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Die Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik (Hörgeschädigtenpädagogik) hat von allen sonderpädagogischen Fachrichtungen die längste Tradition, ist multidisziplinär ausgerichtet und verfügt über ein umfangreiches und hoch spezifisches Fachwissen. Das fachliche Spektrum reicht von zentralen pädagogischen Fragestellungen der Förderung und Rehabilitation bis hin zu spezifischen Inhalten der Audiologie, Linguistik u.v.a.m. Diese Themen werden in diesem Handbuch durch Definitionen und Erklärungen zentraler Schlüsselbegriffe/-texte strukturiert und systematisiert. Das Buch ermöglicht dem Nutzer eine rasche fachliche Orientierung und bietet eine kompakte Informationsquelle.
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Seitenzahl: 951
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Die Herausgebenden
Prof. Dr. Annette Leonhardt war Inhaberin des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Prof. Dr. Thomas Kaul hatte den Lehrstuhl Pädagogik und Didaktik hörgeschädigter Menschen am Department Heilpädagogik und Rehabilitation der Universtät zu Köln inne.
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037234-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-037235-1
epub: ISBN 978-3-17-037236-8
Vorwort
Teil I: Beeinträchtigungen des Hörens
1 Arten der Hörschädigung
Schallleitungsschwerhörigkeit
Schallempfindungsschwerhörigkeit
Kombinierte Schwerhörigkeit
Gehörlosigkeit/Taubheit
Ertaubung
Einseitige Hörschädigung
Minimale Hörschädigung
Tinnitus
Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen
Lärmschwerhörigkeit
Altersschwerhörigkeit/Presbyakusis
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) aus pädagogischer Sicht
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) aus medizinischer Sicht
2 Ätiologie und Prävalenz
Ätiologie
Prävalenz
3 Hörschädigung und zusätzliche Beeinträchtigungen
Mehrfachbehinderung und Hörschädigung
Taubblindheit/Hörsehbehinderung
Syndrome
4 Auswirkungen
Schalllokalisation und Räumlichkeit
Schwindel, Gleichgewichtsentwicklung/-beeinträchtigung und Hörschädigung
Teil II: Personenkreis
Menschen mit Hörschädigung
Menschen mit Schwerhörigkeit
Menschen mit Gehörlosigkeit/Taubheit
Menschen mit Ertaubung
Menschen mit späterworbener Schwerhörigkeit
Hörgeschädigte Menschen mit Cochlea Implantat (CI)
Menschen mit einseitiger und minimaler Hörschädigung
Kinder und Jugendliche mit Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)
Hörbehinderte Menschen mit weiteren Behinderungen
Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung
Teil III: Förderorte und Organisationsformen für Kinder und Jugendliche mit Hörschädigung
Förderorte und Organisationformen
Pädagogisch Audiologische Beratungsstelle
Kindergarten
Förderzentrum, Förderschwerpunkt Hören
Inklusive Settings
Mobiler Dienst für die schulische Inklusion
Nebenschulische Betreuung
Netzwerk Berufliche Bildung
Berufsbildungswerke
Teil IV: Pädagogik bei Gehörlosigkeit/Taubheit und Schwerhörigkeit
Grundlagen einer Pädagogik bei Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit
Pädagogik bei Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit
Didaktik
Pädagogische Audiologie
Prävention
Schulische Inklusion
UN-Behindertenrechtskonvention
Geschichte der Hörgeschädigtenbildung
Geschichte der Lehrerbildung
Monographien, Handbücher und Sammelbände des Faches
Zeitschriften des Faches
Teil V: Kommunikation
Grundlagen und Grundbegriffe der Kommunikation
Kommunikation
Audiovisuelle Lautsprachperzeption
Barrierefreie Kommunikation
Lautspracherwerb
Gebärdenspracherwerb
Lautsprachbegleitende und Lautsprachunterstützende Gebärden
Deutsche Gebärdensprache (DGS)
Mehrsprachigkeit
Manualsysteme
Teil VI: Handlungsfeld: Vorschulische und schulische Förderung
1 Frühe Förderung
Neugeborenen-Hörscreening
Kritische Perioden/sensible Perioden/kritische Phasen/sensible Phasen für das Erlernen der Lautsprache
Sensible Phasen für Sprache
Früherkennung und Frühförderung
Modelle der Förderung
2 Aspekte der Entwicklung
Kommunikations- und Interaktionsentwicklung
Kognitive Entwicklung
Sozial-kognitive Entwicklung
Emotionale Entwicklung
Motorische Entwicklung
3 Diagnostik, Planen und Begutachten
Individuelle Förderpläne
Sonderpädagogisches Gutachten
Sprachdiagnostik
4 Hörgeschädigtenspezifische Bildungs- und Erziehungsaufgaben
Hör- und Sprachförderung
Visuelle Lautsprachperzeption (Absehen)
Lautsprachliche Förderung
Gebärdensprachliche Förderung
Bimodal-bilingualer Unterricht
Schriftsprache
Förderung im Bereich psychosozialer Entwicklung
Rhythmik/Rhythmisch-musikalische Erziehung
5 Besonderheiten des Unterrichts mit Schülerinnen und Schülern mit Hörschädigung
Organisatorische Maßnahmen im Unterricht
Unterrichtsprinzipien
Lehrersprache und lautsprachliche Kommunikation im Unterricht
6 Förderung in inklusiven Settings
Inklusiver Unterricht
Kooperation zwischen pädagogischen Fachkräften in inklusiven Bildungssettings
Identitätsarbeit im Kontext vorschulischer und schulischer Inklusion
Schulische Inklusion gebärdensprachlich kommunizierender gehörloser Schülerinnen und Schüler
Nachteilsausgleich
Teil VII: Handlungsfeld: Rehabilitation und Förderung
Rehabilitation und Förderung
Rehabilitation
Pädagogische Rehabilitation
Medizinische Rehabilitation
Medizinische Versorgung von gehörlosen Menschen: Herausforderungen und Möglichkeiten Schwierigkeiten im Zugang – Kommunikationsbarrieren
Berufliche Rehabilitation – Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA)
Berufliche Bildung
Hörerziehung und Hörtraining
Audiotherapie
Hör- und Kommunikationstaktiken
Absehtraining
CI-Rehabilitation für Kinder
CI-Rehabilitation für Erwachsene
Unterstützungsmaßnahmen und Fördermöglichkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)
Angebote für Menschen mit Schwerhörigkeit im Alter
Lebens- und Versorgungssituation von gehörlosen Menschen im Alter
Teil VIII: Handlungsfeld: Beratung und Psychotherapie für Menschen mit Hörschädigung
Beratung und Psychotherapie
Beratung
Spezifische Beratungsangebote
Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen
Psychotherapie bei Erwachsenen
Teil IX: Weitere Handlungsfelder
Weitere Handlungsfelder
Kooperation und Netzwerke
Neuropsychologische Entwicklungsdiagnostik bei hörgeschädigten Kindern
Coping und Bewältigung
Sexualisierte Gewalt
Kinder- und Jugendhilfe
Förderangebote für Kinder und Jugendliche mit Flucht- und Migrationshintergrund
Freizeit
Kinder- und Jugendfreizeiten
Schwerhörigenseelsorge
Gehörlosenseelsorge
Teil X: Interdisziplinäre Aspekte
Interdisziplinäre Aspekte und angrenzende Fachgebiete
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
Behinderung
Disability Studies und Hörgeschädigtenpädagogik
Deaf Cultural Studies/Deaf Studies
Ethische Aspekte und Gehörlosigkeit
Rechtliche Rahmenbedingungen für Leistungen zur Teilhabe
Soziale Arbeit und Menschen mit Hörbehinderung
Soziologischer Zugang
Erziehungswissenschaft
Psychologie
Sprachwissenschaft
Gebärdensprachlinguistik
Gerontologie
Kinder- und Jugendheilkunde (Pädiatrie)
Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde
Phoniatrie und Pädaudiologie
Genetische Ursachen von Hörstörungen
Psychiatrie
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Psychoakustik
Hörakustik
Pädakustik
Teil XI: Spezielle Themen
Spezielle Themen
Interkulturalität
Selbsthilfe
Diskriminierung und sozialer Ausschluss
Psychosoziale Situation Schwerhöriger
Gehörlosenkultur
Children of Deaf Adults (CODA)
Hörgeschädigte Eltern und CI
Teil XII: Technik
Hörhilfen
Nicht implantierbare Hörsysteme
Implantierbare Hörsystem
Übertragungsanlagen
Weitere technische Hilfen
Akustische Gestaltung von Klassen- und Fachklassenräumen
Teil XIII: Dienste der Kommunikationssicherung
Dienste der Kommunikationssicherung
Gebärdensprachdolmetschen
Schriftdolmetschen
Technikbasierte Dienste und Applikationen
Untertitelung
Teil XIV: Besonderheiten der Forschung
Besonderheiten der Forschung
Forschung in der Hörgeschädigtenpädagogik
Teil XV: Internationale Aspekte
Internationale Sicht
International und interkulturell vergleichende Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik
Hörgeschädigtenpädagogik in Europa
Hörgeschädigtenpädagogik in außereuropäischen Industrienationen
Hörgeschädigtenpädagogik in Entwicklungsländern
Weltbericht des Hörens
Anhang
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Die Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik (Hörgeschädigtenpädagogik) hat von allen sonder- und heilpädagogischen Fachrichtungen die längste Tradition, ist multidisziplinär ausgerichtet und verfügt über ein umfangreiches und hoch spezifisches Fachwissen. Das fachliche Spektrum reicht von zentralen pädagogischen Fragestellungen der Förderung und Rehabilitation bis hin zu spezifischen Inhalten der Audiologie, Linguistik, Medizin, Psychologie, Akustik u.v.a.m. Um die aktuellen Anforderungen umzusetzen, bedarf es einer multiprofessionellen Ausrichtung und Zusammenarbeit.
Im vorliegenden Buch werden wichtige Themen zu unterschiedlichen Teilbereichen der Hörgeschädigtenpädagogik durch Definitionen und Erklärungen in Form zentraler Schlüsselbegriffe und -texte strukturiert und systematisiert. Es soll auf diesem Weg versucht werden, leitende Begriffe und Inhalte des Faches und ihrer angrenzenden Disziplinen in ihrer Bedeutung für die Hörgeschädigtenpädagogik näher zu bestimmen.
Getragen wird das Handbuch von einer Offenheit, die unterschiedliche Positionen des Faches und ihrer Vertreterinnen und Vertreter zu Wort kommen zu lassen. Es geht um die Breite des Zugangs, um unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven und damit auch um die Darstellung sowie Erörterung der Vielfalt der wissenschaftlichen Ansätze und Überlegungen. Verbunden damit war das Anliegen, pädagogische Fragestellungen aufzugreifen und darauf Antworten zu finden und zugleich zur weiteren fachlichen Diskussion anzuregen.
