist) haben sie die Lautsprache auf natürlichem Weg imitativ-auditiv erlernt (Leonhardt 2019, 86).

Weitere Bezeichnungen

Weitere Bezeichnungen sind nicht gängig. Allerdings unterscheidet man mitunter zwischen Ertaubung und Spätertaubung. Mit »Spätertaubungen« werden Ertaubungen bezeichnet, die nach dem 18. Lebensjahr bzw. nach Abschluss einer ersten (abgeschlossenen) Berufsausbildung eingetreten sind.

Ursachen

Eine Ertaubung kann die Folge eines progredienten Verlaufes einer Schwerhörigkeit sein, häufig tritt sie auch als Folge von Erkrankungen oder Unfällen ein. Der Hörverlust kann plötzlich eintreten (innerhalb von Minuten, Stunden und bis zu 3 Tagen); verursachend hierfür ist meist ein Lärmtrauma oder ein Hörsturz (wobei in letztgenannten Fällen nahezu immer nur eine Seite betroffen ist). Möglich sind auch mehrere Schübe (z. B. nach Verletzung, Unfall, einer Hirnhautentzündung oder Medikamenteneinnahme), bis die Ertaubung endgültig eintritt.

Diagnose

Betroffenen fällt die Höreinbuße, vor allem, wenn sie spontan oder in einem relativ kurzen Zeitraum eintritt, auf, so dass sie sich an den Arzt wenden. Die Diagnose erfolgt mittels gängiger  audiometrischer Messverfahren und audiologischer Beratung. Die Hörschwellenkurven im Audiogramm gleichen denen von gehörlosen Personen. Ob es sich bei dem abgebildeten Hörverlust um eine Ertaubung oder Gehörlosigkeit handelt, ergibt sich aus der Anamnese.

Auswirkungen

Schwerwiegend bei einer Ertaubung ist nicht nur der audiometrisch bestimmbare (»messbare«) Hörverlust, sondern vor allem die eingetretenen Einschränkungen in der Kommunikation und im psychosozialen Bereich, da der Ertaubte aus der ihm vorher als selbstverständlichen und vertrauten lautsprachlichen Kommunikation plötzlich nahezu ausgeschlossen ist. Die psychischen Belastungen sind enorm. Die Endgültigkeit des Hörverlustes muss angenommen werden. Lediglich beim Hörsturz kann bei rechtzeitiger medizinischer Behandlung in Ausnahmefällen das Gehör (vollständig) wiederhergestellt werden. Beständige, stabile Verbesserungen sind aber eher selten. Mitunter kommt es zu einer wechselnden Hörfähigkeit, die längerfristig nicht selten in einer endgültigen Ertaubung münden.

Ist die Ertaubung irreversibel, werden die Betroffenen heute zeitnah mit Cochlea Implantaten versorgt. Mit ihrer Hilfe ist ein Hören wieder möglich. Der (neue) Höreindruck entspricht jedoch nicht ihrem vormaligem, also dem eines gesunden oder kaum beeinträchtigten Gehörs. Die Betroffenen erlernen erfahrungsgemäß jedoch rasch, die neuen Höreindrücke zu interpretieren und diese mit ihren alten, noch im Gedächtnis gespeicherten Hörerfahrungen zu verknüpfen. Ihnen bleibt so ein Leben als »Ertaubte« erspart, das früher aufgrund des plötzlich eingetretenen Hörverlustes und der damit verbundenen Kommunikationsbarrieren zur der sie umgebenden Umwelt und zu ihren Bezugspersonen zu erheblichen psychosozialen Auswirkungen führte (Richtberg 1980).

Ertaubte müssen sich, auch nach durchgeführter CI-Versorgung, auf das ergänzende Absehen (visuelle Lautsprachperzeption) umstellen. Es erleichtert ihnen den Perzeptionsprozess von gesprochener Sprache.

Hilfreich und unterstützend wirkt der Umstand, dass dieser Personenkreis auf natürlichem Weg Sprechen und Verstehen gelernt hat. Er kann auf der bereits vorhandenen Sprache aufbauen und den erworbenen Sprachbesitz nutzen. Je später eine Ertaubung eintritt, desto besser beherrschen die Betroffenen die Lautsprache. Insbesondere für Spätertaubte gilt, dass deren Sprachentwicklung bis zum Eintreten der Hörschädigung ungehindert vollzogen wurde. Die Lautsprache hat sich in der Zeit, in der sie über ein normales Gehör verfügten, gebildet und gefestigt. Sie besitzen die Fähigkeit, zu sprechen und gesprochene Sprache kognitiv zu verstehen. Da die Sprachproduktion oft wenig Auffälligkeiten zeigt, werden dessen rezeptive Fähigkeiten häufig vom Gesprächspartner überschätzt. Für die unmittelbar nach der Implantation einsetzende Rehabilitationsphase ist es hilfreich, dass die Betroffenen an den vorhandenen Sprachbesitz und auf die bisher erlernte Sprache aufbauen können. Ertaubte, die mit CI versorgt wurden, brauchen zum »Umlernen« auf das »neue« Hören der spezifischen hörgeschädigtenspezifischen Unterstützung.

Pädagogische Erfordernisse

Trotz der heute gängigen, raschen CI-Versorgung ist eine schnellstmögliche hörgeschädigtenpädagogische Einflussnahme wichtig, um einen Bruch in der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen zu vermeiden. Die plötzlich veränderte »Hörsituation« und die mit der Ertaubung und/oder der CI-Versorgung einhergehenden Veränderungen sind gravierend. Jüngere Kinder finden sich erfahrungsgemäß schneller mit der neuen Situation zurecht als Schulkinder bzw. Jugendliche. Ihnen wird die Veränderung in ihrer Lebenssituation oft schmerzlich bewusst. Sie müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen.

Obwohl die mit Cochlea Implantaten versorgten Personen akustisch wieder erreichbar sind, brauchen sie spezifische Betreuung und Beachtung. Bei Nebengeräuschen haben sie wie alle mit CI Versorgten Schwierigkeiten, zu hören und zu verstehen. Der Hör(»um-«)lernprozess muss hörgeschädigtenpädagogisch begleitet werden, um negative Auswirkungen zu verhindern oder so gering wie möglich zu halten.

Technische Versorgung

Ertaubte Personen werden heute – es sei denn, der Hörnerv ist geschädigt – mit Cochlea Implantaten versorgt. Schulisch und vorschulisch gesehen sollten ergänzend Übertragungsanlagen einbezogen werden.

Literatur

Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.

Richtberg, W. (1980): Hörbehinderung als psychosoziales Leiden. Forschungsbericht. Herausgeber: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bonn.

Weiterführende Literatur

 

Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16-30.

 

Annette Leonhardt

Einseitige Hörschädigung

Definition

Von einseitiger Hörschädigung spricht man, wenn bei einem Ohr ein voll funktionsfähiges Gehör und bei dem anderen Ohr eine angeborene oder erworbene Schwerhörigkeit oder Taubheit vorliegt. Bei dem betroffenen Ohr kann jede Art von Hörschädigung vorliegen. Der Umfang (das Ausmaß) des Hörverlustes der betroffenen Seite kann von leichtgradig bis taub reichen.

Ursachen

Die Ursachen können je nach Art der vorliegenden Hörschädigung die gleichen wie bei einer  Schallleitungsschwerhörigkeit, einer  Schallempfindungsschwerhörigkeit, einer  kombinierten Schwerhörigkeit, einer  Gehörlosigkeit oder für eine  Ertaubung sein. Es ist aber nur ein Ohr betroffen.

Zu einer einseitigen (erworbenen) Hörschädigung kommt es bei Kindern auch durch hohe (Lautstärke-)Intensitäten verursachendes Spielzeug wie beispielsweise Knallpistolen, die in unmittelbarer Nähe des Gehörgangs eines Kindes betätigt werden. Die möglichen Auswirkungen dieser Spielzeugpistolen werden im Allgemeinen unterschätzt. Der Knall ist extrem kurz, kann aber Spitzenwerte von 164 dB erreichen und ist damit höher als ein Pistolenschuss mit scharfer Munition (Feldmann/Brusis 2006, 211). Die Folge ist ein sog. Knalltrauma.

Diagnose

Die Diagnoseverfahren entsprechen denen bei beidseitiger Hörschädigung ( Schallleitungsschwerhörigkeit,  Schallempfindungsschwerhörigkeit,  kombinierte Schwerhörigkeit,  Gehörlosigkeit).

Auswirkungen

Die Auswirkungen einer einseitigen Hörschädigung auf die kindliche Entwicklung wurde lange Zeit unterschätzt, da von den Betroffenen Sprache auf natürlichem Weg vollständig erlernt werden kann.

Kinder mit einer gering- bis mittelgradigen einseitigen frühkindlichen Hörschädigung entwickeln sich weitgehend unauffällig. Bei hochgradiger einseitiger Hörschädigung kann es zunächst zu Verzögerungen und Störungen der Sprachentwicklung kommen, da vor allem das Hören bei Stör- und Nebengeräuschen und das Richtungshören beeinträchtigt sind. Bei guter Förderung und unterstützendem Elternhaus zeigen die Kinder bei Schuleintritt keine oder kaum noch sprachliche Abweichungen zu Gleichaltrigen. Das kann im Alltag der Kindertagesstätte oder im Unterricht der Schule vorschnell dazu führen, ihre Hör- und Verstehensprobleme zu unterschätzen oder zu negieren. In der Kindertagesstätte und der Schule muss beachtet werden, dass das Kind bzw. die Schülerin oder der Schüler unter erschwerten Bedingungen hört, obwohl sie in Spiel-, Beschäftigungs-, Lern- und Unterrichtssituationen weitgehend unauffällig wirken. Immer dann, wenn Neben- und Störgeräusche auftreten, ist das Kind oder der Jugendliche in der auditiven Wahrnehmung beeinträchtigt. Das fehlende Richtungshören – Richtungshören ist die Voraussetzung, um die Schallquelle zu orten (also zu erkennen, wo sich der Sprecher bzw. Kommunikationspartner befindet oder zu bemerken, wo das das Spiel entscheidende akustische Signal oder im Sport das Kommando herkommt) – und Probleme bei der Störschall-Nutzschall-Trennung können die Teilhabe an sozialen Situationen (und damit am Spielen, Interagieren oder am Unterricht) erschweren und erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration des Betroffenen fordern.

In der Kindertagesstätte oder im Schulalltag sind die Hörbedingungen oft ungünstig, da Neben- und Störgeräusche nur begrenzt ausgeschaltet werden können. Diese wirken sich jedoch auf das Verstehen negativ aus, mit der Folge, dass Äußerungen der Erzieherin oder des Erziehers oder der Lehrkraft und/oder der Spiel- und Klassenkameraden nicht immer vollständig und angemessen verstanden werden, was zu einer unvollständigen Aufnahme des Gesagten, von Hinweisen und Erklärungen oder von Unterrichtsinhalten und damit des Lernstoffs führen kann (Leonhardt 2009, 122). Schätzungen in der Fachliteratur gehen davon aus, dass 30 bis 40 % einseitig hörgeschädigter Kinder schulische Lernprobleme zeigen, vor allem im Schriftspracherwerb (Rosanowski/Hoppe 2004).

Pädagogische Hinweise

Es gilt vor allem, das Bewusstsein zu wecken, dass das Kind oder der Jugendliche trotz (fast immer) normgerechter Sprache und nach außen kaum sichtbaren Auffälligkeiten im Verstehen eingeschränkt ist. Für die Teilhabe an sozialen Situationen muss der Betroffene mehr Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen. Es ist besonders darauf zu achten, ob die Kinder und Jugendlichen Verunsicherungen, Konzentrationsschwächen, Lernschwierigkeiten bis hin zum schulischen Versagen, soziale Probleme oder somatische Beschwerden zeigen. Die genannten Bereiche können ein Hinweis auf Überlastung, Überforderung und Stress sein. Es bedarf der Aufklärung des sozialen Umfeldes, damit es nicht zu Fehlreaktionen kommt.

Technische Versorgung

Einseitig von einer Hörschädigung betroffene Personen erhalten je nach Art und Ausmaß eine Hörhilfe. Etabliert hat sich bei einseitiger Taubheit inzwischen auch die Versorgung mit einem Cochlea Implantat. Den Betroffenen werden mittels Hörhilfe ein Richtungshören und ein besseres Hören unter Störschallbedingungen möglich.

Literatur

Feldmann, H./Brusis, T. (2006): Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme.

Leonhardt, A. (2009): Pädagogische Aspekte der einseitigen und minimalen Hörschädigung. In: Sprache Stimme Gehör, 33(3), 121–125.

Rosanowski, F./Hoppe, U. (2004): Einseitige Innenohrschwerhörigkeit bei Kindern und Jugendlichen: Diagnostik und Intervention. In: Sprache Stimme Gehör, 28(2), 60–69.

Weiterführende Literatur

 

Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16–30.

Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.

 

Annette Leonhardt

Minimale Hörschädigung

Definition

Minimale Hörschädigungen, auch als leicht- oder geringgradige Hörschädigungen bezeichnet, sind Hörverluste von 20 bis maximal 40 dB. Man spricht auch von minimaler Schwerhörigkeit, wobei diese sich auf einen maximalen Hörverlust von 35 dB bezieht.

Nickisch (2009, 110 f.) beschreibt drei unterschiedliche audiologische Konstellationen:

•  bilateraler minimaler Hörverlust mit dauerhaftem Hörschwellenverlauf der Luftleitung von 20 bis 40 dB bezogen auf 500, 1.000 und 2.000 Hz

•  Hochfrequenzverlust mit dauerhaften Hörschwellen (Luftleitung) von über 25 dB bei mindestens zwei Frequenzen über 2.000 Hz, d. h. 3.000, 4.000, 6.000, 8.000 Hz (ein- oder beidseitig)

•  unilaterale Hörverluste mit dauerhaften einseitigen Hörschwellen (Luftleitung) von durchschnittlich mindestens 20 dB bei 500, 1.000 und 2.000 Hz im betroffenen Ohr mit normaler Hörschwelle auf dem anderen Ohr.