Die inhaltliche Aufstellung wurde nach 15 Schwerpunkten, die sich teilweise in weitere eigenständige und in sich geschlossene Unterkapitel gliedern, geordnet. Das thematische Spektrum erstreckt sich von grundlegenden Fragestellungen zur Pädagogik, Didaktik und Inklusion bis hin zu Themen, die sich auf außerschulische und gesamtgesellschaftliche Lebensbereiche beziehen. Darüber hinaus wird auch ein Blick über die Grenzen hinweg auf die Entwicklungen in anderen Regionen der Welt geworfen.
Hierfür haben 88 Autorinnen und Autoren aus der Hörgeschädigtenpädagogik und den angrenzenden Disziplinen 159 Beiträge erstellt. Diese unterscheiden sich in ihrem Umfang sowie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung und Akzentuierung. Der Anregung des Verlages folgend, wurden die Beiträge vom Umfang her drei Kategorien zugeordnet. Die Umsetzung bei der Erarbeitung des Buches erfolgte durch einen Vorschlag der Herausgeber an die Autorinnen und Autoren.
Eine besondere Herausforderung brachte die Verwendung unterschiedlicher Terminologien mit sich, die in den jeweiligen Fachdisziplinen mit abweichenden Inhalten verwendet werden können. Deshalb wurde bei der Erarbeitung der Texte die Begrifflichkeit innerhalb dieser den jeweiligen Autorinnen und Autoren überlassen, um deren fachliche und inhaltliche Bezüge zu berücksichtigen. Die meisten Beiträge werden durch die Angabe weiterführender Literatur ergänzt, die anregen soll, inhaltlich fortführend und vertiefend sich mit dem Gebiet auseinanderzusetzen. So wird das Handbuch zu einem unverzichtbaren Kompendium, das sowohl praxisbezogene als auch theoriegeleitete Beiträge enthält und damit der Leserin oder dem Leser einen breiten Überblick zu zentralen Fragen der Pädagogik, Förderung und Rehabilitation von Menschen mit Hörschädigung sowie über die Komplexität des Faches eröffnet.
Dieses Nachschlagewerk richtet sich insbesondere an pädagogische Fachkräfte und an Studierende der Hörgeschädigtenpädagogik, aber auch an Fachleute anderer Disziplinen, die einen Einblick in diesen Themenbereich erhalten möchten.
Als Herausgeber bedanken wir uns bei allen Autorinnen und Autoren für die Mitwirkung und die umsichtige Erstellung der Texte und ihre Kooperation. Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag danken wir für seine umfassende Geduld und Unterstützung.
Für die schreibtechnische Bearbeitung des Manuskripts stand uns Frau Hannelore Raudszus zur Seite. Ihr gilt unser besonderer Dank für ihre Sorgfalt und ihr Engagement.
München und Köln im Sommer 2022
Annette Leonhardt und Thomas Kaul
Eine Schallleitungsschwerhörigkeit liegt vor, wenn der Schall nur mit geringerer Intensität, also abgeschwächt und gedämpft, zum Innenohr vordringt. Die Schallübertragung (Schallaufnahme und -fortleitung) zwischen dem äußeren Ohr und dem Innenohr ist eingeschränkt. Das akustische Signal wird um 30 bis 70 dB abgeschwächt (Zorowka 2019, 40). Die Folge ist leiseres Hören.
Mittelohrschwerhörigkeit, konduktive Schwerhörigkeit oder Transmissionsschwerhörigkeit
Bei Kindern spielen auch die vorübergehenden Schallleitungsschwerhörigkeiten eine Rolle, beispielsweise verursacht durch einen Paukenerguss oder durch Belüftungsstörungen im Rahmen von Infekten (Erkältungen). Umfassen diese einen zeitlichen Umfang von mehr als drei Monate (berechnet auf die Jahresbilanz), können diese zu Einschränkungen in der sprachlichen und kognitiven Entwicklung führen. Daher sind auch diese pädagogisch relevant. Des Weiteren können vorübergehende Schwerhörigkeiten das schulische Lernen beeinträchtigen.
Die Anamnese dazu erfolgt bei Kindern über die Eltern bzw. Bezugspersonen. Pädagogisch gesehen geht es hier vor allem um die Sprachentwicklung, mögliche Verhaltensauffälligkeiten oder -veränderungen oder auch um das auditive Verhalten (Reaktionen auf akustische Reize) des Kindes.
Im Erwachsenenalter kommt es zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit durch Trommelfellverletzungen und – als häufigste Ursache – durch Otosklerose. Bei ihr wird durch Knochenumbauprozesse die Schallübertragung erschwert, da die Beweglichkeit der Gehörknöchelkette eingeschränkt ist (in seltenen Fällen kann auch das Innenohr betroffen sein, was zu einer zusätzlichen Schallempfindungsschwerhörigkeit führt). Sie verläuft progredient und meist mit Tinnitus einhergehend. Ein besonderes Phänomen ist, dass diese Personen in lauter Umgebung besser hören als bei niedriger Lärmbelastung. Frauen sind häufiger als Männer betroffen. Eine Behandlung erfolgt chirurgisch oder mit Hörgerät.
Die Diagnose wird mittels Reintonaudiogramm gestellt, indem für beide Ohren sowohl die Luft- als auch die Knochenleitung bestimmt wird. Dabei zeigt die Knochenleitung normale Werte. Bei der Luftleitung zeigt sich ein Hörverlust (Luftleitungs-Knochenleitungsdifferenz), der weitgehend linear verläuft, d. h. alle Frequenzen sind in etwa gleich betroffen. Sie kann leicht- bis mittelgradig vorkommen.
Pädagogisch relevant sind medizinisch-chirurgisch nicht oder nicht im Kindesalter behebbare Schallleitungsschwerhörigkeiten. Zu letzteren gehören beispielsweise Gehörgangsatresien, die erst im Jugendalter operativ angegangen werden.
Die Folge einer Schallleitungsschwerhörigkeit ist, dass vor allem leise und tiefe Töne schlecht gehört werden. Das wirkt sich auch auf das Erkennen der Sprachlaute aus. Der Höreindruck ist also quantitativ beeinträchtigt. Tiefere Stimmen werden schlechter wahrgenommen. Die Fähigkeit, grundlegende Elemente der Lautsprache zu erkennen, ist jedoch vorhanden.
Die Unbehaglichkeitsschwelle ist nicht erhöht. Ebenso tritt kein Recruitment (= Lautheitsausgleich) auf.
Die geringere Intensität der Höreindrücke führt dazu, dass unbetonte Redeanteile (Endsilben, Partikel usw.) unzureichend verstanden werden mit der Folge, dass sie so, wie sie gehört, auch beim eigenen Sprechen verwendet werden. Die Konstanz der Wahrnehmung akustischer Zeichen bleibt erhalten, da keine Klangveränderungen vorliegen. Durch Verringerung der Distanz zwischen Sprecher (Pädagogen) und Hörer (Kind oder Jugendlichem) oder durch elektroakustische Verstärkung (Hörsysteme) ist ein »technischer« Ausgleich möglich. Eine lineare Intensitätsverstärkung bewirkt, dass das gesamte Sprachfeld in den Bereich des Hörens rückt. Die Artikulation der Schüler mit Schallleitungsschwerhörigkeit ist kaum betroffen. Ihr Sprechen ist unauffällig (Leonhardt 2018, 2019).
Im Unterrichtsalltag bedeutet eine Schallleitungsschwerhörigkeit jedoch auch bei technischer Versorgung (Hörgeräte) eine Beeinträchtigung. Die Schülerin oder der Schüler muss mehr Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen, um dem Unterricht zu folgen. Das trifft auch für die Spiel- und Lernsituation in der Kindertagesstätte zu.
Beim Besuch von Kindertagesstätten und der Schule ist eine hörgeschädigtenspezifische Begleitung zu gewährleisten. Liegt neben der Schallleitungsschwerhörigkeit eine weitere Behinderung vor, so ist mit nachteiligen Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung des Kindes zu rechnen. Dem muss ggf. durch interdisziplinäre Teams Rechnung getragen werden.
Von einer Schallleitungsschwerhörigkeit betroffene Kinder und Jugendliche werden mit
• konventionellen Hörsystemen
• Knochenleitungshörgeräten
• knochenverankerten Hörgeräten (Bone Anchored Hearing Aids, BAHA)
versorgt (Kompis 2016, 77).
Kompis, M. (2016): Audiologie. 4. Aufl. Bern: Hogrefe.
Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16–30.
Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.
Zorowka, P. G. (2019): Kindliche Hörstörungen, Pädiatrische Audiologie und Audiometrie. In: Götte, K./Nicolai, Th. (Hrsg.): Pädiatrische HNO-Heilkunde. 2. Aufl. München: Elsevier Urban & Fischer, 40–51.
Ptok, M. (1997): Das schwerhörige Kind. In: Deutsches Ärzteblatt, 94 (28–29), 14. Juli 1997, A-1932-A-1937.
Annette Leonhardt
Bei einer Schallempfindungsschwerhörigkeit liegt eine Funktionsstörung des Innenohres oder (selten) im Hörnerv vor mit einer beidseitigen permanenten Hörminderung von mehr als 30 bis 40 dB. Sie beruht auf pathologischen Veränderungen des Cortischen Organs oder retrocochleär der nervalen Hörbahn. Daher werden zwei Formen unterschieden: die sensorische (auch cochleäre) und die neurale (auch retrocochleäre) Schwerhörigkeit (Leonhardt 2019).
Kompis beschreibt die Schallempfindungsschwerhörigkeit als eine Störung, bei der »die Umwandlung der akustischen (= mechanischen) Signale in neurale (= elektrische) Signale in der Cochlea oder deren Weiterleitung im Hörnerv und entlang der Hörbahn gestört ist« (Kompis 2016, 77).
Im Allgemeinen werden die hohen Frequenzen besonders schlecht gehört, d. h. der Hochtonbereich ist umfänglicher betroffen. Häufig liegt ein Recruitment (= Lautheitsausgleich) vor (bei cochleärer Schwerhörigkeit). Oberhalb der Hörschwelle kommt es zu extremem Lautheitsempfinden mit vorzeitigem Erreichen der Unbehaglichkeitsschwelle. Bei retrocochleärer Schwerhörigkeit tritt dieses Phänomen nicht auf (a.a.O., 88).
Innenohrschwerhörigkeit, sensorineurale Schwerhörigkeit
Schallempfindungsschwerhörigkeiten können angeboren sein, sich im Kindesalter manifestieren oder im Jugend- und Erwachsenenalter eintreten.
Eine kindliche Schallempfindungsschwerhörigkeit kann pränatal (z. B. erblich bedingt, durch Fehlbildungen oder durch Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft), perinatal (z. B. Sauerstoffmangel während der Geburt, Frühgeburt, geringes Geburtsgewicht, Schädelverletzungen) oder postnatal (z. B. Meningitis, Encephalitis, ototoxische Medikamente, Infekte) entstehen. Im Erwachsenenalter kommen weitere Ursachen, wie chronische akustische Traumen (Arbeit unter extremen Lärmbedingungen), Morbus Meniere oder Altersschwerhörigkeit) hinzu.