Ursachen

Die Ursachen entsprechen je nach Art denen einer  Schallleitungsschwerhörigkeit, einer  Schallempfindungsschwerhörigkeit oder einer  kombinierten Schwerhörigkeit. Handelt es sich um eine kindliche Hörstörung, kann diese angeboren, frühzeitig erworben oder im Vorschul- oder Schulalter eingetreten sein. Auch ein Beginn im Erwachsenenalter ist möglich.

Diagnose

Ist die minimale Hörschädigung angeboren, wird sie aufgrund ihres geringen Ausmaßes beim Neugeborenen-Hörscreening (NHS) nicht erkannt, da sie unterhalb der »Erkennungsschwelle« liegt (das NHS erfasst Hörverluste ab 35 dB). Die Unauffälligkeit im NHS kann dazu führen, dass sich die Eltern »in Sicherheit wähnen« und die Hörschädigung längere Zeit unentdeckt bleibt. Dies verweist auf die Notwendigkeit der gründlichen und exakten Fortführung der Früherkennungsuntersuchungen (U1 bis U9).

Im Weiteren entsprechen die Diagnoseverfahren den üblichen pädaudiologischen Methoden zur Feststellung einer Hörschädigung. Der Hörschwellenverlauf bei minimaler Hörschädigung liegt zwischen Normalhörigkeit und einer »alltags- bzw. kommunikationsrelevanten Hörstörung« (Nickisch 2009, 110).

Die Prävalenz nimmt im Laufe des Schulalters zu, zum einen durch progrediente Verläufe und zum anderen durch Traumata, Lärm oder Infekte.

Auswirkungen

Obwohl als »minimal« bezeichnet, bedeutet das nicht, dass sie keine oder nur extrem geringe Folgen und Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben können. Sie stellen ein Risiko für eine ungehinderte und normgerechte Hör- und Sprachentwicklung des Kindes dar.

Mögliche Probleme bei der Sprachentwicklung sind:

•  Lautbildungsfehler und Dyslalien, da stimmlose Konsonanten und Zischlaute nicht ausreichend gehört werden

•  Agrammatismus, da unbetonte Endungen nicht markant wahrgenommen werden

•  im Extremfall kann ein eingeschränkter Wortschatz die Folge sein

(Leonhardt 2009, 122).

Da die Schüler »auf den ersten Blick« unauffällig wirken, wird ihre Situation oft falsch eingeschätzt. Sie müssen sich beim Hören mehr anstrengen, was zu schnellerer Hörermüdung und rascherem Abbau der Aufmerksamkeit führen kann. Die Folgen sind mangelnde Konzentration, Ablenkbarkeit, Erschöpfung, Reizbarkeit oder Auffälligkeiten im sozialen und emotionalen Bereich oder im Verhalten. Mitunter kommt es zu Störungen in der (Schrift-)Sprache, da grammatische Markierungen unzureichend wahrgenommen und dann wie gehört verwendet werden. Nicht selten werden die Auswirkungen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) verwechselt.

Des Weiteren liegen Beeinträchtigungen in der Leistungsfähigkeit und beim Lernen vor. Erschwerend kommt hinzu, dass Betroffene oft längere Zeit unerkannt bleiben und so bereits Defizite eingetreten sein können. Menschen mit minimaler Hörschädigung (gleich welchen Alters) müssen sich ständig mehr anstrengen, mehr leisten, mehr konzentrieren und mehr Aufmerksamkeit aufbringen, um alles zu verstehen. Die Folgen können frühzeitigere Ermüdung und Erschöpfung sein.

Eine Studie von Bess et al. (1998) belegt an Hand von Schülerdaten des 3., 6. und 9. Schuljahrgangsbesuches, dass Schülerinnen und Schüler mit minimaler Schwerhörigkeit im Vergleich zum regionalen Durchschnitt deutlich häufiger ein Schuljahr wiederholen müssen.

Pädagogische Hinweise

Pädagogisch gesehen wurden die Auswirkungen einer minimalen (wie auch  einseitigen) Hörschädigung lange Zeit unterschätzt. Heute ist man sich der Tatsache bewusst, dass auch sie die Unterstützung und Begleitung durch einen Hörgeschädigtenpädagogen benötigen.

Eltern und Betreuungspersonen müssen umfassend informiert und regelmäßig begleitet werden, um die Hör-, Sprach- und Schulentwicklung angemessen beobachten und unterstützen zu können.

Gemeinsam mit den Eltern ist das Betreuungspersonal in Kindertagesstätten sowie die Lehrkräfte auf die besondere Situation der Kinder hinzuweisen. Regelmäßige audiometrische Kontrollen (mindestens bis in das Jugendalter) sind anzuraten, um auszuschließen, dass die Hörschädigung einen progredienten Verlauf nimmt oder im Falle dessen, diesen frühzeitig zu erkennen und die Hörsysteme rechtzeitig an die veränderte Situation anzupassen.

Wie bei den Kindern mit einseitiger Hörschädigung gilt es, das Bewusstsein zu wecken, dass das Kind oder der Jugendliche trotz zumeist normgerechter Sprache und nach außen kaum sichtbaren Auffälligkeiten im Hören und Verstehen eingeschränkt ist. Für die Teilhabe an sozialen Situationen muss das Kind mehr Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen.

Technische Versorgung

Auch bei minimaler Hörschädigung sollte geprüft werden, ob Hörsysteme die Hör- und Verstehenssituation des Betroffenen verbessern (nach den gegenwärtig gängigen Richtlinien muss eine solche (noch) nicht mit Hörgeräten versorgt werden). Ob eine solche infrage kommt und für den Betroffenen hilfreich ist, sollte individuell abgeklärt werden. In vorschulischen und schulischen Lernsituationen kann ergänzend eine Übertragungsanlage genutzt werden.

Literatur

Bess, F. H./Dodd-Murphy, J./Parker, R. A. (1998): Children with Minimal Sensorineural Hearing Loss: Prevalence, Educational Performance, and Functional Status. In: Ear and Hearing, 19(5), 339–354.

Leonhardt, A. (2009): Pädagogische Aspekte der einseitigen und minimalen Hörschädigung. In: Sprache Stimme Gehör, 33(3), 121–125.

Nickisch, A. (2009): Minimale Hörstörungen im Kindesalter: Bedeutung, Auswirkungen und Behandlung als Übersicht. In: Sprache Stimme Gehör, 33(3), 110–115.

Weiterführende Literatur

 

Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16-30.

 

Annette Leonhardt

Tinnitus

Der Begriff Tinnitus (lat. Tönen) steht für wahrgenommene Geräusche, die auf einer Funktionsstörung des Hörsystems beruhen. Diese können, wie beim objektiven Tinnitus durch Blutgefäße oder Muskelspannungen, erzeugt werden. Der subjektive Tinnitus besteht aus nur subjektiv wahrnehmbaren Phantomgeräuschen. Am häufigsten tritt Pfeifen oder Rauschen auf (Lenarz 1989). Die Entstehung von Tinnitus sollte zunächst differentialdiagnostisch abgeklärt werden. Häufigste Ursache für Tinnitus ist ein Hörverlust. Dabei wird das Phantomgeräusch meist im Bereich der Frequenz des ausgefallenen Hörbereichs wahrgenommen (Schecklmann et al. 2012). Hörverluste können infolge eines Lärmtraumas, ototoxischer Medikation, aber auch anderer degenerativer Prozesse des Hörsystems entstehen. Als weitere Auslöser von Tinnitus werden Kiefergelenksprobleme oder Hals-Wirbelsäulenprobleme (HWS), Tumore, besonders rund um den Hörnerv oder an den Hörzentren, Nebenwirkungen von Medikamenten, kardiovaskuläre Symptome sowie als stressvoll erlebte Lebenssituationen beschrieben (Biesinger et al. 2008). Eine ausführliche Diagnostik zum Ausschluss bzw. zur Behandlung körperlicher Auslöser des Tinnitus ist der erste Behandlungsschritt. Psychische Begleiterkrankungen wie Ängste, Depressionen oder Schlafstörungen sind ebenfalls häufig. Tinnitus selbst hat keine Krankheitsrelevanz, es besteht nur die psychische Belastung durch das Ohrgeräusch.

Tinnitus wird nach seiner erlebten subjektiven Auswirkung in vier Schweregrade eingeteilt von 1. kaum belastet über 2. nur in Stille beeinträchtigend hin zu 3. dauerhafter Beeinträchtigung bis zur 4. völligen Dekompensation (Goebel/Hiller 1998). Bis zur Dauer von drei Monaten wird Tinnitus als akut, danach als chronisch eingestuft. Wenn der Tinnitus die Lebensqualität des Betroffenen nicht erheblich beeinträchtigt, liegt ein kompensierter Tinnitus vor. Bei belastenden Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche wird der Tinnitus als dekompensiert bezeichnet (DGHNO-KHC 2015).

Erklärungsansätze

Tinnitus ist ein komplexes Phänomen, das bis heute in seinem genauen Zustandekommen nicht verstanden wird. Eine Hypothese der Tinnitusgenese ist, dass es durch den Ausfall des sensorischen Inputs infolge eines Hörverlustes zu Veränderungen der tonotopen Organisation des akustischen Kortex kommt (Mühnickel et al. 1998). Auch gestörte auditorische Feedbackschleifen werden als eine Ursache für Tinnitus angesehen (Hesse et al. 2008). Kujawa/Liberman (2009) zeigten im Tierversuch, dass durch ein Lärmtrauma synaptische Verbindungen von den Haarzellen zum Hörnerv zerstört werden. Dadurch gelangt weniger auditorischer Input in die Hörnerven. Durch homöostatische Prozesse versuchen die hörverarbeitenden Neurone diesen geringeren Input zu verstärken, es kommt zu einer messbar erhöhten Aktivität der betroffenen Neurone. Durch diesen Verstärkungsmechanismus wird das Erleben von Tinnitus ausgelöst (Schaette/Kempter 2006; Schaette/McAlpin 2011). Die genauen Abläufe dieser verstärkenden Prozesse werden gegenwärtig in Tierversuchen, aber auch in Computermodellen intensiv erforscht. Als begleitende Symptomatik und Anzeichen einer verschlechterten Hörwahrnehmung kann zudem häufig Lärmüberempfindlichkeit (Hyperakusis) beobachtet werden. Durch Sensibilisierungsprozesse, ähnlich der Schmerzwahrnehmung, kann es zu einer gesteigerten Tinnituswahrnehmung kommen (DGHNO-KHC 2015).

Gleichzeitig wird neuropsychologisch eine Beteiligung anderer stressorientierter Gehirnregionen wie des limbischen Systems (Leaver et al. 2016) oder der Amygdala (de Ridder et al. 2011) vorgefunden. Bei chronischem Tinnitus zeigen sich aktivierte neuronale Disstressschaltkreise relevanter Aufmerksamkeits- und Emotionsprozesse (Schecklmann et al. 2013).

Psychologische Auswirkungen

Dekompensierter Tinnitus führt bei vielen Betroffenen zu einem Gefühl von Kontrollverlust gegenüber dem eigenen Körper. Dies wird durch fokussierte Aufmerksamkeitsprozesse auf das Tinnituserleben zusätzlich verstärkt. Tinnitusbetroffene geraten dadurch in eine sensorische Falle: Das Hörsystem ist eng mit dem limbischen System verschaltet. Bedrohliche Geräusche haben eine emotional hoch aufgeladene Warnfunktion, die leicht in Disstress kippen kann. Daher ist das als nicht kontrollierbar erlebte bedrohliche Geräusch emotional sehr belastend (Hallam 1996). Die Belastung durch den Tinnitus kann mit einem Tinnitusfragebogen gemessen werden (Göbel/Hiller 1998). Die dem Tinnitus oftmals vorausgehende Hörschädigung wird häufig nicht wahrgenommen oder abgewehrt. Stattdessen wird der Tinnitus für die Hörminderung verantwortlich gemacht. Ähnlich verhält es sich bei gravierenden Überforderungs- und Stresssituationen. Hier kann der Tinnitus als Überlastung erlebt werden, hinter dem die eigentlichen auslösenden psychosozialen Faktoren zunächst verschwinden. Bei einer Tendenz zur psychosomatischen Verarbeitung kann es zur Verschiebung schwer aushaltbarer Gefühle und psychischer Zustände ins Körperliche kommen und die Tinnitusbelastung als Deckleiden für darunterliegende psychische Stressoren dienen.

Therapie des Tinnitus

Bei akutem Tinnitus wird nach möglichen körperlichen Auslösern gesucht und diese wenn möglich behandelt. So kann bei auslösender HWS-Problematik eine krankengymnastische Therapie das Mittel der Wahl sein. Bei chronischem Tinnitus geht es darum, eine Bewältigung des Tinnitus zu erreichen. Bei begleitender Hörminderung ist zunächst eine Versorgung der Hörschädigung ein wichtiges Therapieelement. Die Aufklärung und Psychoedukation der auslösenden neuropsychologischen und kognitiven Prozesse ist ein weiterer wichtiger Therapiebaustein, um die kognitive Kontrolle wieder zu erhöhen. Die Herabstufung der Bewertung der Gefährlichkeit des Tinnitus stellt dabei ein wichtiges Ziel dar. Dadurch wird das angstvolle Erleben des Ausgeliefertseins vermindert. Der Einsatz eines Rauschgenerators zur Maskierung des Ohrgeräusches kann in manchen Fällen das Gefühl subjektiver Kontrolle und eine Entspannung der beteiligten neuronalen Stresskreisläufe bewirken. Techniken der Aufmerksamkeitsumlenkung und deren Einübung sind weitere Therapieschritte.