Die Diagnose wird mittels Reintonaudiogramm gestellt, indem für beide Ohren sowohl die Luft- als auch die Knochenleitung bestimmt wird. Ihr Merkmal ist die im gleichen Maße angehobene Luftleitungs- und Knochenleitungskurve (zwischen beiden liegt keine Differenz).
Bei angeborener und frühkindlich erworbener Schwerhörigkeit kommen auch objektive Messverfahren zum Einsatz ( Phoniatrie/Pädaudiologie). Von Geburt an vorliegende Schallempfindungsschwerhörigkeiten werden heute durch das Neugeborenen-Hörscreening erkannt.
Eine Schallempfindungsschwerhörigkeit bewirkt ein verändertes, verzerrtes Hören. Der Höreindruck erfährt eine quantitative und qualitative Veränderung. Die Folge einer Schallempfindungsschwerhörigkeit ist, dass viele leise Geräusche und Sprachanteile nicht gehört werden und Gehörtes zusätzlich verzerrt wahrgenommen wird. Das Sprachverständnis ist eingeschränkt, insbesondere dann, wenn Störlärm und Nebengeräusche hinzukommen.
Das Gehörte ist im Vergleich zum nicht beeinträchtigten Gehör stark verändert. Ohne technische Hörhilfen kann es – in Abhängigkeit vom Ausmaß – zum Nichtverstehen von Sprache kommen; bei Verwendung von Hörhilfen bleibt es ein verändertes, unvollständiges und verzerrtes Hören. Insbesondere hohe Töne werden nicht oder nur deformiert wahrgenommen (betroffen sind vor allem Frikative, z. B. Zischlaute). Wörter und Sätze werden (je nach Ausmaß der Schallempfindungsschwerhörigkeit nur eingeschränkt oder gar nicht verstanden. Die Auswirkungen können sich in einem eingeschränkten Wortschatz, Auffälligkeiten in der Grammatik, einer veränderten Sprechweise (Artikulation) sowie einer beeinträchtigten Sinnentnahme aus Gehörtem und Gelesenem (Texte) zeigen (Leonhardt 2019). Eine kindliche Schallempfindungsschwerhörigkeit kann weitreichende Folgen für das Erlernen kommunikativer Fertigkeiten haben.
Sie kann vom Umfang her leicht-, mittel- oder hochgradig sowie an Taubheit (Gehörlosigkeit) grenzend sein.
Entscheidend für die Entwicklung eines Kindes mit Schallempfindungsschwerhörigkeit ist die Früherkennung und Frühförderung, die unmittelbar nach der Diagnose beginnen muss. Gleichzeitig soll eine erste Versorgung mit Hörhilfen erfolgen, die gerade in der Anfangszeit immer wieder angepasst (»nachreguliert«) werden müssen (Meier 2012), um eine optimale Anpassung und ausreichend Höreindrücke zu ermöglichen. Eine frühzeitige Hör-Sprech-Sprachförderung trägt dazu bei, Defizite in der Kommunikationsentwicklung des Kindes zu vermeiden oder so gering wie möglich zu halten.
In vorschulischen und schulischen Lernsituationen ist aus pädagogischer Sicht vor allem das Sprachverstehen zu sichern. Dies wird verbessert, wenn Stör- und Nebengeräusche vermieden oder so gering wie möglich gehalten werden.
Je nach Ausmaß der Schallempfindungsschwerhörigkeit werden bei Kindern normalerweise HdO(Hinter dem Ohr)-Geräte ( Nicht implantierbare Hörsysteme) angepasst. Bei Vorliegen einer hochgradigen, an Taubheit grenzenden Schallempfindungsschwerhörigkeit erfolgt eine Versorgung mit Cochlea Implantaten ( Implantierbare Hörsysteme). In der Kindertagesstätte und im Unterricht der Schule sollten ergänzend Übertragungsanlagen genutzt werden.
Bei Erwachsenen kommen auch IdO(In dem Ohr)-Geräte ( Nicht implantierbare Hörsysteme) und in jüngster Zeit implantierbare Hörgeräte zum Einsatz; sie werden als teil- und vollimplantierbare Systeme angeboten (Schößer/Brill 2017).
Kompis, M. (2016): Audiologie. 4. Aufl. Bern: Hogrefe.
Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.
Meier, S. (2012): Frühe Hörgeräteversorgung. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Frühes Hören. München: Reinhardt, 113-125.
Schößer, H./Brill, St. (2017): Technische Hörhilfen als Möglichkeit der Rehabilitation von Menschen mit Hörschädigung. In: Leonhardt, A./Ludwig, K. (Hrsg.): 200 Jahre Gehörlosen- und Schwerhörigen(aus)bildung in Bayern – Vom Jahreskurs zum interdisziplinären Studium an der Universität. Heidelberg: Median, 153-164.
Ptok, M. (1997): Das schwerhörige Kind. In: Deutsches Ärzteblatt, 94(28-29), 14. Juli 1997, A-1932-A-1937.
Annette Leonhardt
Bei einer kombinierten Schwerhörigkeit besteht neben einer Schallleitungsstörung gleichzeitig eine Funktionsstörung im Innenohr. Es liegen also sowohl eine Störung im Außen- oder im Mittel- als auch Innenohr vor.
Kombinierte Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeit, kombinierte Mittelohr-Innenohrschwerhörigkeit, (selten) auch gemischte Schwerhörigkeit
Es treffen die gleichen Ursachen wie bei einer Schallempfindungsschwerhörigkeit zu. Hinzu kommen den schallleitenden Teil betreffende Ursachen ( Schallleitungsschwerhörigkeit).
Die Diagnose wird mittels Reintonaudiogramm gestellt, indem für beide Ohren sowohl die Luft- als auch die Knochenleitung bestimmt wird. Dabei zeigen sowohl die Knochenleitung als auch die Luftleitung angehobene Werte; aber zwischen beiden liegt eine Differenz. Die Luftleitung ist deutlich stärker erhöht.
Bei angeborener und frühkindlich erworbener Schwerhörigkeit kommen auch objektive Messverfahren zum Einsatz. Von Geburt an vorliegende kombinierte Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeiten werden heute durch das Neugeborenen-Hörscreening erkannt.
Die Schallempfindungsschwerhörigkeit ist die dominierende Störung. Daher sind die Auswirkungen einer kombinierten Schwerhörigkeit mit dieser vergleichbar.
Sie kann vom Umfang leicht-, mittel- oder hochgradig sowie an Taubheit (Gehörlosigkeit) grenzend sein.
siehe Schallempfindungsschwerhörigkeit
Da sich eine kombinierte Schwerhörigkeit aus einer Schallleitungsschwerhörigkeit und einer Innenohrschwerhörigkeit zusammensetzt, kann die Schallleitungsschwerhörigkeit mitunter operativ behoben werden. Die (verbleibendende) Innenohrschwerhörigkeit (= Schallempfindungsschwerhörigkeit) wird dann mit Hörsystemen versorgt.
siehe Schallempfindungsschwerhörigkeit
Kompis, M. (2016): Audiologie. 4. Aufl. Bern: Hogrefe.
Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.
Annette Leonhardt
Gehörlosigkeit ist keine gesonderte Hörschädigung, sondern beruht auf einer hochgradigen bzw. extremen Innenohrschwerhörigkeit. Man spricht in dem Zusammenhang von praktischer Taubheit oder Gehörlosigkeit. Sie tritt prälingual (angeboren oder vor Abschluss des 2. Lebensjahres) bei beidseitigem hochgradigem bis totalem Hörverlust auf. Auch bei Eintreten einer perilingualen beidseitigen Taubheit (etwa bis zum 3./4. Lebensjahr) wird von Gehörlosigkeit gesprochen (Leonhardt 2019; Arnold/Ganzer 2011); später eintretend dann von Ertaubung.
Eine absolute Taubheit, bei der keinerlei Hörreste vorhanden sind, ist sehr selten und tritt eigentlich nur dann auf, wenn der Hörnerv oder das primäre Hörzentrum zerstört ist. Ungefähr 98 % der Menschen, die als »gehörlos« bezeichnet werden, verfügen über Hörreste (Pöhle 1994, 12). Diese sind jedoch zu gering, um mit Hörsystemen (= Hörgeräten) einen imitativ-auditiven Lautspracherwerb zu vollziehen.
Neben der hier vorgestellten audiologischen Definition existiert ein eher soziologischer Begriff von Gehörlosigkeit/Taubheit. Dieser stellt nicht das Hörvermögen in den Vordergrund, sondern die Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft ( Gebärdensprachkultur).
Taubheit, Surditas
Eine Gehörlosigkeit kann pränatal (erblich bedingt, durch Fehlbildungen oder durch Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft), perinatal (z. B. Sauerstoffmangel während der Geburt, Frühgeburt, geringes Geburtsgewicht, Schädelverletzungen) oder postnatal entstehen (hier spielen vor allem die sehr frühe Erkrankung an Meningitis und Encephalitis eine Rolle). Da eine postnatale, aber perilinguale Entstehung einer Gehörlosigkeit mit einer Krankheit einhergeht, wird diese meist sofort erkannt; ansonsten greifen hier die Früherkennungsuntersuchungen (sog. U-Untersuchungen).
Die möglichen Ursachen decken sich mit denen einer Schallempfindungsschwerhörigkeit und der kombinierten Schwerhörigkeit, da, wie erwähnt, es sich bei der Gehörlosigkeit nicht um eine eigenständige (gesonderte) Hörschädigung handelt.
Bei der Diagnose von Gehörlosigkeit spielt heute das Neugeborenen-Hörscreening (NSH) eine maßgebliche Rolle. Die Kinder, die beim NHS auffällig werden, müssen dann einer genauen Diagnose (mittels objektiver Hörprüfverfahren) zugeführt werden. Unmittelbar danach beginnen die Frühförderung (zunächst in Form von Elternberatung) und eine erste Hörgeräteversorgung, die ggf. die Zeit bis zur CI-Versorgung »überbrückt«, um Höreindrücke zu ermöglichen. Eine nachgeburtliche, aber prälinguale Gehörlosigkeit wird ebenfalls mittels objektiver Hörprüfverfahren diagnostiziert.
Bei Vorliegen eines so hochgradigen Hörverlustes, dass man von Gehörlosigkeit spricht, zeigt das Kind keine Reaktionen auf akustische Reize. Hörprothetisch unversorgte Gehörlosigkeit führt dazu, dass die sensible Phase des Hörenlernens nicht genutzt werden kann, da das Erlernen des Hörens die Voraussetzung für das Erlernen der Lautsprache auf imitativ-auditivem Weg ist.