Da das subjektive Leiden der Betroffenen zum Teil immens ist, werden auch unseriöse, wenig erfolgreiche, jedoch kostspielige Behandlungsangebote aus Verzweiflung aufgesucht, die häufig in Enttäuschung enden.

In der Regel bleibt Betroffenen mit chronisch dekompensiertem Tinnitus die Auseinandersetzung mit überfordernden Stresssituationen und die Abgrenzung gegenüber Überforderungen nicht erspart. Bei gravierender psychischer Folgesymptomatik wie starken Ängsten oder Depressionen kann auch eine psychiatrisch-medikamentöse Begleittherapie sinnvoll sein. Eine Reihe psychotherapeutischer Ansätze und Modelle wurden zur Behandlung des Tinnitus vorgelegt (Delb et al. 2002; Kröner-Herwig 1997; Wirth 2004). Zur Unterstützung der Behandlung des Tinnitus gibt es Selbsthilfeliteratur sowie spezialisierte Kliniken und Behandlungszentren. Bei chronischem Tinnitus kann eine stationäre Behandlung empfehlenswert sein. Eine wichtige Rolle kann auch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe spielen, die in der sehr aktiven Selbsthilfeorganisation der Tinnitusbetroffenen (Tinnitusliga) organisiert sind.

Literatur

Biesinger, E./Reißhauer, A./Mazurek, B. (2008): Die Rolle der Halswirbelsäule und des Kiefergelenks bei Tinnitus. In: HNO, 56(7), 673–677.

Delb, W./D'Amelio, R./Archonti, C./Schonecke, O. (2002): Tinnitus. Ein Manual zur TinnitusRetrainingstherapie bei chronischem Tinnitus. Göttingen: Hogrefe.

de Ridder, D./Elgoyhen, A. B./Romo, R./Langguth, B. (2011): Phantom percepts: tinnitus and pain as persisting aversive memory networks. In: Proceedings of the National Academy of Science, 108(20), 8075–8080.

DGHNO-KHC (Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V.) (2015): Leitlinie Tinnitus. AWMF. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/017-064.html(Zugriff: 12.08.2020).

Goebel, G./Hiller, W. (1998): Tinnitus-Fragebogen (TF). Ein Instrument zur Erfassung von Belastung und Schweregrad bei Tinnitus, Handanweisung. Göttingen: Hogrefe.

Hallam, R. (1996): Leben mit Tinnitus. München: Urban & Vogel.

Hesse, G. (2015): Tinnitus. Stuttgart: Thieme.

Hesse, G./Andres, R./ Schaaf, H./Laubert A. (2008): DPOAE und laterale Inhibition bei chronischem Tinnitus. In: HNO, 56(7), 694–700.

Kröner-Herwig, B. (1997): Psychologische Behandlung des chronischen Tinnitus. Weinheim: Beltz.

Kujawa, S./Liberman, C. (2009): Adding insult to injury: cochlear nerve degeneration after »temporary« noise-induced hearing loss. In: Journal of Neuroscience, 29(45), 14077–14085.

Leaver, A./Seydell-Greenwald, A./Rauschecker, J. (2016): Auditory-limbic interactions in chronic tinnitus: Challenges for neuroimaging research. In: Hearing Research, 334(4), 49–57.

Lenarz, T. (1989): Ohrgeräusche. Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie. In: Deutsches Ärzteblatt, 86(B), 1249–1253.

Mühlnickel, W./Elbert, T./Taub, E./Flor, H. (1998): Reorganization of auditory cortex in tinnitus. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, 95(17), 10340–10343.

Schaette, R./McAlpine, D. (2011): Tinnitus with a normal audiogram: physiological evidence for hidden hearing loss and computational model. In: Journal of Neuroscience, 31(9), 13452-13457.

Schaette, R./Kempter, R. (2006). Development of tinnitus-related neuronal hyperactivity through homeostatic plasticity after hearing loss: a computational model. In: European Journal of Neuroscience, 23(6), 3124–3138.

Schecklmann, M./Vielsmeier, V./Steffens, T./Landgrebe, M./Langguth, B./Kleinjung, T. (2012): Relationship between Audiometric slope and tinnitus pitch in tinnitus patients: insights into the mechanisms of tinnitus generation. In: PLoS One, 7, 34878.

Schecklmann, M./Landgrebe, M./Poeppl, T./Kreuzer, P./Männer, P./Marienhagen, J./Wack, D./Kleinjung, T./Hajak, G./Langguth, B. (2013): Neural correlates of tinnitus duration and distress: a positron emission tomography study. In: Human Brain Mapping, 34(1), 233–240.

Wirth, W. (2004): Gestalttherapeutische Tinnitustherapie. In: Gestalttherapie, 18(2), 59–73.

 

Wolfgang Wirth/Katharina Müller

Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen

Definition

Tinnitus ist ein Höreindruck, der nicht auf der Stimulation durch einen äußeren Schallreiz beruht. Ein chronifizierter Tinnitus kann zu einer eigenständigen Erkrankung mit der Störung des Selbsterlebens werden.

Bedeutung in der Hörgeschädigtenpädagogik

Da auch Kinder und Jugendliche mit Tinnitus konfrontiert werden, benötigen die Lehrkräfte für Hörgeschädigte einen konzisen und lösungsorientierten Zugang. Für den Tinnitus gibt es bisher nur eine primär auf Erwachsene zielende S3-Leitlinie, die für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen im Falle der Dekompensierung z. T. anderer Überlegungen als beim Erwachsenen bedarf.

Klassifikation

Tinnitus wird nach folgenden Gesichtspunkten klassifiziert:

1.  Objektiv vs. subjektiv: Objektiv ist der Tinnitus, der nicht nur vom Betroffenen, sondern auch vom Untersucher oder anderen Personen gehört werden kann. Subjektiv ist der Tinnitus, der nur vom Betroffenen gehört werden kann.

2.  Wie bei Erwachsenen ist ein Tinnitus auch bei Kindern und Jugendlichen in aller Regel subjektiv. Mehr noch als bei Erwachsenen steht bei jüngerem Menschen die Befürchtung im Raum, wegen der Subjektivität nicht ernst genommen zu werden. Dieser Gesichtspunkt gehört altersgruppengerecht besprochen.

3.  Akut vs. chronisch: Als akut wird der Tinnitus bezeichnet, der seit nicht mehr als drei Monaten besteht, chronisch ist ein länger als drei Monate anhaltender Tinnitus.

4.  Im Akutstadium werden Medikamente verabreicht, im chronischen Stadium haben sie dann einen Stellenwert, wenn sie denn auf eine medikamentös behandelbare ursächliche Erkrankung zielen oder aber auf Folgen wie Schlafstörungen, eine Depression, eine Angsterkrankung oder anderes. Eine spezifisch auf den Tinnitus zielende Medikation ist im chronischen Stadium nicht sinnvoll.

5.  Ort der Entstehung: Äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr, Hörnerv, Gehirn.

6.  Grundsätzlich kann ein Tinnitus an jeder Stelle des Hörsystems entstehen, dies gilt auch beim Kind und Jugendlichen. Darauf zielen die HNO-ärztliche Diagnostik und die »audiologische« Therapie ab.

7.  Mögliche Komorbiditäten: Prinzipiell müssen wie beim Erwachsenen körperliche und seelische Begleitstörungen erfragt und ggf. interdisziplinär bewertet werden.

Einen psychogenen Tinnitus gibt es bei Kindern und Jugendlichen nicht, der Begriff kommt in der Leitlinie zudem gar nicht vor – der klinisch »eindeutige« Eindruck einer relevanten, gravierenden seelischen Komorbidität kann im Hinblick auf das Ursachengefüge fehlleiten.

Graduierung des Tinnitus

Kompensation und Dekompensation eines Tinnitus müssen bei Kindern und Jugendlichen mit einem komplexeren Ansatz als bei Erwachsenen parametrisiert werden. Geeignet ist der Bezug zur für Kinder und Jugendliche altersgruppenspezifisch definierten gesundheitsbezogenen Lebensqualität: Dabei geht es um die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der wichtigsten Aspekte der eigenen Lebenssituation, insbesondere des eigenen, selbst erlebten Gesundheitszustandes, der eigenen Funktionsfähigkeit, der sozialen Integration und der eigenen Teilhabe an altersentsprechenden Lebensvollzügen.

Diagnostik

Die in der Tinnitus-Leitlinie aufgelisteten Anamnese-Fragen gelten prinzipiell auch für Kinder und Jugendliche, ihr Fokus liegt auf den Folgen fürs Selbsterleben. Für den betroffenen jungen Menschen ist mehr noch als beim Erwachsenen die Möglichkeit, dem eigenen Leiden gegenüber dem Arzt Ausdruck geben zu können, bereits ein relevanter Teil der Therapie.

Jenseits der audiologischen Tinnitusuntersuchung (Bestimmung, Verdeckung) gibt die Bestimmung der Unbehaglichkeitsschwelle Hinweise für eine assoziierte Hyperakusis als quasi »phobischem Element« des Tinnitus, was dann selbst im negativen Falle Gegenstand der wertenden Befundbesprechung sein sollte. Die Messung des Sprachverstehens auch im Störgeräusch kann Hinweise für das Vorliegen einer  Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung AVWS geben.

Therapie

Im Falle der Kompensation bedarf der chronische Tinnitus neben der intensiven, ggf. in mehreren Sitzungen zu realisierenden Beratung des Betroffenen und seiner Eltern (»Counseling«) keiner weiteren Therapie. Dekompensiert ist der chronische Tinnitus, der nach dem Counseling eine apparative Therapie (Hörgeräte, Tinnitus-Noiser), die wiederholte HNO-ärztliche Anleitung und Bestärkung und ggf. eine weitere pädiatrische und/oder kinder-jugendpsychiatrische Therapie mit einer verhaltensmodifizierenden Psychotherapie braucht.

Natürlich führt allein die Befürchtung, ein Tinnitus werde ein ganzes Leben lang anhalten, zu einer schweren Erschütterung des Selbsterlebens sowohl des Betroffenen als auch seiner Eltern, eigentlich muss es zu einer auch für den Arzt nur sehr schwer auszuhaltenden Katastrophisierung kommen. Aber: Nach einer erfolgreichen Habituation wird der Betroffene den Tinnitus nicht mehr als belastend und im Idealfall nur bei gezielter Befragung überhaupt als existent beschreiben. Begründet werden kann das damit, dass bei Kindern und Jugendlichen mit einer angeborenen Schwerhörigkeit in mehr als zwei Drittel der Fälle ein Tinnitus vorliegt, aber nur im Ausnahmefall wird dieser Tinnitus dekompensieren. Der angeboren Schwerhörige schafft es spontan, sein Ohrgeräusch in den Höreindruck zu integrieren, was das Gehirn des nicht angeboren Schwerhörigen mit einem Tinnitus zunächst lernen muss, aber auch lernen kann. Die Langzeitprognose des Tinnitus ist beim Kind und Jugendlichen gut.

Quintessenz

Die ursprünglich für die Anwendung an Erwachsenen konzipierte Leitlinie zum Tinnitus kann als Rahmen auch für die Anwendung an Kindern und Jugendlichen empfohlen werden. Die HNO-ärztliche Indikation für eine apparative Behandlung, deren Koordinierung und Anleitung sind Basismodul der Therapie, quasi die »fachmedizinische Hausaufgabe«. Ein chronisch-dekompensierter Tinnitus braucht seitens des HNO-Arztes die Organisation eines interdisziplinären Behandlungsnetzes; gezielte Absprachen zwischen ihm und der zuständigen Lehrkraft für Hörgeschädigte können für die betroffene Schülerin bzw. den betroffenen Schüler hilfreich sein.

Literatur

S3-Leitlinie. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017-064l_S3_Chronischer_Tinnitus_2015-02.pdf (Zugriff: 03.06.2019).

Weiterführende Literatur

 

Rosanowski, F./Hoppe, U./Pröschel, U./Eysholdt, U. (1997): Chronischer Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen. In: HNO, 45(11), 927–932.

 

Frank Rosanowski

Lärmschwerhörigkeit

Die arbeitsbedingte Lärmschwerhörigkeit (BK 2301 der Berufskrankheitenliste) gehört – nach wie vor – zu den häufigsten Berufskrankheiten. Eine Lärmschwerhörigkeit kann sich bei einem Teil der Lärmarbeiter ab einem Tageslärmexpositionspegel von 85 dB(A) und mehr entwickeln, wenn der Exponierte über viele Jahre oder Jahrzehnte ungeschützt gehörschädigendem Lärm ausgesetzt war. Das Gehörschadensrisiko hängt daher von Intensität und Dauer der Lärmbelastung (Lärmdosis) ab. Lärmintensive Arbeitsplätze gibt es z. B. in der Metall- und Holzverarbeitung, im Hoch- und Tiefbau, in der Energietechnik, in der Textil- und Nahrungsmittelindustrie, im Bergbau usw. Das Risiko von Gehörschäden bei Symphonikern durch klassische Musik oder bei Jugendlichen durch Diskothekenbesuch oder Hearables wird meist überschätzt (Hoffmann 1999). Die tatsächlichen Hörverluste sind oft geringer als nach dem Hörverlustverteilungsmodell ISO 1999 zu erwarten wäre (Feldmann/Brusis 2019). Freizeitlärm, z. B. bei Heimwerkern, kann das Gehör ebenfalls beeinträchtigen, wenn kein Gehörschutz verwendet wird. Meist führt Arbeitslärm nur zu einer geringgradigen Schwerhörigkeit. Daher kommen bei der Lärmschwerhörigkeit keine audiogenen Sprachstörungen vor. Höhergradige Ausmaße der Lärmschwerhörigkeit hat es früher gegeben, als die Lärmpegel am Arbeitsplatz noch extremer waren und die Präventionsmaßnahmen nicht so weit entwickelt waren wie heute.