Zur Auffassung gesprochener Sprache bedienen sie sich (wie auch die Schwerhörigen) des Absehens. Untereinander kommunizieren sie in der Gebärdensprache. Diese nutzen sie auch in sozialen Situationen mit Hörenden unter Einbezug eines Gebärdensprachdolmetschers.
Entscheidend für die Entwicklung eines gehörlosen Kindes ist die Frühförderung, die unmittelbar nach der Diagnose beginnen muss. Die Früherkennung und Frühförderung muss an den Bedarfen der Familie orientiert sein, berücksichtigen, ob die Eltern hörend oder gehörlos bzw. hörgeschädigt sind und deren Wünsche und Vorstellungen respektieren.
Bei frühzeitiger von den Eltern gewünschter CI-Versorgung ist – bei gleichzeitiger entsprechender hörgeschädigtenpädagogischer Unterstützung – heute ein Lautspracherwerb auf imitativ-auditivem Weg möglich. Der Hör- und Spracherwerbsprozess kann bei optimaler Förderung und guter Unterstützung durch das Elternhaus der Norm angenähert verlaufen. Sie bleiben aber hörgeschädigt und bedürfen der besonderen Unterstützung und Hilfe.
Neben der mit Hilfe von Cochlea Implantaten durchgeführten lautsprachlichen Förderung gibt es gebärdensprachliche Angebote der Förderung. Die Gebärdensprache ermöglicht den nicht mit CI versorgten Kindern die Kommunikation. Eine Kommunikation mit Gebärdensprache wird aber auch von mit CI versorgten Kindern verwandt, insbesondere dann, wenn sie Kinder hörgeschädigter Eltern sind. Gebärdensprachlich kommunizierende Eltern verwenden in der Kommunikation mit ihren Kindern die Gebärdensprache und dienen ihren Kindern als Sprach- und Kommunikationsvorbild.
Bei Hörschäden von beschriebenem Ausmaß reichen gängige Hörsysteme nicht aus. Die Verwendung von Cochlea Implantaten hat sich bei angeborener oder perilingual erworbener Gehörlosigkeit etabliert (sofern die Eltern das für ihr Kind wünschen). Als Zeitpunkt der Versorgung hat sich gegenwärtig ein Implantationsalter »um das 1. Lebensjahr« durchgesetzt (möglich ist eine CI-Versorgung ab etwa 6. Lebensmonat).
In vorschulischen und schulischen Lernsituationen kann die zusätzliche Verwendung von Übertragungsanlagen hilfreich sein.
Arnold, W./Ganzer, U. (2011): Checkliste. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. 5. Aufl. Stuttgart/New York: Thieme.
Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.
Pöhle, K.-H. (1994): Grundlagen der Pädagogik Hörbehinderter. Potsdamer Studientexte – Sonderpädagogik.
Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16-30.
Annette Leonhardt
Eine Ertaubung liegt vor, wenn es bei einem Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen postlingual, also nach Abschluss des natürlichen Spracherwerbs (als untere Grenze wird hier ca. das 3./4. Lebensjahr gesehen) zu einer totalen oder praktischen Taubheit kommt. Nach Eintreten der Taubheit können die Betroffenen Lautsprache und andere Schallereignisse nicht mehr auditiv wahrnehmen. Im Unterschied zur Gehörlosigkeit (die angeboren oder prä- oder perilingual eingetreten ist) haben sie die Lautsprache auf natürlichem Weg imitativ-auditiv erlernt (Leonhardt 2019, 86).
Weitere Bezeichnungen sind nicht gängig. Allerdings unterscheidet man mitunter zwischen Ertaubung und Spätertaubung. Mit »Spätertaubungen« werden Ertaubungen bezeichnet, die nach dem 18. Lebensjahr bzw. nach Abschluss einer ersten (abgeschlossenen) Berufsausbildung eingetreten sind.
Eine Ertaubung kann die Folge eines progredienten Verlaufes einer Schwerhörigkeit sein, häufig tritt sie auch als Folge von Erkrankungen oder Unfällen ein. Der Hörverlust kann plötzlich eintreten (innerhalb von Minuten, Stunden und bis zu 3 Tagen); verursachend hierfür ist meist ein Lärmtrauma oder ein Hörsturz (wobei in letztgenannten Fällen nahezu immer nur eine Seite betroffen ist). Möglich sind auch mehrere Schübe (z. B. nach Verletzung, Unfall, einer Hirnhautentzündung oder Medikamenteneinnahme), bis die Ertaubung endgültig eintritt.
Betroffenen fällt die Höreinbuße, vor allem, wenn sie spontan oder in einem relativ kurzen Zeitraum eintritt, auf, so dass sie sich an den Arzt wenden. Die Diagnose erfolgt mittels gängiger audiometrischer Messverfahren und audiologischer Beratung. Die Hörschwellenkurven im Audiogramm gleichen denen von gehörlosen Personen. Ob es sich bei dem abgebildeten Hörverlust um eine Ertaubung oder Gehörlosigkeit handelt, ergibt sich aus der Anamnese.
Schwerwiegend bei einer Ertaubung ist nicht nur der audiometrisch bestimmbare (»messbare«) Hörverlust, sondern vor allem die eingetretenen Einschränkungen in der Kommunikation und im psychosozialen Bereich, da der Ertaubte aus der ihm vorher als selbstverständlichen und vertrauten lautsprachlichen Kommunikation plötzlich nahezu ausgeschlossen ist. Die psychischen Belastungen sind enorm. Die Endgültigkeit des Hörverlustes muss angenommen werden. Lediglich beim Hörsturz kann bei rechtzeitiger medizinischer Behandlung in Ausnahmefällen das Gehör (vollständig) wiederhergestellt werden. Beständige, stabile Verbesserungen sind aber eher selten. Mitunter kommt es zu einer wechselnden Hörfähigkeit, die längerfristig nicht selten in einer endgültigen Ertaubung münden.
Ist die Ertaubung irreversibel, werden die Betroffenen heute zeitnah mit Cochlea Implantaten versorgt. Mit ihrer Hilfe ist ein Hören wieder möglich. Der (neue) Höreindruck entspricht jedoch nicht ihrem vormaligem, also dem eines gesunden oder kaum beeinträchtigten Gehörs. Die Betroffenen erlernen erfahrungsgemäß jedoch rasch, die neuen Höreindrücke zu interpretieren und diese mit ihren alten, noch im Gedächtnis gespeicherten Hörerfahrungen zu verknüpfen. Ihnen bleibt so ein Leben als »Ertaubte« erspart, das früher aufgrund des plötzlich eingetretenen Hörverlustes und der damit verbundenen Kommunikationsbarrieren zur der sie umgebenden Umwelt und zu ihren Bezugspersonen zu erheblichen psychosozialen Auswirkungen führte (Richtberg 1980).
Ertaubte müssen sich, auch nach durchgeführter CI-Versorgung, auf das ergänzende Absehen (visuelle Lautsprachperzeption) umstellen. Es erleichtert ihnen den Perzeptionsprozess von gesprochener Sprache.
Hilfreich und unterstützend wirkt der Umstand, dass dieser Personenkreis auf natürlichem Weg Sprechen und Verstehen gelernt hat. Er kann auf der bereits vorhandenen Sprache aufbauen und den erworbenen Sprachbesitz nutzen. Je später eine Ertaubung eintritt, desto besser beherrschen die Betroffenen die Lautsprache. Insbesondere für Spätertaubte gilt, dass deren Sprachentwicklung bis zum Eintreten der Hörschädigung ungehindert vollzogen wurde. Die Lautsprache hat sich in der Zeit, in der sie über ein normales Gehör verfügten, gebildet und gefestigt. Sie besitzen die Fähigkeit, zu sprechen und gesprochene Sprache kognitiv zu verstehen. Da die Sprachproduktion oft wenig Auffälligkeiten zeigt, werden dessen rezeptive Fähigkeiten häufig vom Gesprächspartner überschätzt. Für die unmittelbar nach der Implantation einsetzende Rehabilitationsphase ist es hilfreich, dass die Betroffenen an den vorhandenen Sprachbesitz und auf die bisher erlernte Sprache aufbauen können. Ertaubte, die mit CI versorgt wurden, brauchen zum »Umlernen« auf das »neue« Hören der spezifischen hörgeschädigtenspezifischen Unterstützung.
Trotz der heute gängigen, raschen CI-Versorgung ist eine schnellstmögliche hörgeschädigtenpädagogische Einflussnahme wichtig, um einen Bruch in der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen zu vermeiden. Die plötzlich veränderte »Hörsituation« und die mit der Ertaubung und/oder der CI-Versorgung einhergehenden Veränderungen sind gravierend. Jüngere Kinder finden sich erfahrungsgemäß schneller mit der neuen Situation zurecht als Schulkinder bzw. Jugendliche. Ihnen wird die Veränderung in ihrer Lebenssituation oft schmerzlich bewusst. Sie müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen.
Obwohl die mit Cochlea Implantaten versorgten Personen akustisch wieder erreichbar sind, brauchen sie spezifische Betreuung und Beachtung. Bei Nebengeräuschen haben sie wie alle mit CI Versorgten Schwierigkeiten, zu hören und zu verstehen. Der Hör(»um-«)lernprozess muss hörgeschädigtenpädagogisch begleitet werden, um negative Auswirkungen zu verhindern oder so gering wie möglich zu halten.
Ertaubte Personen werden heute – es sei denn, der Hörnerv ist geschädigt – mit Cochlea Implantaten versorgt. Schulisch und vorschulisch gesehen sollten ergänzend Übertragungsanlagen einbezogen werden.
Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.
Richtberg, W. (1980): Hörbehinderung als psychosoziales Leiden. Forschungsbericht. Herausgeber: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bonn.
Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16-30.
Annette Leonhardt
Von einseitiger Hörschädigung spricht man, wenn bei einem Ohr ein voll funktionsfähiges Gehör und bei dem anderen Ohr eine angeborene oder erworbene Schwerhörigkeit oder Taubheit vorliegt. Bei dem betroffenen Ohr kann jede Art von Hörschädigung vorliegen. Der Umfang (das Ausmaß) des Hörverlustes der betroffenen Seite kann von leichtgradig bis taub reichen.
Die Ursachen können je nach Art der vorliegenden Hörschädigung die gleichen wie bei einer Schallleitungsschwerhörigkeit, einer Schallempfindungsschwerhörigkeit, einer kombinierten Schwerhörigkeit, einer Gehörlosigkeit oder für eine Ertaubung sein. Es ist aber nur ein Ohr betroffen.
Zu einer einseitigen (erworbenen) Hörschädigung kommt es bei Kindern auch durch hohe (Lautstärke-)Intensitäten verursachendes Spielzeug wie beispielsweise Knallpistolen, die in unmittelbarer Nähe des Gehörgangs eines Kindes betätigt werden. Die möglichen Auswirkungen dieser Spielzeugpistolen werden im Allgemeinen unterschätzt. Der Knall ist extrem kurz, kann aber Spitzenwerte von 164 dB erreichen und ist damit höher als ein Pistolenschuss mit scharfer Munition (Feldmann/Brusis 2006, 211). Die Folge ist ein sog. Knalltrauma.
Die Diagnoseverfahren entsprechen denen bei beidseitiger Hörschädigung ( Schallleitungsschwerhörigkeit, Schallempfindungsschwerhörigkeit, kombinierte Schwerhörigkeit, Gehörlosigkeit).
Die Auswirkungen einer einseitigen Hörschädigung auf die kindliche Entwicklung wurde lange Zeit unterschätzt, da von den Betroffenen Sprache auf natürlichem Weg vollständig erlernt werden kann.
Kinder mit einer gering- bis mittelgradigen einseitigen frühkindlichen Hörschädigung entwickeln sich weitgehend unauffällig. Bei hochgradiger einseitiger Hörschädigung kann es zunächst zu Verzögerungen und Störungen der Sprachentwicklung kommen, da vor allem das Hören bei Stör- und Nebengeräuschen und das Richtungshören beeinträchtigt sind. Bei guter Förderung und unterstützendem Elternhaus zeigen die Kinder bei Schuleintritt keine oder kaum noch sprachliche Abweichungen zu Gleichaltrigen. Das kann im Alltag der Kindertagesstätte oder im Unterricht der Schule vorschnell dazu führen, ihre Hör- und Verstehensprobleme zu unterschätzen oder zu negieren. In der Kindertagesstätte und der Schule muss beachtet werden, dass das Kind bzw. die Schülerin oder der Schüler unter erschwerten Bedingungen hört, obwohl sie in Spiel-, Beschäftigungs-, Lern- und Unterrichtssituationen weitgehend unauffällig wirken. Immer dann, wenn Neben- und Störgeräusche auftreten, ist das Kind oder der Jugendliche in der auditiven Wahrnehmung beeinträchtigt. Das fehlende Richtungshören – Richtungshören ist die Voraussetzung, um die Schallquelle zu orten (also zu erkennen, wo sich der Sprecher bzw. Kommunikationspartner befindet oder zu bemerken, wo das das Spiel entscheidende akustische Signal oder im Sport das Kommando herkommt) – und Probleme bei der Störschall-Nutzschall-Trennung können die Teilhabe an sozialen Situationen (und damit am Spielen, Interagieren oder am Unterricht) erschweren und erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration des Betroffenen fordern.
In der Kindertagesstätte oder im Schulalltag sind die Hörbedingungen oft ungünstig, da Neben- und Störgeräusche nur begrenzt ausgeschaltet werden können. Diese wirken sich jedoch auf das Verstehen negativ aus, mit der Folge, dass Äußerungen der Erzieherin oder des Erziehers oder der Lehrkraft und/oder der Spiel- und Klassenkameraden nicht immer vollständig und angemessen verstanden werden, was zu einer unvollständigen Aufnahme des Gesagten, von Hinweisen und Erklärungen oder von Unterrichtsinhalten und damit des Lernstoffs führen kann (Leonhardt 2009, 122). Schätzungen in der Fachliteratur gehen davon aus, dass 30 bis 40 % einseitig hörgeschädigter Kinder schulische Lernprobleme zeigen, vor allem im Schriftspracherwerb (Rosanowski/Hoppe 2004).
Es gilt vor allem, das Bewusstsein zu wecken, dass das Kind oder der Jugendliche trotz (fast immer) normgerechter Sprache und nach außen kaum sichtbaren Auffälligkeiten im Verstehen eingeschränkt ist. Für die Teilhabe an sozialen Situationen muss der Betroffene mehr Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen. Es ist besonders darauf zu achten, ob die Kinder und Jugendlichen Verunsicherungen, Konzentrationsschwächen, Lernschwierigkeiten bis hin zum schulischen Versagen, soziale Probleme oder somatische Beschwerden zeigen. Die genannten Bereiche können ein Hinweis auf Überlastung, Überforderung und Stress sein. Es bedarf der Aufklärung des sozialen Umfeldes, damit es nicht zu Fehlreaktionen kommt.
Einseitig von einer Hörschädigung betroffene Personen erhalten je nach Art und Ausmaß eine Hörhilfe. Etabliert hat sich bei einseitiger Taubheit inzwischen auch die Versorgung mit einem Cochlea Implantat. Den Betroffenen werden mittels Hörhilfe ein Richtungshören und ein besseres Hören unter Störschallbedingungen möglich.
Feldmann, H./Brusis, T. (2006): Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme.
Leonhardt, A. (2009): Pädagogische Aspekte der einseitigen und minimalen Hörschädigung. In: Sprache Stimme Gehör, 33(3), 121–125.
Rosanowski, F./Hoppe, U. (2004): Einseitige Innenohrschwerhörigkeit bei Kindern und Jugendlichen: Diagnostik und Intervention. In: Sprache Stimme Gehör, 28(2), 60–69.
Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16–30.
Leonhardt, A. (2019): Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. 4. Aufl. München: Reinhardt.
Annette Leonhardt
Minimale Hörschädigungen, auch als leicht- oder geringgradige Hörschädigungen bezeichnet, sind Hörverluste von 20 bis maximal 40 dB. Man spricht auch von minimaler Schwerhörigkeit, wobei diese sich auf einen maximalen Hörverlust von 35 dB bezieht.
Nickisch (2009, 110 f.) beschreibt drei unterschiedliche audiologische Konstellationen:
• bilateraler minimaler Hörverlust mit dauerhaftem Hörschwellenverlauf der Luftleitung von 20 bis 40 dB bezogen auf 500, 1.000 und 2.000 Hz
• Hochfrequenzverlust mit dauerhaften Hörschwellen (Luftleitung) von über 25 dB bei mindestens zwei Frequenzen über 2.000 Hz, d. h. 3.000, 4.000, 6.000, 8.000 Hz (ein- oder beidseitig)
• unilaterale Hörverluste mit dauerhaften einseitigen Hörschwellen (Luftleitung) von durchschnittlich mindestens 20 dB bei 500, 1.000 und 2.000 Hz im betroffenen Ohr mit normaler Hörschwelle auf dem anderen Ohr.
Die Ursachen entsprechen je nach Art denen einer Schallleitungsschwerhörigkeit, einer Schallempfindungsschwerhörigkeit oder einer kombinierten Schwerhörigkeit. Handelt es sich um eine kindliche Hörstörung, kann diese angeboren, frühzeitig erworben oder im Vorschul- oder Schulalter eingetreten sein. Auch ein Beginn im Erwachsenenalter ist möglich.
Ist die minimale Hörschädigung angeboren, wird sie aufgrund ihres geringen Ausmaßes beim Neugeborenen-Hörscreening (NHS) nicht erkannt, da sie unterhalb der »Erkennungsschwelle« liegt (das NHS erfasst Hörverluste ab 35 dB). Die Unauffälligkeit im NHS kann dazu führen, dass sich die Eltern »in Sicherheit wähnen« und die Hörschädigung längere Zeit unentdeckt bleibt. Dies verweist auf die Notwendigkeit der gründlichen und exakten Fortführung der Früherkennungsuntersuchungen (U1 bis U9).
Im Weiteren entsprechen die Diagnoseverfahren den üblichen pädaudiologischen Methoden zur Feststellung einer Hörschädigung. Der Hörschwellenverlauf bei minimaler Hörschädigung liegt zwischen Normalhörigkeit und einer »alltags- bzw. kommunikationsrelevanten Hörstörung« (Nickisch 2009, 110).
Die Prävalenz nimmt im Laufe des Schulalters zu, zum einen durch progrediente Verläufe und zum anderen durch Traumata, Lärm oder Infekte.
Obwohl als »minimal« bezeichnet, bedeutet das nicht, dass sie keine oder nur extrem geringe Folgen und Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben können. Sie stellen ein Risiko für eine ungehinderte und normgerechte Hör- und Sprachentwicklung des Kindes dar.
Mögliche Probleme bei der Sprachentwicklung sind:
• Lautbildungsfehler und Dyslalien, da stimmlose Konsonanten und Zischlaute nicht ausreichend gehört werden
• Agrammatismus, da unbetonte Endungen nicht markant wahrgenommen werden
• im Extremfall kann ein eingeschränkter Wortschatz die Folge sein
(Leonhardt 2009, 122).
Da die Schüler »auf den ersten Blick« unauffällig wirken, wird ihre Situation oft falsch eingeschätzt. Sie müssen sich beim Hören mehr anstrengen, was zu schnellerer Hörermüdung und rascherem Abbau der Aufmerksamkeit führen kann. Die Folgen sind mangelnde Konzentration, Ablenkbarkeit, Erschöpfung, Reizbarkeit oder Auffälligkeiten im sozialen und emotionalen Bereich oder im Verhalten. Mitunter kommt es zu Störungen in der (Schrift-)Sprache, da grammatische Markierungen unzureichend wahrgenommen und dann wie gehört verwendet werden. Nicht selten werden die Auswirkungen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) verwechselt.
Des Weiteren liegen Beeinträchtigungen in der Leistungsfähigkeit und beim Lernen vor. Erschwerend kommt hinzu, dass Betroffene oft längere Zeit unerkannt bleiben und so bereits Defizite eingetreten sein können. Menschen mit minimaler Hörschädigung (gleich welchen Alters) müssen sich ständig mehr anstrengen, mehr leisten, mehr konzentrieren und mehr Aufmerksamkeit aufbringen, um alles zu verstehen. Die Folgen können frühzeitigere Ermüdung und Erschöpfung sein.
Eine Studie von Bess et al. (1998) belegt an Hand von Schülerdaten des 3., 6. und 9. Schuljahrgangsbesuches, dass Schülerinnen und Schüler mit minimaler Schwerhörigkeit im Vergleich zum regionalen Durchschnitt deutlich häufiger ein Schuljahr wiederholen müssen.
Pädagogisch gesehen wurden die Auswirkungen einer minimalen (wie auch einseitigen) Hörschädigung lange Zeit unterschätzt. Heute ist man sich der Tatsache bewusst, dass auch sie die Unterstützung und Begleitung durch einen Hörgeschädigtenpädagogen benötigen.
Eltern und Betreuungspersonen müssen umfassend informiert und regelmäßig begleitet werden, um die Hör-, Sprach- und Schulentwicklung angemessen beobachten und unterstützen zu können.
Gemeinsam mit den Eltern ist das Betreuungspersonal in Kindertagesstätten sowie die Lehrkräfte auf die besondere Situation der Kinder hinzuweisen. Regelmäßige audiometrische Kontrollen (mindestens bis in das Jugendalter) sind anzuraten, um auszuschließen, dass die Hörschädigung einen progredienten Verlauf nimmt oder im Falle dessen, diesen frühzeitig zu erkennen und die Hörsysteme rechtzeitig an die veränderte Situation anzupassen.