Ein Lärmschaden der Innenohren kann prinzipiell durch eine Überstimulation der Innenohren oder eine erhöhte Vulnerabilität des Gehörs hervorgerufen werden sowie durch eine Kombination beider Faktoren. Eine pathologische Aktivitätserhöhung, ausgelöst durch die überlaute Schallstimulation, kann zur metabolischen Überforderung des Innenohres führen. Lärmschädigungen treten aber nur bei vulnerablen Innenohren auf. Die meisten Menschen verfügen über ein lärmfestes Gehör. Daher führt eine akustische Überstimulation nicht immer zu einer Schädigung des Gehörs (Plontke/Zenner 2004). Eine Lärmschädigung der Innenohren findet sich nur bei ca. 5 % der belasteten Lärmarbeiter, nur bei 1 bis 2 % liegt eine entschädigungspflichtige Lärmschwerhörigkeit vor. Bei kurzzeitigen extremen Lautstärken können auch mechanische Verletzungen des Innenohres (Knalltrauma, Explosionstrauma) folgen. Es handelt sich dann um einen Arbeitsunfall.

Typisch ist bei der tonaudiometrischen Untersuchung eine Hochtonsenke, die sog. c5-Senke ( Abb. 1).

Abb. 1: Das typische Tonaudiogramm einer geringgradigen Lärmschwerhörigkeit beider Ohren. Im Hochtonbereich zeigt sich eine Senkenbildung bei 4000 Hz, die sog. c5-Senke. Die Hörverluste sind seitengleich ausgeprägt. »KL=LL« bedeutet, dass die Knochenleitungskurve bds. der Luftleitungskurve entspricht. Es handelt sich also um eine reine Innenohrschwerhörigkeit. Der Pfeil bei 4000 Hz ist das Symbol einer Tinnitusmessung: Das Ohrgeräusch wurde beiderseits bei einer Frequenz von 4000 Hz angegeben. Es ist in dem Frequenzbereich lokalisiert, wo sich der größte lärmbedingte Hörverlust befindet.

Um die Diagnose einer Lärmschwerhörigkeit stellen zu können, müssen weitere Kriterien erfüllt sein (eine adäquate Lärmexposition, die Entwicklung der Schwerhörigkeit parallel zur Lärmarbeit, Nachweis eines Innenohrschadens, Symmetrie der audiometrischen Befunde, ein typischer Kurvenverlauf). Berufsbedingter Lärm führt nie zu einer  Mittelohrschwerhörigkeit. Die Lärmschwerhörigkeit ist gegenüber anderen Schwerhörigkeitsformen differenzialdiagnostisch abzugrenzen, die in der Bevölkerung häufiger sind als die Lärmschwerhörigkeit, z. B. eine genetisch bedingte Schwerhörigkeit, eine degenerative Schwerhörigkeit, eine infektionstoxische Schwerhörigkeit, eine sog.  Altersschwerhörigkeit, eine Otosklerose, ein Hörsturz usw. Ein  Tinnitus ist dann als lärmbedingt zu interpretieren, wenn er sich parallel zur Lärmschwerhörigkeit entwickelt hat und wenn er sich audiometrisch im Bereich der hohen Frequenzen nachweisen lässt. Es handelt sich dann um den Begleit-Tinnitus einer Lärmschwerhörigkeit. Manche Menschen werden durch einen Tinnitus mehr beeinträchtigt als durch ihre Hörminderung. Einen lärmbedingten Tinnitus ohne lärmbedingten Gehörschaden gibt es dagegen nicht (Schönberger et al. 2017). Kurzdauernde Lärmereignisse von hoher Schalldruckstärke können zu einem Knalltrauma oder akuten Lärmtrauma führen. Ein Knalltrauma setzt einen Spitzenschalldruckpegel von 150 bis 160 dB (A) über 1 bis 3 ms voraus, ein akutes Lärmtrauma Schalldruckpegel oberhalb 130 dB (A) über Sekunden, Minuten oder Stunden.

Eine Lärmschwerhörigkeit ist nicht heilbar. Sie lässt sich aber durch die konsequente Verwendung von persönlichen Gehörschutzmitteln (Ohrenstöpsel, Ohrenkapseln, individuell angepasster Gehörschutz usw.) verhindern. Außerdem sind die Unternehmer verpflichtet, Maschinen mit geringerer Lärmentwicklung anzuschaffen bzw. alte laute Maschinen durch leisere zu ersetzen. Zudem werden Arbeitnehmer in regelmäßigen Abständen audiometrisch kontrolliert, um eine beginnende Schwerhörigkeit rechtzeitig zu erkennen. Wenn eine Lärmschwerhörigkeit dennoch eingetreten ist, kann eine Hörgeräteanpassung notwendig sein. Die Kosten werden dann von der zuständigen Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse übernommen. Bei fortgeschrittener Lärmschwerhörigkeit erhält der Geschädigte außerdem eine lebenslange Rente.

Literatur

Feldmann, H./Brusis, T. (2019): Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 8. Aufl. Stuttgart/New York: Thieme.

Hoffmann, E. (1999): Der Einfluss von Popmusik auf die Hörfähigkeit und Konsequenzen für die Prävention von Hörschäden. Musikphysiologie und Musikermedizin, 6(4), 111.

Plontke, S./Zenner, H. P. (2004): Aktuelle Gesichtspunkte zu Hörschäden durch Berufs- und Freizeitlärm. In: Laryngo-Rhino-Otol, 83(S1), 122.

Schönberger, A./Mehrtens, G./Valentin, H. (2017): Arbeitsunfall und Berufskrankheit. 9. Aufl. Berlin: Schmidt.

 

Tilman Brusis

Altersschwerhörigkeit/Presbyakusis

Definition

Bei der Altersschwerhörigkeit (auch Presbyakusis/age-related hearing loss [ARHL]) handelt es sich um eine Form der sensorineuralen Schwerhörigkeit, d. h., dass meist sowohl die Haarzellen des Innenohres als auch die zentrale Hörbahn Veränderungen und Einschränkungen der Funktionsfähigkeit aufweisen (Hesse/Laubert 2005, A2864).

Ätiologie

Altersbedingte anatomische und physiologische Veränderungen lassen sich auf allen Ebenen des Gehörs – äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr und auditiver Kortex – nachweisen (Chisolm et al. 2003) und sind neben genetischen Faktoren und altersbedingten Veränderungen des Nervensystems Faktoren für die Beeinträchtigung der Hörfähigkeit im Alter (Zhang et al. 2013, 118). Zu den exogenen Risikofaktoren zählen in erster Linie die Lärmexposition, aber auch die Einnahme ototoxischer Medikamente (Baur et al. 2009, 1025). Auch andere Erkrankungen, wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen und Hyperlipidämie, werden als Risiken diskutiert (ebd.; Zhang et al. 2013, 118). Plath (2000, 5) erklärt, dass letztlich die Summe aller exogenen und endogenen Schädigungen über die gesamte Lebensspanne einer Person zu einer erworbenen Hörschädigung im Alter führt.