Wie bei den Kindern mit einseitiger Hörschädigung gilt es, das Bewusstsein zu wecken, dass das Kind oder der Jugendliche trotz zumeist normgerechter Sprache und nach außen kaum sichtbaren Auffälligkeiten im Hören und Verstehen eingeschränkt ist. Für die Teilhabe an sozialen Situationen muss das Kind mehr Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen.
Auch bei minimaler Hörschädigung sollte geprüft werden, ob Hörsysteme die Hör- und Verstehenssituation des Betroffenen verbessern (nach den gegenwärtig gängigen Richtlinien muss eine solche (noch) nicht mit Hörgeräten versorgt werden). Ob eine solche infrage kommt und für den Betroffenen hilfreich ist, sollte individuell abgeklärt werden. In vorschulischen und schulischen Lernsituationen kann ergänzend eine Übertragungsanlage genutzt werden.
Bess, F. H./Dodd-Murphy, J./Parker, R. A. (1998): Children with Minimal Sensorineural Hearing Loss: Prevalence, Educational Performance, and Functional Status. In: Ear and Hearing, 19(5), 339–354.
Leonhardt, A. (2009): Pädagogische Aspekte der einseitigen und minimalen Hörschädigung. In: Sprache Stimme Gehör, 33(3), 121–125.
Nickisch, A. (2009): Minimale Hörstörungen im Kindesalter: Bedeutung, Auswirkungen und Behandlung als Übersicht. In: Sprache Stimme Gehör, 33(3), 110–115.
Leonhardt, A. (2018): Zielgruppe. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Hören. Stuttgart: Kohlhammer, 16-30.
Annette Leonhardt
Der Begriff Tinnitus (lat. Tönen) steht für wahrgenommene Geräusche, die auf einer Funktionsstörung des Hörsystems beruhen. Diese können, wie beim objektiven Tinnitus durch Blutgefäße oder Muskelspannungen, erzeugt werden. Der subjektive Tinnitus besteht aus nur subjektiv wahrnehmbaren Phantomgeräuschen. Am häufigsten tritt Pfeifen oder Rauschen auf (Lenarz 1989). Die Entstehung von Tinnitus sollte zunächst differentialdiagnostisch abgeklärt werden. Häufigste Ursache für Tinnitus ist ein Hörverlust. Dabei wird das Phantomgeräusch meist im Bereich der Frequenz des ausgefallenen Hörbereichs wahrgenommen (Schecklmann et al. 2012). Hörverluste können infolge eines Lärmtraumas, ototoxischer Medikation, aber auch anderer degenerativer Prozesse des Hörsystems entstehen. Als weitere Auslöser von Tinnitus werden Kiefergelenksprobleme oder Hals-Wirbelsäulenprobleme (HWS), Tumore, besonders rund um den Hörnerv oder an den Hörzentren, Nebenwirkungen von Medikamenten, kardiovaskuläre Symptome sowie als stressvoll erlebte Lebenssituationen beschrieben (Biesinger et al. 2008). Eine ausführliche Diagnostik zum Ausschluss bzw. zur Behandlung körperlicher Auslöser des Tinnitus ist der erste Behandlungsschritt. Psychische Begleiterkrankungen wie Ängste, Depressionen oder Schlafstörungen sind ebenfalls häufig. Tinnitus selbst hat keine Krankheitsrelevanz, es besteht nur die psychische Belastung durch das Ohrgeräusch.
Tinnitus wird nach seiner erlebten subjektiven Auswirkung in vier Schweregrade eingeteilt von 1. kaum belastet über 2. nur in Stille beeinträchtigend hin zu 3. dauerhafter Beeinträchtigung bis zur 4. völligen Dekompensation (Goebel/Hiller 1998). Bis zur Dauer von drei Monaten wird Tinnitus als akut, danach als chronisch eingestuft. Wenn der Tinnitus die Lebensqualität des Betroffenen nicht erheblich beeinträchtigt, liegt ein kompensierter Tinnitus vor. Bei belastenden Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche wird der Tinnitus als dekompensiert bezeichnet (DGHNO-KHC 2015).
Tinnitus ist ein komplexes Phänomen, das bis heute in seinem genauen Zustandekommen nicht verstanden wird. Eine Hypothese der Tinnitusgenese ist, dass es durch den Ausfall des sensorischen Inputs infolge eines Hörverlustes zu Veränderungen der tonotopen Organisation des akustischen Kortex kommt (Mühnickel et al. 1998). Auch gestörte auditorische Feedbackschleifen werden als eine Ursache für Tinnitus angesehen (Hesse et al. 2008). Kujawa/Liberman (2009) zeigten im Tierversuch, dass durch ein Lärmtrauma synaptische Verbindungen von den Haarzellen zum Hörnerv zerstört werden. Dadurch gelangt weniger auditorischer Input in die Hörnerven. Durch homöostatische Prozesse versuchen die hörverarbeitenden Neurone diesen geringeren Input zu verstärken, es kommt zu einer messbar erhöhten Aktivität der betroffenen Neurone. Durch diesen Verstärkungsmechanismus wird das Erleben von Tinnitus ausgelöst (Schaette/Kempter 2006; Schaette/McAlpin 2011). Die genauen Abläufe dieser verstärkenden Prozesse werden gegenwärtig in Tierversuchen, aber auch in Computermodellen intensiv erforscht. Als begleitende Symptomatik und Anzeichen einer verschlechterten Hörwahrnehmung kann zudem häufig Lärmüberempfindlichkeit (Hyperakusis) beobachtet werden. Durch Sensibilisierungsprozesse, ähnlich der Schmerzwahrnehmung, kann es zu einer gesteigerten Tinnituswahrnehmung kommen (DGHNO-KHC 2015).
Gleichzeitig wird neuropsychologisch eine Beteiligung anderer stressorientierter Gehirnregionen wie des limbischen Systems (Leaver et al. 2016) oder der Amygdala (de Ridder et al. 2011) vorgefunden. Bei chronischem Tinnitus zeigen sich aktivierte neuronale Disstressschaltkreise relevanter Aufmerksamkeits- und Emotionsprozesse (Schecklmann et al. 2013).
Dekompensierter Tinnitus führt bei vielen Betroffenen zu einem Gefühl von Kontrollverlust gegenüber dem eigenen Körper. Dies wird durch fokussierte Aufmerksamkeitsprozesse auf das Tinnituserleben zusätzlich verstärkt. Tinnitusbetroffene geraten dadurch in eine sensorische Falle: Das Hörsystem ist eng mit dem limbischen System verschaltet. Bedrohliche Geräusche haben eine emotional hoch aufgeladene Warnfunktion, die leicht in Disstress kippen kann. Daher ist das als nicht kontrollierbar erlebte bedrohliche Geräusch emotional sehr belastend (Hallam 1996). Die Belastung durch den Tinnitus kann mit einem Tinnitusfragebogen gemessen werden (Göbel/Hiller 1998). Die dem Tinnitus oftmals vorausgehende Hörschädigung wird häufig nicht wahrgenommen oder abgewehrt. Stattdessen wird der Tinnitus für die Hörminderung verantwortlich gemacht. Ähnlich verhält es sich bei gravierenden Überforderungs- und Stresssituationen. Hier kann der Tinnitus als Überlastung erlebt werden, hinter dem die eigentlichen auslösenden psychosozialen Faktoren zunächst verschwinden. Bei einer Tendenz zur psychosomatischen Verarbeitung kann es zur Verschiebung schwer aushaltbarer Gefühle und psychischer Zustände ins Körperliche kommen und die Tinnitusbelastung als Deckleiden für darunterliegende psychische Stressoren dienen.
Bei akutem Tinnitus wird nach möglichen körperlichen Auslösern gesucht und diese wenn möglich behandelt. So kann bei auslösender HWS-Problematik eine krankengymnastische Therapie das Mittel der Wahl sein. Bei chronischem Tinnitus geht es darum, eine Bewältigung des Tinnitus zu erreichen. Bei begleitender Hörminderung ist zunächst eine Versorgung der Hörschädigung ein wichtiges Therapieelement. Die Aufklärung und Psychoedukation der auslösenden neuropsychologischen und kognitiven Prozesse ist ein weiterer wichtiger Therapiebaustein, um die kognitive Kontrolle wieder zu erhöhen. Die Herabstufung der Bewertung der Gefährlichkeit des Tinnitus stellt dabei ein wichtiges Ziel dar. Dadurch wird das angstvolle Erleben des Ausgeliefertseins vermindert. Der Einsatz eines Rauschgenerators zur Maskierung des Ohrgeräusches kann in manchen Fällen das Gefühl subjektiver Kontrolle und eine Entspannung der beteiligten neuronalen Stresskreisläufe bewirken. Techniken der Aufmerksamkeitsumlenkung und deren Einübung sind weitere Therapieschritte.
Da das subjektive Leiden der Betroffenen zum Teil immens ist, werden auch unseriöse, wenig erfolgreiche, jedoch kostspielige Behandlungsangebote aus Verzweiflung aufgesucht, die häufig in Enttäuschung enden.
In der Regel bleibt Betroffenen mit chronisch dekompensiertem Tinnitus die Auseinandersetzung mit überfordernden Stresssituationen und die Abgrenzung gegenüber Überforderungen nicht erspart. Bei gravierender psychischer Folgesymptomatik wie starken Ängsten oder Depressionen kann auch eine psychiatrisch-medikamentöse Begleittherapie sinnvoll sein. Eine Reihe psychotherapeutischer Ansätze und Modelle wurden zur Behandlung des Tinnitus vorgelegt (Delb et al. 2002; Kröner-Herwig 1997; Wirth 2004). Zur Unterstützung der Behandlung des Tinnitus gibt es Selbsthilfeliteratur sowie spezialisierte Kliniken und Behandlungszentren. Bei chronischem Tinnitus kann eine stationäre Behandlung empfehlenswert sein. Eine wichtige Rolle kann auch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe spielen, die in der sehr aktiven Selbsthilfeorganisation der Tinnitusbetroffenen (Tinnitusliga) organisiert sind.
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Delb, W./D'Amelio, R./Archonti, C./Schonecke, O. (2002): Tinnitus. Ein Manual zur TinnitusRetrainingstherapie bei chronischem Tinnitus. Göttingen: Hogrefe.
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DGHNO-KHC (Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V.) (2015): Leitlinie Tinnitus. AWMF. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/017-064.html(Zugriff: 12.08.2020).
Goebel, G./Hiller, W. (1998): Tinnitus-Fragebogen (TF). Ein Instrument zur Erfassung von Belastung und Schweregrad bei Tinnitus, Handanweisung. Göttingen: Hogrefe.
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Wolfgang Wirth/Katharina Müller
Tinnitus ist ein Höreindruck, der nicht auf der Stimulation durch einen äußeren Schallreiz beruht. Ein chronifizierter Tinnitus kann zu einer eigenständigen Erkrankung mit der Störung des Selbsterlebens werden.
Da auch Kinder und Jugendliche mit Tinnitus konfrontiert werden, benötigen die Lehrkräfte für Hörgeschädigte einen konzisen und lösungsorientierten Zugang. Für den Tinnitus gibt es bisher nur eine primär auf Erwachsene zielende S3-Leitlinie, die für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen im Falle der Dekompensierung z. T. anderer Überlegungen als beim Erwachsenen bedarf.
Tinnitus wird nach folgenden Gesichtspunkten klassifiziert:
1. Objektiv vs. subjektiv: Objektiv ist der Tinnitus, der nicht nur vom Betroffenen, sondern auch vom Untersucher oder anderen Personen gehört werden kann. Subjektiv ist der Tinnitus, der nur vom Betroffenen gehört werden kann.
2. Wie bei Erwachsenen ist ein Tinnitus auch bei Kindern und Jugendlichen in aller Regel subjektiv. Mehr noch als bei Erwachsenen steht bei jüngerem Menschen die Befürchtung im Raum, wegen der Subjektivität nicht ernst genommen zu werden. Dieser Gesichtspunkt gehört altersgruppengerecht besprochen.
3. Akut vs. chronisch: Als akut wird der Tinnitus bezeichnet, der seit nicht mehr als drei Monaten besteht, chronisch ist ein länger als drei Monate anhaltender Tinnitus.
4. Im Akutstadium werden Medikamente verabreicht, im chronischen Stadium haben sie dann einen Stellenwert, wenn sie denn auf eine medikamentös behandelbare ursächliche Erkrankung zielen oder aber auf Folgen wie Schlafstörungen, eine Depression, eine Angsterkrankung oder anderes. Eine spezifisch auf den Tinnitus zielende Medikation ist im chronischen Stadium nicht sinnvoll.
5. Ort der Entstehung: Äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr, Hörnerv, Gehirn.
6. Grundsätzlich kann ein Tinnitus an jeder Stelle des Hörsystems entstehen, dies gilt auch beim Kind und Jugendlichen. Darauf zielen die HNO-ärztliche Diagnostik und die »audiologische« Therapie ab.
7. Mögliche Komorbiditäten: Prinzipiell müssen wie beim Erwachsenen körperliche und seelische Begleitstörungen erfragt und ggf. interdisziplinär bewertet werden.
Einen psychogenen Tinnitus gibt es bei Kindern und Jugendlichen nicht, der Begriff kommt in der Leitlinie zudem gar nicht vor – der klinisch »eindeutige« Eindruck einer relevanten, gravierenden seelischen Komorbidität kann im Hinblick auf das Ursachengefüge fehlleiten.
Kompensation und Dekompensation eines Tinnitus müssen bei Kindern und Jugendlichen mit einem komplexeren Ansatz als bei Erwachsenen parametrisiert werden. Geeignet ist der Bezug zur für Kinder und Jugendliche altersgruppenspezifisch definierten gesundheitsbezogenen Lebensqualität: Dabei geht es um die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der wichtigsten Aspekte der eigenen Lebenssituation, insbesondere des eigenen, selbst erlebten Gesundheitszustandes, der eigenen Funktionsfähigkeit, der sozialen Integration und der eigenen Teilhabe an altersentsprechenden Lebensvollzügen.
Die in der Tinnitus-Leitlinie aufgelisteten Anamnese-Fragen gelten prinzipiell auch für Kinder und Jugendliche, ihr Fokus liegt auf den Folgen fürs Selbsterleben. Für den betroffenen jungen Menschen ist mehr noch als beim Erwachsenen die Möglichkeit, dem eigenen Leiden gegenüber dem Arzt Ausdruck geben zu können, bereits ein relevanter Teil der Therapie.
Jenseits der audiologischen Tinnitusuntersuchung (Bestimmung, Verdeckung) gibt die Bestimmung der Unbehaglichkeitsschwelle Hinweise für eine assoziierte Hyperakusis als quasi »phobischem Element« des Tinnitus, was dann selbst im negativen Falle Gegenstand der wertenden Befundbesprechung sein sollte. Die Messung des Sprachverstehens auch im Störgeräusch kann Hinweise für das Vorliegen einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung AVWS geben.
Im Falle der Kompensation bedarf der chronische Tinnitus neben der intensiven, ggf. in mehreren Sitzungen zu realisierenden Beratung des Betroffenen und seiner Eltern (»Counseling«) keiner weiteren Therapie. Dekompensiert ist der chronische Tinnitus, der nach dem Counseling eine apparative Therapie (Hörgeräte, Tinnitus-Noiser), die wiederholte HNO-ärztliche Anleitung und Bestärkung und ggf. eine weitere pädiatrische und/oder kinder-jugendpsychiatrische Therapie mit einer verhaltensmodifizierenden Psychotherapie braucht.
Natürlich führt allein die Befürchtung, ein Tinnitus werde ein ganzes Leben lang anhalten, zu einer schweren Erschütterung des Selbsterlebens sowohl des Betroffenen als auch seiner Eltern, eigentlich muss es zu einer auch für den Arzt nur sehr schwer auszuhaltenden Katastrophisierung kommen. Aber: Nach einer erfolgreichen Habituation wird der Betroffene den Tinnitus nicht mehr als belastend und im Idealfall nur bei gezielter Befragung überhaupt als existent beschreiben. Begründet werden kann das damit, dass bei Kindern und Jugendlichen mit einer angeborenen Schwerhörigkeit in mehr als zwei Drittel der Fälle ein Tinnitus vorliegt, aber nur im Ausnahmefall wird dieser Tinnitus dekompensieren. Der angeboren Schwerhörige schafft es spontan, sein Ohrgeräusch in den Höreindruck zu integrieren, was das Gehirn des nicht angeboren Schwerhörigen mit einem Tinnitus zunächst lernen muss, aber auch lernen kann. Die Langzeitprognose des Tinnitus ist beim Kind und Jugendlichen gut.
Die ursprünglich für die Anwendung an Erwachsenen konzipierte Leitlinie zum Tinnitus kann als Rahmen auch für die Anwendung an Kindern und Jugendlichen empfohlen werden. Die HNO-ärztliche Indikation für eine apparative Behandlung, deren Koordinierung und Anleitung sind Basismodul der Therapie, quasi die »fachmedizinische Hausaufgabe«. Ein chronisch-dekompensierter Tinnitus braucht seitens des HNO-Arztes die Organisation eines interdisziplinären Behandlungsnetzes; gezielte Absprachen zwischen ihm und der zuständigen Lehrkraft für Hörgeschädigte können für die betroffene Schülerin bzw. den betroffenen Schüler hilfreich sein.
S3-Leitlinie. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017-064l_S3_Chronischer_Tinnitus_2015-02.pdf (Zugriff: 03.06.2019).
Rosanowski, F./Hoppe, U./Pröschel, U./Eysholdt, U. (1997): Chronischer Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen. In: HNO, 45(11), 927–932.
Frank Rosanowski
Die arbeitsbedingte Lärmschwerhörigkeit (BK 2301 der Berufskrankheitenliste) gehört – nach wie vor – zu den häufigsten Berufskrankheiten. Eine Lärmschwerhörigkeit kann sich bei einem Teil der Lärmarbeiter ab einem Tageslärmexpositionspegel von 85 dB(A) und mehr entwickeln, wenn der Exponierte über viele Jahre oder Jahrzehnte ungeschützt gehörschädigendem Lärm ausgesetzt war. Das Gehörschadensrisiko hängt daher von Intensität und Dauer der Lärmbelastung (Lärmdosis) ab. Lärmintensive Arbeitsplätze gibt es z. B. in der Metall- und Holzverarbeitung, im Hoch- und Tiefbau, in der Energietechnik, in der Textil- und Nahrungsmittelindustrie, im Bergbau usw. Das Risiko von Gehörschäden bei Symphonikern durch klassische Musik oder bei Jugendlichen durch Diskothekenbesuch oder Hearables wird meist überschätzt (Hoffmann 1999). Die tatsächlichen Hörverluste sind oft geringer als nach dem Hörverlustverteilungsmodell ISO 1999 zu erwarten wäre (Feldmann/Brusis 2019). Freizeitlärm, z. B. bei Heimwerkern, kann das Gehör ebenfalls beeinträchtigen, wenn kein Gehörschutz verwendet wird. Meist führt Arbeitslärm nur zu einer geringgradigen Schwerhörigkeit. Daher kommen bei der Lärmschwerhörigkeit keine audiogenen Sprachstörungen vor. Höhergradige Ausmaße der Lärmschwerhörigkeit hat es früher gegeben, als die Lärmpegel am Arbeitsplatz noch extremer waren und die Präventionsmaßnahmen nicht so weit entwickelt waren wie heute.
Ein Lärmschaden der Innenohren kann prinzipiell durch eine Überstimulation der Innenohren oder eine erhöhte Vulnerabilität des Gehörs hervorgerufen werden sowie durch eine Kombination beider Faktoren. Eine pathologische Aktivitätserhöhung, ausgelöst durch die überlaute Schallstimulation, kann zur metabolischen Überforderung des Innenohres führen. Lärmschädigungen treten aber nur bei vulnerablen Innenohren auf. Die meisten Menschen verfügen über ein lärmfestes Gehör. Daher führt eine akustische Überstimulation nicht immer zu einer Schädigung des Gehörs (Plontke/Zenner 2004). Eine Lärmschädigung der Innenohren findet sich nur bei ca. 5 % der belasteten Lärmarbeiter, nur bei 1 bis 2 % liegt eine entschädigungspflichtige Lärmschwerhörigkeit vor. Bei kurzzeitigen extremen Lautstärken können auch mechanische Verletzungen des Innenohres (Knalltrauma, Explosionstrauma) folgen. Es handelt sich dann um einen Arbeitsunfall.
Typisch ist bei der tonaudiometrischen Untersuchung eine Hochtonsenke, die sog. c5-Senke ( Abb. 1).
Abb. 1: Das typische Tonaudiogramm einer geringgradigen Lärmschwerhörigkeit beider Ohren. Im Hochtonbereich zeigt sich eine Senkenbildung bei 4000 Hz, die sog. c5-Senke. Die Hörverluste sind seitengleich ausgeprägt. »KL=LL« bedeutet, dass die Knochenleitungskurve bds. der Luftleitungskurve entspricht. Es handelt sich also um eine reine Innenohrschwerhörigkeit. Der Pfeil bei 4000 Hz ist das Symbol einer Tinnitusmessung: Das Ohrgeräusch wurde beiderseits bei einer Frequenz von 4000 Hz angegeben. Es ist in dem Frequenzbereich lokalisiert, wo sich der größte lärmbedingte Hörverlust befindet.