Symptomatik

Charakteristisch für die Altersschwerhörigkeit ist ein langsam fortschreitender (etwa) seitengleicher Hochtonverlust, welcher schon im mittleren Lebensalter beginnt (Marsiske et al. 2010, 407). Zunächst bemerkt der Betroffene nur unter Störschallbedingungen Beeinträchtigungen (Davis et al. 2016, 256). Oft registrieren die Betroffenen den Hörverlust erst dann, wenn die Schwerhörigkeit auch mittlere Frequenzen und somit die für die Sprachperzeption relevanten Bereiche umfasst und die Hörminderung so stark ist, dass sich diese auch in ruhiger Umgebung auswirkt.

Aufgrund der schleichenden Abnahme der Hörfähigkeit ergibt sich zudem häufig ein Gewöhnungsprozess, welcher dazu führt, dass erst spät eine diagnostische Abklärung oder gar Hörgerätenutzung in Erwägung gezogen wird.

Neben der Veränderung der Hörschwelle spielen bei der Altersschwerhörigkeit die Beeinträchtigungen der zentral-auditiven Funktionen eine besondere Rolle. Dazu zählen neben der Lokalisation, dem Lautheitsempfinden vor allem die Störschallunterdrückung. Oftmals gehen diese neuralen Veränderungen des Hörens »den sensorischen Defiziten (Haarzellverlust) voraus« (Euteneuer/Praetorius 2014, 92).

Das Hören im Störgeräusch ist daher für die Betroffenen häufig besonders stark beeinträchtigt, und zwar weit stärker, als die Hörschwelle es vermuten lassen würde, d. h., dass ältere Schwerhörige in einem viel stärkeren Maße von Einbußen der zentralen Funktionen des Hörens betroffen sind als jüngere Personen mit vergleichbaren Hörschwellen (Gablenz/Holube 2016; Meister et al. 2011). Hierbei spielen natürlich auch altersbedingte Veränderungen der kognitiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse, u. a. der (selektiven) Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses, eine Rolle.

Bei der Diagnostik von Schwerhörigkeiten im Alter sollte die Funktionsfähigkeit der zentralen Verarbeitung immer erfasst werden, weil die »Reinton-Audiometrie funktionelle Beeinträchtigungen des Gehörs im Alltag eher unterschätzt« (Marsiske et al. 2010, 407).

Prävalenz

Die Gruppe der Älteren ist unter den Menschen mit Hörbeeinträchtigung die mit Abstand größte. Die Wahrscheinlichkeit eine Schwerhörigkeit zu erwerben, steigt mit dem Lebensalter deutlich an. So wird etwa angenommen, dass »die Prävalenz des klinisch signifikanten Hörverlusts bei Menschen im Alter von 61 bis 70 Jahren […] 37 %« beträgt und bei den »71- bis 80-Jährigen auf 60 %« ansteigt (Davis zit. n. Baur et al. 2009, 1023).

Für die Altersgruppe der Hochaltrigen (ab 85 Jahren) wird die Prävalenz sogar auf 80 % geschätzt (Zhang et al. 2013, 118) und stellt somit eine der häufigsten chronischen Beeinträchtigungen im Alter dar.

Auswirkungen

Hörbeeinträchtigungen im Alter haben Auswirkungen auf die Alarmierungs-, die Orientierungsfunktion, die emotional-ästhetische Funktion und vor allem die Kommunikationsfunktion (Tesch-Römer 2001, 42). Wird die Altersschwerhörigkeit nicht behandelt bzw. kompensiert, können sich aus diesen direkten Auswirkungen sekundäre Beeinträchtigungen entwickeln.

Dazu zählen Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit, denn durch die reduzierte Stimulation kann der altersbedingte Abbau kognitiver Leistungsfähigkeiten verstärkt bzw. beschleunigt werden (Marsiske et al. 2010, 423). Zudem wurden Zusammenhänge zwischen Hörverlust und demenziellen Erkrankungen festgestellt. Dabei ist noch nicht ausreichend untersucht, wie dieser Zusammenhang zu deuten ist, also ob die Hörminderung kognitive Abbauprozesse begünstigt, oder andersherum, der Abbauprozess im auditiven Kortex die Hörfähigkeit reduziert oder gar eine gemeinsame andere Ursache möglich ist (Martin/Kliegel 2014, 65 ff.). Trotz dieser Unsicherheiten kann man Hörverluste als Risikofaktoren für demenzielle Erkrankungen bezeichnen (Teipel et al. 2015, 1).

Die Einschränkungen in der Kommunikationsfähigkeit und die in deren Folge häufig entstehenden Auswirkungen auf die soziale Teilnahme der Betroffenen sowie die reduzierte Fähigkeit, die ästhetisch-emotionale Funktion des Hörsinns zu nutzen, führen oftmals zu einer beeinträchtigten Lebensqualität. Entsprechend findet sich in Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen Hörbeeinträchtigung und reduzierter Lebensqualität (Dalton et al. 2003; Zhang et al. 2013; Wirth 2011).

Versorgung und Interventionsmaßnahmen

Das Hilfsmittel, welches für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen im Alter nach wie vor am weitesten verbreitet ist, ist das Hörsystem (Hörgerät), aber die Versorgung mit CI nimmt mittlerweile bei dieser Altersgruppe zu. Ein CI ist nur dann indiziert, wenn der Hörverlust derart stark ausgeprägt ist, dass von einer Ertaubung bzw. von hochgradiger Schwerhörigkeit zu sprechen ist (Sprinzl/Riechelmann 2010, 355). Ältere Betroffene profitieren von der Implantation »ähnlich wie jüngere Patienten« (Illg et al. 2018, 28).

Trotz der technischen Möglichkeiten sind viele der Betroffenen nicht versorgt oder nutzen ihre Hörsysteme nicht oder kaum (Müller 2019, 148 ff.). Dabei spielen sicher einerseits die Bagatellisierung der Altersschwerhörigkeit sowie das Doppelstigma Alter und Behinderung (Pelz 2007) eine Rolle, andererseits sind aber häufig auch überzogene Erwartungen an die Hörhilfe und eine fehlende Begleitung des Gewöhnungsprozesses ursächlich für die ungenutzten »Schubladen(hör)geräte«.

Um die Nutzung technischer Hilfsmittel zu steigern, günstiges Kommunikationsverhalten zu erlernen und die Bewältigung der Hörbeeinträchtigung zu unterstützen, sollte die medizinisch-technische Versorgung um ein zielgruppenspezifisches audiotherapeutisches/geragogisches Begleitangebot erweitert werden (Davis et al. 2016, 256).

Literatur