Um die Diagnose einer Lärmschwerhörigkeit stellen zu können, müssen weitere Kriterien erfüllt sein (eine adäquate Lärmexposition, die Entwicklung der Schwerhörigkeit parallel zur Lärmarbeit, Nachweis eines Innenohrschadens, Symmetrie der audiometrischen Befunde, ein typischer Kurvenverlauf). Berufsbedingter Lärm führt nie zu einer Mittelohrschwerhörigkeit. Die Lärmschwerhörigkeit ist gegenüber anderen Schwerhörigkeitsformen differenzialdiagnostisch abzugrenzen, die in der Bevölkerung häufiger sind als die Lärmschwerhörigkeit, z. B. eine genetisch bedingte Schwerhörigkeit, eine degenerative Schwerhörigkeit, eine infektionstoxische Schwerhörigkeit, eine sog. Altersschwerhörigkeit, eine Otosklerose, ein Hörsturz usw. Ein Tinnitus ist dann als lärmbedingt zu interpretieren, wenn er sich parallel zur Lärmschwerhörigkeit entwickelt hat und wenn er sich audiometrisch im Bereich der hohen Frequenzen nachweisen lässt. Es handelt sich dann um den Begleit-Tinnitus einer Lärmschwerhörigkeit. Manche Menschen werden durch einen Tinnitus mehr beeinträchtigt als durch ihre Hörminderung. Einen lärmbedingten Tinnitus ohne lärmbedingten Gehörschaden gibt es dagegen nicht (Schönberger et al. 2017). Kurzdauernde Lärmereignisse von hoher Schalldruckstärke können zu einem Knalltrauma oder akuten Lärmtrauma führen. Ein Knalltrauma setzt einen Spitzenschalldruckpegel von 150 bis 160 dB (A) über 1 bis 3 ms voraus, ein akutes Lärmtrauma Schalldruckpegel oberhalb 130 dB (A) über Sekunden, Minuten oder Stunden.
Eine Lärmschwerhörigkeit ist nicht heilbar. Sie lässt sich aber durch die konsequente Verwendung von persönlichen Gehörschutzmitteln (Ohrenstöpsel, Ohrenkapseln, individuell angepasster Gehörschutz usw.) verhindern. Außerdem sind die Unternehmer verpflichtet, Maschinen mit geringerer Lärmentwicklung anzuschaffen bzw. alte laute Maschinen durch leisere zu ersetzen. Zudem werden Arbeitnehmer in regelmäßigen Abständen audiometrisch kontrolliert, um eine beginnende Schwerhörigkeit rechtzeitig zu erkennen. Wenn eine Lärmschwerhörigkeit dennoch eingetreten ist, kann eine Hörgeräteanpassung notwendig sein. Die Kosten werden dann von der zuständigen Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse übernommen. Bei fortgeschrittener Lärmschwerhörigkeit erhält der Geschädigte außerdem eine lebenslange Rente.
Feldmann, H./Brusis, T. (2019): Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 8. Aufl. Stuttgart/New York: Thieme.
Hoffmann, E. (1999): Der Einfluss von Popmusik auf die Hörfähigkeit und Konsequenzen für die Prävention von Hörschäden. Musikphysiologie und Musikermedizin, 6(4), 111.
Plontke, S./Zenner, H. P. (2004): Aktuelle Gesichtspunkte zu Hörschäden durch Berufs- und Freizeitlärm. In: Laryngo-Rhino-Otol, 83(S1), 122.
Schönberger, A./Mehrtens, G./Valentin, H. (2017): Arbeitsunfall und Berufskrankheit. 9. Aufl. Berlin: Schmidt.
Tilman Brusis
Bei der Altersschwerhörigkeit (auch Presbyakusis/age-related hearing loss [ARHL]) handelt es sich um eine Form der sensorineuralen Schwerhörigkeit, d. h., dass meist sowohl die Haarzellen des Innenohres als auch die zentrale Hörbahn Veränderungen und Einschränkungen der Funktionsfähigkeit aufweisen (Hesse/Laubert 2005, A2864).
Altersbedingte anatomische und physiologische Veränderungen lassen sich auf allen Ebenen des Gehörs – äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr und auditiver Kortex – nachweisen (Chisolm et al. 2003) und sind neben genetischen Faktoren und altersbedingten Veränderungen des Nervensystems Faktoren für die Beeinträchtigung der Hörfähigkeit im Alter (Zhang et al. 2013, 118). Zu den exogenen Risikofaktoren zählen in erster Linie die Lärmexposition, aber auch die Einnahme ototoxischer Medikamente (Baur et al. 2009, 1025). Auch andere Erkrankungen, wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen und Hyperlipidämie, werden als Risiken diskutiert (ebd.; Zhang et al. 2013, 118). Plath (2000, 5) erklärt, dass letztlich die Summe aller exogenen und endogenen Schädigungen über die gesamte Lebensspanne einer Person zu einer erworbenen Hörschädigung im Alter führt.
Charakteristisch für die Altersschwerhörigkeit ist ein langsam fortschreitender (etwa) seitengleicher Hochtonverlust, welcher schon im mittleren Lebensalter beginnt (Marsiske et al. 2010, 407). Zunächst bemerkt der Betroffene nur unter Störschallbedingungen Beeinträchtigungen (Davis et al. 2016, 256). Oft registrieren die Betroffenen den Hörverlust erst dann, wenn die Schwerhörigkeit auch mittlere Frequenzen und somit die für die Sprachperzeption relevanten Bereiche umfasst und die Hörminderung so stark ist, dass sich diese auch in ruhiger Umgebung auswirkt.
Aufgrund der schleichenden Abnahme der Hörfähigkeit ergibt sich zudem häufig ein Gewöhnungsprozess, welcher dazu führt, dass erst spät eine diagnostische Abklärung oder gar Hörgerätenutzung in Erwägung gezogen wird.
Neben der Veränderung der Hörschwelle spielen bei der Altersschwerhörigkeit die Beeinträchtigungen der zentral-auditiven Funktionen eine besondere Rolle. Dazu zählen neben der Lokalisation, dem Lautheitsempfinden vor allem die Störschallunterdrückung. Oftmals gehen diese neuralen Veränderungen des Hörens »den sensorischen Defiziten (Haarzellverlust) voraus« (Euteneuer/Praetorius 2014, 92).
Das Hören im Störgeräusch ist daher für die Betroffenen häufig besonders stark beeinträchtigt, und zwar weit stärker, als die Hörschwelle es vermuten lassen würde, d. h., dass ältere Schwerhörige in einem viel stärkeren Maße von Einbußen der zentralen Funktionen des Hörens betroffen sind als jüngere Personen mit vergleichbaren Hörschwellen (Gablenz/Holube 2016; Meister et al. 2011). Hierbei spielen natürlich auch altersbedingte Veränderungen der kognitiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse, u. a. der (selektiven) Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses, eine Rolle.
Bei der Diagnostik von Schwerhörigkeiten im Alter sollte die Funktionsfähigkeit der zentralen Verarbeitung immer erfasst werden, weil die »Reinton-Audiometrie funktionelle Beeinträchtigungen des Gehörs im Alltag eher unterschätzt« (Marsiske et al. 2010, 407).
Die Gruppe der Älteren ist unter den Menschen mit Hörbeeinträchtigung die mit Abstand größte. Die Wahrscheinlichkeit eine Schwerhörigkeit zu erwerben, steigt mit dem Lebensalter deutlich an. So wird etwa angenommen, dass »die Prävalenz des klinisch signifikanten Hörverlusts bei Menschen im Alter von 61 bis 70 Jahren […] 37 %« beträgt und bei den »71- bis 80-Jährigen auf 60 %« ansteigt (Davis zit. n. Baur et al. 2009, 1023).
Für die Altersgruppe der Hochaltrigen (ab 85 Jahren) wird die Prävalenz sogar auf 80 % geschätzt (Zhang et al. 2013, 118) und stellt somit eine der häufigsten chronischen Beeinträchtigungen im Alter dar.
Hörbeeinträchtigungen im Alter haben Auswirkungen auf die Alarmierungs-, die Orientierungsfunktion, die emotional-ästhetische Funktion und vor allem die Kommunikationsfunktion (Tesch-Römer 2001, 42). Wird die Altersschwerhörigkeit nicht behandelt bzw. kompensiert, können sich aus diesen direkten Auswirkungen sekundäre Beeinträchtigungen entwickeln.
Dazu zählen Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit, denn durch die reduzierte Stimulation kann der altersbedingte Abbau kognitiver Leistungsfähigkeiten verstärkt bzw. beschleunigt werden (Marsiske et al. 2010, 423). Zudem wurden Zusammenhänge zwischen Hörverlust und demenziellen Erkrankungen festgestellt. Dabei ist noch nicht ausreichend untersucht, wie dieser Zusammenhang zu deuten ist, also ob die Hörminderung kognitive Abbauprozesse begünstigt, oder andersherum, der Abbauprozess im auditiven Kortex die Hörfähigkeit reduziert oder gar eine gemeinsame andere Ursache möglich ist (Martin/Kliegel 2014, 65 ff.). Trotz dieser Unsicherheiten kann man Hörverluste als Risikofaktoren für demenzielle Erkrankungen bezeichnen (Teipel et al. 2015, 1).
Die Einschränkungen in der Kommunikationsfähigkeit und die in deren Folge häufig entstehenden Auswirkungen auf die soziale Teilnahme der Betroffenen sowie die reduzierte Fähigkeit, die ästhetisch-emotionale Funktion des Hörsinns zu nutzen, führen oftmals zu einer beeinträchtigten Lebensqualität. Entsprechend findet sich in Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen Hörbeeinträchtigung und reduzierter Lebensqualität (Dalton et al. 2003; Zhang et al. 2013; Wirth 2011).
Das Hilfsmittel, welches für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen im Alter nach wie vor am weitesten verbreitet ist, ist das Hörsystem (Hörgerät), aber die Versorgung mit CI nimmt mittlerweile bei dieser Altersgruppe zu. Ein CI ist nur dann indiziert, wenn der Hörverlust derart stark ausgeprägt ist, dass von einer Ertaubung bzw. von hochgradiger Schwerhörigkeit zu sprechen ist (Sprinzl/Riechelmann 2010, 355). Ältere Betroffene profitieren von der Implantation »ähnlich wie jüngere Patienten« (Illg et al. 2018, 28).
Trotz der technischen Möglichkeiten sind viele der Betroffenen nicht versorgt oder nutzen ihre Hörsysteme nicht oder kaum (Müller 2019, 148 ff.). Dabei spielen sicher einerseits die Bagatellisierung der Altersschwerhörigkeit sowie das Doppelstigma Alter und Behinderung (Pelz 2007) eine Rolle, andererseits sind aber häufig auch überzogene Erwartungen an die Hörhilfe und eine fehlende Begleitung des Gewöhnungsprozesses ursächlich für die ungenutzten »Schubladen(hör)geräte«.
Um die Nutzung technischer Hilfsmittel zu steigern, günstiges Kommunikationsverhalten zu erlernen und die Bewältigung der Hörbeeinträchtigung zu unterstützen, sollte die medizinisch-technische Versorgung um ein zielgruppenspezifisches audiotherapeutisches/geragogisches Begleitangebot erweitert werden (Davis et al. 2016, 256).